Nettesheim Das Ende des Grundgesetzes Manuskript Dt

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Nettesheim Das Ende des Grundgesetzes Manuskript Dt
Prof. Dr. Martin Nettesheim
DER STAAT, Band 51 (2012), Heft 3 (im Erscheinen).
WO „ENDET“ DAS GRUNDGESETZ? VERFASSUNGSGEBUNG ALS
GRENZÜBERSCHREITENDER PROZESS
von Martin Nettesheim, Tübingen
I. Die Diskussion über das „Ende des Grundgesetzes“ ....................................................................... 1 II. Theorie und Dogmatik – Beobachter-­‐ und Teilnehmerperspektive ........................................ 3 III. Vor der Grenze: Die Vielfalt maßstäblicher Anknüpfungspunkte .......................................... 5 1. Festschreibung der Staatlichkeit? ........................................................................................................................... 5 2. Verfassung und Verfassungsidentität .................................................................................................................... 8 a) Ästhetische Dimension der Verfassung ..................................................................................................... 9 b) Verfassung und Funktion ................................................................................................................................. 9 aa) Auszehrung des Sinnstiftungsanspruchs .......................................................................................................... 10 bb) Umstellungen im Verhältnis von Recht und Politik ..................................................................................... 12 3. Einrichtung, Gewährleistung und Schutz des demokratisch-­‐politischen Prozesses ........................ 14 a) Das Unerträglichwerden des Demokratiedefizits -­‐ Grenzen der Tragfähigkeit der Verkopplung ............................................................................................................................................................. 15 b) Substanzielle Grenzen repräsentativer Entscheidungsfindung ................................................... 16 IV. Hinter der Grenze: Differenzen zwischen Demokratietheorie und Konstitutionalismus ................................................................................................................................... 19 1. Die Rolle der verfassungsgebenden Gewalt ...................................................................................................... 19 a) Das demokratisch-­‐idealistische Verständnis ....................................................................................... 19 b) Die konstitutionalistische Perspektive ................................................................................................... 20 c) Die Vielfalt der Deutungsvorschläge ........................................................................................................ 20 aa) Verfassungstext ............................................................................................................................................................ 21 bb) Das BVerfG: Anhänger eines positivistischen Konstitutionalismus? .................................................... 22 2. Implikationen der konstitutionalistischen Perspektive ............................................................................... 23 a) Verfassungsneugebung und Sinnstiftung ............................................................................................... 23 b) Verfassungsneugebung und demokratische Legitimation ............................................................. 25 3. Die Notwendigkeit der Re-­‐Idealisierung von Prozess und Produkt ....................................................... 25 4. Verfassungsgebung als offener Übergangsprozess ........................................................................................ 27 V. Kairos einer grenzziehenden Entscheidung .................................................................................. 31 I. Die Diskussion über das „Ende des Grundgesetzes“
Aus dem Kreis der Richter des Bundesverfassungsgerichts sind weitreichende Bemerkungen
zu vernehmen. Der Prozess der europäischen Integration sei an einem Punkt angelangt, von
dem aus es nicht mehr weit bis zu den „Grenzen des Grundgesetzes“ sei.1 Im Zuge des Aus-
1
Interviews Peter Michael Huber, Eine europäische Wirtschaftsregierung ist heikel, SZ vom 19. September
2011; Andreas Voßkuhle, Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu, FAZ vom 25. September 2011; ähnlich
1
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baus der Integration von Maastricht über Amsterdam und Nizza bis Lissabon sei man - so
muss man diese Äußerungen verstehen - an einem Punkt angekommen, an dem das Grundgesetz einen weiteren Ausbau nicht mehr „trage“. Die zeitliche Abfolge verschiedener Zeitungsinterviews dürfte kein Zufall sein. Die Ankündigung der Richter dürfte dem Zweck dienen,
den künftigen Weg der Rechtsprechung zu skizzieren. Die Richter wirken so der Gefahr entgegen, dass der Fortführung der Integrationspolitik überraschend Grenzen gezogen werden.
Gewiss ist bei der Einordnung und Bewertung derartiger Aussagen einzelner Richter Zurückhaltung geboten. Es ist nicht der Senat, der spricht, und es liegt noch keine konkrete Entscheidungssituation vor. Gleichwohl – man sollte diese Ankündigungen nicht einfach übergehen.2
Diese Interviews müssen vor dem Hintergrund des Stands europäischer Integration und im
Kontext der „Eurorettungspolitik“ gelesen werden.3 Der Integrationsprozess hat im Zuge der
Staatsschuldenkrise eine eigene und bis daher unbekannte Qualität erlangt. Die EU hat im
Laufe der Jahrzehnte Wesenszüge gewonnen, das von vielen Beobachtern als para-staatlich
angesehen werden. Bislang hatten die Mitgliedstaaten die Entscheidung über die weitere Vertiefung der Integration – in der Richtung, aber auch in der Geschwindigkeit – nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch weiterhin in der Hand. Sie verantworteten die Entscheidung darüber, mit welcher Geschwindigkeit sie den Integrationsprozess vorantreiben wollten, und hatten eine Vetoposition inne. Integration war eine genuin politische Angelegenheit, in dem lange Phasen der Stagnation mit Phasen des schnellen Fortschritts, grandiose Errungenschaften
mit Fehlschlägen einhergingen.4 Die Konstruktionsschwächen der Währungsunion änderten
die Integrationslogik wesentlich. Die Spannungslage, in die die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) hineingeraten ist, setzte und setzt die Mitgliedstaaten in einer Weise unter
Zugzwang, wie dies noch nie in der Geschichte der Integration zu beobachten war. Es ist inzwischen deutlich geworden, dass sich die Staatsschuldenkrise nicht allein dadurch bewältigen lässt, dass die von einem Vertrauensverlust betroffenen Mitgliedstaaten über einen Austeritätskurs ihre Haushalte stabilisieren. Ohne eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Entwicklungsperspektive vieler der Peripheriestaaten wird kein Vertrauen in die Stabilität der Währungsunion entstehen; nur so lassen sich dauerhafte Leistungsbilanzungleichgewichte vermeiden. Ob dies rechtzeitig gelingen wird, erscheint mehr als unsicher. Insofern
steht die EU vor einer Weichenstellung. Sie kann ein – mit schwerwiegenden Folgen verbundenes - Auseinanderbrechen der Währungsunion herbeiführen oder jedoch jedenfalls dulden.
Sie kann aber auch darauf hinwirken, dass über die Einführung supranationaler wirtschaftspolitischer Aufsichts- und Steuerungsmaßnahmen, die Einführung eines (begrenzten) Haftungsverbunds und durch Schaffung von Transfermechanismen eine Stabilisierung erfolgt. Ohne
Zweifel wäre damit ein Verlust staatlicher Handlungsfreiheit verbunden. Es verwundert nicht,
dass die Entwicklung von Richtern des BVerfG zum Anlass genommen wird, die grundsätzliche Frage nach den „Grenzen des Grundgesetzes“ zu stellen.5
Horst Dreier, Ein neues Deutschland, Die Zeit vom 20. Oktober 2011. Auf die Bundesstaatswerdung abstellend:
Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? 2009, S. 95 f.
2
Zur allgemeinen Diskussion: Dieter Grimm, Die Verfassung im Prozess der Entstaatlichung, FS Badura, 2004,
3
Christian Calliess/Frank Schorkopf, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und
nationalen Rechtsetzung, VVDStRL 71 (2012), S. 113 und S. 183; Martin Nettesheim, Der Umbau der europäischen Währungsunion: Politische Aktion und rechtliche Grenzen, in: Stefan Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise: Politische und rechtliche Rahmenbedingungen einer neuen Ordnung, 2012, S. 29; Daniel Thym, EuroRettungsschirm, EuZW 2011, S. 167; Joachim Wieland, Der Rettungsschirm für Irland, NVwZ 2011, S. 340;
Thomas Oppermann, Euro-Stabilisierung durch EU-Notrecht, FS Möschel, 2011, S. 909.
4
Die Schwierigkeiten, Integrationsschritte zu prognostizieren oder zu erklären (zu denken ist etwa an die Theorie funktionaler Integration), belegen dies deutlich.
5
Zu Gefährdungen der Idee der Rechtsbindung: Frank Schorkopf, Gestaltung mit Recht, AöR 136 (2011), S.
323.
2
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Letztlich bleibt allerdings – auch in den Äußerungen der Richter des BVerfG - unklar, was
mit den „Grenzen des Grundgesetzes“ gemeint ist. Auch der Blick in die LissabonEntscheidung führt nicht wirklich weiter. Das BVerfG spricht dort einerseits davon, dass der
unter dem Grundgesetz konstituierten Staatsgewalt dabei Grenzen gezogen seien, den Staat
„freizugeben“.6 Danach scheint das Gericht bestimmte Strukturwandel der Staatlichkeit vor
Augen zu haben, wenn es von im Integrationsprozess zu erreichenden Grenzen spricht. Wenige Sätze weiter ist dann allerdings davon die Rede, dass es nicht zu einer „stillschweigende(n)
Ablösung des Grundgesetzes” kommen dürfe.7 In dieser Formulierung scheint die Vorstellung
anlegt zu sein, dass sich im Prozess der europäischen Integration Zustände einstellen könnten,
in denen das Grundgesetz von seinem konstitutionellen Anker oder Bezugspunkt “abgelöst”
werden könnte, ohne dass dies unmittelbar erkennbar ist oder offen erfolgt. In einem dritten –
und wiederum anderslautenden - Anlauf bezieht das Gericht die Grenzüberschreitung auf die
vom Grundgesetz konstituierte “Verfassungsidentität”.8 Danach gilt: „Die verfassunggebende
Gewalt hat insofern den Vertretern und Organen des Volkes kein Mandat erteilt, über die Verfassungsidentität zu verfügen. [...] Darüber wacht das Bundesverfassungsgericht.“9 Die verschiedenen Maßstäbe haben unterschiedliche Bezugspunkte und sind damit nicht deckungsgleich. Geht es um den Staat – oder um das Grundgesetz und seine Identität? Oder geht es um
die demokratische Selbstbestimmung? Das BVerfG gibt nicht zu erkennen, warum es mit verschiedenen Kriterien operiert; es ordnet diese auch nicht untereinander zu. Es erscheint nicht
ausgeschlossen, dass man sich im Kreis der Richter in dieser Frage explizit nicht hat festlegen
lassen wollen – um so Flexibilität in der Reaktion auf den Verlauf des Integrationsprozesses
zu bewahren.
II. Theorie und Dogmatik – Beobachter- und Teilnehmerperspektive
Die Bedeutung des Satzes, dass das Grundgesetz an einem bestimmten Punkt „ende“, liegt –
erkennbar auch nach der subjektiven Auffassung der sich äußernden Richter – nicht in der
Tabuisierung künftiger Entwicklungsoptionen. Es geht nicht darum, zukünftigen Integrationsschritten den Weg absolut zu versperren.10 Vielmehr sind die Aussagen dahingehend zu verstehen, dass es bei einer Grenzüberschreitung der Verfassungsneuschöpfung nach Art. 146
GG bedürfe. Auch wenn diese theoretisch durch einen Konvent erfolgen könnte, wird sie aus
6
BVerfGE 123, 267 (332). „Es ist allein die verfassunggebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.“
7
BVerfGE 123, 267 (332). Zur Entscheidung allgemein: Matthias Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen,
wenn der Maßstab liegt so nah? Verfassungshandwerkliche Anfragen an das Lissabon-Urteil des BVerfG, Der
Staat 48 (2009), S. 497; Christoph Ohler, Herrschaft, Legitimation und Recht in der Europäischen Union – Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, AöR 135 (2010), S. 153; Josef Isensee, Integrationswille und Integrationsresistenz des Grundgesetzes, ZRP 2010, S. 33.
8
Kritisch Carl O. Lenz, Ausbrechender Rechtsakt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. August 2009, S.
7: „Dass das Grundgesetz einmal gegen die Schaffung eines ‚vereinten Europa’ ins Feld geführt werden könnte,
hätten wohl die wenigsten seiner Schöpfer für möglich gehalten. Das Bundesverfassungsgericht hat es fertiggebracht.“; Christoph Möllers, An der Grenze, FAZ vom 20. Oktober 2011, S. 6: “… verfügt das Gericht nicht
über die verfassungsgebende Gewalt. Es kann nicht die Ordnung beenden, durch die es selbst eingesetzt
wurde.”; Hans-Gert Pöttering, Wie geht es weiter mit Europa? FAZ vom 17. Februar 2012, S. 8.
9
BVerfGE 123, 267 (344). Zu den Wurzeln der Identitätskonzeption: Peter Häberle, Verfassungsrechtliche
Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, FS Hans Haug, 1986, S. 81; Paul Kirchhof, Die
Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten , in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HBStR I,
1987, § 19 (in der dritten Aufl., 2004, § 21: “Die Identität der Verfassung”).
10
Bislang gibt es noch keine Theorie föderaler Demokratie, die – auf die EU zugeschnitten – konkrete inhaltliche Aussagen über die Legitimationsstrukturen eines Europäischen Bundesstaates liefern könnte.
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politischen Gründen beinahe zwingend auf eine Volksabstimmung hinauslaufen.11 Es geht – in
anderen Worten – zunächst und vor allem um eine Verschiebung der institutionellen Entscheidungszuständigkeit.12 Nachdem sich das BVerfG jüngst vor allem darum gemüht, den
Prozess der „Euro-Rettung“ zu (re-)parlamentarisieren,13 deutet es zugleich Grenzen des gesetzgeberischen bzw. parlamentarischen Befassungsrechts an. Aus der rechtswissenschaftlichen Beobachterperspektive geht es insofern um die Frage, wann in einem „Grenzüberschreitungsszenario“ der funktionale Gewinn erschlossen werden sollte, der sich mit einer Volksabstimmung erzielen lässt. Auch wer aus der Teilnehmer- bzw. Binnenperspektive mit einer
dogmatischen, auf Art. 146 GG gestützten Konstruktion arbeitet, sollte sich dieser funktionalen Frage stellen.
Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, eine diesbezügliche Antwortet dadurch zu finden,
dass man den Versuch unternimmt, im Wege hermeneutischer Sinnsuche „in der Verfassung“
nach den „Grenzen“ des Grundgesetzes zu suchen. Das Grundgesetz scheint diese Frage ganz
der Politik überlassen zu wollen: Es verweist in Art. 146 GG auf eine politische Entscheidung, die vom Volk (wann und wie auch immer) getroffen wird. Es sagt zu der Frage, ob und
wann das BVerfG das Volk zur Entscheidung auffordern oder gar zwingen kann, nichts. Insofern schließt es auch nicht aus, dass vom BVerfG einer Entwicklung in der geltenden Ordnung Grenzen gezogen werden, deren Effekt mittelbar zur Freisetzung verfassungsgebender
Politik führt. An welchem Punkt hierfür Anlass besteht, lässt sich nur unter Heranziehung von
Argumenten beurteilen, die üblicherweise der „Verfassungs-“ oder „Staatstheorie“ zuordnet
werden. Die Überlegungen, die hierzu jüngst angestellt worden sind, machen deutlich, dass es
nicht die eine richtige Verfassungstheorie gibt, die aufgrund der Kohärenz, Abgeschlossenheit
und Systematik ihrer Aussagen einem Dogmatiker die Basis für zwingende Schlussfolgerungen böte.14 Sie führen vielmehr vor Augen, wie vielfältig und reich das Argumentationsmaterial ist, das auf dieser Ebene (wenn man denn überhaupt zwischen Theorie und Dogmatik unterscheidbare Ebenen zu erkennen glaubt) verfügbar ist und für die dogmatische Entscheidung
fruchtbar gemacht werden kann. Auch die nachfolgende Ausführungen beruhen auf der Annahme, dass es verfassungstheoretisch nicht eine Theorie des Verfassungsstaats gibt, der mit
Eindeutigkeit entnommen werden könnte, wann die “verfassungsgebende Gewalt” durch die
11
Christian Pestalozza, Neues Deutschland - in bester Verfassung?, Jura 1994, S. 561 (566); Karlheinz Merkel,
Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 1996, S. 105 ff., 211 ff.; Henning Moelle, Der Verfassungsbeschluss nach Art. 146 Grundgesetz, 1996, S. 197 f.
12
Es verwundert nicht, dass sich im Kontext der „Euro-Rettungspolitik“ inzwischen Stimmen erheben, die sich
dieser Gegebenheit aus strategischen Gründen bedienen: Man schätzt die Chancen, dass diese Politik in einer
Volksabstimmung scheitert, höher ein, als dass man unter Gebrauch demokratischer Kontrollmittel den Gesetzgeber zu einer Umkehr zwingen könnte (hierzu Martin Nettesheim, Verfassungsrecht und Politik in der Staatsschuldenkrise, NJW 2012, S. 1409 (1412)).
13
Allgemein zum Kampf gegen die Entparlamentarisierung: Matthias Herdegen/Martin Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidun- gen als Gefährdung der Verfassung?, VVDStRL 62
(2002), S. 7 und S. 37; Thomas Puhl, Entparlamentarisierung und Auslagerung staatlicher Entscheidungsverantwortung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), HdbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 48; Veith Mehde, Kooperatives
Regierungshandeln - Verfassungsrechtslehre vor der Herausforderung konsensorientierter Politikmodelle, AöR
127 (2002), S. 655; Hans- Jürgen Papier, Steuerungs- und Reformfähigkeit des Staates, in: Rudolf Mellinghoff/Gerd Morgenthaler/Thomas Puhl (Hg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, S. 103 (114 ff.);
Paul Kirchhof, Entparlamentarisierung der Demokratie?, in: FS Kielmansegg, 2004, S. 359 (365 ff.); ders., Die
Zukunft der Demokratie im Verfassungsstaat, JZ 2004, S. 981 (984).
14
Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010; Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009; Martin Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie? 1988. Bemühungen um Schaffung einer „Verfassungstheorie“ müssen insofern mit der gleichen Distanz
betrachtet werden, wie sie bei der Bewertung staatstheoretischer Bemühungen schon längst bei vielen Beobachtern eingezogen ist.
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“verfassten Gewalten” usurpiert und so ein “Staatsstreich” begangen wird.15 Diesbezügliche
Antworten können nur aus dem rechtskulturellen und politischen Verständnis des Gemeinwesens heraus entwickelt werden.
III. Vor der Grenze: Die Vielfalt maßstäblicher Anknüpfungspunkte
Als maßstabsgebender Bezugspunkt, mit dem die hier untersuchte Grenzziehung abgesteckt
werden kann, werden gegenwärtig vor allem die Staatsqualität (nachfolgend 1.), eine bestimmte Funktionalität der Verfassung (2.) und Kriterien des demokratisch-politischen Prozesses (3.) diskutiert.
1. Festschreibung der Staatlichkeit?
Im Zentrum der Diskussion über die „Grenzen des Grundgesetzes“ steht ohne Zweifel die
Staatsqualität der Bundesrepublik Deutschland.16 Auch das BVerfG spricht davon, dass der
Übergang in den europäischen Bundesstaat unter dem Grundgesetz nicht möglich sei. In der
Sache wird damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands als unverrückbar und „unaufgebbar“ angesehen - ohne dass dies im Text des Grundgesetzes so festgelegt würde.17 Der
scheinbar klare Maßstab zerrinnt bei näherem Hinsehen allerdings zwischen den Fingern.
Begrifflich-kategorial knüpft die Vorstellung, die Bundesrepublik wandele sich vom souveränen Staat zum Glied eines europäischen Bundesstaats, an die überkommenen und eingespielten Kategorien der Staatslehre und des Staatsrechts an. Inhaltlich weist der Souveränitätsbegriff freilich – gerade im Übergangsstadium – nicht jene Bestimmtheit auf, die notwendig
wäre, um aus ihm in einem Prozess des gleitenden Wandels bestimmte Schlussfolgerungen zu
deduzieren. Gewiss: Würden der EU in einem Akt der „Verfassungsgebung“ zugleich die
Kompetenz-Kompetenz, das Gewaltmonopol, die Fiskalgewalt, Polizei- und militärische Gewalt und andere Insignien der Staatlichkeit verliehen, so ließe die überkommene Kategorienbildung wenig Zweifel an der staatstheoretischen Folge. In der sich schrittweise wandelnden
Gemengelage, die für den Integrationsprozess in der Föderation von EU und Mitgliedstaaten
so kennzeichnend ist, ist die Orientierungsleistung des Begriffs aber gering.
Es kommt ein weiteres hinzu: Es ist offenkundig, dass die Richter des BVerfG „Grenzen des
Grundgesetzes“ bereits vor dem beschriebenen Übergang in die formale europäische Bundesstaatlichkeit erkennen wollen. Der Gewaltwandel, der sich im Zuge der Bewältigung der Euro-Krise in der Föderation von EU und Mitgliedstaaten abzeichnet, liegt weiterhin vor der
Schwelle, die staatstheoretisch den Übergang in die Bundesstaatlichkeit („Souveränitätsübergang“) definiert. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, eine verfassungsrechtlich relevante
Beeinträchtigung von Staatlichkeit schon zu einem Zeitpunkt anzunehmen, zu dem die kategoriale Qualität der Souveränität noch vorhanden ist. Entsprechende Forderungen werden
inzwischen von Staatsrechtslehrern erhoben.18 In der Tat hat es das BVerfG (als maßstabssetzender Teilnehmer des verfassungsdogmatischen Diskurses) in der Hand, den Staatsbegriff
des Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. 1 GG in dieser Weise zu definieren. Es müsste Festlegungen
15
Ein Verbot der Usurpation der verfassunggebenden Gewalt durch die verfassten Gewalten lässt sich als Kampf
gegen einen „Staatsstreich von oben“ deuten (Peter Michael Huber, Maastricht – Ein Staatsstreich, 1993, S. 14).
16
Hierzu etwa Ewald Wiederin, Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland, in: AöR 117 (1992),
S. 410 (445 ff.); Henning Moelle, Der Verfassungsbeschluss nach Artikel 146 Grundgesetz, 1996, S. 231; Horst
Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2006, Art. 146 Rdnr. 16.
17
Offen noch BVerfGE 89, 155 (Maastricht).
18
Wolfgang Kahl/Andreas Glaser, Nicht ohne uns, FAZ vom 8. März 2012.
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darüber treffen, welche Funktionen und Kompetenzen es für so wesentlich erachtet, dass es
sie der Verfügungsgewalt der unter dem Grundgesetz verfassten Gewalten vorenthalten will.
Das BVerfG scheint – in einer denkwürdigen Verquickung von Verfassungs- und Staatskonzept – diesen Weg mit dem Konzept der „Verfassungsidentität“ gehen zu wollen.
Aus der Beobachterperspektive würde einem derartigen Vorgehen allerdings etwas überaus
Arbiträres anhaften. „Staatlichkeit“ weist keinen Gehalt auf, dessen sich das Gericht umstandslos bedienen könnte.19 Es ist ein Begriff, der nicht nur die üblichen, im Prozess der Verfassungskonkretisierung routinemäßig zu überwindende Offenheit und Unbestimmtheit aufweist. Wer ihn zur normativen Begründung heranziehen will, muss Vorfestlegungen von weitreichender Tragweite treffen. Das ist inzwischen Gemeingut. Hasso Hofmann20 weist zu
Recht darauf in: „Der Begriff des Staats hat seine systembildende Kraft weithin eingebüßt.“
Und Oliver Lepsius21 schließt seine Untersuchungen zum Staatsbegriff mit der resignierenden
Feststellung: „In einem Konzert aus Recht, Geschichte, Gesellschaft, Politik und Ökonomie
bleibt der Staat gegenständlich und methodisch diffus.“ Dahinter steht die Einsicht in die
schillernde Ambivalenz des Sinnes eines Begriffs, mit dem ein inzwischen weitgespannter
Kreis unterschiedlicher Formen politischer Herrschaft charakterisiert werden soll – und zwar,
je nach Perspektive und Erkenntnisinteresse, unter Verwendung eher struktureller,22 institutionell-juridischer23 oder funktionaler Begriffsintensionen (-merkmale).24 Es handelt sich um
einen einheitsstiftenden Begriff, mit dem ein in der Lebenswelt überaus vielschichtiges Phänomen umschlossen werden kann.25 Derartige Begriffe eignen sich schlecht, um Grenzziehungen vorzunehmen. Dem Gericht ist es unbenommen, in einer Argumentationsschleife
Aussagen darüber zu treffen, welche Bedeutung es dem Staatsbegriff zuschreiben will, und
daraus dann verfassungspositive Schlussfolgerungen zu ziehen. Man sollte hiergegen nicht
einwenden, dass sich das Gericht so in einen Zirkel hineinbegeben würde – ein derartiges
Vorgehen ist nicht nur grundsätzlich unvermeidlich, sondern in einem Fall, in dem es hinreichende Gründe für die Festlegung gibt (die argumentativen Schleifen also hinreichend weit
auseinandergezogen werden), auch statthaft. Bei einem aufgeklärten Beobachter dürften sich
eher inhaltliche Zweifel einstellen, ob und inwieweit in der konkreten Entscheidungssituation,
in der sich das Gericht befinden wird, hinreichende Gründe für seine Festlegung zu finden
sind. Ohne dogmatische Vor-Arbeit26 wird derartigen ad-hoc-Festlegungen etwas Willkürliches anhaften. Eine allgemeine Staatslehre mit normativem Anspruch existiert nicht mehr.27
19
Stefan Haack, L’État – qu’est-ce que c’est? – Die Wissenschaft vom öffentlichen Recht und ihre Methoden
nach sechzig Jahren mit dem Grundgesetz, Der Staat 49 (2010), S. 107.
20
Hasso Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999, S. 1065.
21
Oliver Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates? EuGRZ 2004, S. 372. Für ihn ist diese
Beobachtung Anlass, die Entwicklung einer „Theorie der Herrschaftsformen“ zu fordern, die an die Stelle einer
Staatstheorie treten soll. Skeptischer Christoph Schönberger, Der „Staat“ der Allgemeinen Staatslehre: Anmerkungen zu einer eigenwilligen deutschen Disziplin im Vergleich mit Frankreich, in: Olivier Beaud/Erk Volkmar
Heyen (Hrsg.), Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft? 1999, S. 113.
22
Die Jellineksche Drei-Elementen-Lehre (Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914) kann ihre
Funktion und ihre Leistungsfähigkeit in einer Welt horizontal nebeneinander liegender Staatsgebiete ausspielen.
Im vertikalen Zusammenspiel von verschiedenen Ebenen hilft das Konzept nicht.
23
Staat als juristisch verselbständigte Herrschaftsorganisation.
24
Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008, S. 31 ff.; Udo di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der
Staat, 2003; Stefan Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007.
25
Georg Jellinek erschließt sich diese Vielschichtigkeit immerhin partiell und dient deshalb bis heute mit seiner
„Zwei-Seiten“-Lehre als Anknüpfungspunkt (Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914; hierzu Jens
Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000).
26
Zu Möglichkeiten und Grenzen etwa Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000; ders., Artikel „Allgemeine
Staatslehre“, in: Werner Heun u.a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 5. Aufl. 2006, Sp. 2318; Christoph
Gusy, Brauchen wir eine juristische Staatslehre?, JÖR 55 (2007), S. 41.
27
Man bewegt sich zwischen beschreibender Beobachtung und Argumentation im positiven Recht: Peter
Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996; Gunnar Folke Schuppert, Staatswis-
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Derartige Gründe dürften noch am ehesten vorliegen, wenn und soweit das Gericht mit dem
Abwandern klassischer Staatsmerkmale konfrontiert wäre (z.B. Übertragung des Gewaltmonopols auf die EU). Derartige Merkmale ließen sich ohne Begründungsaufwand als notwendiger Sinn des Staatsbegriffs bezeichnen; allerdings bedürfte es immerhin eines Wortes der
Begründung, warum die Übertragung der Währungshoheit (eines unzweifelhaft wesentlichen
Staatsmerkmals) für die Bedeutung des Staatsbegriffs nicht relevant gewesen ist.28 Schwieriger wäre es allerdings schon, in einer Situation zu entscheiden, in der Befugnisse und Zuständigkeiten auf europäischer Ebene lediglich konkurrierend oder parallel geschaffen werden
(z.B. gleichzeitiges Besteuerungsrecht der EU und der Mitgliedstaaten). In einem solchen Fall
müsste das Gericht dartun, warum sein Staatsbegriff eine konkurrenzausschließende Zuordnung des Merkmals enthält – ein schon erheblich größerer Aufwand, der etwa mit Blick auf
die Besteuerungsgewalt schwer zu leisten sein wird. Noch viel schwerer fällt es schließlich,
bei Verschiebungen außerhalb des Bezugsfelds klassischer Staatsmerkmale darzulegen, warum an einem bestimmten Punkt der Verlust der Staatsqualität eintritt. Das Gericht könnte
sich etwa mit der Frage konfrontiert sehen, ob eine Verstärkung der wirtschaftspolitischen
Koordinierungsbefugnisse der EU – und der damit einhergehende Verlust politischer Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten - ab einem bestimmten Punkt deren Staatsqualität berühren könnte. Eine begründete Argumentation fällt hier deshalb so schwer, weil das bloße Argument, in einem bestimmten Feld sei eine hinreichende Handlungsfreiheit wichtig, diese
noch nicht zum notwendigen Merkmal des Staatsbegriffs qualifiziert. Dies hat die umstandslose Übertragung der Währungshoheit29 ebenso wie die Begründung weitreichender Eingriffsbefugnisse der EU auf vielfältigen Feldern gezeigt. Ebenso wenig reicht es aus, eine rein
quantitative Betrachtung anzustellen. Zwar ist es richtig, dass auch der schrittweise Verlust
von für sich jeweils marginalen Zuständigkeiten und Freiheiten letztlich zu einer „Entleerung“
führen kann (Salami-Argument). Es liefe allerdings auf nicht mehr als einen hilflosen „Irgendwo muss doch Schluss sein“-Ruf hinaus,30 wenn sich das Gericht auf rein quantitative
Betrachtungen beschränkte.31
Wer die etatistische Perspektive einnimmt und ein irgendwie definiertes Wesen des Staats für
sakrosankt erklärt, muss ferner erklärten, warum eine Nationalversammlung oder das Volk
(durch Volksabstimmung) über diese Festsetzung hinweg gehen können soll. Wer mit dem
Wesen des Staats operiert und diesem eine besondere Dignität zuschreibt, wird diese nicht
einfach deshalb verwerfen, weil ein Volk anders entscheidet. Etatistische und demokratische
Argumente liegen auf unterschiedlicher Ebene und sind potentiell inkommensurabel. Konsequenter Etatismus wird sich dem demokratisch-populären Ansinnen nicht einfach öffnen,
sondern sich ihm tendenziell entgegenstellen.32
senchaft, 2003. Aufruf zur Wiederbegründung etwa bei: Andreas Voßkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen
Staatslehre“ im Zeitalter von Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, S. 2.
28
Insofern bestünde methodisch die Notwendigkeit des „differentiating“.
29
Vgl. hierzu schon Hermann-Josef Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht — Ein Schritt auf dem Weg zu
einem europäischen Bundesstaat? DÖV 1993, S. 412.
30
Es kann dem Gericht schwerlich darum gehen, die verbleibende „Staatssubstanz“ vor übermäßigen Beeinträchtigungen zu schützen. Der Punkt, an dem man dieser Sorge hätte nachgehen können, ist längst überschritten.
„Maastricht: Ein Staatsstreich?“ – so konnte man in der Tat Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts
fragen (Peter Michael Huber, 1993). Heute ist dieser Punkt überschritten.
31
Zur Frage der Qualifikation eines Kompetenzbestands als „Souveränität“: Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität? 2007.
32
Es sei am Rande darauf hingewiesen, dass die Versubjektivierung, die das Gericht seinen Überlegungen zum
objektiven Verfassungsrecht über Art. 38 GG zuschreibt, kein zusätzliches Argumentationsmaterial erschließt
(Christoph Schönberger, Der introvertierte Rechtsstaat als Krönung der Demokratie? Zur Entgrenzung von Art.
38 GG im Europaverfassungsrecht, JZ 2010, S. 1160; anders Dietrich Murswiek, Art. 38 GG als Grundlage eines
Rechts auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, JZ 2010, S. 702). Das Wahlrecht, das durch Zustän-
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Insofern kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass die etatistische Perspektive
argumentative Ansatzpunkte erschließt, aber jedenfalls im Vorfeld formaler europäischer
Staatsgründung keine im Ergebnis wirklich überzeugende Lösung bietet. Es ist ein Ansatz,
dem angesichts des inzwischen erreichten Integrationsstands etwas Beliebiges anhaftet. Mit
ihm kann das BVerfG ein Ergebnis – aber eben auch immer das jeweils andere Ergebnis –
begründen. Gerade im Vergleich zu anderen argumentativen Ansätzen weist diese Konzeption
Schwächen auf, die ihre Verwendung nicht nahelegen. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht
wäre es mehr als bedauerlich, wenn sich das BVerfG – um nur überhaupt irgendwo eine
Grenze ziehen zu können – eines Ansatzes bediente, dem etwas Willkürliches anhaftete.
2. Verfassung und Verfassungsidentität
Der Wortlaut der Art. 23 GG und Art. 79 Abs. 3 GG33 sieht ausdrücklich keine Grenzen der
Vertiefung europäischer Integration vor. Das Grundgesetz stellt sich dem Ausbau der europäischen Integration insofern semantisch nicht entgegen. Gleichwohl scheint es nicht ausgeschlossen, den Versuch einer Grenzziehung unter Rückgriff auf teleologische, ideelle oder
funktionale Argumente zu unternehmen. Das vom BVerfG eingeführte Konzept des „Identitätsschutzes“ bietet hierfür einen Aufhänger. Man erschließt sich diese Bedeutung allerdings
nicht, wenn man dem Konzept der Verfassungsidentität eine etatistische Bedeutung des Inhalts zuschreibt, welche Aufgaben oder Funktionen der Staat zwingend haben bzw. wahrnehmen müsse; hier wäre es sinnvoller, von der „Staatsidentität“ zu sprechen. Im echten Sinne
des Wortes lassen sich mit dem Begriff der Verfassungsidentität34 Argumente erschließen, die
ihre Grundlage im Wesen, in der Idee oder in der Funktion von Verfassung35 haben.36 Die
Frage, welche Entwicklungen sich innerhalb der Verfassung abspielen können, ohne ihre
Identität zu beeinträchtigen, und welche diese zerreißen würden, kann nicht von „außen“,
sondern letztlich nur von „innen“, also unter Verwendung von Aussagen über die Funktionsbedingungen des politischen Systems entwickelt werden. Diese Zuschreibung muss das Spannungsverhältnis von Statik und Variabilität der Verfassung bewältigen.37
digkeitsverschiebungen zwischen dem deutschen Staat und der EU entwertet werden soll, enthält keine Kriterien
dafür, wann eine Materie so wichtig ist, dass ihre Existenz und freie Verfügbarkeit auf staatlicher Ebene abgesichert werden muss. Das Wahlrecht besagt nichts über die „Substanzhaftigkeit“ einzelner politischer Materien. Es
geht hier nur um die ins Subjektive gewendete staatsrechtliche Betrachtung.
33
Hierzu etwa Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2006, Art. 79 Abs. 3 Rdnr. 21; Diana Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Markus Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003,
S. 57.
34
Identität ist keine Aussage über das Sein in der Welt, sondern ist ein zugleich distanzschaffender und einheitsschaffender Begriff. Identität wird durch das je andere konstituiert. Ihre Beschreibung erfolgt in der Zeit: Identität gewinnt Gehalt nicht durch die einmalige Zuschreibung, sondern durch den Prozess der Wiederholung von
Eingrenzung und Ausgrenzung. In diesem Prozess gewinnt sie Gestalt. Aussagen über Identität sind insofern
Sätze über die Wahrnehmung einer Sache aus der Perspektive des Beobachters.
35
Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter
der Verfassung, 2009; Görg Haverkate, Verfassungslehre, 1992; Manfred Friedrich (Hrsg.), Verfassung. Beiträge zur Verfassungstheorie, 1978.
36
Der Rückgriff auf materielle, gar moralisch fixierte Maßstäbe ist demgegenüber kaum möglich.
37
Gerd Roellecke, Identität und Variabilität der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christian Grabenwarter
(Hrsg.), Verfassungslehre, 2010, § 13.
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a) Ästhetische Dimension der Verfassung
In der gegenwärtigen Diskussion spielen dabei vor allem zwei Perspektiven eine Rolle. Im
Prozess der europäischen Integration können sich Verschiebungen politischer Macht ergeben,
durch die das Grundgesetz – im Text unberührt – in dem ihm Eigenen in nicht mehr hinnehmbarer Weise beeinträchtigt wird. Diese Feststellung lässt sich allerdings nur auf der
Grundlage einer genaueren Beschreibung dessen treffen, wofür Verfassung steht. Formulierungen des Inhalts, dass das Grundgesetz „unterlaufen“, „ausgehöhlt“ oder auch „ablöst“ werde, bringen nicht die notwendige Klarheit; es handelt sich nur um Floskeln und Füllworte. Der
Prozess der Integration bewirkt Machtverschiebungen; damit einhergehend lassen sich Aufund Abwertungen in der institutionellen Ordnung, der Öffnung und Schließung von Gestaltungsspielräumen und der Umwertung prozeduraler Strukturen beobachten. Ohne dass ein
förmlicher Konflikt mit dem Text der Verfassung vorliegt, können derartige Veränderungen
ein Ausmaß annehmen, durch das die Verfassung zur leeren Form wird. Dies ließe sich zunächst und vor allem als ein ästhetisches Problem begreifen. Man könnte die Position einnehmen, dass der Idee der Verfassung Unrecht widerfährt, wenn das Grundgesetz in der beschriebenen Weise von innen entleert würde, wenn also die äußere Form und der innere Regelungsgehalt sich entgegen dem Gewohnten, Bewährten und Eingespielten auseinander entwickelten. Der Sinn für Harmonie, das Empfinden für die Gesetzmäßigkeiten konstitutioneller
Form könnten dadurch gestört werden, dass ein als Staats-Verfassung konzipierter Text unter
der Hand einen Wandel seines Bezugsobjekts erleidet und zur Projektionsfläche des Ordnungsanspruchs eines bloßen Glieds verkommt. Die Übertragung politischer Macht auf die
EU geht mit einem Schwund des vom Grundgesetz verfassten (staatlichen) politischen Substrats einher, der einen Punkt erreichen kann, an dem das Grundgesetz in diesem Sinn zur
unangemessenen Form wird. Dieser Punkt ist allerdings gegenwärtig sicherlich noch nicht
erreicht; und er würde auch auf absehbare Zeit bei Vornahme der sich gegenwärtig abzeichnenden Integrationsschritte nicht erreicht werden.
Tragfähige und intersubjektiv vermittelbare Maßstäbe dafür, wann eine so konzipierte „Grenze des Grundgesetzes“ erreicht wird, lassen sich so nur mit Schwierigkeiten nicht gewinnen.
Die Idee der Verfassung kennt kein Normalmaß; die Vielzahl der Verfassungstypen, die sich
im Rahmen einer vergleichenden Verfassungslehre nachweisen lassen, zwingt vielmehr zu
dem Schluss, dass Wesen und Idee der Verfassung nicht ein Mindestmaß verfasster politischer Macht verlangen. Die Dynamik, die gerade ein gelungenes Verfassungsleben prägt,
spricht im Übrigen dagegen, bekannte und gewohnte Gegebenheiten unvermittelt zum Gegenstand normativer Gewährleistung zu erheben. Gleichwohl ist unverkennbar, dass der ästhetische Ansatz, getragen von einem Gefühl der Schutzwürdigkeit des Bekannten und Gewohnten, in der gegenwärtigen Diskussion eine enorme Rolle spielt.38
b) Verfassung und Funktion
Niemand wird bezweifeln, dass die vom Grundgesetz eingefasste und ausgerichtete Hoheitsgewalt im Prozess der europäischen Integration eine tiefgreifende Wesensänderung erfahren
hat. Die föderale Durchdringung europäischer und nationaler Gewalten und die bewirkte Entstehung eines „Verbundsystems“ haben Gegebenheiten politischer Herrschaft entstehen lassen, in der Einheit und Trennung unscheidbar zusammenkommen. Der politisch-föderative
Zusammenwachsungsprozess führt nicht zu einer Verschmelzung; er schließt aber zugleich
aus, dass die in der EU und in den Mitgliedstaaten verfassten politischen Substrate je für sich
38
Spuren dieses Denkens finden sich etwa in BVerfGE 123, 267 (Lissabon).
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noch als selbststehend begriffen werden können. Reicht dies aus, von einer Annäherung an
die „Grenzen“ des Grundgesetzes auszugehen?
Eine Verfassung würde funktional dann ein „Ende“ erreichen, wenn eine Umgestaltung der
politischen Lage zu beobachten wäre, in der die Realisierung spezifischer konstitutioneller
Funktionen nicht mehr gewährleistet ist. Es läge dann eine Situation vor, in der die Verfassung ihren eigenen Anspruch nicht mehr erfüllen könnte. Mit dieser Überlegung wird eine
Diskussionsebene erschlossen, in der wenig Gewissheit herrscht. Über die Funktion einer
Verfassung besteht bekanntlich – jenseits eines Kerns39 – kein Einverständnis. Während man
teilweise in der Verfassung nicht mehr als die Ordnung sieht, in der der politische Prozess
über dafür eingerichtete Organe eingesetzt, organisiert und begrenzt wird, deuten andere die
Verfassung als umfassendes Heilsprogramm und Ort, in dem Ziele und Werte des Strebens
der politischen Gemeinschaft schon eine Vor-Formulierung gefunden haben. „Grenzen des
Grundgesetzes“ sind vor allem für das letztgenannte Verfassungsdenken erkennbar.
aa) Auszehrung des Sinnstiftungsanspruchs
Offenkundig unterläuft die Amalgamierung des politischen Substrats im Zuge des Integrationsprozesses ein Verfassungsverständnis, demzufolge die Verfassung als substanzielle
„Grundordnung“ und als umfassendes „politisches Formprinzip“ einer politischen Gemeinschaft verstanden wird. Diesem Verfassungsverständnis liegt die Vorstellung zugrunde, dass
die Verfassung Grundlage und Ausgangspunkt, zugleich aber auch letzter Fluchtpunkt des
Zusammenlebens im staatlichen Gemeinwesen bildet.40 Die Verfassung trifft die „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit“41. Sie ist danach jener Bezugspunkt, auf
den alles zurückbezogen und von dem her alles hergeleitet werden kann. Sie ist Sinnstiftungsinstitution, ein funktionales (und häufig auch: inhaltliches) Substitut für Heilserwartungen und
Träger von Versprechungen.42 Sie dient als Anknüpfungspunkt für die „großen Erzählungen“,
mit denen kollektive Deutungsmuster transportiert werden.43 Hinter den Teilen des Verfassungsgesetzes gebe es, so die Annahme, „das Ganze“, eine „substanzielle Entität“.44 Ihr wird
der Anspruch zugeschrieben, jenes „Grundsätze-Gesetz“ zu sein, in dem die politische und
rechtliche Einheit des Volkes zusammengeführt und begründet wird.45 Als eine jeden Bereich
durchdringende Ordnung ist sie Anknüpfungspunkt von Einheitsvorstellungen, die in der Moderne an keiner anderen Institution mehr anknüpfen können. Man kann sie insofern ebenso als
Bezugsobjekt eines Verfassungspatriotismus begreifen46 wie zum gesellschaftlichen Integrati39
Aufzählung etwa bei: Dieter Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S. 489;
Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 76.
40
Die Klagen über eine dadurch bewirkte Juridifizierung der Politik sind ebenso alt wie die Sorge um eine Politisierung der Justiz (z.B. Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem
(1968), in: Manfred Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978, S. 232 (253 ff.). Stefan Haack, Primitive Staatstheorie,
Der Staat 51 (2012), S. 57 (69) verlagert den umfassende Ordnungsanspruch auf den Staat („Koordinationsmonopol, das ... sämtliche Lebensbereiche einer Gemeinschaft zu einem Ordnungsganzen“ formt; „Notwendigkeit
einer letztverbindlichen Ordnung“); die Verfassung hat diese Ordnung abzubilden und kann daher nur „gefunden“ werden (S 79).
41
Carl Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1954, S. 20 ff.
42
Kritisch beobachtend: Dieter Simon, Zäsuren im Rechtsdenken, in: Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach
1945, 1990, S. 153 (165); Hasso Hofmann, Recht, Politik und Religion, JZ 2003, S. 377 (379).
43
Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 55: Verfassungstheorie als der „Ort, an dem
die für die Verfassungsrechtswissenschaft insgesamt unentbehrlichen „großen Erzählungen“, die leitenden kollektiven Deutungsmuster, geformt und verbreitet werden“.
44
Jestaedt (oben Fn. 43), S. 56.
45
Hasso Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999, S. 1065 (1072).
46
Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, 1990.
10
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onsinstrument erheben.47 Das Verständnis impliziert, dass sich eine politische Ordnung
dadurch aufheben lässt, dass der Verfassung dieser Sinnstiftungsanspruch (und damit: die
Legitimität) entzogen wird.
Dieses Verfassungsverständnis findet sich schon bei Vattel (Entwurf des freiheitlichen Lebens
einer Nation48), bei Hegel (Ordnung des gemeinsamen Lebens aus dem sich entwickelnden
Geist des Volkes49) oder bei Welcker (Verfassung als das „durch nationale Bildung bestimmte
innerliche Willensgesetz der Bürger“50.51 Es bedarf hier keiner Darstellung, wie das Grundgesetz im Prozess der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 aus einer Randrolle irgendwo in der Tiefe gesellschaftlichen Geschehens hervorgetreten und seinen heutigen
Platz eingenommen hat. Die spröde Skepsis und Zurückhaltung, mit der man dem in der
Nachkriegszeit als provisorische Ordnung errichteten Grundgesetz zunächst begegnete,52 ist
inzwischen – in dem beschriebenen Sinn - einer ideellen Überhöhung des so nüchternen Textes gewichen.53 Das Verständnis hat in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik inzwischen über alle politischen Kreise hinweg erhebliche Wirkmächtigkeit und Imprägnierungskraft erlangt. Der Ort, auf den sich dieses Denken bezieht, ist teils eine hinter dem Verfassungsgesetz stehende Verfassung,54 teils die Verfassungstheorie, teils auch eine „Verfassungsrechtssubstanz“, in der Ideen, Werte, Texte, Dogmatik und Praxis miteinander verfließen. Es erfolgt eine Ontologisierung der „Verfassung“, der in personenhafter Weise eine Identität zugeschrieben wird.55 Verfassungsrechtswissenschaft besteht danach zu einem Gutteil
darin, die „ikonographische Entschlüsselung“ des Verfassungsgesetzes zu betreiben und so
die Sinnstiftungssubstanz zum Leben zu erwecken.
Der Idee, dass sich in der Verfassung56 die gesellschaftliche, politische und rechtliche Einheit
eines Volkes abbildet, wird im Zuge der Durchdringung des staatlichen und europäischen
politischen Substrats der Boden entzogen. Wie soll sich der Glauben an die Verfassung als
„geronnenem Sinn“ halten und pflegen lassen, wenn wesentliche politische Kräfte außerhalb
des so bezeichneten Wirkfelds stehen und sich hierauf schon vom Ansatz her nicht verpflichtet fühlen?57 Welche Bedeutung soll die Pflege der in der Verfassung angelegten „Grundentscheidung“ haben, wenn dadurch nur noch ein Teil des politischen Lebens eingefangen und
ausgerichtet werden kann? Ein teleologisches Denken – hin auf die Realisierung des in der
Verfassung angelegten Ganzen, des Ideals, des Prinzips – verfängt sich schnell in Aporien,
47
Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928.
Emer de Vattel, Droit des gens, 1758 (Edition 1852).
49
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 274.
50
Karl Theodor Welcker, Art. Staat, in: Carl von Rotteck/Karl Theodor Welcker, Das Staats-Lexikon, Enzyklopädie der sämmlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 3. Aufl. 1865, S 504.
51
Ich folge hier den Ausführungen Hasso Hofmanns (oben Fn. 45). Bis heute wird die Verfassung als Dokument
begriffen, in dem sich die werdende Nation Einheit verleiht (Otto Depenheuer, Funktionen der Verfassung in:
ders./Grabenwarter, Verfassungstheorie, 2010, § 16 mwN. (Aufgabe der Verfassung, die „Selbstidentifikation
der Nation fortzuschreiben“). Deutlich die idealistische Überhöhung: „Die sich im Akt der Verfassungsgebung
selbst entdeckende und verfassende Nation formt .. . die Einheit eines politischen Körpers … .“
52
Deutlich bei Werner Weber, Die Frage der gesamtdeutschen Verfassung, 1950; Hans Peter Ipsen, Über das
Grundgesetz, 1950.
53
Uwe Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67
(2008), 57 (62 ff.).
54
Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, in Anknüpfung an Carl Schmitt.
55
Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 21 Rdnr. 3, 64 ff.
56
Zur Genese des Konzepts: Heinz Mohnhaupt/Dieter Grimm, Verfassung, 1995.
57
Dies gilt auch dann, wenn diese sich – reflexiv – auf den Schutz der nationalen Identität verpflichten (Art. 4
Abs. 2 EUV; ausführlich Armin von Bogdandy/Stephan Schill, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union. Kommentar, 2012, Art. 4 EUV Rdnr. 3 ff.
48
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wenn und soweit wesentliche politische Kräfte kaum kontrollierbar „von außen“ wirken.58
Einheitsvorstellungen, denen zufolge die Verfassung für das allgemeine Ganze steht, geraten
insofern unter Druck. Zeitweilig reagierte man hierauf mit Immunisierungsversuchen: Das
von Paul Kirchhof entwickelte Bild, wonach europäische Politik und das von ihr geschaffene
Recht aus einem „fremden Land“ über eine Brücke in das als weiterhin in sich ruhende und
intakte deutsche Gemeinwesen hineinwirken (dabei aber immer auch abgeblockt werden können),59 beruhte noch auf der Vorstellung grundsätzlicher Trennbarkeit der Sphären.60 Heute
verblasst der Beschreibungs- und Erklärungswert derartiger Bilder. Die Amalgamierung wird
anerkannt und mit kluger Konstruktionsphantasie beschrieben. So rekonstruiert etwa Christoph Grabenwarter das Verhältnis von europäischem und nationalem Recht als ein Verhältnis
von „Hierarchie in Einheit“.61 Ungeachtet dieser Bemühungen, politische (und als deren Manifestation: auch rechtliche) Konflikte in dem Amalgam aufzufangen, gilt jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Sicht: Mehr als eine Teilverfassung des Politischen ist das Grundgesetz
jedenfalls nicht mehr. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass irgendwo im Hintergrund
mit dem Anspruch des Letztentscheidungsrechts noch eine Stellschraube besonderer Reichweite schlummert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass dieser Funktionswandel der Verfassung in den jüngst wiederbelebten Bemühungen um die Entwicklung
einer Theorie der Verfassung bislang so wenig Aufmerksamkeit erfährt.
bb) Umstellungen im Verhältnis von Recht und Politik
Die Amalgamierung politischer Substanz von EU und Staat führt zudem zur Unterwanderung
der zentralen Errungenschaft von Verfassungsstaatlichkeit: der Ablösung des Rechts von der
politischen Macht, die in die Gewinnung rechtlichen Selbststands mündete. Im Nationalstaat
hat sich die Verfassung zum stabilisierenden Anker für die Positivität des Rechts entwickelt.
Recht lässt sich als autonome, nur auf sich selbst gestellte Konstruktion begreifen. Hierarchische Konstruktionen („Stufenbau der Rechtsordnung“) suggerieren eine kaskadenartige und
ineinandergreifende Folge von Rechtsordnungen (Merkl, Kelsen). Die Bereiche von Recht
und Politik stellen sich als prinzipiell getrennt und als nur (durch die Verfassung) „strukturell
gekoppelt“62 dar. Politik wird so in zweifacher Weise ausgeklammert: Gerichte – als Verwalter des Rechtssystems - werden als apolitische Kräfte begriffen, deren ohne Zweifel bestehende Gestaltungsmacht zwar namenlos ist, jedenfalls aber nicht politische Qualität aufweisen
soll. Und die Einwirkungen der Politik auf das Rechtssystem – sei es durch Verfassungs- bzw.
Gesetzesänderung, sei es über die auf die Rechtsprechung wirkenden Kräfte – werden als
prinzipiell externe Faktoren begriffen. Die Rechtskonzeption herrscht dabei über die Politik;
Hasso Hofmann63 spricht von einem asymmetrischen Verhältnis. Denn das Recht seinerseits
58
Ein unbefangener Versuch, sich unter Festhalten an der Theorie den Realitäten entgegenzustellen, findet sich
in der Maastricht-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 89, 155, Leitsatz 7). Er ist nicht wieder aufgenommene
Reminiszenz geblieben.
59
Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HBStR Bd. II, 3. Aufl.
2004, § 21.
60
Dazu Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Josef Isensee/Paul
Kirchhof (Hrsg.), HBStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 32 Rdnr. 53 ff. („Verflechtung“, aber grds. Unberührtheit (!)).
In gewisser Weise ist auch die Lissabon-Entscheidung diesem Ansatz verhaftet, allerdings mit umgekehrtem
Vorzeichen. Hier geht es um Schutz des noch verbleibenden Bestands, zugleich um die Delegitimierung dessen,
was von außen kommt. Es geht um Schließung – oder Nichtschließung.
61
Christoph Grabenwarter, Die Verfassung in der Hierarchie der Rechtsordnung, in: Otto Depenheuer/ders.,
Verfassungstheorie, 2010, § 11 Rdnr. 51 ff..
62
Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176;
ders., Die Politik der Gesellschaft, 200, S. 390 ff.
63
Hasso Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999, S. 1065 (1072).
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determiniert die politische Einwirkung auf das Recht und die politische Verfügung über das
Recht.
Auch dieses Verständnis wird im Zuge der europäischen Integration ausgezehrt. Denn das
Verfassungsrecht verliert seine Determinationskraft über wesentliche Teile politischer Gestaltung. Es wird seinerseits von (europäischer) Politik überspielt und weicht zurück. Es gibt inzwischen immer das Andere, von Außen kommende, das potentiell Störende, das sich zwar
noch einem verfassungsgerichtlichen Kontrollanspruch unterwerfen und abwehren lässt, das
aber letztlich nicht mehr wirklich eingefangen werden kann. Mit dem Festhalten daran, dass
die Manifestationen europäischer Politik im Anwendungsbereich des Grundgesetzes nur auf
der Grundlage eines Anwendungsbefehls zum Tragen kommen können, zieht sich die Verfassung auf einen höheren – aber weitgehend inhaltsleeren – Rückzugsort zurück. Denn die Festlegung über Inhalt und Reichweite des Anwendungsbefehls obliegt der (staatlichen) Politik.
Die Verfassung gibt sich damit in die Hand der Politik. Insofern kann die (zur Klage Anlass
gebende) Beobachtung, dass sich die Distanz von Recht und Politik verringere, nicht überraschen (Udo di Fabio64); sie hat hier eine, wenn auch nicht die alleinige Wurzel. Die politische
Verfügung über und die dadurch bewirkte Beeinträchtigung des Selbststands des positiven
(Staats-)Rechts nehmen zu. Diese dadurch bewirkte Umkehrung lässt sich aus einer Perspektive, die von einem einfachen Nebeneinander von staatlichem und europäischem Verfassungsrecht ausgeht, nicht richtig erfassen. Natürlich liegt es nahe, in diesem Zusammenhang auch
auf die letzten Verteidigungslinien hinzuweisen, die das BVerfG zum Schutz der Verfassung
zieht.65 In diesem Hinweis liegt aber immer auch schon das Eingeständnis des grundsätzlichen
Gestaltwandels.
Man wird diesen Gestaltwandel nicht in den Blick bekommen, wenn man als Rechtswissenschaftler die konstruktive Autonomie des Rechts so sehr verinnerlicht, dass man auch im
Kontext der europäischen Einigung weiterhin von zwei sich begegneten Rechtssystemen
spricht, ohne die dadurch verklammerte Politik in die Betrachtung mit einzubeziehen. Leider
ist diese Herangehensweise – wohl eher unbewusst – nur zu häufig zu beobachten. Allerdings
kann es nicht verwundern, dass nationalstaatliche Deutungsmuster eine derartige Dominanz
aufweisen: Neue Paradigma entwickeln sich immer erst aus der Konfrontation mit den sich
verändernden Gegebenheiten. Aus dieser „rein“ rechtlichen Sichtweise kann es nur darum
gehen, nach Hierarchien zwischen den beiden je auf sich selbst gestellten Rechtsordnungen zu
fragen – etwa, indem man nach einer gemeinsamen „Grundnorm“ sucht.66 Wer hier nicht fündig wird, wird eine Schwebelage feststellen (Rainer Wahl), in der eine eindeutige Entscheidung über die hierarchische Zuordnung der beiden Rechtsordnungen nicht möglich ist. Ein
wesentlich befriedigenderes Bild ergibt sich demgegenüber, wenn man Verfassung als Rahmen von Politik begreift. Dann geht es nicht um die „Kollision“ von Verfassungsrecht, sondern um das Auftauchen und die Bewältigung von Spannungslagen, die sich durch das Aufeinandertreffen und die Durchdringung unterschiedlich verfasster politischer Kräfte in ihrem je
unterschiedlichen Rechtsrahmen67 ergeben.
64
Udo di Fabio, Ewige Bindung oder flüchtige Liasion? FAZ vom 6. Oktober 2011, S. 8.
BVerfGE 123, 267 (Lissabon). Namentlich geht es um die kompetenziellen und grundrechtlichen Grenzen der
Einwirkung und um den Schutz der Verfassungsidentität.
66
Früh Wolf-Dieter Grussmann, Grundnorm und Supranationalität, in: Thomas von Danwitz u.a. (Hrsg), Auf
dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 47; Mattias Kumm, Who is the final arbiter of constitutionality in Europe?, CMLRev. 36 (1999), S. 351.
67
Die Rahmen sind grundsätzlich entkoppelt (Matthias Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund – Verfassungstheoretischer Charme und rechtstheoretische Insuffizienz einer Unschärferelation, GS Blomeyer, 2004, S.
637; Martin Nettesheim, Europäischer Verfassungsverbund?, FS Isensee, 2007, S. 733; anders die Konzeption in
Christian Calliess (Hrsg., Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007.
65
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Die vorstehend beschriebenen Veränderungen sind gradueller Natur. Ihre Wurzeln liegen weit
zurück – in gewisser Weise schon in den grundlegenden Entscheidungen „van Gend &
Loos“68 und „Costa/ENEL“69. Ihre Greifbarkeit ist aber viel neuerer Natur. Es gibt aus der
Binnenperspektive des politischen Systems keinen fixen Punkt, an dem die Veränderungen
eine Qualität annehmen, die die Rede von einem Umschlag rechtfertigen könnte. Die Abschwächungen, die die Erwartungen an die Stabilisierungs- und Orientierungsfunktion der
Verfassung inzwischen erfahren haben, zwingen nicht notwendig zur Verfassungs(neu)gebung. Ihre Bedeutung lässt sich nur im Rahmen einer Gesamtbetrachtung beurteilen, die ihren Blick auch auf das Kommende und das Jetzt richtet.
3. Einrichtung, Gewährleistung und Schutz des demokratisch-politischen Prozesses
Noch ein dritter Ansatz muss hier in den Blick genommen werden. Es ist eine der Hauptfunktionen der Verfassung, einem politischen Entscheidungsprozess einen Rahmen zu geben. Verfassung hat die Funktion der Sicherung der Offenheit des politischen Prozesses als Ort der
Selbstbestimmung freier und gleicher Menschen.70 Konzeptionen dieser Art begreifen Verfassung als einen ordnenden Rahmen des politischen Geschehens im Gemeinwesen. Sie hat eine
beschränkte Reichweite, ist unabgeschlossen und wirkt punktuell, steht in Abhängigkeit von
den Bewegungen und Kräften in diesem Raum und wird vor allem auch aus diesem Raum
stabilisiert. Ihre stabilisierende „Hegung“ erfolgt durch staatliche Institutionen (insofern die
berechtigte Frage nach der Existenz eines „Hüters“), nicht durch Rekurs auf vorausliegende
ideelle Gegebenheiten (Grundnorm, Entscheidung des pouvoir constituant, Wertekonsens
etc.). Die Stabilisierung erfolgt nicht von „außen“, sondern von „innen“. Aus dieser Perspektive kommt es darauf an, ob der politische Prozess im Prozess der Integration defizitäre Strukturen entwickelt hat, die von der Verfassung und deren Interpretation durch das BVerfG nicht
mehr korrigiert werden können.71 Hätten sich derartige Konstellationen ergeben und Kräfte
herausgebildet, so würde die Organisationsfunktion der Verfassung verkümmern; es käme zu
einer Destabilisierung und Delegitimierung.
Im demokratischen Verfassungsstaat hat die Verfassung darauf hinzuwirken, dass die in ihrem Rahmen getroffenen Entscheidungen dem Ideal demokratisch-gemeinwohldienlichen
Regierens entsprechen. Demokratisches Regieren ist als repräsentative, gemeinwohlverpflichtete Entscheidungsfindung zu begreifen. Zu den Realisierungsbedingungen gehört, dass Inputorientierung, Verfahrensorganisation und Kontrollierbarkeit (Responsitivität) in einem je
nach Sachbereich hinreichenden Umfang verwirklicht sein müssen.72 Ohne diese Mechanismen der Steuerung und Rückbindung würde Macht missbraucht und fehlgeleitet werden. Man
missversteht diese Mechanismen, wenn man in ihnen Formen sieht, mit denen der „Volkswille“ hervorgebracht oder zur Leitschnur repräsentativen Entscheidens gemacht würde. Es geht
vielmehr darum, dass repräsentativ entscheidende Amtsträger in einen Steuerungs- und Recht68
EuGH, Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1963, 1.
EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg 1964, 1141.
70
Gerd Roellecke, Identität und Variabilität der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christian Grabenwarter
(Hrsg.), Verfassungslehre, 2010, § 13 („Unbestimmtheit“).
71
Konkret: Es bedürfte der Darlegung, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Schaffung des Art. 23
GG einem Erfordernis plebiszitärer Beteiligung nicht hinreichendes Gewicht geschenkt hat.
72
Demokratie lässt sich damit – entgegen der einflussreichen Sichtweise Fritz Scharpfs (Demokratietheorie
zwischen Utopie und Anpassung, 1970) – nicht auf das Zusammenspiel von „input“ und „output“ reduzieren.
Vor allem lässt sich Demokratie nicht als System kommunizierender Röhren begreifen, in dem ein Mehr an
„output“ Einbussen in der demokratischen Mitwirkung ohne weiteres ausgleichen könnte (im einzelnen: Martin
Nettesheim, Integrationsverantwortung. Zur Verkoppelung politischer Räume, in: Pechstein (Hrsg.), Integrationsverantwortung, 2012 (i.E.)).
69
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fertigungskontext gestellt werden, in dem Eigenstand und Fremdorientierung in ein dialektisches Verhältnis gestellt werden und so gemeinwohldienliches Entscheiden versprechen. Das
Grundgesetz erklärt die Existenz und grundsätzliche Funktionsweise dieses – fragilen – Mechanismus in Art. 20 Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG für „änderungsfest“. Auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber ist der Zugriff versperrt; über diese Gegebenheiten kann politisch
auch mit einer Supermajorität (Art. 79 Abs. 2 GG) nicht verhandelt oder verfügt werden. Im
politischen Prozess dürfen nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht jene Grundlagen angetastet werden,
in denen das Versprechen – um nicht zu sagen: die Garantie – seiner Gemeinwohldienlichkeit
begründet ist. Art. 79 Abs. 3 GG sichert den politischen Prozess gegen sich selbst.
„Grenzen des Grundgesetzes“ setzen diesem Verständnis zufolge dort ein, wo die diesbezügliche Dispositionsfähigkeit – auch einer Zweidrittelmehrheit – endet. Diesbezüglich sind zwei
Maßstäbe in den Blick zu nehmen.
a) Das Unerträglichwerden des Demokratiedefizits - Grenzen der Tragfähigkeit der
Verkopplung
Insofern sind den repräsentativ entscheidenden (politischen) Akteuren bei der Ausgestaltung
und Fortentwicklung des institutionellen „setting“, in dem der politische Prozess im europäischen Mehrebenensystem organisiert wird, unverfügbare Grenzen gezogen. Es darf im Prozess der europäischen Integration nicht zur Entstehung von Machtstrukturen kommen, die
nicht in hinreichendem Umfang von Mechanismen demokratischer Steuerung und Rückbindung getragen werden. Grundsätzlich obliegt nach den Grundentscheidungen des Grundgesetzes die Entscheidung, wie die EU fortentwickelt und wie die ihr übertragene Macht demokratisch verantwortet werden soll, den – nach Art. 23 GG handelnden – politischen Gewalten.
Auch eine „Supermajorität“ kann sich dabei aber nicht über das Erfordernis hinreichender
Legitimation europäischer Hoheitsgewalt hinwegsetzen. Grenzen der Integration bestehen –
entgegen der Auffassung des BVerfG – insofern nicht in substanziell-kompetenzieller Hinsicht (z.B. deutsche Mitgliedschaft in der WTO), sondern mit Blick auf die Tragfähigkeit demokratischer Rückbindungsmechanismen. Das Grundgesetz zieht einer Entwicklung, in der
das schon heute bestehende Demokratiedefizit73 weiter anwächst, Grenzen.
Wer sich dieses Maßstabs verfassungsrechtlich bedienen will, muss die Leistungsfähigkeit der
Institutionen und Mechanismen, mit denen EU-Hoheitsgewalt zurückgebunden werden darf,
empirisch bewerten. Es geht um die Analyse eines institutionellen Arrangements, nicht um
dessen Idealisierung. Ein normativer Ansatz, wie er sich in der „Lissabon-Entscheidung“ des
BVerfG findet,74 kann dies nur unvollkommen. Weder lässt sich die Leistungsfähigkeit des
Europäischen Parlaments so leicht klein reden, wie dies in der Entscheidung mit Hinweis auf
das Prinzip gleichen Erfolgswerts jeder Wählerstimme unternommen wird, noch ist die Tragfähigkeit der Verkopplungsinstitutionen, mit denen EU-Gewalt in den deutschen politischen
Raum zurückgebunden wird, so hoch, wie es dort postuliert wird. Auf der einen Seite erweisen sich die Mechanismen, mit denen sich die EU unmittelbar aus der europäischen Bevölkerung legitimiert, als tragfähiger, als es die verengende Betrachtungsperspektive des BVerfG
suggeriert. Auf der anderen Seite ist die Steuerung des Geschehens auf EU-Ebene aus dem
nationalen politischen Raum heraus inzwischen deutlich geschwächt. Die diesbezüglichen
strukturellen Begrenzungen werden viel zu wenig beachtet. Angesichts des Legitimationsbe73
Thomas Oppermann/Claus Dieter Classen/Martin Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl. 2011, S. 243 ff. mit weiteren Nachweisen.
74
Die Legitimationskonstruktion des BVerfG und sein Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Kopplungsinstitutionen führt hier eigentlich dazu, keine Probleme zu sehen.
15
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dürfnisses, den die EU inzwischen aufweist, dürften die Kopplungsinstitutionen an den Rand
ihrer Tragfähigkeit gekommen, ja vielleicht auch schon überlastet sein; daran ändert die verstärkte Einbeziehung der nationalen Parlamente (Art. 12 EUV)75 nichts. Es ist hier nicht der
Platz für eine ausführliche Analyse des sich so ergebenden Gesamtbilds.76 Entscheidend ist
hier, dass sich das Gesamtbild demokratischer Legitimität schon heute defizitär darstellt.
Kommt es im weiteren Integrationsverlauf zu einer Verstärkung der Problematik, zieht Art.
79 Abs. 3 GG eine Grenze. Das Grundgesetz lässt einen Integrationsverlauf, in dem sich demokratische Selbstbestimmung zu einer Form der Fremdbestimmung aus Brüssel wandelt,
nicht zu.77
Dabei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. Einerseits geht es um die Beherrschung
des Prozesses: Wenn und soweit sich im Kontext der Integration Lagen herausbilden, die keine selbstbestimmte Entscheidung über den weiteren Integrationsverlauf mehr ermöglichen,
sondern den weitreichenden und „alternativlosen“ Nachvollzug von Erwartungen Privater
(auch der „Märkte“) erzwingen, gerät der Integrationsprozess in die Nähe dieser Grenze.
Wenn etwa die Bekämpfung der Folgen einer Fehlkonstruktion der – eh schon in der Bevölkerung überwiegend abgelehnten – Währungsunion nunmehr faktisch zu weiterer Integration
zwingt, dann erleidet der politische Prozess Schaden.78 Andererseits darf das entstehende Institutionengefüge nicht zur Fremdbestimmung führen. Tiefgreifendere Legitimationsprobleme
drohten insofern, wenn mit den Planungen ernst gemacht würde, die Mitgliedstaaten der Währungsunion einem tiefgreifenden, einschneidenden und politisch diskretionären „Stabilitätsregime“ zu unterwerfen, in dem sie politische Gestaltungsfreiheit dauerhaft verlieren. Die Möglichkeit der Entstehung einer „absolutistischen Demokratie“ kann heute nicht mehr als Hirngespinst von der Hand gewiesen werden.79 Art. 79 Abs. 3 GG würde sich einer solchen Entwicklung entgegenstellen.
b) Substanzielle Grenzen repräsentativer Entscheidungsfindung
Schwerer fällt die Beantwortung der Frage, ob das Grundgesetz substanzielle Grenzen repräsentativer Entscheidungsfindung im Integrationsprozess etabliert. In diesem Fall ginge es
nicht um die demokratietheoretische Tragfähigkeit eines institutionellen Arrangements, sondern um inhaltliche Fragen der Grenzen repräsentativer Entscheidungsfindung. Wer das „Ende des Grundgesetzes“ thematisiert, spricht eine Verlagerung der Entscheidungszuständigkeit
an.80 Es geht darum, ob es nicht Entscheidungen gibt, die aufgrund ihrer Art, ihres Inhalts
75
Umfassend Abels/Eppler (Hrsg.), Auf dem Weg zum Mehrebenenparlamentarismus? 2011; Pechstein (Hrsg.),
Integrationsverantwortung, 2012.
76
Hierzu etwa Hans Hugo Klein, Europäische Integration und demokratische Legitimation, 2011; Alexis von
Komorowski, Demokratieprinzip und Europäische Union, 2010; Beate Kohler-Koch/Berthold Rittberger (Hrsg.),
Debating the Democratic Legitimacy of the EU, 2007.
77
Unzufriedenheit in der Bevölkerung kann hierfür ein Anzeichnen sein, reicht aber allein nicht aus. Sie kann
aber Hinweis auf die Existenz von Verkrustungen oder Fehlentwicklungen politischer Art geben.
78
Zum allgemeineren Kontext (Forderung nach Stärkungen der plebiszitären Demokratie und Überlegungen zur
Beteiligung bzw. Absorption von Protestbewegungen): Klaus F. Gräditz, Angemessene Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturplanungen als Herausforderung an das Verwaltungsrecht im demokratischen Rechtsstaat,
GewArch 2011, S. 276; Christoph Moench/Marc Ruttloff, Netzausbau in Beschleunigung, NvWZ 2011, S. 1040;
Alexander Schink, Öffentlichkeitsbeteiligung - Beschleunigung – Akzeptanz, ZG 2011, 226; Martin Burgi/Wolfgang Durner, Modernisierung des Verwaltungsverfahrensrechts durch Stärkung des VwVfG, 2011, S.
146  ff.; Reinhard Wulfhorst, Konsequenzen aus „ Stuttgart 21“. Möglichkeiten der Verbesserung der Bürgerbeteiligung, DÖV 2011, S. 584; Rudolf Steinberg, Die Bewältigung von Infrastrukturvorhaben durch Verwaltungsverfahren – eine Bilanz, ZUR 2011, S. 344.
79
Jürgen Kaube, Europas Zukunft: Die absolutistische Demokratie, FAZ vom 27.9.2011.
80
Siehe oben unter II.
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oder ihrer Folgen eine Natur aufweisen, die die Leistungsfähigkeit des „Normalfallsettings“
übersteigen und die daher nur vom Volk oder einer Nationalversammlung getroffen werden
können.81
Es besteht insofern Klarheit, dass im geltenden Verfassungsrechtssystem des Grundgesetzes
kein Übergang von repräsentativen Entscheidungsmechanismen auf eine Volksabstimmung
vorgesehen ist. Der Entscheidungsspielraum repräsentativer Entscheidungsträger ist hier
durch das Kompetenzerfordernis und materielle Bindungen eingebunden und beschränkt; ein
Übergang der Entscheidungszuständigkeit aufgrund der Wichtigkeit der Entscheidung, der
Neuartigkeit oder Unvorhersehbarkeit der Problemlage oder einer Willensdifferenz zwischen
Amtsträger und Bevölkerungsmehrheit ist demgegenüber nicht vorgesehen. Die Differenz
zwischen repräsentativer Entscheidungsfindung durch Amtsträger und „pouvoir constituant“
wird nicht allein durch die Bedeutung einer Angelegenheit konstituiert. Die jüngst ins Spiel
gebrachte These, wonach im Angesichte grundlegender Entscheidungen über die Entwicklung
des Gemeinwesens der Übergang in den „Entscheidungsmodus“ des „pouvoir constituant“
erfolgen müsse, ist doppelt unrichtig: Auch weitreichende, in ihrer Folgewirkung bedeutsame
Entscheidungen sind repräsentativ zu treffen – oder nach Art. 79 Abs. 3 GG zu unterlassen.
Zudem wäre den verfassten Organen nicht mehr möglich, als eine plebiszitäre Entscheidung
der als Organ handelnden Aktivbürgerschaft zu erzwingen. Der „pouvoir constituant“ ist für
sie unerreichbar. Insofern sind jüngst erhobene Forderungen, wonach eine Pflicht zur „Anordnung einer Volksabstimmung“ über den ESM deshalb bestehe, weil dort über wesentliche
Bestandteile des volkswirtschaftlichen Vermögens verfügt werde,82 dogmatisch folgerichtig,
zugleich aber inhaltlich irrig.
Ebenso wenig kann die Einholung eines plebiszitären Entscheids nicht damit gerechtfertigt
werden, dass die repräsentativ entscheidenden Amtsträger in ihrer Politik nicht den Vorstellungen und Wünschen folgen, die in einer Mehrheit der Bevölkerung bestehen. Repräsentative
Entscheidungstätigkeit ist nicht auf die Erfüllung oder Befriedigung von Mehrheitsmeinungen
festgelegt. Auch wenn in der Bevölkerung die zur „Euro-Rettung“ ergriffenen Maßnahmen
keine Zustimmung erfahren, zwingt dies nicht zur Einholung einer plebiszitären Entscheidung. Der Umstand allein, dass es zu einer Differenz kommt, rechtfertigt eine (Rück)Verlagerung von Entscheidungen in plebiszitäre Szenarien daher nicht.
Wenig Klarheit besteht in diesem Zusammenhang, inwieweit dem BVerfG eine Rechtsfortbildung des geltenden Verfassungsrechts mit dem Inhalt zulässig wäre, dass bestimmte Entscheidungen einem Plebiszitvorbehalt unterliegen.83 Es ginge insofern um eine rechtsfortbildende Ergänzung von Art. 20 GG. Betrachtet man diese Frage funktional, spricht vieles gegen
die Zulässigkeit eines derartigen Eingriffs seitens des BVerfG: Art. 79 Abs. 2 GG macht deutlich, dass über die Zuordnung repräsentativer und plebiszitärer Lagen im politischen Prozess
entschieden werden soll und – vergleichsweise mühelos – auch entschieden werden kann.
Prozedurale Hürden, die eine Petrifizierung eines unzeitgemäßen Verfassungsrechtszustands
oder eine Verkrustung des diesbezüglichen Entscheidungsprozesses bewirken könnten, bestehen nicht. Nicht zu verkennen ist allerdings auch, dass das methodische und funktionale
81
In diese Richtung eine Äußerung Peter M. Hubers auf einer Veranstaltung in Speyer am 11. Mai 2012.
Wolfgang Kahl/Andreas Glaser, Nicht ohne uns, FAZ vom 8. März 2012.
83
Zum geltenden Verfassungsrecht: Peter Krause, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: HdbStR III (Fn. 2), §35; Horst Dreier/Fabian Wittreck, Repräsentative und direkte Demokratie im
Grundgesetz, in: Lars Feld (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie, 2009, S. 11; Fabian Wittreck, Volksgesetzgebung. Königsweg oder Irrweg der direkten Demokratie? ZSE 2010, S. 553; ders., Wächter wider Willen, ZG
2011, S. 122.
82
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Grundverständnis, dessen sich das BVerfG in seinem eher freizügigen Umgang mit dem Verfassungstext bedient, die Billigung der nach Art. 79 Abs. 2 GG zuständigen Organe erfährt
und insofern seinen funktionalen Spielraum vergrößert. Betrachtet man die Frage materiell, so
kommt es letztlich darauf an, ob die Entscheidungslage, mit der die repräsentativen Amtsträger konfrontiert sind, strukturelle Eigenschaften aufweist, die sich im „normalen“ politischen
Prozess nicht angemessen bewältigen lassen. Die unterschiedlichen Zeithorizonte, die die am
Rhythmus der Wahl orientierten Parlamentarier und die langfristig haftende Bevölkerung haben, könnten mit Blick auf „Rettungsentscheidungen“ im Rahmen der Euro-Krise einen derartigen Übergang rechtfertigen. Auf der anderen Seite ist im Prozess der Euro-Rettung eine Situation zu bewältigen, in der keine Differenz zwischen Mehrheits- und (vom BVerfG zu
schützenden) Minderheitsinteressen vorliegt. Die Belastungen, die in diesem Prozess entstehen, treffen alle - je nach ihrer steuerrechtlichen Leistungsfähigkeit – grundsätzlich gleich.84
Bislang scheint sich das BVerfG mit dieser Rechtsfrage des positiven Verfassungsrechts nicht
befassen zu wollen. Die Mitglieder des BVerfG scheinen den politischen Prozess statt dessen
auf Art. 146 GG hinführen zu wollen. Sie sprechen davon, dass nur das deutsche Volk einer
Entwicklung zustimmen könne, die Verhältnissen führe, in denen es „majorisisiert“ würde. Es
geht insofern um den verfassungstheoretisch revolutionären Bruch mit der bisherigen Ordnung. Dürfen die Amtsträger eines Repräsentativorgans zur Überwindung der Ordnung aufrufen, in der sie wirken, oder handelt es sich dabei um einen Fall des Hochverrats? Liegt in diesem Fall nicht ein „Staatsstreich von oben“ vor? Man wird differenzieren müssen: Wenn und
soweit sich das BVerfG – unter Berufung auf die vorstehend behandelten etatistischen bzw.
konstitutionellen Argumente - darauf beruft, dass in der geltenden Ordnung bestimmte Entscheidungen nicht getroffen werden dürfen, bewegt es sich im Rahmen seiner Zuständigkeit:
Derartige Argumente mögen überzeugend oder nicht überzeugend sein, sind aber institutionell-funktional sicherlich statthaft. Demgegenüber wird eine im Amt angelegte Grenze überschritten, wenn aus dem Amt heraus aktiv auf den politischen Prozess Einfluss genommen
und zur Anwendung von Art. 146 GG aufgerufen wird. Diese Option steht nur den Mitgliedern des politischen Gemeinwesens zu.
Es ist natürlich leicht zu erkennen, dass die damit thematisierte Grenzziehung in der Praxis
nicht nur schwierig vorzunehmen ist.85 Auch die Unterscheidung zwischen amtlichem Handeln und bürgerlichem Handeln dürfte nicht immer leicht zu ziehen sein: Wenn sich etwa
Verfassungsrichter in Zeitungsinterviews oder in Vorträgen zu dieser Thematik äußern, ist
nicht immer zu erkennen, ob sie sich als Bürger – insofern unter problematischer Verwendung
des Amtsnimbus – oder als Funktionsträger äußern. Eine wenig erfreuliche Verquickung von
Amt und Bürgerstatus sollte jedenfalls vermieden werden. Die theoretische Validität dieser
Differenz wird durch die praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten aber nicht berührt. Aus der
Teilnehmerperspektive besteht zwischen der Rechtsfortbildung und dem Aufruf zur Revolution keine Gleichwertigkeit.
Man kann das so gefundene Ergebnis auch anders formulieren: Aus der Binnenperspektive
der geltenden Ordnung ist der politische Prozess zukunftsoffen und unabgeschlossen. Es gibt
keinen Ansatzpunkt, ihn zu schließen und einen „Neuanfang“ zu verlangen. Auch im Übergang zwischen der grundgesetzlichen Ordnung und einem jenseits von Art. 146 GG liegendem Neuanfang endet Politik nicht; sie fließt nur in anderen Bahnen. Wer die Diskussion zu
den „Grenzen des Grundgesetzes“ nicht aus etatistischer oder substanziell-konstitutioneller
84
Das wäre anders, wenn schon heute klar erkennbar wäre, dass die Belastungen „weginflationiert“ werden
sollen. Dies ist aber nicht der Fall.
85
Wann schlägt die Feststellung von „Grenzen“ um in eine Beeinflussung des politischen Prozesses?
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Sicht, sondern unter demokratisch-politischen Aspekten betrachtet, wird für das BVerfG damit keinen Ansatzpunkt für die Festlegung eines substanziellen Endpunkts erkennen können.
IV. Hinter der Grenze: Differenzen zwischen Demokratietheorie und Konstitutionalismus
Die vorstehenden Überlegungen haben deutlich gemacht, dass es zwar argumentative Ansatzpunkte dafür gibt, dem Grundgesetz eine „Grenze“ einzuschreiben, dass dies aber nur mit
erheblichem Aufwand möglich ist und selbst dann zweifelsbehaftet bleibt. Damit wird allerdings nur eine Seite des verfassungsrechtlichen Problems erschlossen. Die Entscheidung darüber, ob und wo die „Grenze“ gezogen werden soll, hängt auch davon ab, was hinter der
Grenze liegt. In dieser Frage bestehen zwischen einer demokratietheoretisch-idealistischen
und einer konstitutionalistischen Perspektive weitreichende – aber in auffälliger Weise wenig
thematisierte – Unterschiede. Schon an dieser Stelle lässt sich insofern feststellen, dass die
Suche nach der „Grenze“ des Grundgesetzes wesentlich von verfassungstheoretischen Vorverständnissen über den Zustand „hinter“ der Grenze abhängt.
1. Die Rolle der verfassungsgebenden Gewalt
a) Das demokratisch-idealistische Verständnis
Verfassungsgebung lässt sich als ein apolitischer und urwüchsiger Akt einer „verfassungsgebenden Gewalt“ des Volkes begreifen.86 Diesem Verständnis zufolge geht es um eruptive und
unangeleitete Willensäußerung, um die Manifestation eines aus dem Nichts kommenden und
alles beiseite schiebenden Willens. Eine derartige Perspektive kennzeichnet das wohl herrschende Verfassungsverständnis. Verfassungsgebung wird hier überwiegend als unkontrollierter Revolutionsakt begriffen.87 Wer sich dieser Sichtweise bedient, wird geneigt sein, „hinter“ der Grenze des Grundgesetzes eine weder steuerbare noch normativ bewertbare Äußerung der verfassungsgebenden Gewalt zu sehen. Man kann von einer Manifestation des reinen
Heils sprechen. Wer sich den Prozess des Übergangs von einer zur nächsten Verfassungsordnung nur als entfesselten Gewaltakt revolutionärer Natur vorstellen kann, wird zwar beobachten, nicht aber bewerten können. Die Entscheidung des pouvoir constituant liegt vor dem
Recht und kann aus der Perspektive eines Teilnehmers im Rechtssystem nicht kritisiert oder
in Frage gestellt werden. Sie ist der konstruktive Ausgangspunkt, hinter den man nicht zurückgehen kann – und insofern auch keinen rechtsinternen Maßstab entwickeln kann, mit dem
die Manifestation der verfassungsgebenden Gewalt eingefangen werden kann. Aus dieser Perspektive kann auch die auf eine Verfassung folgende neue Ordnung immer nur besser als das
Bestehende sein. Aus der Sicht dieses demokratietheoretischen Verständnisses stellt sich die
Abfolge von Verfassungen als Fortschrittsgeschichte dar, gegen deren Realisierung man aus
der geltenden Verfassung heraus keine Einwendungen formulieren kann. Wer diese Erwartung hegt, wird zwar nicht notwendig für einen frühzeitig einsetzenden Grenzverlauf des
Grundgesetzes plädieren, wohl aber bei der Betrachtung des Künftigen kein Argument entwickeln können, mit dem sich die geltende Ordnung schützen und bewahren ließe. Dem demokratietheoretischen Idealisten fehlt konservierender Fortschrittsskeptizismus.
86
Explizit z.B. Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 2006, Art. 146 Rdnr. 23 f.
Zur „Bindungslosigkeit“ etwa: Henner Jörg Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, 1997, 104 ff.; zur
Geltung des Art. 28 GG bei Verfassungsgebung auf Länderebene: BVerfGE 1, 14 (61).
87
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b) Die konstitutionalistische Perspektive
Man muss sich dieser Deutung der Zeit „nach“ einer Verfassung nicht bedienen; ja, sie ist
noch nicht einmal besonders naheliegend. Das demokratietheoretische Heilsversprechen ist
politisch-ideologischer Natur: Es verspricht – und legitimiert zugleich das Geschaffene. Dem
Einwand, das von der verfassungsgebenden Gewalt Geschaffene sei nicht gerechtfertigt, wird
der Boden entzogen. Man sollte diese Funktion nicht abtun: Sie ist in ihrer begrenzten Reichweite sinnvoll und zweckmäßig, darf aber weder überhöht noch fehlgedeutet werden. Das
Idealbild hat eine Wirkmächtigkeit, Anziehungskraft und Leuchtkraft, aufgrund derer die
Verschiedenheit der tatsächlichen Möglichkeiten leicht aus dem Blick geraten. Verfassungsneugebung kann eruptiv sein – ist es aber nur im seltenen Ausnahmefall. Regelmäßig wird es
vielmehr um einen politischen Prozess des Übergangs gehen, der innerhalb eines existierenden und fortbestehenden institutionellen und rechtskulturellen Kontextes erfolgt und lediglich
punktuelle Umstellungen umfasst.88
Anhängern eines konstitutionalistischen Denkens dürften diese Feststellungen trivial erscheinen. Im Zentrum dieses Denkens steht die Überlegung, dass Herrschaft – auch im demokratischen Verfassungsstaat – nicht nur erzeugt, sondern immer auch geordnet und begrenzt werden muss. Die ungezügelten Erwartungen, die dem vorstehend beschriebenen demokratischen
Idealismus inne sind, sind ihm fremd; es ist ein skeptisches und zweifelndes Denken. Konstitutionalistisches Denken wird nicht mit idealisierenden Ideen operieren, sondern auf die tatsächlichen Gegebenheiten und Machtverhältnisse abstellen. Für dieses Denken ist Verfassungsgebung kein Akt, der aus dem Nichts kommt und unwiderleglich die Legitimität eines
vom Volk gesetzten Grundakts besitzt. Auch Verfassungsgebung wird vielmehr als Ergebnis
eines politischen Prozesses angesehen, in dem Menschen in einer bestimmten historischen
Lage und Kräftekonstellation entscheiden. Verfassungsgebung kann danach bewertet werden;
sie kann glücken oder nicht.89 Für sie kann es günstige Zeiten geben, aber auch Zeiten, in denen besser darauf verzichtet wird.
Konstitutionalistisches Denken wird sich dem Raum hinter der „Grenze des Grundgesetzes“
skeptisch nähern. Es wird bei der Entscheidung der Frage, wo die „Grenzen des Grundgesetzes“ verlaufen, die Realisierungschancen eines neuen Verfassungsgebungsprozesses in den
Blick nehmen und in Rechnung stellen, ob hinreichende Gründe für die Annahme bestehen,
dass die im Prozess der Verfassungsgebung getroffene (politische) Entscheidung den Verlust
einer bewährten Ordnung aufwiegt. Es wird angesichts der Unsicherheiten, die bei der diesbezüglichen Prognose bestehen, Zurückhaltung üben und bei der (nach dem Gesagten: zweifelhaften) Annahme, dass das geltende Verfassungsrecht auf „Grenzen“ stoße, vorsichtig sein.
Es wird eine solche Situation nur dann bejahen, wenn ein anderes Verständnis nicht haltbar
erscheint. Konstitutionalistisches Denken ist tendenziell konservatives Denken.
c) Die Vielfalt der Deutungsvorschläge
Die vorstehende Alternative lässt sich nicht mit den Kriterien richtig oder falsch abhandeln.
Wer hier Position bezieht, trifft eine Entscheidung, die von einer Vielzahl von Faktoren –
nicht zuletzt der persönlichen Weltsicht – abhängt. Wer im politischen Raum agiert, ist hier88
Verfassungsgebung leitet Umstellungsprozesse ein, die mit dem Akt der Inkraftsetzung der neuen Verfassung
nicht abgeschlossen, sondern erst angestoßen werden. Die überwiegenden Teile des bestehenden rechtlichgesellschaftliche Substrats werden vom Akt der Verfassungsgebung regelmäßig (jedenfalls zunächst) kaum
berührt werden.
89
Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 43 ff.
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bei frei; dies hat die vielschichtige Diskussion in der Zeit nach der Herstellung der deutschen
Einheit gezeigt. Damals hat sich die Position eines skeptischen Konstitutionalismus durchgesetzt, für den die Kosten und Risiken, die mit der Einleitung eines Prozesses auf Verfassungsneugebung verbunden sind, zu hoch waren, um in der vagen Chance auf Realisierung einer
„besseren Ordnung“ die bewährte Verfassung aufzugeben.90 Wer sich der Frage als Verfassungsrechtswissenschaftler nähert und aus der disziplinären Binnenperspektive nach Gründen
sucht, die für die eine oder andere Sichtweise sprechen, stößt auf ein merkwürdig ambivalentes Bild amorpher Deutungsversuche.
aa) Verfassungstext
Dem Text des Grundgesetzes ließ sich zunächst mit relativer Deutlichkeit entnehmen, dass die
verfassungsgebenden Kräfte von einem konkret-historischen Verständnis des Prozesses der
Verfassungsablösung beeinflusst waren. In der ursprünglichen Präambel, aber auch in Art.
146 GG a.F. nahmen die Schöpfer des Grundgesetzes die konkrete historische Situation in den
Blick. Sie errichteten die neue Ordnung im Wissen um die Zerrissenheit Deutschlands und die
Stellung der Besatzungsmächte. Sie skizzierten eine konkrete Zukunft “hinter” dem Grundgesetz. Art. 146 a.F. verwies nicht auf das Volk der Demokratietheorie, sondern auf die Bevölkerung eines künftig vereinigten Deutschlands. Die Bestimmung formulierte eine konkrete
Zukunftsperspektive.91 Während es der Theorie der verfassungsgebenden Gewalt zufolge das
Volk ist, das seine Vorstellungen vom Weg in die Zukunft in die Form der neuen Verfassung
gießt, traf das Grundgesetz selbst Aussagen über diesen Weg – und integrierte damit Bestandteile des politisch-konstitutionalistischen Denkens. Mit der Wiedervereinigung wurde diese
Erwartung eingelöst. Insofern war es konsequent, dass die wohl überwiegende Auffassung
nach Vollendung der Einheit von der Obszoleszenz der Bestimmung ausging92 und eine Streichung empfahl.93 Der verfassungsändernde Gesetzgeber folgte dem nicht; Art. 146 GG besteht in leicht fortgeschriebener Form fort. Dies lässt sich dahingehend deuten, dass nunmehr
die Theorie der verfassungsgebenden Gewalt in “reiner Form” anerkannt wird.94 Es wäre ein
Bedeutungswechsel eingetreten. Wer diese Sichtweise konsequent verfolgt, wird nicht nur
postulieren, dass die „Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt“ im Grundgesetz nunmehr
rechtlich „gelte“. Der Regelungsgehalt von Art. 146 GG liege „einzig und allein darin, die
Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Bezug auf das Grundgesetz als richtig zu unterstellen, präziser: ihr Geltung im technischen Sinne zu verschaffen.”95 Dieser
Sichtweise zufolge ist mit der Neufassung von Art. 146 GG eine Umstellung erfolgt, durch
90
Hermann Huba, Theorie der Verfassungskritik, 1996, S. 18 ff. mwN.
Wiedervereinigung und Freiheit von besatzungsrechtlichen Bindungen: Hasso Hofmann, Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, StWStP 6 (1995), S. 155 (159); Dreier (oben Fn. 86), Art. 146
Rdnr. 27.
92
Z.B. Axel von Campenhausen, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 146 Rdnr. 21; Josef Isensee, Braucht Deutschland eine neue Verfassung? 1992, S. 32 f.; Peter Michael Huber, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 146
Rdnr. 5.
93
Josef Isensee, Deutschlands aktuelle Verfassungslage, VVDStRL 49 (1990), S. 39 (53); Christian Starck,
Deutschland auf dem Wege zur staatlichen Einheit, JZ 1990, S. 349 (354); Fritz Ossenbühl, Probleme der Verfassungsreform in der Bundesrepublik Deutschland, DVBl. 1992, 468 (469); Peter Lerche, Der Beitritt der DDR,
in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HBStR VIII, 1. Aufl. 1995, § 194 Rdnr. 60; Paul Kirchhof, Brauchen
wir ein neues Grundgesetz? 1992, 14 ff.; Rupert Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Loseblattkommentar, 2012, Art. 146 Rdnr. 5; Huber (oben Fn. 92), Art. 146 Rdnr. 7.
94
Der Deutungsstreit wird beschrieben von Martin Heckel, Die Legitimation des Grundgesetzes durch das deutsche Volk, Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HBStR VIII, 1. Aufl. 1995, § 197 Rdnr. 86 ff.
95
Holger Grefrath, Exposé eines Verfassungsprozessrechts von den Letztfragen? AöR 135 (2010), S. 221 (227)
(Fußnote nicht zitiert).
91
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die die (ihren Inhalten nach abstrakte) demokratisch-idealistische Sichtweise nunmehr prägend ist.
bb) Das BVerfG: Anhänger eines positivistischen Konstitutionalismus?
Das BVerfG ist dem in seiner Rechtsprechung zu Art. 146 GG allerdings nicht in letzter Konsequenz gefolgt. In der Lissabon-Entscheidung operiert das BVerfG nicht nur mit der Existenz einer “latenten Souveränität” des pouvoir constituant,96 sondern erkennt auch dessen
Freiheit zur Mitwirkung an der Gründung eines europäischen Bundesstaates an. Während es
dem Grundgesetz eigentlich darum geht, latente Kräfte, deren Aufleben in die Revolution
münden kann, im Verfassungsleben unter dem Grundgesetz zu absorbieren (bzw. zu unterbinden97), sinniert das BVerfG hier über die Perspektive “nach” dem Grundgesetz. Wäre es dabei
stehengeblieben, ließe es sich sein Verständnis eindeutig einem demokratisch-idealistischen
Denken zuordnen. Das BVerfG versuchte zugleich aber auch, die verfassungsgebende Gewalt
konstitutionalistisch einzubinden. Es unternahm den Versuch, Aussagen über das Subjekt
dieser Gewalt zu treffen. “Die Wahlberechtigten besitzen nach dem Grundgesetz das Recht,
über den Identitätswechsel der Bundesrepublik Deutschland, wie er durch Umbildung zu einem Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates bewirkt werden würde, und die damit einhergehende Ablösung des Grundgesetzes ‘in freier Entscheidung’ zu befinden.”98 Demokratietheoretischer Idealismus kann hierauf nur mit Spott,99 jedenfalls aber mit Unverständnis100
reagieren: Warum soll die verfassungsgebende Gewalt auf den Kreis der Wahlberechtigten (!)
der alten Ordnung beschränkt sein? Es ist dies nicht die einzige Stelle, in der sich das Gericht
in eine konstitutionalistische Gedankenwelt treiben lässt. An späterer Stelle sinnierte das Gericht darüber, ob nicht auch die verfassungsgebende Gewalt an Vorgaben des Grundgesetzes
gebunden ist: Nachdem das Gericht festgestellt hat, dass Art. 79 Abs. 3 GG die souveräne
Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht nur voraussetze, sondern auch garantiere,101 fuhr es fort: “Ob diese Bindung schon wegen der Universalität von Würde, Freiheit und
Gleichheit sogar für die verfassungsgebende Gewalt gilt, also für den Fall, dass das deutsche
Volk in freier Selbstbestimmung, aber in einer Legalitätskontinuität zur Herrschaftsordnung
des Grundgesetzes sich eine neue Verfassung gibt, kann offen bleiben.“102 Schließlich wandte
das Gericht seine Überlegungen auch noch ins Subjektive: Art. 146 GG schaffe „ein Teilhaberecht des wahlberechtigten Bürgers“103. Auch wenn einzuräumen ist, dass die sich anschließende Passage nicht wirklich klar formuliert ist, deutet sie doch darauf hin, dass das Art. 38
GG zugeschriebene Recht sowohl einen Anspruch umfassen soll, an Manifestationen der verfassungsgebenden Gewalt mitwirken zu können („Recht, an der Legitimation der verfassten
Gewalt mitzuwirken“), als auch einen Anspruch, in der errichteten Ordnung demokratisch
mitwirken zu können („Recht, ... auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen“).
Damit schlägt sich in der Lissabon-Entscheidung ein in das Rechtspositivistische gewendeter
Konstitutionalismus nieder, der von der Konstruktion und vom inhaltlichen Anspruch her die
96
Dieter Grimm, Souveränität, 2009, S. 69 ff.
Erinnert sei an die Vorkehrungen der wehrhaften Demokratie.
98
BVerfGE 123, 267 (331 f.).
99
Daniel Halberstam/Christoph Möllers, The German Constitutional Court says „Ja zu Deutschland“, GLJ.
2009, S. 1252
100
Martin Nettesheim, Die Karlsruher Verkündigung, Europarecht 2010, Beiheft 1, S. 101.
101
BVerfGE 123, 267 Rdnr. 216.
102
BVerfGE 123, 267 Rdnr. 217 unter Verweis auf „Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR VII, 1992, § 166
Rn. 61 ff.; Moelle, Der Verfassungsbeschluss nach Art. 146 GG, 1996, S. 73 ff.; Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 240 ff.; vgl. auch BVerfGE 89, 155 <180>“.
103
BVerfGE 123, 267 Rdnr. 217.
97
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demokratische Idee verfassungsgebender Gewalt ins Gegenteil verkehrt. Von der demokratischen Selbstbestimmungsfreiheit des – vorkonstitutionellen – Volks bleibt nichts mehr; sein
Handeln wird rechtlich eingebunden und determiniert. Was in der Sprache des demokratietheoretischen Idealismus seinen Auftakt nimmt, endet in dem Versuch, die verfassungsgebende Gewalt aus der geltenden Rechtsordnung heraus rechtlich zu determinieren. Auf diese
Weise schwingt sich das Gericht zum Hüter und Herrscher über die verfassungsgebende Gewalt auf; es deutet die Entwicklung einer Konstruktion an, mit der es dieser Vorgaben machen
kann. Rechtskonstruktiv hat dies in der Tat Züge des Absurden; funktional mag es zudem
Ausdruck eines Fehlverständnisses verfassungsgerichtlicher Möglichkeiten in Übergangszeiten sein. Für den verfassungstheoretisch interessierten Beobachter – und hierauf kommt es
hier an – wird deutlich, dass das Gericht über die Zeit “hinter” dem Grundgesetz nicht in demokratietheoretisch-idealistischer Offenheit nachdenkt, sondern mit einem konstitutionalistisch geprägten Ordnungs- und Steuerungswillen.
Insofern lässt sich festhalten, dass hinter der Fassade demokratisch-idealistischer Bilder vom
BVerfG eine deutlich konstitutionalistische Position eingenommen wird. Diese wird, um sie
instrumentalisieren zu können, allerdings nicht in Form einer politischen Klugheitslehre gepflegt, sondern in einen wenig glücklichen Positivismus überführt. Damit werden Kräfte, die
eigentlich außerhalb der verfassten Ordnung stehen, absorbiert und es droht die Volkssouveränität verloren zu gehen. In der verfassungsrechtswissenschaftlichen Diskussion sind die
Konsequenzen dieses Ansatzes inzwischen ausbuchstabiert worden: Man habe sich die Frage
zu stellen, “ob ein konkreter Einzelner, wie er etwa in Gestalt eines Beschwerdeführers auftritt, die verfassunggebende Gewalt des Volkes in einen Verfassungsprozess einführen
kann”.104 Das Vorgehen des BVerfG lässt sich institutionenpolitisch leicht erklären: Mit der
Überwindung der alten Ordnung durch Manifestation der verfassungsgebenden Gewalt verliert es seinen Rechtsstatus; jede Institution wird sich hiergegen wehren.
2. Implikationen der konstitutionalistischen Perspektive
Es ist vorstehend deutlich geworden, dass es nur für Anhänger eines konstitutionalistischen
Denkens möglich und sinnvoll ist, eine Beurteilung der Erfolgschancen von Verfassungsgebung vorzunehmen und so bei der Bestimmung der „Grenzen“ der alten Ordnung einzubeziehen. Das Bild, das sich den Anhängern dieses Denkens darstellt, ist seinerseits wiederum vielschichtig.
a) Verfassungsneugebung und Sinnstiftung
Einerseits hängt dieses Bild von Vorentscheidungen über die Funktion von Verfassung ab.
Bekanntlich schreiben idealisierend-substanzhafte Verfassungskonzepte der Verfassung105
einen umfassenden inhaltlichen Gestaltungsanspruch zu. Sie begreifen Verfassung als „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit“; in dieser Entscheidung ist regelmäßig auch ein Zukunftsentwurf enthalten.106 Verfassungen formulieren, so eine weit verbreitete Sichtweise, jenen Zukunftsentwurf, mit dem sich ein Volk ein neues Zeitalter eröffnet. Mit einer Verfassungsgebung verbinden sich Heilserwartungen, werden politische Projektionen vorgenommen, zeichnet eine Gruppe ihr Bild vom Weg in eine immer als besser be104
So Grefrath (oben Fn. 95), AöR 135 (2010), S. 221 (237).
Oben III 2. b).
106
Dabei sind gradualisierte Abstufungen zu beobachten.
105
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schriebene Zukunft. Verfassungen sind Projektionsfläche für Hoffnungen und Selbstverpflichtungen.
Je stärker die diesbezügliche Aufladung eines („pathetischen“) Verfassungskonzepts ist, desto
größer ist der Zwiespalt, der mit Blick auf Verfassungsgebung im Prozess der europäischen
Integration empfunden werden muss. Je stärker die Aufladung ist, desto größer stellt sich heute der Bedarf nach Neugebung dar, desto schwächer müssen aber auch die Hoffnungen sein,
dass es im Kontext der EU zur Wiedererlangung des einmal Erreichten (und gegenwärtig Bedrohten) kommen könnte. Je umfangreicher und reichhaltiger der einer Verfassung zugeschriebene substanzielle Anspruch ist, desto offenkundiger wird dessen Auszehrung im Prozess der Amalgamierung staatlicher und europäischer Hoheitsgewalt; und desto eher wird
man eine konstitutionelle Neuorientierung durch Verfassungsgebung fordern („Legitimation“107). Zugleich allerdings wird sich der Anspruch, dass auch die neue Verfassung den umfassenden Gestaltungsanspruch einlösen und Zukunftsentwurf sein müsse, als umso weniger
einlösbar darstellen. Die Vorstellung, dass im zusammenwachsenden Europa ein Verfassungsgebungsprozess gelingen könnte, der den politisch-moralischen Erwartungshaltungen an
die Richtigkeit des Prozesses und Ergebnisses entspricht, 108 erscheint jedenfalls hochgegriffen.109 Idealistisch-substanzhafte Verfassungskonzepte befinden sich insofern in einem
schrittweisen Föderalisierungsprozess in einem unauflösbaren Zwiespalt. 110 Anhängern derartiger Konzepte111 bleibt lediglich die – als strategisch einzuordnende, nicht normativ zu deutende – Forderung, den Übergang zum Europäischen Bundesstaat zu vollenden und so auf
europäischer Ebene eine Projektionsfläche zu gewinnen, auf die sie ihre Verfassungskonzeption neu ausrichten können. Verfassungs(neu)gebung auf mitgliedstaatlicher Ebene wäre dann
Beschränkung und Rücknahme, zugleich auch Öffnung und Einordnung in den rechtlichen
und politischen Gesamtzusammenhang der übergreifenden Ordnung. Es wäre insofern gerade
ein Verzicht auf die Formulierung eines allgemeinen Zukunftsentwurfs, der einer überkommenen staatlichen Verfassung üblicherweise eingeschrieben ist. Die Diskussion um den Vertrag über eine Verfassung für Europa hat allerdings gezeigt, dass die Zeit nicht reif ist, hierüber vertieft nachzudenken.
Der Versuch des deutschen Verfassungsgebers, einen geschlossenen Zukunftsentwurf für das
Gesamtgebilde zu formulieren, ist in jedem Fall zum Scheitern verurteilt. Das Gesamte ist für
die je einzelnen Träger unverfügbar. Dies begrenzt zugleich die Möglichkeit, dass Verfassungsgebung im Mehrebenensystem den Versuch einer Zukunftsprojektion unternimmt. Der
nächste wesentliche Integrationsschritt wird wiederum nicht der Endzustand sein – oder auch
nur dessen wesentliche Facetten erkennen lassen. Die neue Verfassung wird Versprechen sein
können, dass Entscheidungsbefugnisse gewahrt, Prozesse durchlaufen und Werte respektiert
oder auch gelebt werden müssen. Sie kann das Ergebnis des Integrationsprozesses aber schon
deshalb nicht bezeichnen, weil sie Verhandlungsergebnisse im Kreis der Mitgliedstaaten nicht
107
So der Begriff bei Hermann Huba, Kritik und Rechtfertigung der Verfassung, FS Roellecke, 1997, S. 131
(133).
108
Entscheidend ist dabei die sozial-empirische Legitimität: Sie determiniert die sachlich-funktionale Eignung
eines Textes, als Grundordnung dienen zu können. Maßstäbe wären etwa die Offenheit des Entwurfsprozesses,
die Diskursivität der Verhandlungen und das Moment einer förmlichen Annahme des Text durch die Bürger.
109
Die floskelhaften Bekundungen, die sich in Art. 2 und 3 EUV finden, erfüllen diese Erwartung jedenfalls
nicht.
110
Es gehört zu den Auffälligkeiten der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass das idealisierend-substanzhafte Verfassungsverständnis in Rechtsprechung, Wissenschaft und politischer Praxis eine große Anhängerschaft findet, dass aber nach Herstellung der deutschen Einheit – zu Recht - die funktionale, die
Leistungsfähigkeit des Grundgesetzes betonende Sichtweise so prägend war. Es wäre eine merkwürdige historische Wendung, wenn nunmehr das idealisierende Verständnis in den Vordergrund gerückt würde.
111
Zur Alternative eines eher „technischen“ Verständnisses: Hermann Huba, Kritik und Rechtfertigung der
Verfassung, FS Roellecke, 1997, S. 131; ders., Theorie der Verfassungskritik, 1996, S. 100 ff.
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vorwegnehmen kann. Der Idee der Verfassungsgebung kann sogar Schaden zugefügt werden,
wenn und soweit die mit einem grundlegenden konstitutionellen Moment verbundenen Erwartungen nicht eingelöst werden. Dies wäre etwa nicht auszuschließen, wenn die neue Verfassung sich von der alten kaum unterschiede.112
Es kommt noch ein Weiteres hinzu. In der gegenwärtigen Diskussion hat es den Anschein, als
ob es inhaltlich gar nicht um die autonome und politisch offene Formulierung eines Zukunftsentwurfs geht. Vielmehr scheint die plebiszitäre Billigung schon getroffener Entscheidungen
im Zentrum zu stehen – der Entscheidung darüber, inwieweit es zur „Euro-Rettung“ zu Transfers oder zur Einrichtung gemeinsamer Haftungsregimes kommen darf. Es liefe dies auf eine
Weichenstellung, nicht aber auf einen Zukunftsentwurf hinaus, mit dem der weitere Entwicklungsweg der EU vorgezeichnet wird. Eine bereits vollzogener Identitätswandel der Verfassung würde so nachträglich noch politisch ratifiziert werden: Verfassungsgebung als Moment
der Vergangenheitsbewältigung! Auch wenn dies im Prozess der Verfassungsgebung immer
auch mitschwingt: Ohne den Willen zum positiven Zukunftsentwurf droht sie sich selbst zu
delegitimieren.113 Man wird enttäuschen, wenn man zur Verfassungsgebung aufruft, dabei
aber nicht mehr erwartet, dass das Vergangene ratifiziert wird.
b) Verfassungsneugebung und demokratische Legitimation
Anders, aber nicht unbedingt hoffnungsvoller stellt sich die Situation für eher funktionalpolitische Verfassungskonzeptionen dar. Aus dieser Perspektive geht es um die prognostischen Beurteilung der Möglichkeiten, durch einen Akt der Verfassungsgebung eine Neuordnung vorzunehmen, mit der bestehende demokratische Defizite ausgeglichen werden.
Entscheidend ist, inwieweit sich mit dem Akt der Verfassungsgebung die auf den politischen
Prozess bezogenen Erwartungen – seine Stabilisierung, die Richtungsgebung, die Sicherung
von Legitimität - befriedigen lassen. Die Einlösung dieses Anspruchs fällt schon deshalb
schwer, weil es um die Stabilisierung und Ausrichtung eines amalgamierten politischen Substrats geht, in dem keine klaren Hierarchieverhältnisse herrschen sollen. Sie wird ferner
dadurch erschwert, dass eine neue staatliche Verfassung nicht mehr als eine Teil-Verfassung
des Ganzen sein kann. Vor allem aber erscheint aus konstitutionalistischer Perspektive Skepsis angezeigt, weil die Tragfähigkeit von Institutionen und Mechanismen, über die sich die
EU unmittelbar Legitimation verschaffen will, durch Verfassungsneugebung nicht per se erhöht wird. Dabei geht es nicht nur um die Frage des „one man – one vote“, sondern vor allem
um die Strukturen demokratischer Rückbindung des Entscheidungsprozesses zwischen Kommission, EP und Rat. Solange keine inhaltliche Klarheit herrscht, welche Schritte zur Beseitigung der Legitimationsdefizite von EU-Hoheitsgewalt ergriffen werden müssen, erscheint der
Ruf nach Verfassungsneugebung verfrüht und sinnlos.
3. Die Notwendigkeit der Re-Idealisierung von Prozess und Produkt
Verfassungsgebung verlangt Benennung des stiftenden Subjekts. Mit der idealisierenden
Konzeption, es habe sich die verfassungsgebende Kraft des Volkes manifestiert, wird diesem
Muss entsprochen – und zugleich das Wissen um die tatsächlichen Vorgänge normativ ausgeblendet. Im besten Fall verliert sich im Laufe des Verfassungslebens sogar das tatsächliche
112
Zur Tatsache, dass manche Verfassungsbestimmungen „Antwortcharakter“ haben können: Bernd Wieser,
Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, S. 53.
113
Das Verlorengegangene – die sustanzielle Einheit – wird sich im übrigen auch nicht wieder zurück gewinnen
lassen.
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Bewusstsein für die jeweiligen tatsächlichen Umstände.114 Die Frage nach der Legitimation
der handelnden Personen wird so für irrelevant erklärt, ebenso Kritik daran, dass einige in
dem politischen Prozess der Verfassungsgebung mitwirken konnten, andere aber nicht. Eine
zusätzliche Wendung erfährt diese Konstruktion, wenn sie zwar verwendet, sogleich dann
aber auch wieder delegitimiert wird („Fiktion“, „Missbrauchsanfälligkeit“115 etc.).116 Damit
stabilisiert sich die Verfassungsrechtspraxis selbst, indem sie Ansatzpunkte für externe Einwirkungen beseitigt. Es mag einem Misstrauen gegenüber den – nicht immer berechenbaren –
Manifestationen des Volkswillens geschuldet sein, dass viele Kommentatoren (etwa: Christian Hillgruber) in der Ordnung des Grundgesetzes die Stimme des Volkes nur innerhalb der
Verfassungsordnung hören wollen, und dies auch nur in engem Rahmen. Die latente Präsenz,
die das Volk – als naturwüchsige Kraft – in Frankreich immer (auch affirmativ) hat, ist diesem Verfassungsdenken fremd. Es ist allerdings nicht ohne Ironie, dass nun genau diese
Stimme aktiviert werden soll, und zwar nicht schrittweise und in einem Prozess der schrittweisen Gewöhnung an plebiszitäre Praktiken, sondern gleich in einer Situation radikaler Herausforderung. Es erscheint keineswegs sicher, ob dies nicht in einen Akt populärer Willkür
mündet.
Auch eine Verfassungsgebung, die im Kontext der europäischen Integration nach Art. 146
GG vorgenommen würde, zwänge zur Ideologisierung des Neugeschaffenen. Man sollte den
damit verbundenen Aufwand – und die damit verbundenen Risiken117 – nicht geringschätzen.
Es handelt sich um lang andauernde Verwurzelungs- und Überzeugungsbildungsprozesse. Ihr
Gedeihen kann dadurch erschwert werden, dass im politischen Prozess der Verfassungsgebung Konflikte auftreten. Jedenfalls in der letzten Stunde – dem Moment, in dem sich das
Volk äußert - sind Entscheidungen über die Inklusion und Exklusion von Menschen zu treffen, die tiefgreifende Wertungs- und Interessenkonflikte auslösen können. Würde das Stimmrecht nur den in der alten Verfassungsordnung mit Bürgerschaftsstatus versehenen Menschen
verliehen, so wäre die neue Ordnung, die doch Zukunftsentwurf der gesamten politischen
Gemeinschaft sein soll, schon im Moment ihrer Entstehung mit den Fortwirkungen des Vergangenen belastet – von den damit verbundenen inhaltlichen Problemen ganz abgesehen. Es
ist schwerlich abzusehen, wie in diesem Prozess offensiv mit der Idee der Nation118 argumentiert werden kann; dies umso mehr, als damit eine Weichenstellung vorgenommen würde, die
aus der Sicht des EU-Rechts problematische Konnotationen hätte.119 Eine Einmischung des
BVerfG wäre insofern, als es auch im Übergangsmoment schwerlich eine Zeit rechtlich nicht
eingebundener Politik geben kann, begründbar, würde aber die Frage nach den zu wählenden
Maßstäben aufwerfen.
114
Nur am Rande sei darauf hingewiesen: Nicht jede Verfassung ist auf den Gebrauch dieser Figur angewiesen:
das idyllische Bild deliberativ beratender „Gründungsväter“ kann so reich und rechtfertigungsgeladen sein, dass
eine Personalisierung möglich ist. Dies setzt allerdings historische Anknüpfungsmöglichkeiten voraus, die so
nicht überall vorhanden sind, und ist normativ auch nur dort möglich, wo das repräsentative Handeln weniger für
diejenigen, die nicht dabei gewesen sind, für legitim erachtet wird.
115
Die Gefahr der Aneigung durch Eliten betont Josef Isensee (Nationalstaat und Verfassungsstaat - welchselseitige Bedingtheit, FS Roellecke, 1997, S. 137 (139 f.).
116
Eine derartige Delegitimierung erfolgte in Frankreich nie. Art. 28 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der Verfassung vom 24. Juni 1793: „Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu
verbessern und zu ändern. Eine Generation kann ihren Gesetzen nicht die künftigen Generationen unterwerfen.“
117
Schon James Madison sprach von einem „heiklen Experiment“ (Alexander Hamilton/James Madison/John
Jay, The Federalist. Edited, with Introduction and Notes (ed. by Jacob E. Cooke, 1961), Nr. 49); ähnlich Peter
Lerche, Art. 146 GG: Auftrag zur Neuverfassung Deutschlands? FS Lobkowicz, 1996, S. 299 (301).
118
Zur Rolle des Begriffs der „Nation“: Josef Isensee (oben Fn. 115), FS Roellecke, 1997, S. 137.
119
Ihm ist die Dichotomie von Eigen und Fremd eingeschrieben, die im Prozess der europäischen Integration
gerade überwunden werden soll – unmittelbar durch das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV, mittelbar
durch Überlagerungen wie den „Kernbereich der Unionsbürgerschaft“ (hierzu Martin Nettesheim, Der Kernbereich der Unionsbürgerschaft, JZ 2011, S. 1030, zur EuGH-Entscheidung „Ruiz Zambrano“).
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Die Aktualität des Geschehens würde über lange Zeit fortwirken – auch in der Bundesrepublik hat sich nach 1949 der Blick auf das Grundgesetz erst schrittweise gewandelt.120 Welches
Selbstverständnis eine politische Gemeinschaft von „ihrem“ Akt der Verfassungsgebung
rückblickend entwickelt, ist offen. Die merkwürdige Verbindung aus idealistischsubstanzhafter Verfassungsidee und einer überaus positivistisch-legalistischen Verfassungspraxis (Zahl der Verfassungsänderungen;121 Beibehaltung im Prozess der Wiedervereinigung122), die das konstitutionelle Selbstverständnis der Bundesrepublik prägt, erweist sich als
erstaunlich stabil. Man sollte allerdings nicht fraglos davon ausgehen, dass sich eine derartige
Stabilität nach einer europäisch bedingten Verfassungsgebung unmittelbar wieder einstellt. Es
sollte jedenfalls nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Wer den Vorhang aufzieht und
das Licht auf den Prozess des Zustandekommens der Verfassung wirft, wandelt Verfassungsgebung in Politik; man wird den Vorhang nur schwer wieder verschließen können.
4. Verfassungsgebung als offener Übergangsprozess
Nach überkommender Sichtweise ist der Übergangsprozess von der alten zur neuen Ordnung
durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Er vollzieht sich schlagartig, quasi in einer juristischen
Sekunde. Es gibt nicht den ordnungs-losen Zustand, sondern nur entweder das noch geltende
Alte oder das schon geltende Neue. Zudem gibt es nur zwei Kraftfelder – jenes innerhalb der
bestehenden Verfassungsordnung und den von außen kommenden „pouvoir constituant“. Beide sind verschiedenen Räumen zugeordnet; eine unmittelbare Interaktion ist nicht möglich.123
Für das Aufbegehren des „pouvoir constituant“ hat die geltende Ordnung keinen Platz;124 eine
Umsturzbewegung ist tendenziell solange illegal, bis sie sich durchgesetzt hat.125 Insofern ist
es nur konsequent, wenn postuliert wird, dass sich die grundgesetzliche Ordnung jeder Änderung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgeschriebenen Gehalte zu widersetzen hat und nur (von
außen) überwältigt werden kann.126 Auf der anderen Seite kann innerhalb der geltenden Ordnung der „pouvoir constituant“ nicht zum Sprechen gebracht werden. Verfassungsgebung
120
Hierzu etwa Henning Moelle, Der Verfassungsbeschluss nach Art. 146 Grundgesetz, 1996, S. 171 ff.; Karlheinz Merkel, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 1996, S. 51 ff.; Birgitta Stückrath, Art. 146 GG:
Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 161 ff.
121
Johannes Masing, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität: Die Verfassungsänderung, Der Staat 44 (2005),
S. 1.
122
Zur Diskussion im Kontext der dt. Einigung: Gerd Roellecke, Identität und Variabilität der Verfassung, in:
Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 13 Rdnr. 16 mwN.; Hermann Huba, Theorie der Verfassungskritik am Beispiel der Verfassungsdiskussion anlässlich der Wiedervereinigung, 1996, S. 33-38. Roellecke ist m.E. übermäßig kritisch: „ … entspricht nicht der schlichten Tatsache, dass die Zukunft dunkel ist.“
Vgl. auch Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR I,
3. Aufl. 2003, § 1 Rdnr. 51-101.
123
Wenig plausibel die Vorstellung in BVerfGE 123, 267 (344) (Lissabon), wonach zwischen der verfassten
Gewalt und der Reich der verfassungsgebenden Gewalt ein einfacher Übergang (Möglichkeit des „Übergriffs“)
bestehe und das Gericht über die Unberührt des „pouvoir constituant“ „wache“. Das BVerfG scheint den „pouvoir constituant“ als einen kompetenztragenden Akteur anzusehen. Richtig ist, dass Überschreitungen des verfassungsrechtlichen Kompetenzrahmens (auch unter Wahrnehmung von Art. 79 Abs. 2 GG) zur Nichtigkeit des
Akts führen. Gerade weil sich die Verfassungsordnung so immunisiert, kann es zu dem behaupteten Übergriff
nicht kommen.
124
Deutlich Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, 1909, S. 3; Stefan Haack, Primitive Staatstheorie,
Der Staat 51 (2012), S. 57 (81: „ein solches Sich-Selbst-Preisgeben“ könne „noch nicht einmal gedacht werden“.
125
Zu Recht kritisch Horst Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, S. 741. Art.
146 GG ist danach die Funktion zuzuschreiben, als „Brückenbestimmung“ verfassungsgebenden Bewegungen
eine Absicherung im geltenden Recht zu verleihen.
126
Christian Hillgruber, in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), Online-Kommentar zum Grundgesetz,
Art. 146 Rdnr. 1 ff.
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transzendiert die bestehende Ordnung; sie ist nicht an diese gebunden.127 Der verfassungsändernde Gesetzgeber und die Art. 146 GG interpretierende Wissenschaft können versuchen,
den Weg zur Verfassungsneugebung institutionell oder prozedural zu skizzieren.128 Auch
wenn der Versuch unternommen wird, die Maßstäbe für die Beurteilung gelungener Verfassungsgebung rechtlich zu fixieren: Eine Rechtsbindung erfolgt dadurch nur innerhalb der alten Ordnung, nicht aber für einen genuin re-konstituierenden Prozess.
Dieses in Kategorien der Dichotomie operierende Verständnis wird dem Phänomen und der
verfassungstheoretischen Eigenart der Übergangssituation nicht gerecht, die in Prozessen der
Re-Konstitution zu beobachten ist. Man kann diesen Prozess mit der überkommenen Differenz von (bestehender) Rechtsordnung und Revolution nur unzureichend rekonstruieren.129
Das gegen die bestehende Ordnung aufbegehrende Volk vermag zwar Gewalt auszuüben, es
mag zerstören und beseitigen. Zur Formulierung einer neuen Ordnung ist es nicht in der Lage.130 Dies kann nur in Institutionen und in einem schon geordneten politischen Prozess geschehen. Auf der anderen Seite vermögen es die Repräsentativorgane der „alten“ Ordnung
nicht, eine politische Re-Konstitution durch Aktivierung des „pouvoir constituant“ herbeizuführen. Vorstöße aus beiden Richtungen münden zwangsläufig in einen politischen Prozess,
der zwar nicht von der bestehenden Ordnung verfasst und vorgegeben ist, zugleich aber auch
nicht außerhalb jeder Ordnung stattfinden kann. Seine Freiheit setzt Exklusion voraus, seine
Geordnetheit Inklusion. Diese Schwebelage muss erschlossen und gewahrt bleiben, wenn das
genuin Politische im Prozess einer Neu-Konstitution nicht erstickt werden soll. „Pouvoir constituant“ ist kein Akteur, sondern die Manifestation einer sich prozessartig äußernden politischen Kraft.
Für die Interpretation von Art. 146 n.F. GG ist dies nicht ohne Bedeutung.131 Die Bestimmung
lässt sich nicht einfach dadurch „einkapseln“, dass man den in ihr beschriebenen Prozess Art.
79 Abs. 2, 3 GG unterwirft.132 Wortlaut und Stellung machen deutlich, dass es nicht lediglich
darum geht, die Totalrevision der Verfassung einem plebiszitären Erfordernis zu unterwerfen.
Repräsentative Demokratie gewinnt ihre Legitimität auch dadurch, dass ein Neuanfang möglich ist.133 Die vielkommentierte Gefahr einer „Herrschaft der Toten über die Lebenden“134
127
Dies gilt auch für Art. 79 Abs. 3 GG. Dem Erfordernis der Freiheit und Offenheit wird allerdings nur entsprochen, wenn der Idee menschlicher Selbstbestimmung entsprochen wird (parallel zu, aber nicht in Bindung an
Art. 1, 20 GG).
128
Beispiele bei Heckel (oben Fn. 94), HBStR VIII, § 197 Rdnr. 86 ff.
129
In der Einleitung oder Förderung des Prozesses liegt kein Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung; das Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG) greift nicht (Dreier (oben Fn. 86), Art. 146 Rdnr. 55; anders
Heckel (oben Fn. 94), HBStR VIII, § 197 Rdnr. 106; Stefan Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, 455).
130
Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 43.
131
Zum Optionscharakter der Bestimmung: Lerche (oben Fn. 93), HBStR VIII, § 194 Rdnr. 67 ff.; Heckel (oben
Fn. 94), HBStR VIII, § 197 Rdnr. 103.
132
Sog. „Novationsthese“: Heckel (oben Fn. 94), HBStR VIII, § 197 Rdnr. 90, 144 ff.; Stefan Haack, Verlust der
Staatlichkeit, 2007, S. 452 ff.; Michael Kirn, in: Ingo von Münch/Philipp Kunig (Hrsg), Grundgesetz, 6. Aufl.
2012, Art. 146 Rdnr. 7. Als verfassungswidrige Verfassungsnorm sehen Art. 146 GG n.F. an: Hermann Huba,
Das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung. Erinnerung an seine Legitimität, Der Staat 30
(1991), 373; Bernhard Kempen, Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung? NJW 1991, S. 964; Gerd Roellecke, Brauchen wir ein neues Grundgesetz? NJW 1991, S. 2441; Martin Kriele, Art. 146 GG: Brücke zu einer
neuen Verfassung, ZRP 1991, S. 1.
133
Ulrich Scheuner, Art. 146 und das Problem der verfassungsgebenden Gewalt (1953), in: Hanns Kurz (Hrsg.),
Volksouveränität und Staatssouveränität, 1970, 288. Ein „Paradox“ oder eine „Aporie“ sehen in der Verfassungsgebung und der dadurch bewirkten Bindung des (repräsentativ handelnden) Gesetzgebers etwa Peter Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, FS Scheuner, S. 25; Hasso Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes,
in: ders., Recht - Politik – Verfassung, 1996, S. 261 (294 f.).
28
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lässt sich so abmindern. Art. 146 GG öffnet einen Horizont für die Zeit „nach“ dem Grundgesetz;135 ein „Aeternitätsparadox“136 ist dem Grundgesetz fremd. Diesbezüglich besagt sie nicht
nur, dass hinter der Verfassung eine juristisch nicht einbindbare Gewalt steht.137 Sie sagt auch
mehr, als dass der Stifter einer Verfassungsordnung die Revolution zu „legalisieren“138 und
die in deren erfolgreichem Verlauf entstehenden Trümmer abzuräumen versucht. Normativ
gewinnbringend lässt sich Bestimmung als Anleitung lesen, wie sich eine verfassungsrechtliche Umstellung139 innerhalb des politischen Systems bewältigen lässt.140 Es geht insofern um
die Rationalisierung eines Umstellungsprozesses.141
Wer die Betonung darauf legt, dass eine Verfassungsneugebung (nur) vom „deutschen Volke“
und (nur) „in freier Selbstbestimmung“ erfolgen kann, erschließt sich Bedingungen für zugleich verfassungskonforme und legitime Verfassungsneugebung. Es muss zum einen darum
gehen, den Prozess so offen zu organisieren, dass er als „aus dem Volk kommend“ angesehen
werden kann.142 In „freier Selbstbestimmung“ kommt eine neue Verfassung nur dann zustande, wenn die inhaltlichen Festlegungen in einem diskursiven Prozess getroffen werden, in
dem prinzipiell jeder mit prinzipiell jedem Anliegen teilnehmen kann.143 Souveränität bedeutet insofern Gleichheit.144 Ausklammerungen sind unstatthaft.145 Natürlich handelt es sich
diesbezüglich um ein Ideal, von dem in der Praxis Abstriche zu machen sind.146 Das Ideal ist
aber hochzuhalten.147 Das vom BVerfG formulierte Postulat, „frei von äußerem und innerem
Zwang“148 entscheiden zu können, ist notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung.149
134
Dietrich Murswiek, Die verfassungsgebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 217 ff.; Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? 2009, S. 28 f.; Franz Bühler, Verfassungsrevision und Generationenproblem, 1949.
135
Dreier (oben Fn. 86), Art. 146 Rdrn. 29 ff.; Matthias Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, AöR 116 (32 (68 f.); Birgitta Stückrath, Art. 146: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 241 ff., 350 mwN.
136
Friedrich Wilhelm Graf, Moses Vermächtnis, 2006, S. 74.
137
Hierauf abstellend: Peter Badura, Das Grundgesetz – Verfassung für Deutschland, in: Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der Deutschen Einheit, 1991, S. 325 (332 f.); Rupert
Scholz, Aufgaben und Grenzen einer Reform des Grundgesetzes, FS Lerche 1993, S. 65 (69).
138
Christian Winterhoff, Verfassung – Verfassungsgebung - Verfassungsänderung, 2007, S. 302.
139
Von „Umsturz“ spricht Udo di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1993), S. 191 (213).
140
Es sei daran erinnert, dass der Gedanke einer Verfassungsumbildung im fortbestehenden Gemeinwesen lange
Tradition hat: Gerhard Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, Einleitung S. 8 f.: Die
Revolution habe das Subjekt der Reichsverfassung nicht berührt. Sie habe lediglich zu einem Wechsel der Organe geführt.
141
Huber (oben Fn. 92), Art. 146 Rdnr. 6 ff.
142
Konträr etwa Haack (oben Fn. 40), Der Staat 51 (2012), 57 (80), wonach der verfassungsgebenden Gewalt
nur jene angehören können, „die dieselbe Ordnungsvorstellung“ teilen. Verfassungsgebung wird so zum entpolitisierten Dokumentationsprozess.
143
Faktisch werden politische Eliten den Prozess immer determinieren (Anna Grzymala-Busse/Pauline Jones
Luang, Reconceptionalizing the State, Politics and Society 30 (2002), S. 529, zu den Erfahrungen im Postkommunismus).
144
Anders die überkommende Sichtweise: Dieter Grimm, Souveränität, 2009, S. 35 ff.; Ulrich Haltern, Was
bedeutet Souveränität? 2007, S. 1 ff.
145
Dies gilt auch für Verteilungsfragen (zur Lage im Recht: Matthias Klatt, Die Zulässigkeit des finanzwirksamen Plebiszits, Der Staat 50 (2011), S. 3).
146
Vgl. etwa den 1952 von der Bundesregierung ausgearbeiteten „Entwurf eines Gesetzes über die Grundsätze
für die Freie Wahl einer Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung“.
147
Auch hinter das Mögliche fiel etwa der Prozess der „Verfassungsgebung“ im sog. europäischen Konvent
zurück, in dem eine kleine Gruppe ausgewählter Repräsentanten ohne effektive Kommunikation mit interessierten Kreisen in der europäischen Bevölkerung ein Dokument entwarf, das wesentlich von der Erwägung politischer Realisierbarkeit getragen wurde.
148
BVerfGE 5, 85 (131).
149
Hierzu Moelle (oben Fn. 11), Verfassungsbeschluss, S. 58 f.
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Eine Erstickung der Freiheit und Offenheit des verfassungsgebenden Prozesses150 droht vor
allem dann, wenn die repräsentativen Amtsträger der „alten“ Ordnung das Ergebnis durch
institutionelle oder inhaltliche Vorgaben wesentlich zu beeinflussen versuchen.151 In diesem
Fall liegt – ungeachtet der Bezeichnung – keine aus der politischen Gemeinschaft kommende,
offene - und insofern genuine - Neu-Konstitution vor. Die Amtsträger der bisherigen Ordnung dürfen den Prozess in Gang setzen und orchestrieren, nicht aber nach ihren Interessen
und Vorstellungen ausrichten oder gar einschränken. Der Prozess der Verfassungsgebung ist
kein Vehikel, mit dem sich Amtsträger jenen Handlungsrahmen verschaffen können, der ihren
Zielen entspricht. Es käme zu einer Verfremdung des konstitutionellen Prozesses, aus dem
nur ein Produkt hervorgehen könnte, das mit dem Vorwurf der Illegitimität zu kämpfen hätte.152
Eine derartige Verfremdung läge etwa vor, wenn repräsentative Amtsträger den Prozess der
Verfassungsgebung auf die Frage beschränken wollten, ob ihnen die Befugnis verliehen wird,
einen Vertrag zum Eintritt in einen Europäischen Bundesstaat auszuhandeln.153 Als Staatsbürger kann man insofern sicherlich die Position vertreten, dass der – leicht geänderte – Text des
Grundgesetzes auch im Übergang in einen europäischen Bundesstaat weiter verwendet werden sollte. Einem verfassungsgebenden Konvent ließe sich aber eine derartige Vorgabe nicht
machen. Das (konstitutionalistisch angehauchte) Ansinnen, Bestehendes und Bewährtes zu
schützen, ist politisch verständlich. Die besondere und eigene Lage politischer ReKonstitution wird aber nur erschlossen, wenn nicht der Prozess durch institutionelle, prozedurale oder inhaltliche Vorgaben vorschnell beeinflusst wird. Verfassungsneugebung verlangt
nach (institutioneller und prozeduraler) Offenheit, nicht lediglich nach Akklamation.154 Ohne
einen geeigneten Prozess ist der Entscheidungsakt, auf den herkömmlich so viel gesetzt wird,
ohne Wert.
Es geht zum anderen um die Sicherung von Inklusion: Auch wenn das Ideal der Einmütigkeit
aller Betroffenen nicht erreicht werden kann, wird man die von einem Konstitutionsakt betroffenen Menschen jedenfalls in den Diskurs einbeziehen und an einer Volksabstimmung
teilnehmen lassen müssen. Eine Begrenzung auf Bürger, die die (im Rahmen der alten Ordnung verliehene) Staatsangehörigkeit aufweisen, wäre ungerechtfertigt. Zudem sprechen gewichtige Erwägungen dafür, das Zustimmungsquorum oberhalb der Schwelle von 50% festzusetzen.155 Die Entscheidung, ob die Mitglieder des Gemeinwesens dem politischen Prozess
einen neuen Rahmen geben wollen, ist gerade auch auf die Zustimmung von strukturellen
Minoritäten angewiesen. Die konstitutionalistische Idee156 des Schutzes des politischen Prozesses vor sich selbst bedarf gerade dann, wenn ein Umbruch herbeigeführt werden soll, der
besonderen Bewährung.
150
Hierzu Peter Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, FS Scheuner, 1973, S. 19 (36 ff.).
Insofern sind „verfassungsvorbereitende Normen“ (Christian Winterhoff, Verfassung – Verfassungsgebung Verfassungsänderung, 2007, S. 433 ff.) tendenziell abzulehnen.
152
Es gälte im übrigen auch, wenn repräsentative Amtsträger glaubten, den Prozess über Rechtspositionen einzelner (etwa Art. 38 GG) steuern zu können.
153
Es erscheint mehr als zweifelhaft, ob dieses Ermächtigung den Rückgriff auf Art. 146 GG rechtfertigt.
154
Anders die wohl h.M. (z.B. Dreier (oben Fn. 86), Art. 146 Rdnr. 50: Maßgeblichkeit des „neue(n), fundamentale(n) Legitimationsakts“).
155
Für eine einfache Mehrheit: Wiederin (oben Fn. 16), AöR 117 (1992), 410 (430); Josef Isensee, Staatseinheit
und Verfassungskontinuität, VVDStRL 49 (1990), 39 (49); Christian Tomuschat, Wege zur deutschen Einheit,
VVDStRL 49 (1990), S. 70 (90); weitere Nachweise bei Dreier (oben Fn. 86), Art. 146 Rdnr. 53 ff.
156
Zur Bedeutung von Ideen als Hintergrunddimension verfassungsrechtlicher Arbeit: Otto Depenheuer (Hrsg.),
Erzählungen vom Staat. Ideen als Grundlage von Staatlichkeit, 2011.
151
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Geht es um die Gründung eines europäischen Gemeinwesens (Übergang in die europäische
Bundesstaatlichkeit), dann bedeutet dies, dass der Prozess auf alle in den beteiligungswilligen
Staaten lebenden Menschen erstreckt werden muss. Verfassungsgebung, die sich darauf beschränkt, einen von repräsentativen Amtsträgern (im Rahmen eines „Konvents“) ausgehandelten Vertrag plebiszitär billigen zu lassen, fällt hinter diesen Maßstab zurück. Gerade in einem
solchen „setting“ ist allerdings auch darauf Wert zu legen, dass durch Vetopositionen eine
Majorisierung von (nationalen oder ethnischen) Bevölkerungsgruppen verhindert wird.
V. Kairos einer grenzziehenden Entscheidung
Die Suche nach den „Grenzen der Tragfähigkeit“ des Grundgesetzes beschäftigt sich mit Phänomenen des graduellen Übergangs. Es ist nicht so, dass die Tragfähigkeit in einem Moment
noch voll erhalten wäre und im nächsten Moment vollständig abrisse. Es geht vielmehr um
Entwicklungen der Auszehrung, die zu einer schrittweisen Abschwächung der normativen
Tragfähigkeit führen. Der Prozess sollte politisch und verfassungsgerichtlich beobachtet werden, ohne dass vorschnelle Eingriffe tunlich wären. Es sollte allerdings auch nicht zu einer
vollständigen Ablösung von Verfassung und politischem Prozess kommen. Auch im Prozess
der europäischen Integration gibt es weder einen festen Ort noch einen festen Zeitpunkt, an
dem bzw. zu dem die „Tragfähigkeit“ des Grundgesetzes endet. In dem fließenden Prozess
politischer Kräfteverschiebung ist eine Entscheidung zu treffen, die von einer Vielzahl von
Faktoren und Kriterien abhängig ist.157 In Übergangszeiten ist es nicht zuletzt Ausdruck politischer Klugheit, den richtigen Moment (kairos) zu wählen.158 Die Perspektive, die in der zum
Umsturz schreitenden Bevölkerung gewählt wird, muss sich dabei nicht mit derjenigen der
Repräsentanten der („alten“) Ordnung decken. Es würde jedenfalls eine merkwürdige Verkehrung geschichtlicher Erfahrung darstellen, wenn ein Repräsentativorgan zur Überwindung der
bestehenden Ordnung aufriefe, während die Mitglieder der politischen Gemeinschaft mit ihrem Bestand grundsätzlich einverstanden sind.159
Verfassungsgebende Gewalt ist weder ein Akteur160 noch eine Autorität.161 Sie ist Prozess, in
dem Menschen über ihr Gemeinwesen bestimmen.162 Seine wesentliche Eigenart ist jene eines
Grenzüberschreitungsphänomens, das sich zugleich innerhalb des geltenden Rechts bewegt
157
Es geht in der Sache nicht um die Suche nach „Grenzen“ des Grundgesetzes, sondern um die vergleichende
Bewertung der – um ein altmodisches Wort zu verwenden – Gemeinwohlförderlichkeit des sich – unter der alten
und einer potentiellen neuen Verfassung - aus dem föderalen Zusammenspiel von EU- und mitgliedstaatlicher
Politik entwickelnden Ergebnisses.
158
Die „Situationsbedingtheit“ betont Heckel (oben Fn. 94), HBStR VIII, § 197 Rdnr. 65.
159
Die gegenteilige Gefahr hatten etwa die frühen US-Verfassungstheoretiker im Blick (Horst Dreier, Gilt das
Grundgesetz ewig? 2009, S. 35 ff.). Das Volk kann sich jederzeit zur Revolution aufschwingen. Die Verfassung
und das Verfassungsgericht können versuchen, das diesbezügliche Gewaltpotential einzufangen und zu absorbieren (Christian Winterhoff, Verfassung – Verfassungsgebung – Verfassungsänderung, 2007, S. 197 ff.). Empirisch scheint dies gegenwärtig gut zu gelingen.
160
So Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, 1999, S. 96; Christian Hillgruber, Souveränität –
Verteidigung eines Rechtsbegriffs, JZ 2002, 1072 (1074) (Verweis auf das „Volk“). Insofern ginge es in der Tat
um einen „Mythos“ (Isensee (oben Fn. 89), S. 68).
161
Anders wohl Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, 93 f. („Autorität“).
162
Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, 1988, S. 16 ff.; Ernst-Rudolf Huber, Deutsche
Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. 1967, S. 8 ff. Zu skeptisch insofern Gerd Roellecke, Verfassungsgebende
Gewalt als Ideologie, JZ 1992, S. 929; positiver Wilhelm Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen
Volkes, 1957; ders., Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, Der Staat 7 (1968), S. 165; ders., Das Ende der
Revolution und die verfassunggebende Gewalt des Volkes, Der Staat 31 (1992), S. 265; Udo Steiner, Verfassungsgebung und verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 1966. Insofern ist es auch möglich, über eine „Völkersouveränität“ nachzudenken (Georg Jochum u.a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung,
2007). Zum Zeitgedanken allgemein: Stephan Kirste, Die Zeit der Verfassung, JbÖR N.F. 56 (2008), S. 35.
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und doch schon darüber hinausweist.163 Politik gewinnt hier einen eigenartigen Aggregatszustand, und das Verhältnis von Recht und Politik wird diffus: Der Bindungsanspruch der alten
Rechtsordnung weicht in dem Maße, in dem Politik die Qualität verfassungsgebender Gewalt
annimmt, zurück. An seine Stelle treten universelle Legitimitätskriterien.164 Die gleitende
Umstellung der normativen Maßstäbe lässt die Rolle des BVerfG nicht unberührt. Seine
Funktion als gerichtlicher Hüter des „alten“ Rechts tritt zurück; seine Mitglieder können ihre
Reputation aber in Anspruch nehmen, als quasi-aristokratisches „committee des sages“ sicherzustellen, dass der Prozess in Offenheit und Fairness abläuft.165 In der Entscheidungsform
sollte dieser Übergang vom Recht zur Klugheit dokumentiert werden. Es ist den Mitgliedern
des Gerichts verwehrt, ihre (inhaltlichen) Vorstellungen vom gerechten und guten Leben in
der zu schaffenden Ordnung zu formulieren. Zu mehr als der Durchsetzung des gleichen und
freien Beteiligungsanspruchs der Mitglieder der politischen Gemeinschaft sind sie im Grenzbereich nicht (mehr) befugt. Die „verfassungsgebende Gewalt des Volkes“ darf weder vom
Gesetzgeber noch von einem Gericht usurpiert werden.
Die Entscheidung, dass das Grundgesetz eine bestimmte politische Entwicklung nicht mehr
trage, verlangt auf diesem Hintergrund Mut und Selbstgewissheit. Einerseits läuft sie auf die
Aussage hinaus, dass die demokratisch legitimierten verantwortlichen Amtsträger in ein Gebiet vorstoßen wollen und würden, das dem politischen Prozess im geltenden Recht vollständig versperrt ist. Während der Verfassungsgeber bei der Formulierung der in Art. 79 Abs. 3
GG formulierten Grenzen auf eine breite und tiefe ideengeschichtliche und rechtskulturelle
Substanz anknüpfen konnte,166 fehlt es mit Blick auf föderale Verschleifungen von EU und
Mitgliedstaaten an einem derartigen Anknüpfungspunkt, an den theoretisch, verfassungshistorisch oder rechtsvergleichend angeknüpft werden könnte. Festlegungen werden vor allem
dann, wenn sie scheinbar „deduktiv“ aus Prinzipien oder allgemeinen Aussagen abgeleitet
werden, leicht willkürlich – oder auch nur schlecht begründet – erscheinen.167 Andererseits
läuft die Entscheidung darauf hinaus, den demokratischen Prozess im repräsentativen Institutionengefüge zu unterbinden, um revolutionärer Kraft Bahn zu schaffen.168 Nicht jeder wird
den Optimismus haben, dass die Verschiebung des politischen Geschehens aus dem Raum
repräsentativer Entscheidungsfindung hinaus in jenen der Verfassungsgebung wirklich heilsbringend ist; dies gilt jedenfalls dann, wenn letztere offen und ohne Usurpation durch das
BVerfG erfolgt. Anhänger eines skeptischen Konstitutionalismus schätzen die Gefahren, die
mit einer Neukonstituierung des Gemeinwesens verbunden sind, nicht gering.169
***
163
Versuche, diesen Prozess juridisch einzurahmen (z.B. Tobias Herbst, Legitimation durch Verfassungsgebung,
2003, S. 87), erscheinen problematisch.
164
So auch Kirn (oben Fn. 132), Art. 146 Rdnr. 12.
165
Hier liegt die einzig legitime Rolle der Mitglieder des BVerfG nach dem Übergang in den Grenzbereich.
166
Dies gilt allerdings nicht für die föderale Schutzdimension des Art. 79 Abs. 3 GG.
167
Die spürbare Tendenz zur Abwendung vom „Glauben“ an das BVerfG (Gerd Roellecke, Das Ansehen des
Bundesverfassungsgerichts und die Verfassung, in: Michael Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht,
1995, S. 33 (48)) würde dadurch ungemein verstärkt.
168
Zu den damit verbundenen Gefahren: , Verfassungsentwicklung, 1982, S. 249 ff.
169
Zum Gedanken der Bewährung etwa: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Bewährung und Herausforderung. Die Verfassung vor der Zukunft, 1999 (mit Beiträgen von Dieter Grimm, Hans Hugo Klein, Paul Kirchhof
u.a.); Wolfgang Hoffmann-Riem, Das Grundgesetz – zukunftsfähig? DVBl. 1999, S. 657; Christian Starck, Das
Grundgesetz nach fünfzig Jahren: bewährt und herausgefordert, JZ 1999, S. 473; Peter Lerche, „Bewährung“ des
Grundgesetzes, FS Herzog, 2009, S. 265.
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