Herzinfarkt – ein Wettlauf mit der Zeit

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Herzinfarkt – ein Wettlauf mit der Zeit
Herzinfarkt – ein Wettlauf mit der Zeit
Der schnellste Weg
Hans-Jürgen Becker, Prof. Dr. med., Hanau
Es war fast Mitternacht, als Martin G. von seiner
Geschäftsreise aus den USA zurückkam. Seine
Frau sah sofort, dass es ihm nicht gut ging. Er
sah fahl und erschöpft aus. Während er sich sonst
zu ihr setzte, von seiner Reise berichtete und
danach fragte, wie es ihr und den Kindern inzwischen ergangen sei, hatte er jetzt nur einen Wunsch,
sich sofort hinzulegen. „Ich fühle mich nicht wohl“,
sagte er, „und plötzlich habe ich scheußliche
Schmerzen in der Brust und im Arm. Die Reise war
anstrengend und das lange unbequeme Sitzen
im Flugzeug. Es wird schon besser werden.“ Aber
besser wurde es nicht, sondern beunruhigend
schlechter. Gerda G. war ratlos, aber dann fiel
ihr ein: Schmerzen in der Brust und im Arm,
Übelkeit, fahle Hautfarbe: War das nicht ein Herzinfarkt?
Ihr nächster Gedanke war, den Hausarzt anzurufen. Der kannte ihren Mann. Zu ihm hatte sie
volles Vertrauen. Aber inzwischen war es drei Uhr
geworden – eine Zeit, in der man ihn doch unmöglich aus dem Schlaf reißen konnte. So wartete sie
voller Angst bis kurz nach sechs. Auf ihren Anruf
kam der Arzt sofort, aber helfen konnte er nicht
mehr. Es war zu spät.
Zeit ist Leben
Aus diesem traurigen Fall ist eines zu lernen: Bei
Verdacht auf Herzinfarkt kann man nicht zuwarten, schon gar nicht in der Nacht auf den Morgen,
am Wochenende auf den Montag. Das lässt die Dramatik der Situation nicht zu.
Ein Herzinfarkt bedeutet, dass ein Herzkranzgefäß durch ein Gerinnsel verschlossen wird. Dadurch
ist ein Teil des Herzmuskels von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten: daher die Schmerzen, daher
die Übelkeit.
Zwei große Gefährdungen bringt der Herzinfarkt
mit sich. In den ersten Stunden danach ist das
Herz besonders anfällig für Störungen der Herzschlagfolge. Bedrohlich ist das sogenannte Kam4
merflimmern, bei dem
das Herz mehr als 300
mal in der Minute schlägt.
Wird diese Rhythmusstörung nicht sofort behoben, kommt es zu einem
totalen Kreislaufzusammenbruch. Ursache ist
eine unzureichende Füllung der Herzkammern durch die schnelle Herzschlagfolge. Diese Rhythmusstörung ist unabhängig von der Größe des Herzinfarkts und kann
auch bei einem kleinen Infarkt vorkommen.
Schnelle Hilfe bringt der Defibrillator, der die
Herzrhythmusstörung elektrisch beseitigt. Sowohl
dem Notarzt im Rettungswagen (112 oder örtliche
Notrufnummer) wie jeder Klinik stehen Defibrillatoren zur Verfügung.
Die andere Gefahr, die ein Herzinfarkt mit sich bringt,
ist das Pumpversagen des Herzens. Je länger der
Herzinfarkt andauert, desto mehr Herzmuskelgewebe geht unwiederbringlich verloren. Die
heutige Medizin hat zwei Möglichkeiten die Durchblutung im Herzen wiederherzustellen: Einmal
dadurch, dass Medikamente das Gerinnsel auflösen oder dass das verstopfte Gefäß mit einer
Ballondilatation aufgedehnt wird. Aber nur in den
ersten Stunden lässt sich der Schaden, den der
Herzinfarkt anrichtet, begrenzen. Je früher eingegriffen wird, desto größer sind die Lebenschancen
des Patienten.
Die beiden großen Risiken des Herzinfarkts Kammerflimmern und Untergang von Herzmuskelgewebe, erfordern, dass der Patient so schnell
wie möglich in eine Klinik eingeliefert wird.
Der Notarzt-Rettungswagen ist der schnellste Weg
ins Krankenhaus. Er ist auf Notfälle spezialisiert,
ist mit den Beschwerden und Risiken des Herzinfarkts vertraut. Der Rettungswagen steht Tag
und Nacht auch an Sonn- und Feiertagen zur
Verfügung und er ist mit einem Defibrillator ausgerüstet, der eine lebensbedrohende Herzrhythmusstörung beenden kann. Wichtig ist,
den Verdacht auf Herzinfarkt deutlich zu
äußern und die Beschwerden klar zu beschreiben, damit die Leitstelle weiß, dass es sich
wirklich um einen Notfall handelt.
Mit einem Funkgerät kann vom Rettungswagen aus die Klinik schon benachrichtigt werden, so dass dort eine Ballondilatation oder eine
Lyse vorbereitet werden kann. In günstigen Fällen kann auf diese Weise schon in einer Stunde das Gerinnsel aufgelöst werden.
Gerda G. aber hatte beim Herzinfarkt ihres
Mannes nur an den Hausarzt gedacht. Hätte
sie den Rettungswagen angerufen, wäre er
wahrscheinlich gerettet worden. Aber genauso hätten viele andere gehandelt, denn der
Hausarzt ist der wichtigste Ansprechpartner
besonders für Patienten, die an einer chronischen Krankheit wie Angina pectoris leiden.
Aber wenn keine Zeit zu verlieren ist, steht der
Hausarzt nicht immer zur Verfügung. Das gilt
nicht nur in der Nacht. Auch am Tag wird der
Patient nicht erwarten können, dass der Arzt
seine Sprechstunde unterbricht. Oft gelangt
der Patient oder seine Angehörigen nur bis
zur Sprechstundenhilfe. Für die Sprechstundenhilfe
ist es bei den vielen Telefonaten pro Tag sehr
schwer, die Dringlichkeit der Situation zu erkennen. Es kann z. B. vorkommen, dass sie sagt:
„Der Doktor ist gerade in einer Untersuchung.
Ab drei beginnt unsere Mittagssprechstunde, ab
18.00 Uhr macht der Doktor Hausbesuche.“ Auf
diese Art gehen viele Stunden verloren, in denen
die verheerenden Folgen des Herzinfarkts sich
entwickeln können.
Ein ähnliches Problem besteht mit dem ärztlichen
Notdienst/Bereitschaftsdienst, der oft mit dem
Notarzt-Rettungswagen verwechselt wird. Der
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ärztliche Notdienst ist nachts und an Feiertagen für alle medizinischen Probleme –
vom Blinddarm bis zur Migräne zuständig.
Die Ärzte sind überlastet. Sie müssen deshalb viel per Telefon erledigen. Wenn ein solcher Arzt im Notdienst dann doch zu einem
Herzinfarktpatienten kommt, wird er den
Rettungswagen rufen, um den Patienten in
die Klinik zu bringen. Der ärztliche Notdienst/Bereitschaftsdienst ist ein Umweg,
der wertvolle Zeit verbraucht.
Zu Fuß ins Krankenhaus?
Immer wieder beobachten wir in der Notaufnahme Patienten, die mit einem Herzinfarkt selbst in die Klinik gehen oder gar
ihren eigenen Wagen gefahren haben. Davor
kann nur gewarnt werden. Die körperliche
Belastung verschlimmert die Folgen des
Infarkts und durch Autofahren setzt der vom Herzinfarkt Betroffene nicht nur sein eigenes Leben,
sondern auch das von anderen aufs Spiel.
Von Ausnahmefällen abgesehen muss auch davon
abgeraten werden, dass Angehörige oder Freunde mit ihrem Auto den Patienten in die Klinik
fahren, weil während des Transports Kammerflimmern auftreten kann.
Unbedingt EKG
Oft kommt der Patient nicht selbst auf den Verdacht
Herzinfarkt – besonders wenn er vorher nie Probleme mit dem Herzen gehabt hat.
Ruth L. (58) spürte plötzlich Schmerzen im Brustkorb und im Rücken zwischen den Schulterblättern. Außerdem war ihr übel. Sie hat bisher noch
nie eine ernsthafte Krankheit gehabt und einen
großen Haushalt versorgt. Da sie manchmal –
wie die meisten Leute – mit den Bandscheiben
Probleme hatte, ging sie zum Orthopäden, der
die Beschwerden für harmlos hielt. Sie bekam
Rheumamittel verordnet, die jedoch nicht halfen.
Sie fühlte sich auch in der Nacht und am nächsten Tag nicht gut und konnte nicht arbeiten, was
für sie ungewöhnlich war. Nochmals rief sie den
Orthopäden an, der aber zu keiner anderen Ent6
scheidung kam. Inzwischen hatte sie immer wieder Brustkorbbeschwerden und allgemeine
Schwäche. Nach zwei Tagen suchte sie ihren Hausarzt auf, der sofort mit Hilfe des EKGs einen Herzinfarkt feststellte. Mit dem Krankenwagen wurde
sie in die Klinik gebracht. Da schon zu viel Zeit abgelaufen war, hatte der Infarkt schon großen Schaden angerichtet.
Was wäre in diesem Fall richtig gewesen ? Die
Erfahrung sagt, dass bei neu auftretenden Brustkorbschmerzen immer auch an den Herzinfarkt zu
denken ist, und das muss immer sofort abgeklärt
werden. Der Orthopäde hätte gleich veranlassen
sollen, dass ein EKG beim Hausarzt, beim Internisten oder in der Klinik geschrieben wird. Auch
wenn die Brustschmerzen mit Magenschmerzen
verbunden sind, gilt, es muss darauf gedrungen
werden, dass ein EKG geschrieben wird.
Ärzte und Patienten müssen lernen, ein Auge auf
das Herz zu haben.
Jede Minute zählt
Paul G. kegelte, als ihn plötzlich ein starker Brustschmerz überfiel. Er fühlte sich wie in einem
Schraubstock und in ihm breitete sich das Gefühl
der Bedrohung aus. Seine Frau versuchte ihn zu
beruhigen: „Leg‘ dich hin und lass‘ dir heißen
Tee geben.“ Aber Paul G. erinnerte sich an eine Radiosendung, in der die Deutsche Herzstiftung über den
Herzinfarkt aufgeklärt hatte, und verlangte, dass
sofort ein Arzt geholt wurde.
Der Arzt fand die Situation nicht bedrohlich.
Paul G. aber hatte Angst und erinnerte sich an den
Slogan der Herzstiftung Herzinfarkt – jede Minute zählt. So bestand er darauf, dass seine Frau
ihn sofort in die Klinik fuhr. Dort stellte sich heraus, dass er recht hatte: Herzinfarkt. Eine Lysetherapie wurde sofort eingeleitet. Weniger als zwei Stunden waren seit dem Herzinfarkt vergangen, so
war es möglich den Herzmuskel fast vollständig
zu retten.
Paul G. kann weiter voll als Marketingleiter arbeiten, er segelt und fährt Ski. Durch sein konsequentes Handeln hat der Herzinfarkt ihm nichts
anhaben können. Damit das so bleibt, achtet er
auf einen gesunden Lebensstil.
Hilfe durch die Nächsten
Nicht immer sind Patienten, die einen Herzinfarkt erleiden, in der Lage, so energisch zu handeln wie Paul G. Oft sind sie so von Schmerzen
gepeinigt und von Schwäche übermannt, dass
sie zu Entscheidungen nicht mehr fähig sind und
nur in Ruhe gelassen werden wollen. Dann müssen die Lebensgefährten, die Familie, die Freunde oder wer gerade anwesend ist, sich für die
schnelle Rettung des Patienten einsetzen.
Nach der Erfahrung der Ärzte sind Frauen meistens
besser in der Lage, die Gefährdung ihres Partners zu erkennen. Allerdings kommt es auch
immer wieder vor, dass Frauen sich von dem
Wunsch ihres Partners „Ich will keinen Arzt“ einschüchtern lassen und dadurch die Chance für
eine schnelle Rettung versäumt wird.
Ein großes Problem ist es, dass viele Patienten
Warnzeichen schon Wochen und Monate vor
einem Infarkt nicht wahrnehmen. Oft haben Patienten, die ihren Herzinfarkt als Blitz aus heiterem
Himmel schildern, wenn man sie genau befragt,
schon längst vorher beim Treppensteigen, Bergwandern, Rennen zum abfahrenden Zug Schmerzen im Brustkorb oder Brustenge gespürt. Sie
haben diese Herzbeschwerden verdrängt, sie auf
„die Bronchien“ oder „das Alter“ geschoben, weil
sie sie als Herzschmerzen nicht wahrnehmen
wollten. Wenn wir lernen, auf diese Warnzeichen aufmerksam zu achten, könnte ein großer
Teil der Herzinfarkte vermieden werden.
Wie erkennt man den Herzinfarkt?
■ Schwere anhaltende Schmerzen im Brustkorb, die in bei-
■
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de Arme, den Bauch, zwischen die Schulterblätter und in
den Unterkiefer ausstrahlen, verbunden mit Übelkeit und
Erbrechen (besonders bei Frauen). Oft wird auch ein
Brennen im Brustkorb verspürt, auch können Schmerzen
im Hals oder im Oberbauch auftreten.
Starkes Engegefühl oder heftiger Druck im Brustkorb.
Blasse, fahle Gesichtsfarbe, kalter Schweiß auf Stirn und
Oberlippe oder auch im ganzen Gesicht. Angst. Das
Gesicht drückt die unmittelbare Bedrohung aus und ist
oft bis zur Fremdheit verändert.
Luftnot (flache Atmung), die zum plötzlichen Hinsetzen
oder Hinlegen zwingt.
Plötzlicher Kreislaufzusammenbruch (Kollaps ohne Bewusstlosigkeit).
Sollten sich die Beschwerden innerhalb von 20 Minuten
nicht bessern, soll der Rettungswagen gerufen werden. Die
Wartezeit entfällt, wenn der Zustand bedrohlich erscheint,
d.h. bei Bewusstlosigkeit, wenn die Schmerzen extrem
stark sind und durch Hinlegen nicht gebessert werden
können.
Wenn der Kreislauf zusammenbricht, kann Herz-LungenWiederbelebung die Zeit bis zum Eintreffen des
Notarztwagens überbrücken. So sind schon viele
Herzinfarktpatienten gerettet worden.
Bei Verdacht auf Herzinfarkt sollten dem Patienten 300 mg
ASS (= Acetylsalicylsäure, z.B. Aspirin, ASS-ratiopharm,
ASS Stada u.a.) gegeben werden – falls er/sie nicht bereits
ohnehin ASS nimmt oder eine Gegenindikation gegen ASS
besteht. Damit kann schon zu Hause dem Herzinfarkt entgegengewirkt werden.
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