Qumran – eine Geschichte wird neu erzählt
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Qumran – eine Geschichte wird neu erzählt
w_fertig_02-09_reportage.qxd 19.06.2006 13:53 Uhr Seite 2 DIE REPORTAGE Von Bettina Wellmann NEUE ERKENNTNISSE ÜBER DIE RUINEN VOM TOTEN MEER Qumran – eine Geschichte wird neu erzählt Mittelmeer Auf einer terrassenförmigen Ebene liegen die Ruinen von Qumran. Sie sind den steilen Abhängen der jüdäischen Wüste vorgelagert. Der Blick nach unten ist frei auf das Tote Meer, das in dunstigem Farbschimmer daliegt. Es scheint nichts zu ahnen von den Stürmen, die derzeit durch die Qumranforschung ziehen. Denn der Blick der Wissenschaft auf die Ruinen verändert sich: Die gängige Schulmeinung, dass in Qumran die religiöse Gruppe der Essener in einer klosterähnlichen Gemeinschaft lebte, wird zunehmend infrage gestellt, die archäologischen Befunde werden neu interpretiert und die Biblische Archäologie als Ganze erfährt am Beispiel der Ruinen vom Toten Meer, wie dringend Methoden und Selbstverständnis neu reflektiert werden müssen. Im Juni 2006 ist im Gütersloher Verlagshaus ein Buch erschienen, das die Neuigkeiten zu Qumran vorlegt. „Qumran – die ganze Wahrheit“ ist die deutsche Übersetzung eines Buches des israelischen Wissenschaftlers Yizhar Hirschfeld. Der Archäologe von der Hebräischen Universität Jerusalem stützt sich dabei auf neueste Untersuchungen in der Region am Toten Meer und in Qumran selbst, darunter die Ergebnisse zehnjähriger Grabungen in der Ruine durch Yizhak Magen und Yuval Peleg. In der deutschsprachigen Forschung hat vor allem der Neutestamentler Jürgen Zangenberg von der niederländischen Universität Tilburg (ab Herbst 2006 Universität Leiden) die Ergebnisse der Israelis in seine Arbeiten zu Qumran aufgenommen. Er hofft, dass sich die neuen Erkenntnisse weiter durchsetzen. „Qumran“, sagte Zangenberg in einem Spiegel-Interview im November 2005, „ist über Jahrzehnte in eine völlig falsche Richtung gedeutet worden.“ 2 welt und umwelt der bibel 3/2006 DIE GEGEND rund um das Tote Meer war wohl doch nicht so unbelebt wie man lange dachte. Um die Zeitenwende existierte eine beachtliche regionale Infrastruktur. Pflanzen wuchsen vom Seeufer aufsteigend, Landwirtschaft war möglich. See Gennesaret Jerusalem QUMRAN Totes Meer © wub Die gängige Theorie Die Schulmeinung, die jetzt zu wackeln beginnt, ist eng verbunden mit dem französischen Dominikanerpater Roland de Vaux, der neben Kathleen Kenyon eine Zentralgestalt der Palästina-Archäologie des 20. Jh. war. Von 1945-65 war er Direktor der Jerusalemer „École Biblique“. De Vaux leitete die Ausgrabungskampagnen in den Jahren 1952-58, als die Ruinen am Toten Meer noch zu Jordanien gehörten. In Zusammenarbeit mit weiteren Wissenschaftlern etablierte der Archäologie-Pater die bis heute von der Mehrheit der Forschung vertretene „Qumran-Essener-Theorie“. Demnach ist Qumran ein Ort in der Einöde, in den sich Wüstenmönche aus der Gemeinschaft der Essener zurückgezogen hatten. Schwerpunkt ihrer Tätigkeit war die Herstellung und das Studium religiöser Schriftrollen. Das Leben der Menschen in Qumran rekonstruierte de Vaux, indem er die Ausgrabungsfunde mit Hilfe der Schriftrollen aus elf in der Nähe der Massada Siedlung gelegenen Höhlen interpretierte. Der Dominikanerpater zeichnete dabei das Bild einer klosterähnlichen Gemeinschaft, die asketisch lebte und zu deren Riten Reinigungsbäder gehörten – deshalb die vielen Wasserbecken und -leitungen, für die Qumran bekannt ist. Kritiker wie Jürgen Zangenberg werfen de Vaux mangelnde Distanz vor. Er habe eben das gefunden, was er gesucht habe und manchmal auch unhistorische Analogien gezogen. Überall entdeckte der Ordensmann Klösterliches: Lehmbänke wurden zu Schreibpulten, Keramikfunde dokumentierten einfaches, asketisches Leben. Auch spätere Forscher zogen Parallelen: „Auf unsere heutigen Verhältnisse übertragen, war die Gründung der Qumran-Siedlung ... nichts anderes als die Einrichtung eines Verlagshauses – wie die Deutsche Bibelgesellschaft oder das Katholische Bibelwerk in Stuttgart – mit eigener Papierfabrik, Druckerei, Buchbinderei und Versand“ (so H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Jo- reportage w_fertig_02-09_reportage.qxd 19.06.2006 13:53 Uhr Seite 3 reportage welt und umwelt der bibel 3/2006 3 w_fertig_02-09_reportage.qxd 19.06.2006 13:53 Uhr Seite 4 DIE REPORTAGE hannes der Täufer und Jesus, Freiburg 1993). Das Vermächtnis de Vaux’ ist bis heute prägend. Seine Thesen bestimmen die Sicht der Dinge, und eine abschließende wissenschaftliche Dokumentation seiner Grabungsfunde liegt bis heute nicht vor. Mit ihr könnte man überprüfen, ob die Funde nicht auch andere Deutungen als die „Qumran-Essener-Theorie“ zulassen. Insofern, so Zangenberg, sei die Abhängigkeit vom ursprünglichen Ausgräber und seiner Deutung derzeit noch groß: was de Vaux nicht berichtet, „existiere“ in der Debatte praktisch nicht; was er zurückweist, sei mangels unabhängiger Daten schwer zu rehabilitieren. Doch die neuen Grabungen unter Magen und Peleg liefern erstmals Daten, die unabhängig von de Vaux ergraben wurden und neue Deutungen ermöglichen. Damit zeigt sich für Jürgen Zangenberg immer deutlicher: Die Theorien des Dominikaners passen einfach nicht. Magen und Pelegs Ergebnisse gehen in eine völlig andere Richtung: Qumran war kein Kloster, sondern ein auf die regionale Landwirtschaft zugeschnittener „Dienstleistungsbetrieb“. In der Siedlung lebten keine zölibatären Mönche, sondern Töpfer, Parfümhersteller und Dattelbauern, etwa 100 Personen, darunter auch Frauen und Kinder. Die religiösen Praktiken der Bewohner lassen sich keiner einzelnen „Sekte“ wie der Essener exklusiv zuordnen, sondern entsprechen dem, was wir auch sonst von „normalen“ Juden aus dieser Zeit wissen. Die berühmten Schriftrollen wurden nicht in Qumran verfasst. Sie stammen aus Bibliotheken und Synagogen in Jerusalem und wurden in den Wirren des Aufstandes gegen die Römer um 70 n. Chr. in den Höhlen am Toten Meer versteckt, um sie zu schützen. Landschaft In der Vorstellung des Palästina-Forschers de Vaux war die Gegend um Qumran eine extrem unfruchtbare und unerreichbare Öd- nis. Diese Abgeschiedenheit zu jeglicher Zivilisation war für ihn ein wesentliches Argument, dass Qumran essenisch war. Mit dem Bild einer lebensfeindlichen Ortslage im Hinterkopf las er viele separatistische Aussagen in den Qumranrollen, die nur wenig früher als die Siedlung gefunden worden waren, und in antiken Geschichtswerken (Philo, Plinius d. Ä., Josephus). Für ihn ergab sich im Zusammenspiel mit diesen Texten das Bild einer abgeschiedenen religiösen Gemeinschaft mit karger Lebensweise. Heute wissen wir jedoch, dass die Gegend um das Tote Meer in der Antike ein anderes Gesicht als heute hatte. Ökologisch-archäologische Forschungen, an denen auch die Katholische Universität Eichstätt beteiligt war, ergaben: Die Region um das Tote Meer verfügte noch im 2. Jh. n. Chr. über eine geschlossene Pflanzendecke, welche die jährlichen Niederschläge zu speichern imstande war. Ökologisch betrachtet fanden sich somit im Bereich des Toten Meeres prinzipiell Die Ruinen von Qumran lassen nichts erahnen von der Bewegung, die in die Qumranforschung gekommen ist. 4 welt und umwelt der bibel 3/2006 © M. Windrath reportage w_fertig_02-09_reportage.qxd 19.06.2006 13:54 Uhr Seite 5 die gleichen Klima- und Vegetationszonen, wie sie sich für das Jordantal rekonstruieren ließen. Vom Seeufer aufsteigend fand sich zunächst eine Parksavanne mit Wadis begleitenden Galeriewäldern (fast) tropischen Charakters. Außerdem stellte man an den Hängen des Judäischen Berglandes sommergrünen Laubmischwald, darüber Nadelwald und noch höher lichten Nadelwald fest. An den Rändern des Toten Meeres gibt es außerdem bis heute Süßwasserquellen. Wo genug Wasser verfügbar war, konnte man also Siedlungen und Flächen für die Landwirtschaft anlegen. Wirtschaftsraum Totes Meer Gegen die Theorie von den weltabgewandten Sektierern sprechen auch neue Erkenntnisse über die regionale Infrastruktur rund um das Tote Meer. Die Gegend war keineswegs so unbelebt, wie man lange dachte. Seit den Hasmonäern Ende des 2. Jh., aber vor allem unter Herodes war man darauf bedacht, die Region, auch zum Schutz nach Osten hin, wirtschaftlich und militärisch zu kontrollieren. In Jericho entstehen zu dieser Zeit Palastanlagen, entlang des Toten Meeres werden Siedlungen und Stützpunkte gebaut – Qumran war wohl einer davon. Die Gegend stand mit anderen Regionen in regem Handelsaustausch. Man produzierte Datteln, Balsam und Salz und bezog dafür Wein und Öl, wichtige Bestandteile des antiken Speiseplans. Und Handel erfordert Wege. Ganz so abgeschnitten, wie die Forscher lange angenommen haben, lag Qumran nicht. Es gab zwar keine großen Straßen, aber Saumpfade führten zur nur wenige Kilometer entfernten Ost-West-Verbindung Livias-Jericho-Jerusalem. Außerdem gab es während der Hauptnutzungszeit von Qumran zwischen ca. 100 v. Chr. und 68. n. Chr. Schiffsverkehr auf dem nördlichen Toten Meer. Viele Schiffsanlegeplätze belegen dies. JESAJA-ROLLE AUS QUMRAN im Jerusalemer Schrein des Buches. Dort werden Rollen und Fragmente aufbewahrt, die seit 1947 in Höhlen oberhalb der Siedlung von Qumran entdeckt wurden. Besonders das Verhältnis von Archäologie und Text wird derzeit in der Forschung diskutiert. In welcher Beziehung stehen die in den Höhlen gefundenen Schriftrollen zu den Ruinen von Chirbet Qumran? © akg Keramik Bis heute wird die in Qumran gefundene Keramik als wichtiges Indiz für die These einer essenischen Siedlung angeführt. Bereits de Vaux behauptete, dass die Keramik Eigenschaften zeige, die gut zur apokalyptischen Weltsicht und zur asketischen Lebensweise der Qumranbewohner passe. Es gebe spezielle Formen, die so nur in Qumran auftauchten, und es fehle an importierter Ware. Die Bewohner hätten sich vermutlich auf einfachem Niveau selbst versorgt. reportage „Falls man weiterhin an einem Zusammenhang zwischen Siedlung und Schriftrollen festhalten will, muss man den Charakter der Gruppe, die dort gelebt haben soll, deutlich modifizieren.“ welt und umwelt der bibel 3/2006 5 w_fertig_02-09_reportage.qxd 19.06.2006 13:54 Uhr Seite 6 DIE REPORTAGE DAS AUFFÄLLIGE WASSERLEITUNGSSYSTEM in Chirbet Qumran mit vielen Bassins und Kanälen führte Roland de Vaux zu der Annahme, dass es einem kultischreligiösen Zweck diente. War aber alles nur Teil einer landwirtschaftlichen Anlage? © M. Windrath Die Formen würden ihre religiöse Gesinnung zeigen. Doch neuere Analysen belegen, dass das Datenmaterial, das diesen Aussagen zugrunde lag, nicht ausreichend war. Magen und Peleg konnten nachweisen, dass die keramischen Funde von Qumran im Vergleich mit dem regionalen Spektrum in keiner Weise auffällig sind. Bisher als nicht vorhanden geglaubte Keramiktypen sowie dekorierte Gebrauchsware sind nun ebenfalls nachgewiesen worden. Zudem belegen Importe von Steingefäßen aus Jerusalem oder Luxusware wie Glas, dass Qumran durchaus Kontakt zu den großen Handelszentren hatte. Anlage der Gebäude In der bisherigen „Qumran-Essener-Theorie“ ist es üblich, die verschiedenen Gebäude und Räume der Siedlung mit Bezeichnungen zu belegen, die einem klösterlichen Zusammenleben entlehnt sind. So fand de Vaux ein Skriptorium, Bibliotheksräume, eine Versammlungshalle, rituelle Tauchbäder und Wirtschaftsgebäude. Bereits Mitte der 1990er-Jahre gab es einen Aufschrei, als die belgischen Archäologen Ro- 6 welt und umwelt der bibel 3/2006 bert Donceel und Pauline Donceel-Voûte die Ruinen zu entweihen schienen, indem sie sie als Farmhaus interpretierten. Inzwischen vergrößert sich der Kreis derer, die in Qumran eine landwirtschaftliche Anlage sehen, die zunächst unabhängig von den Schriftrollen zu interpretieren ist. Mit Yizhar Hirschfeld liest sich die Geschichte der Anlage anders. Demnach war Qumran in erster Linie ein Wirtschaftsbetrieb zur Dattel- und Balsamproduktion. Auch die Töpferei dürfte eine Bedeutung als Produktionsstätte für die Umgebung gehabt haben. Schreibutensilien und Lagerräume können Hinweise auf logistische Tätigkeiten geben. Der bescheidene Stil der Anlage könnte darauf hinweisen, dass in Qumran vor allem Arbeiter und Verwalter ansässig waren, während der Besitzer in den Palästen von Jericho wohnte. Friedhof Es war vor allem auch der Friedhof von Qumran, der Roland de Vaux zu der Annahme einer zölibatären Männergemeinschaft führte. Ausschlaggebend war seine Beobachtung, dass auf dem Hauptfriedhof bis auf reportage w_fertig_02-09_reportage.qxd 19.06.2006 13:54 Uhr Seite 7 IM GESPRÄCH Qumranforscher PD Dr. Jürgen Zangenberg eine Frau nur Männer bestattet waren. Außerdem schloss er aus manchen Bestattungsformen religiös motivierte Bestattungsriten oder eine besondere „Individualisierung“ des Verstorbenen. Doch auch das Friedhofsargument wankt. Kritiker bemängeln die nicht ausreichende Datenmenge, auf die sich de Vaux bezieht. Außerdem haben erneute Untersuchungen des Anthropologen Olav Röhrer-Ertl an Skeletten, die in den 1950er-Jahren aus den Grabungen de Vaux’ nach Bayern gelangt waren, ergeben, dass auch auf dem Hauptfriedhof mehr Frauen und Kinder bestattet waren als bisher angenommen. Zwar übersteigt auf dem Friedhof die Zahl der Männer immer noch die der Frauen, doch könnte dies auch normal für ein landwirtschaftliches Anwesen sein, auf dem vor allem Männer beschäftigt waren. Zusammenhang von Texten und Ruinen Wenn Qumran gar kein Kloster, sondern ein landwirtschaftliches Anwesen war, wie sind dann die unzähligen Schriftrollen aus den Höhlen einzuordnen? Forscher wie Jürgen Zangenberg gehen davon aus, dass Texte und Archäologie unterschiedliche Geschichten erzählen. Zangenberg meint: „Wären die Texte nicht in der Nähe Qumrans gefunden worden, wäre niemand auf die Idee gekommen, ‚zölibatäre Essener’ in der Siedlung zu suchen. Die Archäologie erzählt die Geschichte Qumrans als einer jüdischen landwirtschaftlichen Anlage. Ob dort auch Essener gelebt haben, kann sie nicht beantworten.“ Die Schriftrollen sind dann wohl in den Wirren des Aufstandes gegen die Römer von Jerusalem in die Nähe von Qumran gebracht worden. Sie bezeugen eher die große Buntheit theologischer Positionen und Diskussionen in Jerusalem, als dass sie als Bibliothek nur einer Gruppe zu gelten hätten. Falls man weiterhin an einem Zusammenhang zwischen Siedlung und Schriftrollen festhalten will, muss man den Charakter der Gruppe, die dort gelebt haben soll, deutlich modifizieren. Das ist in einem Teil der Forschung – unabhängig von den archäologischen Nachfragen/Revisionen – bereits geschehen (vgl. die Arbeiten von Johann Maier). reportage © M. Windrath Was hat sich Ihrer Meinung nach in Qumran abgespielt? Qumran wurde – vielleicht im Auftrag der jüdischen Könige – um 100 v. Chr. angelegt, um die einzigartigen natürlichen Ressourcen der Gegend um das Tote Meer ausbeuten zu können: Datteln, Parfüm, Salz, Asphalt. Dazu stellte die Siedlung gleichsam als Dienstleistungszentrum der Region Lager- und Wohnräume, Werkstätten, wie z. B. eine Töpferei und eine Schmiede, sowie einen Bestattungsplatz zur Verfügung. Unter Herodes wurde die Siedlung ausgebaut. Die Menschen waren Juden, aber nicht notwendig allein Essener. Als Jerusalem von den Römern belagert wurde, halfen die Bewohner von Qumran mit, die aus der Stadt in Sicherheit gebrachten Schriftrollen zu verbergen. Was sind die aktuellen Fragestellungen in der Qumran-Archäologie? Mit welchen Problemfeldern ist die Forschung zur Zeit befasst? Allerhöchste Priorität hat immer noch die vollständige Veröffentlichung aller Funde und Befunde, die Roland de Vaux vor mehr als 50 Jahren ausgegraben hat. Unter deren Fehlen leidet die gesamte Forschung. Für besonders vielversprechend halte ich aktuelle Arbeiten zur regionalen Verankerung bestimmter Fundgattungen (etwa der Keramik) aus Qumran. Auch müsste man die Region noch einmal mit naturwissenschaftlichen Methoden (Hydrologie, Paläobotanik, Kli- matologie) untersuchen und bisherige Arbeiten zu einem Gesamtbild der Lebensumstände in Qumran vor 2000 Jahren zusammenführen. Ist Qumran ein Musterbeispiel, wie sich die Biblische Archäologie weiterentwickelt? In vielerlei Hinsicht, positiv wie negativ! Qumran ist leider ein besonders trauriges (aber nicht das einzige!) Beispiel dafür, wie lange es manchmal dauern kann, bis Grabungen vollständig publiziert werden. An Qumran kann man aber auch positiv lernen, wie man durch neue Daten und Sichtweisen (nicht mehr die einzelne Siedlung, sondern die Region gibt den Interpretationsrahmen ab) gezwungen wird, alte Positionen zu überdenken. Das ist ganz normal. Und Qumran zeigt, wie viel man durch vorurteilslose Diskussion und geduldiges Hören auf Spezialisten lernen kann. Wie reagiert die Qumranforschung auf Ihre Position? Ich sehe die Qumranforschung heute in der Tat im Umbruch. Es gibt viel Zustimmung, aber auch viel Ablehnung zur neuen Sichtweise (die ja nur insofern „meine“ ist, als ich sie inspiriert von anderen Forschern mit eigenen Akzenten versehen habe). Dabei spielt es gar keine Rolle, aus welchem Land jemand kommt oder welcher Konfession man angehört. Ein Denken in „Lagern“ schadet, Offenheit ist das wichtigste – und die Bereitschaft, sich durch neue Daten überraschen zu lassen. Bettina Wellmann welt und umwelt der bibel 3/2006 7 w_fertig_02-09_reportage.qxd 19.06.2006 13:54 Uhr Seite 8 DIE REPORTAGE ROLAND DE VAUX (links) prägte die lange gängige „QumranEssener-Theorie“. Der französische Dominikaner war eine Zentralgestalt der Palästina-Archäologie des 20. Jh. und von 1945-65 Direktor der Jerusalemer „École Biblique“. © MdB/Totemico Forscher, Funde, Theorien August 1947 Der Beduine Ed-Dhib, „der Schakal“, entdeckt die erste der elf Schriftrollen-Höhlen von Qumran. Entgegen der Legende war er nicht auf der Suche nach einer verirrten Ziege, sondern nach einem Versteck für Schmugglerware. Frühjahr 1952 Der Archäologe Roland de Vaux beginnt in der Steinwüste am Toten Meer zu graben. Im Lauf von fünf Grabungskampagnen legen er und seine Mitarbeiter auf dem Plateau von Qumran Gebäudereste frei. De Vaux interpretiert seine Grabung als klösterliches Anwesen der essenischen Gemeinde und begründet damit die bis heute gängige „Qumran-Essener-Theorie“. 1953 Eine internationale Crew im Rockefeller-Museum von Jerusalem macht sich ans Werk, um Tausende von Textschnipseln aus den Qumran-Höhlen zu entziffern und zuzuordnen. Seit 1955 wurden die Qumran-Texte in der Reihe „Discoveries in the Judaean Desert“ (DJD, Oxford University Press) publiziert und liegen in fast 40 Bänden übersetzt, kommentiert und fotografiert vor. 1991 Die belgischen Archäologen Robert Donceel und Pauline DonceelVoûte vergleichen Chirbet Qumran mit einem Landhaus, das Elemente von wirtschaftlicher und repräsentativer Architektur aufweise. Damit war der primär religiöse Charakter der Siedlung infrage gestellt. Dies löst einen heftigen Streit aus. LITERATUR UND INTERNET - Yizhak Magen und Yuval Peleg, Back to Qumran: Ten Years of Excavation and Research, 1993-2004, in: J.- B. Humbert, K. Galor, J. Zangenberg (Hg.), Qumran – The Site of the Dead Sea Scrolls, Brill-Verlag, Leiden 2005. LITERATUR - Yizhar Hirschfeld, Qumran – die ganze Wahrheit. Die Funde der Archäologie – neu bewertet, Gütersloher Verlagshaus 2006, 29,95 Euro. Eine Neuerscheinung, die ihre Schatten schon lang voraus warf und die nun auf Deutsch neue Erkenntnisse zu Qumran zugänglich macht. Der Archäologe von der Hebräischen Universität Jerusalem bezweifelt, was jahrzehntelang unumstritten war. Er folgt den archäologischen Spuren und kommt zu dem Ergebnis, dass Qumran keine klosterähnliche Anlage der Essener war. Auch die Geschichte der Schriftrollen muss seiner Auffassung nach neu geschrieben werden. 8 welt und umwelt der bibel 3/2006 - Johann Maier, Zum Stand der Qumranforschung, in: M. Fieger/D. Schmid/P. Schwagmeier (Hg.), Qumran – Die Schriftrollen vom Toten Meer, Göttingen 2001, 23-95. - Heinz-Josef Fabry, Archäologie und Text. Versuch einer Verhältnisbestimmung am Beispiel von Chirbet Qumran, in: M. Küchler (Hg.), Archäologie und Text (NTOA), Fribourg 2006 (angekündigt). - Jürgen Zangenberg, Region oder Religion? Überlegungen zum interpretatorischen Kontext von Khirbet Qumran, in: M. Küchler (Hg.), Archäologie und Text (NTOA), Fribourg 2006 (angekündigt). reportage w_fertig_02-09_reportage.qxd 19.06.2006 13:54 Uhr Seite 9 DER FRIEDHOF VON QUMRAN ist Objekt der erneuten Forschungen. Nach de Vaux waren auf ihm fast nur Männer begraben, teilweise in kultischer Weise. Er sah dadurch seine „Qumran-Essener-Theorie“ gestützt. © H. Isachar/holylandimages 1993 Mit seinem Buch „Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus“ vermittelt der Göttinger Qumranfachmann Hartmut Stegemann die Funde von Qumran – in leichter Modifizierung von de Vaux – einem breiten Publikum. Er reagiert damit auf spekulative Enthüllungsliteratur, die seit den 80er-Jahren die Qumran-Rollen als „Verschlusssache Jesus“ skandalisiert. 1998 In München wird der Anthropologe DDr. Olav Röhrer-Ertl ausfindig gemacht, der Skelettmaterial aus Qumran von seinem Lehrer Dr. Gottfried Kurth übertragen bekommen hatte. Dieser hatte bei den Grabungen de Vaux’ die Geschlechtsbestimmungen durchgeführt. Mit modernen Methoden werden die bestatteten Individuen vor allem hinsichtlich der Frage nach Geschlecht und Alter neu untersucht. 1994-2004 Die israelischen Archäologen Yizhak Magen und Yuval Peleg unternehmen neue Grabungen in Qumran. Sie bemühen sich um eine unvoreingenommene Grabung – unabhängig von den in Qumran aufgefundenen Schriftrollen und deren religiösem Inhalt. Die beiden Forscher behaupten, dass Qumran keineswegs eine Klosteranlage gottesfürchtiger Männer war, sondern ein Gutshof, der von Parfümherstellern, Dattelbauern und Töpfern bewohnt wurde. Der führende israelische Qumran-Forscher Yizhar Hirschfeld von der Hebräischen Universität Jerusalem stützt die Thesen seiner Kollegen. SCHÄDEL einer 25-30 Jahre alten Frau aus der Collectio Kurth vom Friedhof in Qumran. Anthropologen haben bei ihr eine Nasennebenhöhlenentzündung festgestellt. © D. Schulzebeer INTERNET - Terra X – Brennpunkt Qumran: www.zdf.de/ZDFde/inhalt/23/0,1872,2077335,00.html Am 23.8.2004 widmete das ZDF dem Thema Qumran und den Umbrüchen in der Archäologie eine Reportage. Die Internetseiten zur Sendung stellen vielfältige Informationen bereit. - Homepage von Olav Röhrer-Ertl zur anthropologischen Forschung in Qumran: www.primatology.de - Informationen der KU Eichstätt zu Qumran: www1.ku-eichstaett.de/KTF/qumran/de/begriffe.htm Hier gibt es u. a. eine 3D-Simulation von Chirbet Qumran. - Die Abteilung für Qumranforschung der Universität Göttingen: www.theologie.uni-goettingen.de/ger_nofr/theolfakulqumran.htm - Deutschsprachige Qumran-Literatur: www.qumran.org/homes/literatur/ reportage welt und umwelt der bibel 3/2006 9