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Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Institut für Politische Wissenschaft Wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt an Gymnasien Wissenschaftliche Arbeit DIE ROLLE DES BUNDES IN DER SCHULPOLITIK DER BUNDESREPUBLIK Prüfer: Prof. Dr. Axel Murswieck Vergabe des Themas: 19.05.2006 vorgelegt von: Tobias Gillen Klingenteichstr. 16 69117 Heidelberg [email protected] Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung...............................................................................1 1.1 Fragestellung .............................................................................................................. 2 1.2 Gang der Argumentation, Operationalisierung...................................................... 4 1.3 Stand der Forschung ................................................................................................. 5 2. Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik .......................7 2.1 Gegenstand und Ziel der Bildungspolitik................................................................ 7 2.2 Funktionen des Bildungswesens ............................................................................... 9 2.3 Gliederung in Teilbereiche und Fokussierung ...................................................... 10 2.4 Träger und formale Kompetenzen in der Schulpolitik ........................................ 11 2.4.1 2.4.2 2.4.3 Staatliche Institutionen ............................................................................................. 11 Weitere nationale Akteure ........................................................................................ 14 Internationale Einflüsse ............................................................................................ 15 3. Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik .............................................................17 3.1 Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern in der Schulpolitik................ 17 3.2 Phasen der Entwicklung des Bildungsföderalismus 1945 - 2005......................... 18 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8 3.2.9 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 Wiederaufbau, Vereinheitlichung und tastende Reformen: Etablierungsphase (19451963)......................................................................................................................... 18 Große Bildungspolitische Koalition: Aufschwung des Politikfeldes (1964-1969)... 20 Bildungseuphorie: Hochkonjunktur und Polarisierung (1969-1974)........................ 21 Bildungspolitische Resignation: Flaute (1974-1982) ............................................... 22 Bildungskrise und Rückzug des Bundes (1982-1987).............................................. 23 Neuorientierung und Wiedervereinigung (1987-1995)............................................. 23 Paradigmenwechsel und neuer Aufschwung (1995-2001) ....................................... 24 Der PISA-Schock, die zweite Hochkonjunktur und die schnelle Normalisierung (2001-2005) .............................................................................................................. 25 Die Föderalismusreform und weiterer Ausblick....................................................... 26 Die Institutionen der dritten Ebene und ihre Bedeutung..................................... 27 Koordinationsgremien: KMK und BLK ................................................................... 28 Beratungsgremien..................................................................................................... 31 Zwischenbilanz: Schulpolitik im deutschen Föderalismus .................................. 33 4. Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen .....................................35 4.1 Der rechtliche Rahmen und das Beispiel nationaler Bildungsstandards............ 35 4.2 Finanzielle Anreize: die „goldenen Zügel“ ............................................................ 37 4.3 Weitere Möglichkeiten der Einflussnahme ........................................................... 39 4.3.1 4.3.2 4.4 Informierung am Beispiel der Bildungsreform nach PISA....................................... 40 Strukturierung am Beispiel „Schulen ans Netz e.V.“ ............................................... 41 Überblick über die Möglichkeiten.......................................................................... 43 -I- 5. Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive .............................................................................44 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 Das Bundesministerium und seine Möglichkeiten ................................................ 46 Das Ministerium: Ressortkompetenz der Minister ................................................... 46 Das Bundesministerium und der Parteieneinfluss .................................................... 48 Die Minister und ihr politischer Einfluss und Werdegang ....................................... 51 Einflussnahme des Bundeskanzlers I: Analyse der Regierungserklärungen von 1949-2005 .................................................................................................................. 54 Grundlage der Analyse und Klassifikation der Erklärungen .................................... 55 Inhalt und Funktion der Regierungserklärungen ...................................................... 57 Regierungserklärungen und Schulpolitik.................................................................. 59 Einflussnahme des Bundeskanzlers II: vertiefende Analyse ............................... 62 Regierungserklärungen vor 1969.............................................................................. 63 Zwei Hochkonjunkturen im Vergleich: Brandt und Schröder .................................. 64 Uneindeutige Trends: Schmidt, Kohl, Merkel.......................................................... 67 Auswertung: Gesamtbild von Ministern und Kanzlern....................................... 70 6. Zur Föderalismusreform aus Sicht der Schulpolitik..........72 7. Resümee: Die Rolle des Bundes in der Schulpolitik ..........78 Anhang . ..................................................................................82 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis................................................................................ 82 Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 83 Organisationspläne des BMBF 2005 und 2006 ................................................................. 88 Verpflichtende Erklärung der Selbständigkeit............... Fehler! Textmarke nicht definiert. - II - 1. Einleitung „Wie kleinmütig kommt angesichts dieser Ergebnisse [- gemeint sind die PISA-Ergebnisse (vgl. Deutsches PISA-Konsortium, 2002) -] doch der Streit einiger Ministerpräsidenten daher, wer warum im oberen oder unteren Drittel der Zweiten Liga platziert ist. Oder die so tun, als ginge sie das alles nichts an, weil sie eine viel zu geringe Zahl an Schülern in die Erste Liga haben bringen können. Sie übersehen dabei das Wesentliche, denn wir müssen uns ernsthafte Gedanken machen, ob sich der deutsche Bildungsföderalismus nicht selbst zu Grabe getragen hat. Die Kultusministerkonferenz hat sich ihr Zeugnis abgeholt: ihre Gesamtleistungen sind schlecht, Versetzung ausgeschlossen. Was als "föderaler Wettbewerb" gepriesen wird, erweist sich im Licht der innerdeutschen PISA - Ergebnisse als Länderegoismus auf dem Rücken der deutschen Schüler.“ Bundeskanzler Gerhard Schröder, 27.06.2002 Die Ergebnisse der internationalen PISA-Studien („Programme for International Student Assessment“-Studien) haben ein Politikfeld in Bewegung gebracht, wie dies keineswegs zu erwarten war. Bildungspolitik, genauer: Schulpolitik, geriet durch die Perzeption der Ergebnisse einer internationalen Schulleistungsvergleichsstudie in eine unvorhersehbare Phase der Hochkonjunktur. Die verkürzte, 2005 abgelaufene zweite Amtszeit der Regierung Schröder verhieß, so zumindest im Wahlkampf 2002 angekündigt, eine Schwerpunktsetzung in dem Bereich der Bildungspolitik. Mittlerweile ist, nach dem Aktionismus unmittelbar nach der Veröffentlichung der Ergebnisse, die Bildungspolitik wieder in ruhigere Gewässer zurückgekehrt. Erste Analysen, ob dieser externe Schock die Struktur des Politikfeldes verändern konnte, sind nun möglich. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse des Bundesländervergleichs (Deutsches PISA-Konsortium, 2002) ergab sich hierfür ein window of opportunity, in dem die Regierung Schröder versuchte, im Besonderen auf Kosten der Kultusministerkonferenz (KMK) ihre Kompetenzen zu erweitern, das einleitende Zitat belegt dies nachdrücklich. Diese Zielsetzung fand einen großen Rückhalt in der Bevölkerung, die die Leistungen -1- Einleitung des Föderalismus in der Bildungspolitik insbesondere seit PISA sehr skeptisch bewertet. Belegbar ist einerseits, wie die relative Wichtigkeit des Verbesserungsbedarfs des Schulsystems von 34% (Platz 4, perspektive deutschland 2001: 25) auf rund 75% (Platz 1, perspektive deutschland 2003/04: 42) gestiegen ist. Die zweijährig durchgeführte Umfrage des Instituts für Schulentwicklungsforschung IFS bescheinigt nach ihrer 13. Repräsentativbefragung (2004) darüber hinaus, dass 76% der Bundesbürger sich eine stärkere Rolle des Bundes in der Schulpolitik wünschen. Die Reaktion der Bildungspolitik auf die PISA-Ergebnisse wird von rund 72% der Befragten als „eher schlecht“ bzw. „sehr schlecht“ bewertet (IFS-Umfrage 2004: 49). Aktuelle Brisanz bekommt dieses Thema zudem durch die jüngsten Entwicklungen im Rahmen der Föderalismusreform, deren schwer zu prognostizierende Auswirkungen die bestehenden Strukturen maßgeblich verändern könnten. Obwohl die fachwissenschaftlichen Wurzeln dieser aktuellen Debatte noch vor diesen Zeitraum zurück reichen, begründet sich die Motivation dieser Arbeit im Anspruch des Rot-Grünen Projekts, in der Schulpolitik aktiv zu werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rolle der Bund in diesem „Kernbereich der Eigenständigkeit der Länder“ (BVerfGE 6, 309, 346f.) einnehmen kann und eingenommen hat. 1.1 Fragestellung Ziel dieser Arbeit ist es, eine möglichst umfassende Untersuchung der Möglichkeiten und der tatsächlichen Handlungen der Bundesebene in diesem Politikfeld durchzuführen. Die Motivation dieser Fragestellung ist einerseits durch die aktuelle politische Relevanz gegeben, mehr noch aber durch die Analyse von Möglichkeiten der Einflussnahme im engen Kompetenzgeflecht der Bundesrepublik. Faktisch findet hier immer wieder ein „Hineinregieren“ der Bundesebene in die Landeskompetenzen statt, dass sich sowohl am Rande der Vorgaben des Grundgesetzes, wie auch in juristisch nicht eindeutig geklärten Verhältnissen zwischen Bundes- und Länderebene bewegt1. 1 Nach Auffassung z.B. des Bundesrechnungshofes ist ein Investitionsprogramm, wie das prominenteste Projekt in diesem Politikfeld der letzten Jahre, nämlich das zum Ausbau der Ganztagsschulen, nicht mit dem zu diesem Zeitpunkt gültigen Grundgesetz rechtmässig gewesen. Der Rechnungshof moniert, dass der Bund über die Verwendung der Mittel keine adäquaten Kontrollmöglichkeiten besitzt. Vgl. z.B. http://www.welt.de/data/2006/05/09/884508.html?prx=1 (31.08.2006) -2- Einleitung Es wird sich in dieser Arbeit herauskristallisieren, dass auf Bundesebene vor allem die Rolle der Regierung von Relevanz ist, das Parlament spielt hier nur eine sehr untergeordnete Rolle. Die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung ist also, wie sich der Einfluss der Exekutiven des Bundes in diesem Politikfeld entwickelt hat, unter besonderer Berücksichtigung der Zeit seit PISA 2000. Dabei wird die Untersuchung der Einflussmöglichkeiten und Funktionen des Bundesministeriums, sowie die Schwerpunktsetzung der gesamten Regierung durch den Bundeskanzler, die zentralen Ansatzpunkte zur Klärung dieser Frage liefern. Speziell ergeben sich hieraus folgende Fragestellungen für die politische Wissenschaft, die diese Arbeit leiten werden; sie sollen im wechselseitigen Zusammenhang beantwortet werden: - Welchen potentiellen Einfluss kann die Bundesregierung, und speziell das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Bildungssektor ausüben? Wie wurde der Spielraum bisher genutzt, und wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Ländern im Schulbereich aus Sicht der Bundesregierung? - Welchen Stellenwert hat das Politikfeld im Rahmen der Exekutiven der Bundesrepublik, und wie hat sich dieser seit 1949 entwickelt? - Konnte in diesem Fall eines stark verflochtenen Systems der Einfluss der bundesstaatlichen Exekutiven durch ein unvorhergesehenes Ereignis aufgewertet werden, oder waren die bewahrenden Kräfte stärker? Hieraus ergibt sich auch eine Beantwortung der Frage, ob die Rot-Grüne Bundesregierung ihren Anspruch umsetzen konnte, im Zuge der mittelmäßigen PISAErgebnisse ihre Kompetenzen auszuweiten – im Besonderen im Vergleich zu früheren Regierungen. Dabei zeigt sich, dass sich zwar die Grundausrichtung des Bildungssystems im Laufe der letzten Jahre fundamental verändert hat, nicht jedoch, entgegen den Versuchen und Bekenntnissen, die Machtverhältnisse in der Bildungspolitik. Das Politikerbe in diesem Feld, so lautet die These, ist ein so verflochtenes System, das eine „Katastrophe“, die viel öffentlichen Druck produzierte, mittelfristig nur wenig verändern konnte. Wie ein größerer Bundeseinfluss normativ einzuordnen ist, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit; vielmehr dominiert die empirisch-analytische Herangehensweise. Daneben sind, um die eigene Position deutlich zu machen, aus meiner Sicht jedoch eindeutige -3- Einleitung Defizite des Bildungsföderalismus an vielen Stellen erkennbar, angedeutet seien nur die Vergleichbarkeit der Abschlüsse, oder die mangelnde Durchlässigkeit der einzelnen Schulsysteme. Die Zusammenarbeit der Länder über die Kultusministerkonferenz scheint wenig effektiv. Zudem ist in diesem wichtigen Politikbereich an vielen Stellen der Bedarf bundeseinheitlicher Regelungen offenkundig. Diese Arbeit belegt, dass der Bund nicht über die institutionellen Möglichkeiten verfügt, diesem Bedarf gerecht zu werden. 1.2 Gang der Argumentation, Operationalisierung Um Ausgangsfragen zu beantworten, werden drei wesentliche Schritte zur Analyse dieser policy unternommen. Die Argumentation geht dabei in folgenden Schritten vor: (1) Nach der Klärung der Grundvorrausetzungen wird ein Rückblick in die Phasen der Entwicklung des deutschen Bildungsföderalismus gemacht, ausgehend vom Ende des zweiten Weltkrieges 1945. Dabei zeigt sich, dass das Politikfeld Schulpolitik ein besonderer Fall im „kooperativen System“ des deutschen Föderalismus ist. Dies wird durch einen Längsschnitt über die Entwicklungen seit der Gründung der Bundesrepublik in mehreren Schritten dargestellt. (2) Im Anschluss daran werden die Möglichkeiten der Einflussnahme des Bundes – in diesem Bereich kann nicht direkt von Steuerung gesprochen werden – typologisiert und in ihrer Bedeutung bewertet. (3) Um danach den Stellenwert des Politikfeldes herauszufinden, wird methodisch ein neuer Ansatz verfolgt: hier geraten die Regierungserklärungen als erklärende Variablen in das Zentrum der Analyse. Aus ihnen lässt sich sowohl das Vorhaben der Regierung ableiten, als auch der Erfolg im Rahmen der eingeführten Chronologie einordnen. Daneben wird zusätzlich an dieser Stelle auch die Rolle der jeweiligen Minister untersucht. Zum Schluss wird mit ausblickhaftem Charakter auch die neueste Entwicklung im Rahmen der Reform der bundesstaatlichen Ordnung aus der Sicht der Schulpolitik zusammengestellt. Die Bildungspolitik wird im Folgenden, wie im zweiten Kapitel begründet und im Titel angekündigt, auf den Teilaspekt der Schulpolitik reduziert. Diese Reduzierung wurde bisher so nicht vorgenommen, erscheint jedoch als sinnvoll: Die Kompetenzverteilung ist hier, anders als in anderen Teilbereichen der Bildungspolitik, besonders durch die -4- Einleitung Kultushoheit der Länder dominiert. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass eine Schulpolitik der Bundesebene existiert. Dieser Bereich bildungspolitischer Steuerung steht im Mittelpunkt der Analyse. Zunächst wird jedoch im zweiten Kapitel versucht, Inhalte und Einflussfaktoren des Politikfeldes insgesamt darzustellen. Dabei stellen sich auch Fragen nach den Gegenständen von Bildungsprozessen, die hier allerdings nur angedeutet werden. Sie zeigen von vorne herein den normativen Rahmen, in dem sich die Schulpolitik permanent bewegt. Die genannte grobe Argumentationsstruktur behält insgesamt ihren Charakter als Längsschnitt über die Geschichte der Bundesrepublik in weiten Teilen der Arbeit. Die Möglichkeiten der Einflussnahme, dargestellt in Kapitel 4, bilden hierbei eine bewusste Ausnahme: sie typologisieren die in den letzten Jahren genutzten und als möglich erscheinenden Optionen bundesstaatlichen Handelns. Daneben finden im Konzept der Ermittlung der relativen Wichtigkeit des Politikfeldes die handelnden Personen als solche besondere Beachtung. Die Rolle insbesondere der Bundesminister des Bildungsressorts als auch der Regierungschefs mit ihrer Richtlinienkompetenz werden im fünften Kapitel eingehend untersucht und in Kenntnis von Strukturen und Institutionen eingeordnet. Die dort gewonnenen Erkenntnisse – anhand einer Fallstudie präsentiert – bieten Raum für weitere Untersuchungen. Insbesondere der relative Stellenwert des Politikfeldes in Relation zu anderen Politikfeldern als Vergleichsmöglichkeit muss im Rahmen dieser Untersuchung unberücksichtigt bleiben, könnte aber wichtige neue Erkenntnisse hervorbringen. 1.3 Stand der Forschung Dieser Beitrag zum politischen System der Bundesrepublik kreist um Fragen, die mit der föderalen Struktur zu tun haben. Neben der Föderalismusforschung spielen aber auch die Veröffentlichungen aus der Bildungsforschung eine wesentliche Rolle. Untersuchungen in diesem Rahmen sind stets sehr speziell auf eine bestimmte Fragestellung zugeschnitten, daher ist trotz umfangreicher Literatur in beiden Forschungsgebieten dieser konkrete Zusammenhang bisher noch nicht beleuchtet worden. Die Fragestellung ist deswegen in besonderer Weise von Interesse, weil die Grenzen für Handlungen des Bundes so eng gesteckt sind. Trotzdem sind die Kompetenzen in diesem Bereich nicht eindeutig zwischen Bundes- und Länderebene getrennt. Eine -5- Einleitung eindeutige Entflechtung, so lässt sich aus dieser Analyse ableiten, wird in diesem Politikfeld jedoch auch die Reform der föderalen Ordnung nicht mit sich bringen können. Vielmehr bewegt sich der Bund, auch durch indirekte Einflussnahme, weiter als Akteur in diesem Gebiet, ohne dass die Länder die Möglichkeit besitzen, dies zu verhindern. Während der Einfluss der Parteien auf die Bildungspolitik bereits Gegenstand von Untersuchungen war (s. Stern 2000), bezieht sich diese Arbeit auf die Sicht der Bundesregierung. Dabei spielen parteipolitische Argumente natürlich immer wieder eine Rolle, können aber die Prozesse der Schulpolitik nicht erklären, wenn nicht die jeweiligen Einflussmöglichkeiten der Institutionen berücksichtigt werden. Dieser Arbeit liegt als besonders wichtige Referenz die umfassende Darstellung von Cortina, Baumert, Leschinsky, Mayer und Thrommer (Hg.) „Das Bildungswesen in Bundesrepublik Deutschland“ (2003) zugrunde. Daneben ist die weitere verwendete Literatur abhängig von den einzelnen Analyseschritten. Insgesamt ist die spezielle Literaturlage aus politikwissenschaftlicher Sicht nicht besonders umfangreich, es sind jedoch in diesem Bereich verstärkte Aktivitäten seit der Veröffentlichung von „PISA 2000“ (Deutsches PISA-Konsortium 2002 und 2003) eindeutig zu beobachten. -6- 2. Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik „Daß nun der Gesetzgeber vor allem für die Erziehung der Jugend sorgen muß, dürfte wohl niemand bezweifeln“ (Aristoteles: 1337 a 11f.). Offensichtlich ist die Schulpolitik eine der zentralen Aufgaben des Staates. Schon seit der Antike ist sie bereits Bestandteil der Analyse der Staatstätigkeit, wie sich nicht nur durch Aristoteles, sondern auch durch weitere überlieferte politische Schriften der Antike belegen lässt. Auch wenn sich die Formen der Politik seit Aristoteles stark verändert haben, so sind die Aufgaben des Staates, die wir heute unter Bildungshoheit fassen, in den modernen Demokratien immer noch zentral. Dabei ist „das Bildungswesen in seiner Form und seinen Inhalten weitgehend gestaltbar oder manipulierbar“ (Thränhardt 1990: 186) – die prinzipiellen staatlichen Einflussmöglichkeiten auf Inhalt und Struktur des Bildungswesens sind sehr groß. In der Politikwissenschaft wird versucht, drei unterschiedliche Dimensionen des Politikbegriffs, policys, politys und politics, zu Analysezwecken zu differenzieren. Diese Unterteilung in Strukturen beziehungsweise Institutionen, Prozesse und Inhalte oder Entscheidungen ist nicht immer eindeutig möglich; vielmehr stehen natürlich alle drei Elemente in Wechselbeziehungen zueinander, insbesondere ist das Verhältnis von Inhalten und Prozessen von Bedeutung (vgl. Heinelt in Schubert u.a. 2003). Der Schwerpunkt dieser Arbeit wird auf einer Analyse der Akteure und Institutionen auf Bundesebene, und in der relativen Bedeutung des Politikfeldes auf dieser Ebene liegen. Im Bereich der Schulpolitik werden die Prozesse und Akteure auch von spezifischen inhaltlichen Faktoren beeinflusst. Daher ist es notwendig, diese Einflussgrößen vorab in Augenschein zu nehmen. Die Definition und Abgrenzung des Politikfeldes bildet in diesem Sinne die Grundlage für die weitere Analyse. 2.1 Gegenstand und Ziel der Bildungspolitik Bildungspolitik ist der Oberbegriff über alle Handlungen, der die gesamtgesellschaftlich verbindliche Gestaltung des Ausbildungswesens in den drei Dimensionen der Politik beschreibt, so lautet eine Definition des Politikfeldes (Schmidt 2004: 86). Dabei bezieht sich der Begriff auf alle Maßnahmen der geplanten Bildung. Die Ziele der Bildungspolitik sind allgemein: 1) in der nat. Enkulturation und Sozialisation junger Menschen, -7- Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik 2) in der Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, 3) im Erwerb von Kompetenzen sowie in der Vorbereitung auf eine berufliche und gesellschaftl. Stellung, 4) in der Vermittlung von Erkenntnismethoden und Formen der Eigentätigkeit sowie in Erfahrungen des sozialen Lebens, 5) ferner in der Einübung von Loyalität und Kritik, Anpassung und Widerstand, Individualität und Solidarität, von Freiheit und Gleichheit, von öffentlichen Tugenden, von Akzeptanz und Distanz usw. (Mickel in Nohlen 2001: 33) Es gibt offensichtlich Abhängigkeiten der Bildungspolitik von Entwicklungen im Bildungswesen; Beispiele hierfür sind die Folgen der demografischen Entwicklungen, oder von gesellschaftlichen Trends, wie das sinkende Ansehen der Hauptschulen, die ebenfalls die Bildungspolitik beeinflussen können (Massing 2003: 31). Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, den zugrunde liegenden Bildungsbegriff zu analysieren 2 ; jedoch ist es wichtig sich die normative Komponente zu vergegenwärtigen. Wenn Ziele von Bildungsprozessen definiert werden, so geschieht dies stets in einem ideologischen Rahmen, welcher von einem Menschenbild gesteckt wird. Ein Beispiel hierfür ist die für die Wiederbelebung der öffentlichen Debatte wichtige Rede des Bundespräsidenten Herzog (5.11.1997), in der er sechs erwünschte Eigenschaften eines Bildungssystems definiert, als deren erste er die Werteorientierung nennt (Herzog 1997, s. auch Rutz 1997). Völlig anders hingegen argumentieren beispielsweise gegenwärtig die Forscher der OECD, die ihre Arbeiten im Bildungssektor aus der Problematik der „employability“ von Menschen heraus in das Zentrum ihrer Analysen stellen. Im Allgemeinen reicht das dem Bildungsbegriff zugrunde liegende Menschenbild in den westlichen Demokratien bis in das griechische Denken zurück (Arnold u.a. 1979: 95) und ist heute durch den Neuhumanismus und die Aufklärung - speziell den Begriff des mündigen Bürgers von Immanuel Kant - geprägt. Wesentliche Teile dieses Menschenbildes sowie des Bildungsbegriffs verwendet auch schon Jean-Jacques Rousseau, der insbesondere mit seiner Forderung nach Loslösung der Bildung von kirchlichem Einfluss den Weg für staatliche Bildungssysteme der Moderne öffnete. Die Diskussion um den Bildungsbegriff in der Theorie der Erziehung und der Schule kann natürlich keineswegs als abgeschlossen gelten; sie stellt sowohl historisch als auch in 2 Münch (2002) schlägt vor, den „problematischen Begriff“ durch den weniger vorbelasteten Kompetenzbegriff zu ersetzen, der auch verstärkt in den neueren bildungspolitischen Dokumenten anzufinden ist. (Münch 2002: 21ff.) -8- Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik ihrer interdisziplinären, geisteswissenschaftlichen Struktur die Vielfältigkeit und Relevanz dieser Grundfrage dar. 2.2 Funktionen des Bildungswesens Die Funktionen des Bildungswesens korrespondieren mit den Bildungszielen – und sind somit ebenso ideologisch belastet. Die Zuordnung von Bildungspolitik ist auf Bundesebene schwierig; genauso wenig wie in der realen Politik ist die Verortung der Schulpolitik3 in der Wissenschaft keineswegs eindeutig. Teilweise wird das Bildungswesen als Aufgabe der Sozialpolitik (z.B. in Beyme u.a. 1990), teilweise als Zukunftssicherungspolitik 4 , oder auch als Standortpolitik gedeutet. Daraus resultiert nahe liegender Weise, dass der Konkurrenzdruck um Ressourcen besonders groß ist. Der Spagat zwischen Zukunftssicherungspolitik, im Besonderen im Rahmen der ökonomisch geprägten Diskussion um Humankapital, und sozialpolitischen Vorstellungen im Rahmen der Gerechtigkeitsvorstellungen ist traditionell die zentrale Konfliktlinie, wenn es um die Angelegenheiten des Schulwesens geht. Die Aufgaben des Bildungswesens lassen sich in vier Bereiche unterteilen (nach Massing 2003: 31, Arnold u.a. 1979: 97ff.): 1.) Schulpolitik formuliert, gestaltet, steuert und kontrolliert den spezifischen pädagogischen Auftrag des Staates 2.) Bildungspolitik versucht die Beziehung zwischen Bildungssystem und Beschäftigungssystem zu regulieren und aufeinander abzustimmen. Ideologisch sehr stark beladen ist die damit zusammenhängende Frage nach der „Vorverteilung“ gesellschaftlicher Positionen im Rahmen einer Selektionsfunktion. 3.) Schulpolitik vermittelt die in der Gesellschaft geltenden politischen Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen (Integrationsfunktion). Dazu zählt insbesondere auch der Auftrag der politischen Bildung. 3 Eine Abgrenzung der Terme Schulpolitik und Bildungspolitik s. Abschnitt 2.3 . Nach den Absprachen über die Ressortverteilung zwischen CDU/CSU und SPD nach der Bundestagswahl 2005 äußerten sich Mitglieder der SPD (insbesondere die „Netzwerker“) speziell darüber enttäuscht, keine Ressorts dieses Politikbereichs - verstanden als Sammelbegriff für Teile der Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik, Forschungspolitik, Atompolitik, Verbraucherschutzpolitik, Familienpolitik und Bildungspolitik - in der neuen Regierung zu bekleiden (vgl. z.B. Robert Roßmann (SZ, 10.10.2006): Angela Merkel wird Kanzlerin). 4 -9- Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik 4.) Die drei anderen Teilbereiche implizieren eine Qualifikationsfunktion der staatlichen Schulpolitik, die auch als eigenständige Aufgabe gewertet werden kann. Massing folgert hieraus zusammenfassend, dass Bildungspolitik „demnach ein komplexer, politischer, ideologischer, in hohem Maße konsensabhängiger, sozialer und organisatorischer Prozess“ (2003: 31f.) sei. Ein weiterer wesentlicher Gegenstand der staatlichen Schulpolitik ist darüber hinaus die Herstellung der nationalen wie internationalen Vergleichbarkeit, insbesondere der Abschlüsse. Dies spielt durch den wachsenden Einfluss der Europäischen Union, beispielsweise bei der Freizügigkeit der Arbeitskräfte, eine zunehmend wichtige Rolle. Auf der innerstaatlichen Ebene ist dies eine der zentralen Aufgaben, die Koordination über die Ländergrenzen hinweg bedürfen. Die Gewährleistung der Mobilität ist eine der wichtigen inhaltlichen Klammern der Schulpolitik - neben dem Auftrag des Grundgesetzes, ein gewisses Maß an Einheitlichkeit herzustellen, beziehungsweise zu bewahren. Hieraus resultiert ein Handlungskorridor, in dem sich die Schulpolitik notwendigerweise bewegt. 2.3 Gliederung in Teilbereiche und Fokussierung Bildungspolitik ist an definierbare Umsetzungsebenen gebunden. Diese stellen die unterste Ebene des Politikfeldes dar; hier kommen die Bürger mit den Entscheidungen in Berührung. Nach Schmidt (2004: 86) gibt es sechs Teilbereiche der bildungspolitischen Steuerung5: 1) Elementar- und Vorschulbereich (nicht der Schulpflicht unterliegend) 2) Primarbereich (Schuljahr 1 bis 4 der Grund- und Sonderschulen) 3) Sekundarbereichs I (5. bis 10. Schuljahr in der Regel an Haupt-, Real-, Gesamtschulen oder Gymnasien) 4) Sekundarbereich II (Oberstufe, also Schuljahre 11. bis 13. an Gymnasien und berufsbildenden Schulen) 5) Tertiärbereich (Hochschulen in allen Formen, sowie Seminare und Berufsakademien) 5 Auch im Bericht über das „Bildungswesen in Bundesrepublik Deutschland“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Cortina u.a. 2003) werden diese Teilbereiche getrennt dargestellt. Allerdings wird hier der Sekundarbereich II der Gymnasien nicht vom Sekundarbereich I getrennt, sondern die Sekundarstufe II nur im Sinne der beruflichen Bildung behandelt. - 10 - Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik 6) quartären Bereich der Aus- und Weiterbildung für Jugendliche und Erwachsene. Einem erweiterten Begriff von Bildungspolitik können noch weitere bildungs- und kulturpolitische Zuständigkeiten zugeordnet werden. Hierzu zählen Aufgaben wie Museen, Denkmalpflege, Bibliotheken, Teile der Kulturpolitik, aber auch Integrationspolitik, Aufklärungskampagnen, Bildungsentwicklungshilfe bis hin zu Städtepartnerschaften (vgl. Fuchs u.a. 2000: 38ff.). Drei der genannten Teilbereiche der Bildungspolitik lassen sich sinnvoll zusammenfassen: die Bereiche, die mit der Institution Schule verknüpft sind, also der Primarbereich und die Sekundarbereiche I und II. Diese sollen - ohne das berufliche Bildungswesen - im Zentrum dieser Betrachtung stehen. Diese Einschränkung der Bildungspolitik auf die Schulpolitik ist für diese Analyse leitend; sofern nicht explizit erwähnt, bezieht sich der Begriff Bildungspolitik stets auf den Teilbereich der Schulpolitik. Die anderen drei Bereiche, sowie die genannten weiteren Aufgaben unterscheiden sich so fundamental aus Sicht der Politikwissenschaft, dass sie nur sehr verallgemeinernd dem gleichen Politikfeld zugeordnet werden können: Die Prozesse, Strukturen und Inhalte zwischen der Schulpolitik und den anderen Bereichen der Bildungspolitik unterscheiden sich in der Bundesrepublik wesentlich. 2.4 Träger und formale Kompetenzen in der Schulpolitik Nachdem die inhaltlichen Bestandteile der Schulpolitik eingegrenzt wurden, stellt sich die Frage der Träger und Akteure in diesem Bereich. Dominiert wird das Politikfeld in der Bundesrepublik von staatlichen Akteuren und Institutionen, aber selbstverständlich sind auch die nichtstaatlichen Akteure, die teilweise auch als private Träger auftreten, von Bedeutung. 2.4.1 Staatliche Institutionen Die staatlichen Institutionen der Schulpolitik sind, in dieser ersten Charakterisierung des Feldes, auf allen drei Verwaltungsebenen, also bei Bund, Länder und Kommunen angesiedelt. Diese beeinflussen mit Parlamenten und Ausschüssen, Regierungen, Ministerien und Verwaltungen, intermediären Institutionen und Verwaltungs- und Verfassungsgerichten bildungspolitische Entscheidungen (Fuchs u.a. 2000: 33). Dabei widmet sich diese Arbeit insbesondere dem Zusammenspiel der Institutionen oberhalb - 11 - Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik der Länderebene. Sie wird damit aus der Sichtweise des Bundes heraus durchgeführt. An dieser Stelle werden jedoch zunächst die formalen Kompetenzen der einzelnen Ebenen genannt, als Grundlage für die weitere Analyse. Abschnitt 3.3 befasst sich mit den Kooperations- und Beratungsgremien zwischen den Ländern sowie Bund und Ländern – zuvor auch in ihrer historischen Entwicklung. In Kapitel 4 und 5 werden die Kompetenzen des Bundes vertieft analysiert. Schematisch hat Leschinsky (in: Cortina u.a. 2003: 151) die Kompetenzstrukturen in der Bildungspolitik folgendermaßen veranschaulicht: Abbildung 1: Schema der Einfluss- und Kompetenzstrukturen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich Quelle: Leschinsky in Cortina u.a. 2003: 151 Dieses Schaubild verdeutlicht einerseits, wie kompliziert die Entscheidungs- sowie Beeinflussungszusammenhänge in dem Politikfeld sind, andererseits gibt es einen ersten schematisierenden Überblick über die Kompetenzverteilung. Dieses Schaubild zeichnet sich im Besonderen dadurch aus, dass es alle formal am Politikfeld beteiligten Institutionen vollständig aufführt und in Beziehung zueinander setzt. Dabei werden auch der dreigliederige Verwaltungsaufbau und die entstandenen Verflechtungssituationen deutlich, in die das Bildungssystem der Bundesrepublik eingebettet ist. Jedoch können die Strukturen unterhalb der Länderebene, also im kommunalen Bereich, stark variieren; um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: die Kompetenzstrukturen zwischen den Institutionen und der untersten Verwaltungsebene sind je nach Bundesland unterschiedlich. - 12 - Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik Die Anordnung simplifiziert offensichtlich den Politikbereich stark: dem Schaubild nach beeinflussen die zwei zentralen Gremien der Schulpolitik, die KMK und die BLK keine Institutionen oder staatlichen Ebenen: sie besitzen keine Pfeile des Typs „beeinflussen“. Darüber hinaus besitzt die Bundesebene dem Schaubild nach keinerlei Einfluss auf die allgemein bildenden Schulen. Diese würden ausschließlich von den Ländern und Gemeinden beeinflusst. Diese Reduktionen dienen womöglich der Veranschaulichung, entsprechen aber nicht den Gegebenheiten. Jedoch verdeutlicht die Grafik, dass die Länderebene, dadurch, dass sie einerseits die Koordinationsgremien besetzt und andererseits die wesentlichen und unmittelbaren Einflussmöglichkeiten besitzt, der gewichtigste Akteur in diesem Bereich ist. Die dritte Gewalt, die richterliche Kontrolle spielt keine sehr bedeutende Rolle in der Ausgestaltung des Politikfeldes. Das Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 6, 309) bildet hiervon eine Ausnahme, und wird von den Kritikern einer starken Bundesebene häufig zitiert. Anders als im Hochschulbereich sind bisher wenige Punkte der Bund-Länder Auseinandersetzung im Schulwesen vom Verfassungsgericht zu klären gewesen. Von Bedeutung hierfür ist gerade in diesem Politikfeld, dass „die (deutsche) Staatspraxis in besonders hohem Maße durch die Anerkennung verfassungsrechtlicher Normen und die Antizipation verfassungsgerichtlicher Interventionen beschränkt“ wird (Scharpf 2005: 24). Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Hierbei steht das Verhältnis von Staat zu Religion jedoch noch über der tatsächlichen schulpolitischen Relevanz. Das Zustandekommen der Lehrinhalte, also der Vorgaben, was an den Schulen „passieren“ soll, ist demokratietheoretisch nicht unproblematisch. Bei den Lehrbeziehungsweise Bildungsplänen handelt es sich meist um Ausarbeitungen der Ministerialbürokratie die per Verordnung umgesetzt werden. Sie unterliegen meist keiner direkten parlamentarischen Kontrolle. Transparenz über die Entstehung der Lehrinhalte oder die Einteilung der Unterrichtsfächer und Mengen besteht meist nicht6. Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung für das federführende Ministerium. 6 Durch das Internet ist der Zugang zu den jeweils gültigen Lehrplänen wesentlich einfacher geworden; der Bund und die Länder stellen auf dem von ihnen gemeinsam betriebenen Server die entsprechenden Daten unter: http://www.bildungsserver.de/zeigen.html?seite=400 (31.08.06) bereit; in jüngerer Zeit und manchen Ländern (z.B. Baden-Württemberg) wurden die Daten auch schon vor dem Inkrafttreten zur öffentlichen Einsichtnahme und Kommentierung bereitgestellt. - 13 - Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik 2.4.2 Weitere nationale Akteure Um die ganze Breite des Politikfeldes zu erfassen, sind hier auch die beteiligten gesellschaftlichen Kräfte - einschließlich der betroffenen Verbände - aufzuführen, die Einfluss auf die Schulpolitik ausüben können. Eine zentrale Rolle kommt dabei natürlich den Parteien7 sowie den Massenmedien zu. Beide können sehr einflussreich sein. Besondere Wichtigkeit in diesem speziellen Politikbereich haben darüber hinaus folgende politikfeldspezifischen Akteure: 1. Kirchen und Religionsgemeinschaften, insbesondere die evangelische und katholische Kirche, deren Einfluss im deutschen Schulsystem besonders groß ist. Neben dem Religionsunterricht (GG, Art. 7 Abs. 3) haben sie zusätzlich Bedeutung als der größte Träger nichtstaatlicher Schulen. 2. Politikfeldnahe Forschungseinrichtungen (insbesondere das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung [DIPF], das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung [MPIB], das Institut für Schulentwicklungsforschung [IFS]). 3. Lehrer sowie die Berufs- und Fachverbände der im Bildungswesen Beschäftigten (insbesondere Deutscher Gewerkschaftsbund [DGB], Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft [GEW], Deutscher Lehrerverband [DL], Verband Bildung und Erziehung [VBE], Deutsche AngestelltenGewerkschaft [DAG], Philologenverband [DPhV], auch die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft [DGfE] und die Deutsche Gesellschaft für Bildungsverwaltung [DGBV]). 4. Kammern von Industrie, Handel, Handwerk und freien Berufen. 5. Verbände von Wirtschaft, Industrie, Handel und Handwerk und ihre verbandsnahen Organisationen. 6. Eltern und Schüler sowie Eltern- und Schülerverbände. 7. Stiftungen, insbesondere auch Parteistiftungen8. Die gesellschaftliche Verankerung in diesem Politikfeld ist sehr tief greifend. Einerseits ist der Kreis der unmittelbar und mittelbar Betroffenen, also der Schüler, Eltern und Lehrer sehr groß, andererseits ist jedem Menschen der Sinn und die Bedeutung des Politikfeldes einleuchtend, denn jeder Mensch hatte über die Schulpflicht Kontakt mit 7 Zum Einfluss der Parteien auf das Bildungssystem vgl. insbesondere Stern 2000 bzw. Reuter u.a. 1980. S. hierzu insbesondere den Beitrag von Michael Buse 2004, der von einem „Stiftungskonsortium“, bestehend aus Bertelsmann Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Stiftung Marktwirtschaft sowie der Friedrich-Naumann-Stiftung gemeinsam herausgegeben wurde. 8 - 14 - Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik dieser Institution. Trotzdem ist der Einfluss der Verbände und Interessengruppen nicht sehr stark ausgeprägt – und die Wählerstimmenmacht ist ebenfalls als eher gering einzuschätzen, wie im Zuge neuerer Forschung herausgefunden werden konnte (Schmidt 2003: 11). 2.4.3 Internationale Einflüsse Auch in diesem Politikfeld macht sich der Einfluss der stetig wachsenden internationalen Verflechtungsstruktur bemerkbar. Die internationalen Strukturen sind vielfältig; exemplarisch seien die Europäische Erziehungsministerkonferenz, die Europäische Union und auch die OECD genannt, die als die wesentlichen Akteure in der Bildungspolitik außerhalb der Nationalstaaten zu werten sind. Die „Ständige Konferenz der europäischen Erziehungsminister“ (EEMK) ist ein bereits seit 1959 existierendes Gremium des Europarats. Bis 2003 tagte die Konferenz 21-mal, die Bundesrepublik wird hier direkt durch einen Vertreter der Kultusministerkonferenz der Länder repräsentiert (Hölzl 1997: 1f.). Die Empfehlungen des Rats konzentrieren sich stark auf kulturellen Austausch, eigene Beschlüsse kann das Gremium nicht fassen. Inhaltlich geht es in der EEMK insbesondere um die erweiterte Perspektive, die durch die Mitglieder des Rats völlig anders ist als die der Europäischen Union. Die Europäische Union ist im Gegenzug wesentlich stärker in die nationale Bildungspolitik involviert. Auch wenn im Schulbereich der Einfluss, anders als im Hochschulsektor, noch nicht sehr entfaltet ist, so sind die Absichten einer wachsenden Zusammenarbeit unverkennbar. Dies ergibt sich auch aus dem entsprechenden Teil des Verfassungsvertrages: Die Union trägt zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung dadurch bei, dass sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten erforderlichenfalls unterstützt und ergänzt. Sie achtet dabei strikt die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie die Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen. (EU-Verfassung, Artikel III-282 Abs. 1) Die Formulierung, die Tätigkeiten „erforderlichenfalls“ zu unterstützen und zu ergänzen, würde weitreichende Möglichkeiten für die Europäische Union schaffen, trotz der danach angeführten Einschränkung. Dabei werden die konkreteren Ziele - 15 - Der Untersuchungsgegenstand: Schulpolitik jedoch nur durch Fördermaßnahmen unterstützt, eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften wird explizit ausgeschlossen (ebd., Abs. 3a). In der bisherigen Struktur der EU und dem derzeitig gültigen EG-Vertrag (EG-Vertrag 2002: Art. 149, 150) findet sich eine nahezu identische Formulierung. Jedoch übt die Gemeinschaft nicht nur durch ihre Organe unmittelbar Einfluss auf die Bildungspolitik aus, sondern „mindestens gleichrangig“ (Leschinsky in Cortina u.a. 2003: 158) auch durch Bildungsprogramme, die in ihrem Finanzvolumen alle anderen Programme ähnlicher Art „weit in den Schatten“ (ebd.) stellen, genannt sei für den Schulsektor das Comenius Programm. Darüber hinaus ist der Einfluss des Europäischen Gerichtshofs für die europäische Bildungspolitik nicht zu überschätzen. Seine Interpretationen, die insbesondere im Rahmen der Freizügigkeit zum Motor der Angleichungen im Bildungssektor wurden, gehen über die Lenkung durch Finanzierung hinaus (Schröder 1990: 118, vgl. auch Leschinsky in Cortina u.a. 2003: 157). Neben diesen europäischen Perspektiven können aber auch andere internationale Organisationen Bedeutung für die Bildungspolitik erlangen. Als ein prominentes Beispiel kann die OECD interpretiert werden. Nach Darstellung von Prof. Dr. Schleicher, dem weltweiten PISA-Koordinator, kam die Initiative zur Durchführung eines internationalen Schülerleistungsvergleichs aus den Reihen der OECD9. Damit hat die OECD den beobachtenden Posten der reinen Datenerhebung im Bildungssektor verlassen, denn mit PISA hat sie sich auch auf die inhaltliche Ebene des Schulwesens begeben: man hat die Art des Tests vorgegeben. Natürlich haben jeweils die einzelnen Mitgliedstaaten durch den Beschluss der Teilnahme an diesem Test die endgültige Entscheidung getroffen, dennoch ging ein wesentlicher Impuls für diese neue Orientierung und Öffnung der Bildungspolitik von der internationalen Ebene aus. Diese Skizze internationaler Einflussgrößen auf die Schulpolitik dient nicht der umfassenden Klärung. Vielmehr wurde ein Blick auf die internationalen Hintergründe nationaler Schulpolitik geworfen, deren Bedeutung in den letzten Jahren gewachsen ist. Damit ist nun der Bereich der Träger der Schulpolitik umrissen, der die Komplexität des Politikfeldes und die Verflechtungen verschiedenster Richtungen verdeutlicht. 9 Schilderung in der Antrittsvorlesung als Honorarprofessor am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg, Mai 2006. - 16 - 3. Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik Das Politikfeld ist in seiner institutionellen Ausgestaltung wie kein anderes durch die föderale Struktur der Bundesrepublik geprägt: bereits 1957 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die „Kulturhoheit, besonders aber die Hoheit auf dem Gebiete des Schulwesens, das Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder ist“ (BVerfGE 6, 309, 346f.). Ebenso ist bemerkenswert, dass sich die Kultusministerkonferenz der Länder bereits 1948, also schon vor der Gründung der Bundesrepublik, als Koordinationsgremium etablieren konnte. Um die heutigen Gegebenheiten in der Bildungspolitik nachvollziehen zu können, ist ein historischer Überblick über die Phasen der Entwicklung notwendig, ebenso wie Analyse der über die Ländergrenzen hinausgehenden Institutionen und ihrer Aufgaben.10 3.1 Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern in der Schulpolitik Wie angedeutet, ist die Bildungspolitik geprägt durch den Staatsaufbau der Bundesrepublik, wobei die Entscheidungen sowohl von horizontaler wie auch vertikaler Koordination abhängen, also im Sinne von Scharpf „verflochten“ sind. Zwar sind formal Alleingänge einzelner Länder möglich und im Rahmen von Pilotprojekten wird hiervon auch Gebrauch gemacht, trotzdem besitzt - insbesondere über die KMK - die horizontale Verflechtung große Bedeutung. Aus Sicht des Bundes, mit seinen begrenzten direkten Kompetenzen im Bereich der Schulpolitik, liefert die verflochtene Struktur immer wieder Möglichkeiten, sich zu beteiligen. Diese Möglichkeiten werden in den Kapiteln 4 und 5 näher beleuchtet; wichtig für die Darstellung der Entwicklung ist, die Interdependenz zwischen Länderund Bundesebene zu betonen. Die Entwicklung des Politikfeldes auf nationaler Ebene ist nur nachvollziehbar, wenn man diese Verflechtungsstrukturen berücksichtigt. Dazu gehört auch die Anmerkung, dass der Föderalismus in Deutschland darüber hinaus noch zwei weitere zentrale Merkmale aufweist, die für das Verstehen der Entwicklung 10 Auf eine Darstellung der Entwicklung des Bildungswesens in der DDR wird – insbesondere auf Grund der Struktur der Wiedervereinigung als Beitritt zum Bundesgebiet - verzichtet. Eine Gegenüberstellung der Entwicklungen findet sich in Anweiler u.a. (1992: 14ff., 32ff.). - 17 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik Relevanz besitzen: Seine Entwicklung ist zunächst durch Pfadabhängigkeit im Entstehungsprozess geprägt, dem folgt ein ausgeprägter „Unitarisierungsdrang“ (vgl. Hesse 1962). Dieser wird ab den frühen siebziger Jahren durch kooperative Elemente und Politikverflechtung abgelöst (Scharpf 2005). Dabei zeichnet der deutsche Föderalismus auch durch eine besondere Exekutivlastigkeit aus. Diese Grundstruktur bestätigt sich, wenn man die Entwicklung im Bereich der Schulpolitik im Detail betrachtet. 3.2 Phasen der Entwicklung des Bildungsföderalismus 1945 - 2005 In der Literatur sind die Entwicklungsphasen des Bildungswesens und Bildungspolitik in der Bundesrepublik nicht eindeutig. Massing (2003: 11ff.) führt insgesamt zehn Phasen der Entwicklung (1945-2002) auf, Thränhardt (1990: 188ff.) hingegen unterteilt den Zeitraum von 1945 bis 1987 in lediglich vier Phasen. Aufgrund der Struktur des Politikfeldes hängen diese Phasen nicht zwangsläufig mit den Regierungsmehrheiten auf Bundesebene zusammen. Sie sind stark durch teilweise regierungswechselübergreifende Konjunkturen des politischen Stellenwerts der Schulpolitik charakterisiert. Es erscheint als sinnvoll, die Phaseneinteilung dem Analyseschwerpunkt anzupassen. Hauptsache ist daher auch in diesem Teilbereich die Rolle des Bundes in der Entwicklung des Politikfeldes und die Frage, woher die Anstöße zu neuen Phasen kamen. Deswegen wird die Entwicklung vor 1963 zu einem Block zusammengefasst, da in diesem Zeitraum die Verflechtung zwischen Bund und Ländern nur in sehr geringem Maß bestand; diese Phase bildet die Grundlage der Steuerung der Schulpolitik. Im Weiteren (1963 - 2001) wird maßgeblich die detaillierte Einteilung Massings verfolgt, und diese Struktur mit den letzten beiden Abschnitten auf den Stand im Jahr 2006 gebracht. Insgesamt unterteilt sich die Entwicklung nach dieser Einteilung in acht Abschnitte und einen vorläufigen Ausblick. 3.2.1 Wiederaufbau, Vereinheitlichung und Reformen: Etablierungsphase (1945-1963) tastende Die Etablierungsphase des heutigen Bildungswesens sowie der sie steuernden Politik beginnt unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, jedoch mit unterschiedlichem Charakter in den vier Besatzungszonen. In den drei Westzonen konnten insbesondere - 18 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik der starke Einfluss der Kirchen sowie die konservativen Kräfte eine wirkliche Neustrukturierung des Schulsystems verhindern: die Schulsysteme hier sind somit weiter stark traditionell geprägt. Die Sowjetische Umerziehungspolitik war weitgehend vom Konsens, vor allem unter den deutschen Sozialisten, und der reibungslosen Zusammenarbeit der Behörden geprägt. In der SBZ war ein Boden für eine Neuorientierung des Schulsystems an den Werten der Gleichheit, Einheitlichkeit und Säkularität bereitet, der auch von der reformpädagogischen Bewegung getragen wurde (Massing 2003: 12). Anders stellte sich die Situation im Westen dar: Insbesondere die bayrische Staatsregierung wehrte sich vehement gegen eine von der US-Militärregierung angestrebte egalitäre Reform des traditionellen Klassenschulsystems (Thron 1972: 111f.). So konnten zwar kleine Reformschritte unternommen werden, wie beispielsweise die Einführung der Schülermitverwaltung oder des Faches Gemeinschaftskunde; die angestrebte grundlegende Neuordnung war jedoch nicht ohne offenen Konflikt mit Kirche und Konservativen möglich. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts scheuten die Westalliierten allerdings eine offene Auseinadersetzung. Zusammenfassend lässt sich konstatieren: „das Scheitern der Re-educationPolitik […] ermöglichte die weitgehende Restauration des traditionellen dreigliedrigen Schulsystems.“ (Massing 2003: 15)11 Bereits im Februar 1948 kam es zu einem ersten Treffen der Kultusminister der Länder: die KMK (damals: die Konferenz Deutscher Erziehungsminister) versuchte vor allem, die Notlagen der Bevölkerung, insbesondere der Schüler, zu bewältigen (Anweiler u.a. 1992: 75). Im Juni 1948, nach der Währungsreform und ohne die Erziehungsminister der SBZ, beschloss das Gremium, eine Ständige Ministerkonferenz mit gemeinsamem Sekretariat zu gründen (Leschinsky in Cortina u.a. 2003: 161; vgl. Kap. 3.3.1). Dies stellte natürlich auch Weichen für die zukünftige Struktur der Bundesrepublik. In den ersten Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik führte ein Erstarken der Unionsparteien – vor allem in den vormals britischen Besatzungszonen - dazu, dass die partiellen Veränderungen wieder zurückgenommen wurden. Dies betraf insbesondere Reformansätze, die eine spätere Auslese der Schüler durch verlängerte Grundschulzeiten eingeführt hatten. Einerseits wurde dieser Politikwechsel in Landtagswahlkämpfen ideologisch unterstützt, andererseits - bereits damals - über das 11 Vgl. speziell zur Bildungspolitik der amerikanischen Militärregierung Thron 1972. - 19 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik Argument einer „notwendigen Vereinheitlichung“ im politischen Prozess durchgesetzt. Die Öffentlichkeit forderte auch damals ein größeres Maß nationaler Einheitlichkeit, auf den die Politik mit der Gründung des Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen 1953 reagierte (Vgl. Kap. 3.3.2). Der Trend zur Vereinheitlichung verstärkte sich Mitte der fünfziger Jahre im Düsseldorfer Abkommen der KMK. Hiermit wurde die Dreigliederigkeit des Schulwesens endgültig festgeschrieben, man einigte sich auch auf die Schuljahresdauer, das Bewertungssystem, die Schultypen, die Fächer sowie die Abschlüsse (Massing 2003: 17, Thränhardt 1990: 189). Zwar stand die Phase weiter unter dem christdemokratisch geprägten Motto „keine Experimente“, führte aber aufgrund des wachsenden Bedarfs an qualifizierten Arbeitnehmern zur Abschaffung des Schulgeldes. In dieser Phase etablierten sich auf Bundesebene zunächst Wissenschaft und Forschung, auch beeinflusst durch externe Ereignisse wie den Sputnik-Schock (1957) als eigenständige Politikfelder, flankiert durch die Gründung des Wissenschaftsrates 1957. Ebenfalls 1957 wurde die Länderhoheit in der Schulpolitik durch das bereits zitierte Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts gestärkt (BVerfGE 6, 309). 3.2.2 Große Bildungspolitische Koalition: Aufschwung des Politikfeldes (1964-1969) Der Aufschwung des Politikfeldes auf bundespolitischer Ebene ist stark mit zwei Veröffentlichungen verbunden. Georg Pichts Artikelserie über die „deutsche Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) sowie Ralf Dahrendorfs Schriften unter dem Titel „Bildung ist Bürgerrecht“ (Dahrendorf 1965) führten einerseits zu einer Popularisierung des Politikfeldes, andererseits auch zu einer ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Bildungswesens. Dabei wurde durch die sich entwickelnde empirische Bildungsforschung (Hearnden 1977: 136ff.) insbesondere publik, welche Ungleichheiten das Bildungssystem hauptsächlich in ländlichen Regionen produzierte („Katholische Bildungsdefizit“; Thränhardt 1990: 192ff.). Bereits 1964 unternahm die KMK erste Schritte als Reaktion: das „Hamburger Abkommen“, welches das „Düsseldorfer Abkommen“ ablöste, führte zu einer Vereinheitlichung der Dauer der Bildungsgänge und setzte im Sinne der Durchlässigkeit der Schultypen auf Vorgaben zum Fremdsprachenerwerb (Hearden 1977: 142f.). Der Drang zu einer weiteren Unitarisierung des Politikfeldes führte 1965 - 20 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik dazu, dass auf das Aufleben der öffentliche Diskussion mit der Gründung einer weiteren Institution reagiert wurde: der „Deutsche Bildungsrat“ löste den „Deutschen Ausschuss“ ab. Die neue Körperschaft war die erste im Bildungssektor, in der sich der Bund erstmals als Akteur der Bildungspolitik engagieren konnte (vgl. Kap. 3.3.2). Insgesamt war die Position der KMK geprägt durch „vorsichtigen Pragmatismus“ (Hearnden 1977: 196). In der folgenden Zeit der großen Koalition im Bund gewannen auch im Bildungssektor übergreifende Ziele an Bedeutung. Der breite bildungspolitische Konsens basierte auf der Erkenntnis, dass „die Bildungspolitik […] den zentralen Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum und zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft leisten“ würde (Massing 2003: 20, vgl. auch Hüfner u.a. 1986: 202). Hinzu kam, dass nach Abschaffung der Konfessionsschule in Bayern auch dieser ständige Konflikt zwischen den Parteien gelöst werden konnte (Thränhardt 1990: 194f.). Ergebnis dieses Konsenses war zudem, dass der Bund durch die Verfassungsänderungen von 1969 auch formalen Einfluss, vor allem in der Hochschulpolitik erreichte. Entscheidend für die Schulpolitik wurden die Änderungen von Art. 74, 75 GG, sowie die Einführung von Art. 91a, 91b GG durch das Finanzreformgesetz. 3.2.3 Bildungseuphorie: Hochkonjunktur und Polarisierung (1969-1974) Die erwähnten Verfassungsänderungen bildeten die Grundlage für die Regierung Brandt, sich nach dem Machtwechsel 1969 verstärkt im Bildungsbereich zu engagieren. Die neue sozialliberale Koalition hatte sich tief greifende gesellschaftliche Reformen vorgenommen, zu denen auch schulpolitische Maßnahmen zählten. Zunächst legte der Deutsche Bildungsrat den „Strukturplan für das Bildungswesen“ vor. Bereits am 12. Juni 1970 veröffentlichte der erste Bundesminister im neu geschaffenen Ressort für Bildung und Wissenschaft, Leussink, den Bildungsbericht der Bundesregierung (BMBW 1970). Dieser Meilenstein in der Entwicklung des Politikfeldes beinhaltete zwölf konkrete Zielvorstellungen, die unter anderem den Ausbau des Gesamtschulwesens oder auch die Länge der Schulzeiten und das Einschulungsalter betrafen (ebd., vgl. auch Hüfner u.a. 1986: 57f.). Die Bundesregierung deutete den Bericht, der unabhängig und ohne Absprache mit den Ländern – und auch ohne Rücksicht - 21 - auf politische Durchsetzungs- Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik möglichkeiten - entwickelt worden war, als einen Beitrag zur gemeinsamen Bildungsplanung nach Art. 91b GG (Hüfner 1986: 58). Ebenfalls im Juni 1970 wurde auf Grundlage dieses Artikels die Bund-LänderKommission für Bildungsplanung (BLK) per Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern geschaffen. Somit wurde die bis heute existierende institutionelle Konstellation vollständig etabliert. Aus der Diskussion um das Gesamtschulwesen entwickelte sich eine heftige parteipolitische Auseinandersetzung, die zwischen Sozialdemokraten und Konservativen erbittert geführt wurde. Auch über die Inhalte, beispielsweise des GemeinschaftskundeUnterrichts debattierte man – wenn auch nicht auf Bundesebene – erregt. Daneben wurde jedoch schon 1973 durch die Veröffentlichung des ersten Bildungsgesamtplans durch die BLK „das zentrale Merkmal erkennbar, das die Bildungspolitik in den folgenden Jahren prägte: die Dominanz der Finanzpolitik über die Bildungspolitik“ (Massing 2003: 22). 3.2.4 Bildungspolitische Resignation: Flaute (1974-1982) Ab dem Beginn der Amtszeit von Bundeskanzler Schmidt stand die gesamte Regierungspolitik unter dem Zeichen, den der Ölpreisschock 1973 bereits vorgegeben hatte: die Krise der öffentlichen Haushalte dominierte die Politik; die Schulpolitik geriet aus dem Fokus der öffentlichen Diskussion, Resignation machte sich in diesem Politikbereich breit. Im Februar 1976 veröffentlichte das BMBW eine „Bildungspoltische Zwischenbilanz“, die sich mit der Umsetzung der Ziele des Bildungsberichts `70 befasste (BMBW 1976). Dieser fiel eher ernüchternd aus, und stellte die Kompetenzverteilung und das Funktionieren der KMK in Frage. Gefordert wurde, dass die Beschlüsse der BLK nicht nur als Absichtserklärungen zu werten seien. Die zentralen Entscheidungen der Bildungsplanung sollten als Richtlinien auf der Ebene der Regierungschefs von Bund und Ländern fallen (ebd.: 10). Die Regierung Schmidt verstärkte ihre Anstrengungen Ende der 1970er im Bereich der beruflichen Bildung und der Entwicklung des ersten Hochschulrahmengesetzes (1976); die Bedeutung der Schulpolitik hingegen nahm deutlich ab. Die Resignation ist auch im Zusammenhang mit der tiefen gesellschafts- und bildungspolitischen Spaltung zu erklären, die sich seit dem Mängelbericht (BMBW 1978) noch vertieft hatte. Weite Teile der angestrebten Reformvorhaben, die der Bund insbesondere unter der - 22 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik Regierung Brandt formuliert hatte, wurden nicht so umgesetzt, wie es von den Planungsinstanzen intendiert war. 3.2.5 Bildungskrise und Rückzug des Bundes (1982-1987) Die Schulpolitik des Bundes nach dem Machtwechsel in Bonn ist schwer zu beschreiben; nur sehr wenige Handlungen, Konzepte oder Ergebnisse sind auszumachen. Offensichtlich hat der Bund sich zurückgezogen, und auch die BLK entwickelte sich von der Instanz, die den Gesamtplan erstellt oder fortschreibt, zu einem „Gremium des informellen Austauschs“ (Massing 2003: 24). Der Trend zur Unitarisierung schien sich umzukehren: der Bund kürzte seine Ausgaben im Bildungsetat, insbesondere beim BAföG. Zusätzlich gab die Regierung Kohl Kompetenzen an die Länder, wie beispielsweise für die berufliche Bildung und das Schüler-BAföG, ab. Insgesamt, so lässt sich bilanzieren, beschränkten sich Bund und Länder in diesem Zeitraum auf „symbolische Bildungspolitik“ (Massing 2003: 25); diese Phase kann eindeutig als der bisherige Tiefpunkt des Bundesengagements in der Bildungspolitik der Bundesrepublik interpretiert werden. 3.2.6 Neuorientierung und Wiedervereinigung (1987-1995) Nach der Bundestagswahl 1987 kam mit Jürgen Möllemann erstmals ein Politiker der FDP in das Amt des Bildungsministers. Schwerpunkt seiner Arbeit blieb jedoch die Hochschulpolitik. Daneben wurde die schulpolitische Diskussion durch die Einsetzung der Enquete-Kommission „Bildung 2000“ durch SPD und GRÜNE, also durch die Opposition im Bundestag, auf Bundesebene neu belebt. Die Spaltung der Kommission zwischen CDU/CSU und FDP sowie der Abgeordneten der SPD- und der GRÜNENFraktion führte zu nur geringen Ergebnissen in ihrem Schlussbericht 1990 (Massing 2003: 26). Der Historiker Christoph Führ beschreibt das Ergebnis dieser Mitarbeit des Bundestages am Politikfeld sehr ernüchternd: „Der Versuch, die Thematik mit Hilfe einer Enquete-Kommission zu meistern, ist offensichtlich fehlgeschlagen.“ (Führ 1997: 74). Die Wiedervereinigung führte dazu, dass zunächst die Konflikte in den Hintergrund traten – die Herstellung bundesweit „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Art 72 GG12) 12 Der Begriff ersetzt seit der Grundgesetzänderung vom September 1994 das Gebot der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“. Bei der „Gemeinsame Bildungskommission BRD/DDR“, die die Wiedervereinigung im Bildungswesen plante, wurde zunächst auch von Einheitlichkeit gesprochen; dieser Begriff wurde aber reduziert zu dem Term: „Vergleichbarkeit der Grundstrukturen im Bildungswesen“. Näheres hierzu: Köhler u.a. (Hg.) 2000: 37ff.. - 23 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik stand im Mittelpunkt der Neustrukturierung des Bildungswesens in den fünf neuen Bundesländern. Dies geschah im Wesentlichen durch Überführung des existierenden Ostdeutschen Schulsystems in ein Abbild des Westdeutschen, da hier die Beschlüsse der KMK nach dem Beitritt die Leitlinien bildeten. Schwierig waren die Rahmenbedingungen jedoch für tief greifende Änderungen: alle Veränderungen waren „im ‚laufenden Betrieb’ in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen umzusetzen“ (Fuchs u.a 2000: 157). In weiten Teilen setzten - teilweise in enger Kooperation mit den Westländern Zusammensetzung - die nach Landesregierungen den mit Landtagswahlen von gleicher 1990 parteipolitischer die jeweiligen korrespondierenden Westsysteme durch (vgl. Fuchs u.a. 2000: 160ff.). Dabei wurden jedoch verschiedene „Eigenheiten“ in den fünf neuen Ländern bewahrt, so dass „der gelegentlich geäußerte Verdacht einer bildungspolitischen Kolonialisierung seitens der BRD durch den Verhandlungsverlauf [in der gemeinsamen Bildungskommission] nachweislich zu widerlegen“ (Köhler u.a. 2000: 49) ist. 3.2.7 Paradigmenwechsel und neuer Aufschwung (1995-2001) Der neu einsetzende Aufschwung hat verschiedene Wurzeln. Ein wichtiger Impuls dazu ging von der Nordrhein-Westfälischen Landesregierung unter Johannes Rau aus. Bereits 1992 rief er eine Kommission ins Leben, die mit ihrer Denkschrift „Zukunft der Schule – Schule der Zukunft“ (Bildungskommission NRW 1995) die wissenschaftliche und öffentliche Debatte neu entfachte. Diese Denkschrift verkörpert auch einen neuen Ansatz der Bildungspolitik, der die alten Gräben teilweise überwindet: Schule, die als „Lern- und Lebensraum“ aufgefasst wird, braucht ein größeres Maß an Autonomie. Folglich sollte ein Wechsel von der „makropolitischen“ Steuerung hin zu einer „mikropolitischen“, direkt auf die Einzelschule bezogener Politik stattfinden, um den Zukunftsanforderungen gerecht zu werden. Dieser Paradigmenwechsel lässt die Diskussion über das dreigliederige Schulsystem und Gesamtschule in weiten Teilen wertlos erscheinen, da im Mittelpunkt der Bemühungen nicht mehr die Schulstruktur, sondern vielmehr die Einzelschule steht. Dieser Ansatz impliziert, dass alle politischen Institutionen auf Teile ihrer Steuerungsmaßnahmen verzichten sollen und diese Macht auf Schulebene, maximal regionale Ebene (gemeint sind die Kreise und kreisfreien Städte) abgeben. Lediglich die Vorgabe von „Gestaltungsprinzipien“ (Bildungskommission NRW 1995: 292) sollen weiterhin zu den Landeskompetenzen zählen, selbst jährliche Evaluationen und - 24 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik eine regelmäßige Bildungsberichterstattung soll auf regionale Ebene verlagert werden – einzig eine periodische Bewertung soll noch durch das Land stattfinden. Nachdem sich neben diesen Vorarbeiten aus Nordrhein-Westfalen der „Modernisierungsrückstand des deutschen Bildungswesens“ andeutete (Leschinsky in Cortina u.a. 2003: 141), wurde auf Initiative der neu gewählten Regierung, genauer der neuen Ministerin des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, 1998 ein neues Gremium zur Politikberatung gegründet: das „Forum Bildung“ (Vgl. Kap.3.3.2). 2001 beschloss das Forum Bildung zwölf Empfehlungen, die jedoch sehr allgemein gehalten wurden. Dauerhaft konnte sich diese neue Instanz jedoch nicht etablieren: trotz der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse 2001 löste sich das Gremium planmäßig im Januar 2002 auf. 3.2.8 Der PISA-Schock, die zweite Hochkonjunktur und die schnelle Normalisierung (2001-2005) Was heute alles unter dem Schlagwort „PISA-Studie“ subsumiert werden kann, ist die bereits in der Einleitung erwähnte neue Hochkonjunktur in der Bildungspolitik auf Bundesebene. Nach Veröffentlichung zunächst der internationalen Daten, die das durchwachsene Abschneiden Deutschlands im Rahmen der OECD Studie dokumentierten und auch das Image des deutschen Schulsystems unter Druck setzten, begann die öffentliche Debatte um die Zukunft des Bildungssystems. Im Sommer 2002 gaben dann die Wissenschaftler des Max-Planck Instituts für Bildungsforschung die für das nationale Politikfeld noch wesentlich brisanteren Ergebnisse der national vergleichenden Studie bekannt. Diese entfachten die Debatte erneut stark und so wurde Bildungspolitik insbesondere auch zu einem Thema im Bundestagswahlkampf 200213. PISA deckte in vielfacher Hinsicht eklatante Schwächen nicht nur der Schüler auf, sondern ließ auch verschiedene Rückschlüsse auf Verfehlungen der Bildungspolitik zu. Zwar weigern sich die deutschen Forscher, Kausalzusammenhänge aus dem Datenmaterial abzuleiten, die Wissenschaftler der OECD kritisieren die deutsche Schulpolitik hingegen deutlich. Das Politikfeld geriet durch die öffentliche Perzeption der Ergebnisse schnell in Bewegung, und alle beteiligten Ebenen versuchten, politisch Kapital aus der Ausnahmesituation zu schlagen. Die Bundesebene mit Kanzler Schröder und das 13 Speziell auf Seiten der SPD war dies der Fall - auch, so vermuten Henke und Kneip, um „von den schlechten Ergebnissen der SPD-geführten Bundesländer abzulenken“ (in: Egle u.a. 2003: 301). - 25 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik BMBF versuchten, ihre Kompetenzen zu erweitern14. Aber auch die Kultusministerkonferenz bemühte sich stark, ihren Einfluss zu behalten und ihre Konzepte auch öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. In Ausnahmefällen rückten Bundesministerium und KMK näher zusammen und veranstalteten gemeinsame Konferenzen. Die Veröffentlichung der weiteren Daten (2003) sowie die Erkenntnisse der neuen Erhebung (PISA 2003) wurden nicht mehr in ähnlicher Weise öffentlich diskutiert; die Debatte blieb, wie bei den Vorläuferstudien zu PISA, insbesondere der TIMS-Studie15, den Experten vorbehalten. Das Verschwinden des großen öffentlichen Drucks, gepaart mit einer Abwartehaltung, welche Folgen die beschlossenen Veränderungen haben werden, führten vorangegangenen zusehends zu Aktionismus. einer Im Beruhigung der Bundestagswahlkampf Debatte nach dem 2005 spielte die Bildungspolitik, abgesehen vom Ganztagesschulprojekt, wieder ihre gewohnte, untergeordnete Rolle. Inhaltlich jedoch trat die parteipolitische Konfliktlinie wieder verstärkt zu Tage: während Bundesebene und KMK schnell einig wurden, mit Bildungsstandards eine völlig neue Struktur in die curriculare Entwicklung zu bringen, entwickelte sich über die Ausgestaltung dieser zwischen der SPD-Ministerin Bulmahn und den CDUregierten Ländern schnell ein neuer Konflikt16. 3.2.9 Die Föderalismusreform und weiterer Ausblick Die seit der Wahl im September 2005 amtierende Bundesregierung ist noch zu kurz im Amt, um ihren tatsächlichen schulpolitischen Kurs charakterisieren zu können. Die Anzeichen, sich nur wenig in diesem Bereich zu engagieren, mehren sich jedoch; sie können allerdings auch am Politikstil der neuen Bundesregierung liegen. Nach derzeitigem Stand 17 der Debatte um die Föderalismusreform zeichnen sich einschneidende Veränderungen im Bereich der Organisation der Schulpolitik ab: Der aktuelle Entwurf der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur 14 Vgl. z.B. Schröder 2002, sowie Kapitel 5 Die „Third International Mathematics and Science“-Studie (TIMSS) beschränkte sich zwar nur auf den naturwissenschaftlichen Sektor, lies jedoch bereits erahnen, dass der Erfolg deutscher Schüler in internationalen Schülerleistungsvergleichen eher gering sein würde. Näheres hierzu: http://www.timss.mpg.de (31.08.2006). 16 Die Debatte wird zwischen den Befürwortern so genannter „Regelstandards“ und „Mindeststandards“ geführt. Während die Bundesregierung mittels einer Expertise führender Erziehungwissenschaftler stark für ihr Konzept der Mindeststandards (s. „Klieme-Gutachten“, BMBF 2003a ) warb, verabschiedeten einige Länder, darunter Baden-Württemberg, genau solche Standards, vor denen die Experten der Bundesstudie warnten. 17 Anfang Juni 2006; zum aktuelleren Stand siehe Kapitel 6. Am Wortlaut des zitierten Gesetzes wurden jedoch keine Änderungen mehr vorgenommen. 15 - 26 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (BT Drucksache 178-06) sieht vor, die bisherige Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung (Art 91b GG) durch die folgende Formulierung zu ersetzen: Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich und bei diesbezüglichen Berichten und Empfehlungen zusammenwirken. (BT Drucksache 16/813 S.4 bzw. BR Drucksache 178-06, S. 7, s. auch S. 38) Die Vorlage ist im parlamentarischen Prozess als Paket dem Rechtsausschuss zugeführt worden und wird im Mai und Juni beraten. Zum aktuellen Stand sowie zur Einordnung der Beschlüsse wird ein eigenes Kapitel angeführt, das den aktuellen Stand der Gesetzgebung berücksichtigt (s. Kapitel 6, S. 72ff.). 3.3 Die Institutionen der dritten Ebene und ihre Bedeutung Die Koordinationsgremien im Bildungsbereich sind, wie der kurze Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Politikfeldes gezeigt hat, wesentliche Akteure der Bildungspolitik. Dabei lässt sich die Funktion dieser Institutionen auf zwei verschiedene Rollen aufgliedern: Einerseits in Koordinationsgremien (Abb. 2: Blau), andererseits in Beratungsgremien der Exekutiven (Abb. 2: Gelb). Während die Koordinationsinstanz Kultusministerkonferenz bereits seit Gründung der Bundesrepublik als Muster horizontaler Verknüpfung existiert, entwickelte sich die vertikale Verflechtung erst über die Zeit. Dabei zeigt sich, dass den reinen Beratungsgremien der Exekutiven nur eine begrenzte Lebensdauer beschieden war, wohingegen sich die Koordinationsgremien dauerhaft etablieren konnten: Abbildung 2: Institutionen oberhalb der Länderebene im geschichtlichen Verlauf (Quelle: Eigene Darstellung) - 27 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik Bemerkenswert ist zudem, dass die Notwendigkeit eines Bundesministeriums erst knapp 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik erkannt und umgesetzt wurde. Bewusst wird hier der seit 1957 bestehende Wissenschaftsrat, der als Beratungsgremium einzustufen ist, nicht berücksichtigt. Zwar ist seine Rolle im Bereich der Hochschulpolitik als „außerordentlich einflussreich“ (Leschinsky in Cortina 2003: 171) zu gewichten, dennoch spielt er, wie es denkbar wäre, für die Schulpolitik, auch was die Qualifikation der Studienbewerber oder die Ausbildung der Lehramtsanwärter betrifft, keine Rolle. Im Weiteren werden die Gremien kurz vorgestellt, stets unter dem Aspekt der Rolle des Bundes. Es werden jeweils kurz Entstehung und Verortung im politischen System, die Aufgaben, die Mitglieder und Organisation skizziert, und wesentliche Entwicklungspunkte für das Politikfeld hieraus abgeleitet. 3.3.1 Koordinationsgremien: KMK und BLK Es existieren, wie bereits erwähnt, zwei Koordinationsgremien im Politikfeld Schulpolitik, die unterschiedliche Funktionen erfüllen und auch sehr ungleich in der öffentlichen Wahrnehmung verankert sind. Das wichtigste Gremium ist die bereits mehrfach erwähnte „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland“, kurz KMK, die auch weitere Koordinierungsfunktionen außerhalb des Bildungswesens, z.B. im kulturellen Bereich, besitzt. Demgegenüber besitzt die „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung“ (BLK) nur Funktionen im Bereich der im Namen angeführten Politikfelder: Bildungsplanung und Forschungsförderung. Die Kultusministerkonferenz hat nach eigener Definition die Aufgabe, „Angelegenheiten der Bildungspolitik (…) von überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung und der Vertretung gemeinsamer Anliegen“ zu behandeln (Geschäftsordnung KMK 2005, Präambel), ist also Interessenvertretung und Koordinierungsgremium in gleichem Maße. Sie ist ein reines Gremium der Länder-Exekutiven, d.h. die Länderparlamente sind nicht beteiligt. Jedes Land hat, unabhängig von seiner Größe oder Einwohnerzahl, den gleichen Stimmanteil, wobei wichtige Beschlüsse der Einstimmigkeit bedürfen18. Dabei ist sie so organisiert, 18 Vgl. Geschäftsordnung KMK 2005, A I 6: In allen Fällen (unter Ausnahme Verfahrensentscheidungen) sind immerhin 13 Stimmen, also über 80%, Mehrheit erforderlich. - 28 - der Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik dass sie ein Sekretariat und neun ständige Ausschüsse unterhält, die für die tägliche Arbeit und zur Vorbereitung von Entscheidungen dienen. Im Zeitverlauf des Bestehens der KMK wandelte sich ihre Arbeits- und Funktionsweise; es herrscht keineswegs Einigkeit unter den Ländern, wie die Zusammenarbeit im Bereich der Kulturhoheit funktionieren soll19. Nach eigener Darstellung beschränkt sich das Handeln zumeist auf unverbindliche Absprache im Sinne eines Orientierungsrahmens: Andererseits konnte die Kultusministerkonferenz (…) nie ein ErsatzBundeskultusministerium abgeben und wollte dies auch zu keiner Zeit. Ihre Beschlüsse sind keine Beschlüsse eines Verfassungsorgans mit der daraus folgenden Rechtswirkung; nur wenige Beschlüsse wurden in die Form gegenseitig rechtlich verpflichtender Staatsabkommen gebracht. Gleichwohl entfalteten die Beschlüsse und Vereinbarungen als politische Verpflichtung und als Richtschnur des Handelns der einzelnen Länder ihre Wirksamkeit. („Rechtsgrundlagen“ aus http://www.kmk.org/aufg-org/home1.htm, 31.08.2006) Im Zweifelsfall, so lässt sich die Organisationsstruktur, die Geschichte und auch dieses Zitat interpretieren, dominiert die Länderhoheit in der Schulpolitik über das Koordinationsinteresse auf Ebene der KMK. Hier hat der Konsensdruck zwischen den Parteien, vertreten durch die Landesregierungen, nur zu einem großen bürokratischen Aufwand und zu wenig outcome geführt. Deswegen hat das Gremium immer wieder auch Kritik von Seiten der Bundespolitik sowie der Medien auf sich gezogen (vgl. Tidick in Kultusministerkonferenz 1998: 151ff.). Weit weniger öffentliche Beachtung findet seit seiner Gründung das zweite Koordinationsgremium, die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. In ihr sind Bund und Länder mit gleicher Stimmanzahl (je 16) vertreten, für Beschlüsse sind mindestens 25 Stimmen notwendig – wobei hier die überstimmten Länder nicht verpflichtet sind, sich den Beschlüssen unterzuordnen (BLK Abkommen, Art. 9 Abs. 2). Aufgabe der Kommission ist es, „das ständige Gesprächsforum für alle Bund und Länder gemeinsam berührenden Fragen des Bildungswesens“ (BLK Abkommen, Art. 19 Dies zeigt sich an der geschichtlichen Entwicklung, wie sie Peter Fränz und Joachim Schulz-Hardt (in Kultusministerkonferenz (Hg.) 1998: 177 – 227) dargestellt haben, und auch an der neuren Entwicklung z.B. bei dem angedrohten Ausstieg des Landes Niedersachsen 2005 oder der Debatte um die Föderalismusreform. - 29 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik 1) zu sein. Als konkrete Aufgaben im Bereich „Bildungsplanung und Innovationen im Bildungswesen“ formuliert die Kommission folgende Arbeitsgebiete20: - Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf das Bildungs- und Beschäftigungssystem - Die Auswirkungen der strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft, den technologischen und ökonomischen Neuerungen (z.B. im Kommunikationsbereich) und den dadurch bedingten Änderungen neuer Qualifikationsstrukturen und -anforderungen in Beruf und Gesellschaft - Die Auswirkungen aus der Erosion der Normalarbeitsverhältnisse - Die Auswirkungen aus der wachsenden Internationalisierung sowie der fortschreitenden europäischen Vereinigung …in das Bildungswesen zu integrieren. Zudem ermittelt die BLK seit 1972 jährlich die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft nach Gebietskörperschaften. Die schulpolitische Relevanz dieser Institution geht also insbesondere aus ihren Aufgaben hervor, eine Koordinierung zwischen den Anforderungen des Arbeitsmarktes und dem Bildungssystem herzustellen. Nachdem die BLK 1973 „nach mühseligen und heftigen Auseinandersetzungen“ (Leschinsky in Cortina u.a. 2003: 165) einmal einen Bildungsgesamtplan vorgelegt hatte (vgl. Kap 3.2.3), verlor das Gremium in der Folge stark an Bedeutung für die Schulpolitik, und konnte erst seit der Wiedervereinigung wieder an politischem Gewicht gewinnen. Ihr wohl wichtigstes Element ist die Unterstützung von ca. 2600 Modellprojekten in allen Bereichen des Bildungswesens (1971 - 2003, lt. Leschinsky in Cortina u.a. 2003: 166), sowie in vielen Fällen auch die wissenschaftliche Begleitung dieser Projekte. Das Forum Bildung (1999 – 2001) wurde zwar bei der BLK eingerichtet, sollte aber in seiner Struktur und Aufgabenstellung besser den reinen Beratungsgremien zugeordnet werden. Das Gebiet der Bildungsgesamtplanung spielt derzeit im Rahmen der BundLänder-Kommission faktisch keine Rolle mehr. 20 Nur die Aufgaben mit Schulbezug bonn.de/aufgaben.htm, (31.08.2006). wurden hier - 30 - übernommen, nach: http://www.blk- Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik 3.3.2 Beratungsgremien Zur überregionalen Politikberatung im Bildungsbereich wurden verschiedene Anläufe unternommen, von denen jedoch keinem wirklicher Erfolg beschieden werden kann. Als wesentliches Defizit der KMK wurde bereits in den fünfziger Jahren erkannt, dass „die KMK nur reaktiv auf deutlich werdende Defizite“ handelte (Massing 2003: 37). Vor allem problematisch war, dass sie „kaum in der Lage [war], eine vorrausschauende Planung zu betreiben“ (ebd.). Zunächst näherte man sich der Problematik durch den „Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (1953-1965). Er bestand aus ehrenamtlichen Kommissionsmitgliedern ohne Verwaltung, und besaß zudem keine direkte Kopplung in Form eines festen Adressaten an die Politik. Der Auftrag des Ausschuss war nur sehr allgemein gehalten: Er sollte die Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesen beobachten und durch Rat und Empfehlungen fördern (nach: Leschinsky in Cortina u.a. 2003: 168). Mitglieder waren unabhängige Personen, also keine Vertreter organisierter Interessen. Der Ausschuss war nur sehr schmal budgetiert, und seine zahlreichen Beschlüsse wurden nicht in den wesentlichen Entscheidungsgremien, also der KMK und dem damals für die Bundesinteressen verantwortlichen Innenministerium, diskutiert. Daher verpuffte das Interesse seitens der Bundesregierung - aber auch seitens der Länder - an diesem Gremium schon bald; folgerichtig wurde sein Mandat ab 1965 nicht mehr verlängert. Trotz seines geringen greifbaren Erfolgs ist die Rolle des Deutschen Ausschusses vor allem darin zu sehen, „die traditionellen Strukturen des Bildungswesens in Frage zu stellen“ (Massing 2003: 39). Er besaß zwar unlösbare Konstruktionsfehler, öffnete aber das Feld der Bildungspolitik gegenüber wissenschaftlicher Beratung, Zukunftsplanung und verkörperte als erste Institution den wachsenden Einfluss des Bundes. Er stellte das erste gemeinsame Gremium der vertikalen Verflechtung zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik dar. Wie jedoch auch schon im Zeitverlauf angedeutet, begann der Aufschwung des Politikfeldes eigentlich erst nach dem Ende des Deutschen Ausschusses. Die beginnende breite öffentliche Diskussion um Reformen im Bildungssektor konnte der Bund nutzen, sich als Akteur in der Schulpolitik zu formieren. Die Nachfolgeinstitution des Deutschen Ausschusses, der „Deutsche Bildungsrat“ (1965-1975) wurde über ein Abkommen zwischen Bund und Ländern legitimiert. Seine wesentlichen Aufgaben - 31 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik waren: a.) Bedarfs- und Entwicklungspläne für das Deutsche Bildungswesen zu entwerfen, b.) Vorschläge für die Struktur des Bildungswesens zu machen und den Finanzbedarf zu berechnen und c.) Empfehlungen für die langfristige Planung auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens auszusprechen21. Organisiert war der Bildungsrat in zwei Kammern, einer Bildungskommission, bestehend aus Wissenschaftlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, und der Regierungskommission. Diese Gruppe von Politikern stellte den großen Unterschied zur Vorgängerinstitution dar: sie bestand aus Vertretern der Kultusministerien, der Bundesregierung sowie der kommunalen Spitzenverbände. Die wesentlichen Ausschüsse wurden mit Vertretern aus beiden Kammern besetzt. Insgesamt verfasste der Bildungsrat in seinen zwei 5-jährigen Amtsperioden 18 Empfehlungen und 50 Gutachten. Der Bildungsrat war als reines Beratungsorgan konzipiert, wie Massing (2003: 45f.) auch aus dem Beschlussverfahren folgert: Für Beschlüsse genügten einfache Mehrheiten, jedoch konnten auch Minderheitsgutachten beschlossen werden. Nach seinem Aufschwung in den sechziger Jahren wurde jedoch das Jahr 1970 zum Wendepunkt der Arbeit des Rates. Nach den Grundgesetzänderungen von 1969/70 und dem Ende der großen Koalition zeigte sich zu Beginn der siebziger Jahre rasch, dass die gewählte Konstruktion im Falle der Konkurrenz der Parteien nicht tragfähig war, da die Konfrontation durch die Möglichkeit der Minderheitsvoten konstruktives Arbeiten unmöglich machte. Dies waren wohl die wesentlichen Argumente für das Ende des Bildungsrates. Hinzu kam, dass der Bildungsrat seine wesentliche Veröffentlichung, den Strukturplan für das Bildungswesen 1970 veröffentlichte und kaum Perspektiven für die weitere Arbeit sah. Das Mandat des Deutschen Bildungsrates wurde daher nach 1975 nicht mehr verlängert. In der Folgezeit wurden keine weiteren neuen Beratungsgremien geschaffen, die BLK blieb die einzige Institution mit Beteiligung von Bund und Ländern. Das Parlament versuchte zwar durch die Berufung der Enquete-Kommission „Bildung 2000“ (1987 - 1990) dieses Vakuum zu füllen; sie konnte die Erwartungen, ähnlich wie das bereits erwähnte Forum Bildung (1999 - 2002) als Unterorganisation der BLK aber nicht erfüllen. Das Forum Bildung, geprägt durch den Regierungsstil der „Dialogstrategie“ Gerhard Schröders und auch „Bündnis für Bildung“ genannt, war, 21 zu den detaillierten Ergebnissen und insbesondere auch zu den Gründen, warum das Gremium 1975 wieder aufgelöst wurde siehe Hüfner 1986: 149ff. - 32 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik wenn auch keine direkte Regierungskommission, so doch durch dieses Politikmuster geprägt (Vgl. Murswieck in Egle u.a. 2003: 118ff.). Anders als die anderen Beratungsgremien bestand es aus 18 Personen, nämlich zwei Vertretern des Bundes, sechs Vertretern der Länder, sowie je zwei Vertretern der Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Kirchen, Wissenschaft, Auszubildenden und Studierenden; zuzüglich der Expertengruppen. Die politisch konsensfähigen zwölf Empfehlungen, die als Beratungsergebnisse festzustellen sind, wurden allerdings durch die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse schnell von der Tagesordnung verdrängt. Jedoch schließen Klaus Klemm 22 u.a. (in: Cortina u.a. 2003: 142) aus, dass sich das Muster des Forums Bildung zu „einer neuen tragfähigen Form der Politikberatung entwickeln könnte“, da die Struktur der Vermischung aus wissenschaftlicher Arbeit der Expertengruppen mit den politischen Interessen der Politikvertreter dies unmöglich machte. Zudem fehlte dem Forum der direkte Dialogpartner auf Seiten der Politik, ähnlich wie dem Deutschen Ausschuss. Es wird daher vielmehr ernüchternd als „eine Aktion des guten Willens“ (ebd.) der beteiligten Akteure interpretiert. Als Fazit für die Bedeutung der Beratungsgremien bleibt der folgenden Bewertung der tatsächlichen Funktionen dieser Institutionen nicht viel hinzuzufügen: Die Stärke solcher konsensorientierten und politiknahen Gremien besteht darin, Reformideen zu bündeln und zu ihrer möglichen politischen Umsetzung dadurch beizutragen, dass sie diese in bildungspolitische Entscheidungsgremien hineintragen. Als Impulsgeber für tief greifende Reformen dienen sie jedoch nur selten. (Baumert, Cortina, Klemm in Cortina u.a. (Hg.) 2003: 143) 3.4 Zwischenbilanz: Föderalismus Schulpolitik im deutschen Die Klärung der Strukturen und Entwicklungen in diesem Politikfeld ist damit soweit abgeschlossen, so dass die folgende Analyse der Tätigkeit der Bundesregierung vor diesem Hintergrund interpretiert werden kann. Als Zwischenergebnis lässt sich an dieser Stelle zunächst festhalten: Der Bund spielte unbestrittener Weise eine maßgebliche Rolle in der Entwicklung des Politikfeldes. Die Schulpolitik ausschließlich als Angelegenheit der Länder zu interpretieren steht 22 Klaus Klemm war Mitglied sowohl der Enquete-Kommission „Bildung 2000“ als auch des Forums Bildung als Vertreter der Wissenschaft. - 33 - Das Politikfeld und seine Entwicklung im föderalen System der Bundesrepublik offensichtlich im Widerspruch zu existierenden Institutionen, aber auch den Interessen der Bürger. Die Nachzeichnung der geschichtlichen Entwicklung zeigt, dass eine näher zu untersuchende Beziehung zwischen der Rolle des Bundes als Akteur und den Konjunkturen des Politikfeldes existiert. Dabei tritt der Bund eher reaktiv auf: nur in Phasen öffentlichen Drucks, so ließe sich aus der bisherigen Darstellung ableiten, konnte er seinen Einfluss wahrnehmen beziehungsweise ausweiten. Insgesamt ist die Einflussnahme des Bundes nicht als eindeutig zunehmend zu erkennen, sie ist vielmehr Schwankungen unterworfen. Die Untersuchung der Institutionen, die zwischen Bundes- und Länderebene angesiedelt sind, zeigt ein uneinheitliches Bild. Sämtliche geschaffenen Gremien der Politikberatung konnten sich nicht dauerhaft etablieren. Die starke Konsensorientierung in den einflussreicheren Koordinationsgremien führte jedoch weitestgehend zu einem Stillstand des Politikfeldes; wesentliche Reformen gingen von ihnen bisher nicht aus. Diese Erkenntnis deckt sich im Übrigen auch mit bekannten theoretischen Vorstellungen: dass sich Mehrebenensysteme Pfadabhängigkeit“ auszeichnen (Benz 2005). - 34 - durch eine „ausgeprägte 4. Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen Um die Rolle des Bundes in einem Politikfeld zu analysieren, bedarf es der Klärung der Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten dieses Akteurs. Die Grundlage für die Einflussnahme stellt der rechtliche Rahmen dar, der vor allem durch das Grundgesetz in der Bundesrepublik gegeben ist. Daneben stellt sich die Frage, auf welche Weisen in einem komplexen System, an dem mehrere staatliche Ebenen beteiligt sind, relevante Impulse von einer einzelnen Instanz, in diesem Falle dem Bund, ausgehen können. Diese Möglichkeiten lassen sich wiederum in zwei Teilbereiche gliedern: auf der einen Seite sind die eindeutig messbaren Größen zu nennen, deren Kernpunkt eine finanzielle Dimension besitzt, und auf der anderen Seite die schwer zu quantifizierenden „weiteren Einflussmöglichkeiten“, beispielsweise das Agenda Setting. An dieser Stelle wird zur Analyse auf Steuerungsstrategien, wie sie Görlitz und Burth (1998) darstellen, zurückgegriffen, um eine schärfere Analyse zu ermöglichen. Aus dem Bisherigen lässt sich bereits ableiten, dass der Bund beim Steuern im klassischen Sinne durch die Legislative, also Rechtsetzung, nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten besitzt. Dennoch Möglichkeiten der Beeinflussung existieren 23 auf Bundesebene, verschiedene . Dabei rücken die Möglichkeiten der der Parlamentsmehrheit korrespondierenden Regierung verstärkt in den Vordergrund, während die Rolle des Gesetzgebers in diesem Rahmen als schwächer einzustufen ist. 4.1 Der rechtliche Rahmen und das Beispiel nationaler Bildungsstandards Wie schon mehrfach angedeutet, ist der rechtliche Rahmen für eine Steuerung des Politikfeldes durch den Bund eng begrenzt. Zunächst standen dem Bund im Bereich der Schulpolitik, wie in der geschichtlichen Entwicklung dargestellt, keine klar formulierten Kompetenzen laut Grundgesetz zu. Der seit 1949 unveränderte Artikel 30 GG erklärt unter dem Titel: „Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern“: „(…) die Erfüllung der 23 An dieser Stelle können die Auswirkungen und eventuellen Änderungen durch die Föderalismusreform noch nicht berücksichtigt werden. Sofern sich substanzielle Änderungen ergeben (vgl. Kapitel 6), lassen diese sich jedoch besonders sinnvoll im Vergleich zum bisherigen aufzeigen. - 35 - Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.“ Dabei gilt die Aufsicht über das gesamte Schulwesen, so geht bereits aus dem Grundrechtskatalog (Art. 7 GG) hervor, eindeutig als staatliche Aufgabe. In Artikel 70 Abs. 1, unter der Überschrift „Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern“, wird dazu festgestellt, dass die Länder das Recht zur Gesetzgebung besitzen, falls das Grundgesetz nicht explizit eine andere Regelung vorsieht – und dies war nur bis 1969 der Fall. Jedoch galt zunächst - bis 1994 – folgender Artikel 72 (Abs. 2): Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil 1. eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder 2. die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder 3. die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert. Die Forderung der „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ bietet einen breiten Interpretationsspielraum und war auch Gegenstand von Kontroversen zwischen Bund und Ländern. Jedoch bezieht sich der Artikel explizit auf die in Artikel 74 aufgelistete Reihe an Themengebieten, in dem sich im Rahmen der Schulpolitik nur die Ausbildungsbeihilfen befinden. Durch die Grundgesetzänderungen vom 12. Mai 1969 und die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a, 91b) bekam der Bund neue Kompetenzen im Bereich des Bildungswesens: Es wurde von der großen Koalition in Artikel 91b eingeführt, dass der Bund und die Länder bei der Bildungsplanung zusammenwirken können. Was allerdings Bildungsplanung und Zusammenwirken konkret bedeutet, bleibt offen und wurde unterschiedlich interpretiert. Dieser Abschnitt ist jedoch der Schlüssel zur Formalisierung des Bundeseinfluss auf die Schulpolitik. Eine gewisse Einschränkung dieser Kompetenzen ergab sich ab den Grundgesetzänderungen im Zuge der Wiedervereinigung von 1994, als die Forderung der Einheitlichkeit auf die Formulierung der „Gleichwertigkeit“ der Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2, GG) reduziert wurde. Insgesamt erscheint also die Lage, Inhalte der Schulpolitik bestimmen zu können, als eher schwierig, wenn man diesen rechtlichen Rahmen bedenkt. - 36 - Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen Dennoch wurde, speziell von Seiten der Rot-Grünen Bundesregierung im Zuge der Veröffentlichung von PISA 2000 – insbesondere nach Veröffentlichung der national vergleichenden Studie im Sommer 2002 - gefordert, nationale Bildungsstandards einzuführen. Anhand dieses Beispiels wird die Begrenztheit des rechtlichen Rahmens verdeutlicht: Bildungsstandards konkretisieren den Bildungsauftrag der allgemeinbildenden Schulen, in dem sie „Ziele für die pädagogische Arbeit, ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler“ benennen (BMBF 2003a: 19). Im Rahmen der derzeitigen Situation erscheint dies jedoch als rechtlich unmöglich. Selbst wenn die nationalen Standards in der „Natur der Sache“ nur bundeseinheitlich zu regeln sind, lässt die Rechtsprechung in der Bundesrepublik eine solche Regelung nicht zu (Richter 2003: 135). Alternativ könnte der Bund jedoch über Staatsverträge unter Zustimmung aller 16 Länderparlamente versuchen, diese einzuführen. Dieses Unterfangen erscheint jedoch als wenig erfolgsversprechend, da der Bund in diesem Fall nur eine reine Koordinierungsfunktion besäße (ebd., S.136). In dieser Ausgangslage bedeutet das, dass der Bund als direkter Konkurrent der Kultusministerkonferenz zu sehen wäre - und würde somit den Ländern wenig Veranlassung geben, dem zuzustimmen. Faktisch muss man also, wie dieses Beispiel belegt, konstatieren, dass der Bund nur im Falle einer Grundgesetzänderung zu seinen Gunsten direkte inhaltliche Bestimmungen für das Schulsystem übernehmen kann. Die Formulierung über das Zusammenwirken im Rahmen der Bildungsplanung eröffnet dem Bund zwar, sich aktiv an Diskussionen zu beteiligen, die Entscheidungshoheit liegt jedoch weiterhin bei den Ländern. Wie bereits erwähnt, wurde diese Machtaufteilung schon in der Frühphase der Bundesrepublik vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. 4.2 Finanzielle Anreize: die „goldenen Zügel“ Der Bund hat neben den Möglichkeiten, per Gesetz Einfluss zu nehmen, auch die Option, sich durch Finanzmittel Einfluss förmlich zu erkaufen. Nicht nur in Zeiten leerer Kassen, sondern unabhängig von der Finanzlage sind „Geschenke“ grundsätzlich willkommen, da diese dann der Länderebene einen größeren Handlungsspielraum mit ihren Mitteln ermöglichen. Das für den Bund attraktive hierbei ist, dass gegen eine solche Lenkung die Blockierungsmöglichkeiten nur sehr gering sind, er also die - 37 - Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen Mittelvergabe nach seinen Interessen diktieren kann. Grundlage für diese Form der finanziellen Verstrickung bietet der Art 104a GG. In Abs. 4 heißt es dort: Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) gewähren, die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind. Natürlich ist in den meisten Fällen eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei der Umsetzung von Maßnahmen dieser Art intendiert. Aber letztlich bleiben die Länder zweifelsfrei von der Bereitschaft der Bundestagsmehrheit abhängig, Finanzhilfen zur Verfügung zu stellen, da der Ermessensspielraum, den diese Formulierung lässt, immens ist. Daher übernimmt diese Möglichkeit, in Politikfelder hinein zu regieren, in denen keine Kompetenz besteht, eine wichtige Steuerungsrolle aus Sicht des Bundes ein: durch seine außerordentlich mächtige Stellung in diesem Konzept, sind es tatsächlich Zügel, die der Bund in der Hand hält, um Einfluss auf die Länder auszuüben. Eine Einschränkung, dass es sich hierbei um Investitionen handeln muss, kann zum Vor- und Nachteil aus Sicht des Bundes ausgelegt werden. Wenn es sich um Investitionen im Bildungssektor handelt, so muss im Allgemeinen mit laufenden Kosten gerechnet werden, die in diesem Fall nicht dem Investor zur Last fallen. Dabei ist es zunächst nicht relevant, ob die anfallenden Kosten von den Ländern oder den Gemeinden zu tragen sind. Andererseits jedoch sind damit dem Bund auch für verschiedene „Zügelungsmethoden“ die Hände gebunden: er kann sich beispielsweise nicht in die Personalausstattung einmischen. Weder im Bereich der Lehrkräfte, noch beispielsweise der schulischen Sozialarbeit kann er direkt Mittel für Stellen bereitstellen. Eine gewisse Ausnahme hiervon bilden Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, die hierfür eingeschränkte Möglichkeiten, beispielsweise im Bereich Betreuungsangebote über Ein-Euro Jobs, besitzt. Als besonders prominentes Beispiel für die Praxis der finanziellen Einflussnahme muss das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) gelten, wie das 2002 initiierte Ganztagsschulprogramm der Rot-Grünen Bundesregierung formal heißt. Nach Zahlen des Bundesministeriums fördert das Programm im Zeitraum 20032005 fast 5000 Schulen im gesamten Bundesgebiet (http://www.ganztagsschulen.org /1108.php, 31.08.06), wobei sich die Verteilung nach der Anzahl der Schüler in den - 38 - Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen Klassenstufen 1-10 orientierte. Insgesamt stellt der Bund von 2002 bis 2007 vier Milliarden Euro zur Verfügung, über die Mittelvergabe wurde eine Verwaltungsvereinbarung (http://www.ganztagsschulen.org/_downloads/Verwaltungsvereinbarung_IZBB.pdf, 31.08.2006) zwischen Bund und Ländern getroffen. Diese sieht vor, dass die Länder (Art. 4 Abs. 4) sich verpflichten, mindestens 10% der entstehenden Kosten der Strukturmaßnahem zu tragen. Bei einem Gesamtvolumen der Haushaltsmittel des Bundes im Bildungssektor von rund zehn Milliarden Euro 200624 ist das Investitionsvolumen, das jährlich mehr als zehn Prozent des Haushaltes beträgt, als beachtlich zu bewerten. Diese stark hierarchisch geprägte Form der Steuerung bildet einen Sonderfall, da die üblichen Konzepte der Entscheidungsverflechtung hier nicht direkt greifen. Der Bund kann, wenn er den direkten Konflikt mit den Ländern nicht scheut, Investitionsmittel jederzeit bereitstellen. Selbst wenn die Länder standhaft die Annahme verweigern, um ihre Kompetenz zu sichern, hat der Bund massiven Druck ausgeübt, und kann öffentlich seine Handlungsfähigkeit demonstrieren, wohingegen der Blockadeverdacht auf Seiten der Länder bliebe. 4.3 Weitere Möglichkeiten der Einflussnahme Trotz der dargestellten formalen Schwäche des Bundes kann er neben den finanziellen Einflussmöglichkeiten auch noch weitere, „weiche“ Mittel einsetzen, um seine inhaltlichen Vorstellungen in dem Politikfeld zu verwirklichen. Neben Regulierung und Finanzierung kann der Bund als Steuerungsstrategie noch auf die beiden Konzepte der Strukturierung und der Informierung zurückgreifen (Görlitz u.a. 1998: 246-269). Beide Konzepte werden anhand je eines Beispiels aus der neueren Regierungspraxis dargestellt, zunächst das im Politikfeld Schulpolitik wichtigere: Die Informierung. Dabei ist wiederum einzuschränken, dass es sich im geschilderten Rahmen des Politikfeldes weniger um Steuerung als um Einflussnahme handelt; dennoch lassen sich die Konzepte hierfür anwenden, wie auch die jeweiligen Beispiele illustrieren. 24 Quelle: Finanzplan 2004 – 2008 des Bundes, Schaubild 7 (S. 31, nach: http://www.bundesfinanzministerium.de/lang_DE/DE/Service/broschueren/Bundeshaushalt/30110__a,te mplateId=raw,property=publicationFile.pdf/30110_a, 31.08.2006). Die Ausgaben beinhalten alle Ausgaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung einschließlich IZBB und BAföG. - 39 - Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen 4.3.1 Informierung am Beispiel der Bildungsreform nach PISA Informierung als Instrument der politischen Steuerung basiert im Wesentlichen auf symbolischen Handlungen. Hierunter fallen insbesondere Aufklärungskampagnen seitens des Staates, die Facetten der Einflussnahme sind jedoch vielfältig und können verschiedene Funktionen besitzen. Einerseits, und dies ist im bildungspolitischen Zusammenhang von besonderer Relevanz, dient dies zur Programmsetzung. Als Programmsetzung können verschiedene Aspekte aufgefasst werden: Problemdefinition, Zustandsbeschreibung, Agenda-Setting, Zielbildung und ähnliches (Görlitz/Burth 1998: 179). Im Rahmen der nationalen Programmsetzung ist der Bund besonders deswegen im Vorteil, da sich seine Vertreter einer besonderen nationalen Medienwirksamkeit erfreuen, und Gegenstimmen von Vertretern aus den einzelnen Ländern weniger Gewicht besitzen. Neben der Programmsetzung für den politischen Prozess kann das Instrument der Informierung auch genutzt werden, um unmittelbar, zum Beispiel in Form von Appellen, die Bürger zu konkreten Handlungen aufzufordern. Um zu konkretisieren, wie dies in Zusammenhang mit der indirekten Steuerung im verflochtenen System der Bundesrepublik funktioniert, seien die Tätigkeiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Rahmen des Prozesses in der Folge der PISA-Veröffentlichungen dargestellt. Nachdem man sich schnell über alle Konfliktlinien hinweg einig war, dass im Bildungssystem der Bundesrepublik tief greifende Veränderungen notwendig geworden sind, reagierte auch der Bund mit verschiedenen Maßnahmen. Eine dieser Handlungen war, entsprechende Forschungsprojekte und Dokumentationen in Auftrag zu geben, um den notwendigen Veränderungsbedarf zu analysieren. Dazu beauftragte das Bundesministerium Forscher verschiedener Teilbereiche, Studien zu erstellen, die in der Reihe „Bildungsreform“ vom Bundesministerium veröffentlicht wurden. In den Jahren 2003 bis 2005 wurden so Studien auf über 3500 Seiten in 16 Bänden im Namen des BMBF veröffentlicht 25 . Die Bände korrespondieren zu den Themen, in denen Reformbedarf durch die damalige Bundesregierung festgestellt wurde, und wurden teilweise sogar in verschiedene Sprachen übersetzt. Dieses Schrifttum ist nicht nur für den wissenschaftlichen Diskurs von Interesse, sondern stellt auch die Grundlage für viele politische Entscheidungen im Schulsektor dar. 25 Quelle: Eigene Erhebung nach: http://www.bmbf.de/publikationen/2713.php 31.08.2006, wobei seit der Bundestagswahl 2005 verschiedene Schriften nicht mehr zur Verfügung stehen. - 40 - Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen Insbesondere der erste Band: „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“, verfasst von den Wissenschaftlern unter der Leitung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung durch Professor Klieme26, ist zu einer Art Standard-Referenz in der Diskussion um Bildungsstandards geworden (BMBF 2003a). Natürlich ist zwischen den Interessen der Bundesregierung und den Erkenntnissen aus der Wissenschaft zu differenzieren, aber allein durch die Finanzierung der BildungsreformReihe hat die Bundesebene eine Art Programmsetzung betrieben, um die die Länder und insbesondere die KMK nicht herum kamen. Dabei kommt dem Bundesministerium entgegen, für die Vergabe der Forschungsmittel des Bundes mitverantwortlich zu sein: dies bedeutet nämlich, dass eine solche indirekte Einflussnahme in der Realität kaum verhindert werden kann. 4.3.2 Strukturierung am Beispiel „Schulen ans Netz e.V.“ Das Instrument der Strukturierung greift anders ein als das der Informierung. Die Strukturierung bereitet Handlungsänderungen nur vor, dafür sind diese im Idealfall jedoch unausweichlich. Görlitz und Burth (1998: 264) formulieren die Strategie in folgender Weise: Mit Strukturierung wird […] eine Steuerungsstrategie umschrieben, die ein politisch gewolltes Verhalten durch eine Veränderung bestehender sozialer Verhaltensarrangements herbeiführen will, erwünschte Zustände also nicht unmittelbar, sondern mittelbar anzielt. Die Ziele einer solchen Maßnahme der Beeinflussung müssen dabei allerdings nicht unbedingt im Vorhinein bekannt gegeben werden, da nur der Weg zu der Verhaltensänderung „strukturiert“, also aktiv gestaltet wird. Mit Hilfe von Strukturierungsmaßnahmen kann sich die Bundesregierung, wie das Beispiel zeigen wird, in manchen Fällen gezielt in die Schulwirklichkeit einmischen, und so indirekt auch Einfluss auf die Inhalte der Schulpolitik nehmen. Es ist dabei in besonderem Maße schwierig einzuschätzen, auf welche Bereiche sich dieses Instrument übertragen lässt. Das Beispiel, um diese Form der Einflussnahme zu illustrieren, soll die Initiative „Schulen ans Netz e.V.“ sein. Im April 1996 stellte der Abbildung 3: Logo SaN e.V. damalige Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) gemeinsam mit dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Telekom AG, Dr. Ron Sommer, die Initiative vor. Innerhalb der kommenden Jahre stellten 26 Daher ist die Expertise in die weitere Diskussion als „Klieme-Gutachten“ eingegangen. - 41 - Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen sowohl der Bund wie auch die Telekom gemeinsam Mittel zur technischen Ausrüstung, aber auch zur Schulung der Lehrkräfte, für Internetprojekte und ähnliches, zur Verfügung. 1996 besaßen nur 800 der deutschen Schulen Zugang zum Internet, im Herbst 2001 konnte vermeldet werden, dass alle rund 34.000 deutschen Schulen ans World-Wide-Web angeschlossen wurden (Nach: http://www.schulen-ans-netz.de/san/ 10jahreschulenansnetz/blick.php, 31.08.2006). Nach eigener Darstellung des Vereins sind die Arbeitsschwerpunkte seit 2000 die „inhaltliche Unterstützung“, insbesondere auch durch das Bereitstellen von Unterrichtsmaterialien, und „Qualifizierungsmaßnahmen“, vor allem auf Seiten der Lehrkräfte. Der Bund stellt dabei auch Finanzmittel bereit, im Haushaltsjahr 1997 23 Millionen DM, im Haushaltsjahr 2005 38 Millionen Euro (!). Der Beitrag der Deutschen Telekom ist schwer zu beziffern, da sie zusätzlich zu Finanzmitteln auch noch durch Kostenerlasse und ähnliches Leistungen einbringt, wurde jedoch zu Beginn, 1997, mit 36 Millionen DM beziffert (http://www.schulen-ans-netz.de/presse/archiv/ index_detail.php?id=97, 31.08.2006). Das Projekt stellt eine Strukturierungsmaßnahme dar, da die Ausstattung der Schulen zu der gewünschten Verhaltensänderung, in diesem Fall der Bildung von Medienkompetenz, beiträgt. Außerdem können, unter der Vorraussetzung, das an allen Schulen Internet-Möglichkeiten bestehen, Kompetenzen im Umgang damit auch Eingang in die Curricula finden. Warum und auf welcher Grundlage der Bund hierbei Mittel einsetzt, erscheint jedoch als fragwürdig, wenn man sich den rechtlichen Rahmen der Bundesrepublik vergegenwärtigt. Dieser Problematik ist der Bund sich offenbar schon bei der Gründung bewusst gewesen, denn die Satzung des Vereins benennt den Zweck des Vereins mit „Förderung von Wissenschaft, Forschung, Bildung und Erziehung“ (nach: http://www.schulen-ans-netz.de/san/satzung/index.php, 31.08.2006) – was man nicht ohne weiteres mit dem Namen „Schulen ans Netz“ verbunden hätte: vor allem geht es in Realität um die Förderung von Projekten im Zusammenhang mit dem Internet an allgemeinbildenden Schulen. In wie weit sich dieses Konzept auf andere Bereiche der Schulpolitik übertragen lässt, oder ob es sich um einen Einzelfall handelt, ist schwer abschließend zu beurteilen. Grundsätzlich wären jedoch vor allem im Bereich neuer Technologien, den Naturwissenschaften oder auch des Sportunterrichts weitere Projekte dieser Art denkbar. - 42 - Die Möglichkeiten des Bundes in der Schulpolitik: Einflussnahme in engem Rahmen 4.4 Überblick über die Möglichkeiten Zusammenfassend lassen sich die Möglichkeiten der Einflussnahme in folgender Weise bilanzieren: - Der rechtliche Rahmen schließt eine echte „Steuerung“ seitens des Bundes aus und erschwert in erster Linie die inhaltliche Einflussnahme: hier ist die Macht des Bundes besonders begrenzt. - Die mächtigsten Mittel der Einflussnahme des Bundes sind im Bereich der Investitionen und der Steuerung durch die goldenen Zügel zu finden. Gerade dadurch, dass der Bund sich nicht um die Folgen seiner Investitionen sorgen muss, ist er hier in einer günstigen Situation. Dennoch sind die Schranken, in denen er Mittel bereitstellen kann, eng. - Die Möglichkeiten der Programmsetzung auf inhaltlicher Ebene besitzt der Bund nur indirekt; dennoch kann er, insbesondere auch durch seine Vorteile in der bundesweiten Mediendarstellung Debatten prägen und strukturieren - Im Rahmen der weiteren Möglichkeiten der Einflussnahme, wie beispielsweise der Strukturierung, wird deutlich, wie schmal der Grad für die Bundesregierung ist. Es zeigt sich die große Schwierigkeit, politischen Einfluss auszuüben, ohne in Konflikt mit den Vorgaben der Verfassung zu geraten. Es wird also insgesamt ersichtlich, dass sich die Rolle des Bundes durch den schmalen rechtlichen Rahmen im Wesentlichen auf die Bundesregierung einengt. Diese Erkenntnis belegt auch theoretisch den bei der Beschreibung der Entwicklung des Politikfeldes als gering eingestuften Stellenwert der Legislativen in dieser Konstellation. Insbesondere die inhaltliche Ausgestaltung des Politikfeldes durch die Bundesregierung bedarf eines besonderen Maßes an Kreativität, falls Einflussnahmen beabsichtigt werden. Eine Analyse der Regierungstätigkeit basierend auf messbaren Konzepten, wie rechtlichen Vorgaben oder finanzieller Ausstattung, kann die Rolle des Bundes in diesem Falle nur eingeschränkt darstellen und erklären. Die Analyse der Einflussmöglichkeiten zeigt: die formalen Steuerungsmöglichkeiten des Bundes in dem Politikfeld sind als gering zu bewerten. - 43 - 5. Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Nachdem verschiedene Möglichkeiten der Einflussnahme erörtert wurden, stellt sich die Frage, wie die aufgezeigten Spielräume von den handelnden Personen ausgestaltet wurden und werden. Dabei lässt sich die Exekutive der Bundesrepublik differenzieren in die Ressortminister mit Bildungskompetenz auf der einen Seite, und den Bundeskanzler auf der anderen. Beide bilden gemeinsam gemäß dem Grundgesetz die Regierung (Art. 62). Das Konzept, den Stellenwert dieser policy zu ermitteln, begründet sich in folgender Weise: der Bund war trotz seiner geringen Kompetenz im Feld Schulpolitik, wie auch die Nachzeichnung der Geschichte zeigt, in vielfältiger Weise engagiert – teilweise sogar mehr, als es seine formalen Befugnisse vermuten lassen. Es resultiert, dass die Bundesregierung hier freiwillig tätig wird; falls sie hingegen die Entscheidung trifft, sich nicht einzumischen, fallen alle Aufgaben den Ländern und ihrem Koordinationsgremium zu. Im Gegenzug besitzt die Bundesebene jedoch jederzeit die Möglichkeit, in verschiedener Weise in das Politikfeld einzugreifen. Es deutet sich also an, dass die Rolle des Bundes nur schwer kalkulierbar ist. Offensichtlich jedoch ist, dass das Regierungshandeln in diesem Politikfeld in besonderer Weise auf die Interessen der beteiligten Personen zurückzuführen ist. Diese haben sich nämlich im Rahmen der verflochtenen Zuständigkeiten mit ihren Konzepten durchgesetzt. Selbstverständlich sind bei den Personen in Regierungsämtern stets die jeweiligen parteipolitischen Hintergründe sowie die ihrer Koalitionsregierungen zu beachten. Die Verwendung des Spielraums der Bundesregierung ist Gegenstand der Analyse, die über den Stellenwert des Politikfeldes in der Regierung argumentiert. Die Stellenwertsanalyse, wie sie hier betrieben wird, greift in diesem schwer zu operationalisierenden Rahmen ein, und führt die folgenden Aspekte zur Berücksichtigung an: o Wer hat das Ressort verwaltet? o Gibt die parteipolitische Zuordnung des Amts Aufschluss über den Stellenwert? o Gibt es Besonderheiten in der Kooperation mit den Ländern bei verschiedenen Bildungsministern? - 44 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive o Korrespondiert die Aktivität des Ministeriums mit den genannten Interessen der Bundesregierung? o Wie standen die Regierungschefs dem Bildungsföderalismus gegenüber, und wie war die gesamte Schwerpunktsetzung der Regierung? Daraus resultiert eine Einschätzung, wie groß der Stellenwert des Politikfeldes im Rahmen der Exekutive im Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik war – klar dabei ist, dass es Schwankungen gibt. Diese Form der Stellenwertanalyse ist ein notwendiger methodischer Neuansatz, da, wie sich zeigen lässt, die bisherigen Konzepte der Einflussnahme in diesem speziellen Zusammenhang nur geringe Erklärungskraft besitzen. Weiter verbreitet sind zur Messung des politischen Gewichts eines Politikfeldes die Entwicklung der Staatsausgaben in diesem Sektor sowie die Analyse der Koalitionsverträge. Der Ansatz über die Staatsausgaben wurde hier verworfen, da es im vorgegebenen Rahmen nicht möglich erscheint, die Mittel des Bundes in der Schulpolitik, die Ausgaben sowohl im Investitionsbereich als auch bei den Personalkosten (beispielsweise im Bundesministerium) sinnvoll auszuwerten. Dies liegt auch darin begründet, dass die Spielräume mit „goldenen Zügeln“ einzugreifen beschränkt sind, wie in Kapitel 4 gezeigt werden konnte. Eine direkte Zuordnung der Ausgaben ist also nur schwer möglich, und viele gewichtige Einflussnahmen sind gar ganz ohne finanziellen Niederschlag getätigt worden. Warum die Argumentation über die Stellung der Minister und die Analyse von Regierungserklärungen betrieben wird - an Stelle einer Auswertung der Koalitionsvereinbarungen - wird im Abschnitt 5.2.2 begründet. Letzten Endes sprechen die formalen Bedingungen dafür, dass eine Schwerpunktsetzung eher durch die Auswahl eines Ministers oder durch Betonung innerhalb einer mündlichen Erklärung stattfinden kann und deswegen diese Variablen zuverlässigere Auskunft über die praktische Relevanz geben. Die Auswahl, neben der Analyse des Bundesministeriums einen Schwerpunkt auf die Analyse der „Großen Regierungserklärungen“ zu legen, wird im Zusammenhang begründet werden. Die Rolle des Bundes in der Schulpolitik lässt sich danach charakterisieren und bewerten. - 45 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive 5.1 Das Bundesministerium und seine Möglichkeiten Die wesentlichen Kompetenzen des Bundesministeriums im Bereich der Schulpolitik, das wie bereits erwähnt in seiner heutigen Form seit 1969 besteht, wurden schon dargestellt. Insgesamt hat die Schulpolitik des Bundes recht unterschiedliche Aufgaben an das Ressort gestellt. Dabei unterliegt die Gliederung der Bundesregierung und die Kompetenzzuteilung selbstverständlich den Regelungen des Grundgesetzes. Eine Analyse der Rolle des heutigen Bundesministeriums für Bildung und Forschung macht vor dem Hintergrund Sinn, den Artikel 65 GG formuliert: „Innerhalb dieser Richtlinien[27] leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbstständig und unter eigener Verantwortung.“ Doch bevor auf die Ausgestaltung des Ministeriums, die parteipolitische Prägung und die einzelnen Minister eingegangen wird, werden zunächst bisher nur angedeutete Aspekte der Kompetenzverflechtung aufgegriffen. Das Ministerium nimmt wichtige Vermittlungs- und Kontrollfunktionen wahr, die in Zusammenhang mit der speziellen Verflechtungsstruktur des Politikfeldes stehen. Das Bundesministerium ist, auch von seiner Geschichte herrührend, gleichzeitig ein wichtiger Partner der Kultusministerkonferenz, zugleich aber auch ihr größter Konkurrent. Die Konkurrenzsituation ergibt sich dadurch, dass teilweise Probleme nicht durch die einzelnen Länder gelöst werden können – und es zwei Institutionen oberhalb der Länderebene gibt. Wie in weiteren Politikbereichen ist die Zusammenarbeit insbesondere für größere Projekte zwischen den Ebenen notwendig. Ein Beispiel hierfür ist die neue Bildungsberichterstattung, deren erster Bericht im Juni 2006 veröffentlicht wurde (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Auftraggeber für diese erste Analyse des Bildungssystems dieser Art waren Bund und Länder, jedoch nicht über die Zusammenarbeit in der BLK sondern getrennt: Vertreten durch die Kultusministerkonferenz und das Bundesministerium. Auch hier ist jedoch die Einschränkung zu machen, dass sich diese Zusammenarbeit nach dem Inkrafttreten der Föderalismusreform und der Neugestaltung der Bildungsplanung neu darstellen wird. 5.1.1 Das Ministerium: Ressortkompetenz der Minister Wie im bereits zitierten Art. 65 GG angegeben, zeichnet der jeweilige Minister verantwortlich für das von ihm verwaltete Ministerium; dem Kanzler oder anderen 27 gemeint sind die Richtlinien des Bundeskanzlers, die im ersten Satz des Artikels genannt werden. - 46 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Mitgliedern der Bundesregierung ist es nicht möglich, sich direkt in die Belange eines einzelnen Ministeriums einzumischen. Die Steuerung eines großen Mitarbeiterstabes - insgesamt verfügt das Bundesministerium in seinem derzeitigen Zuschnitt über mehr als 800 Mitarbeiter28 – hat natürlich auch eine gewisse Relevanz für die Politikergebnisse. Administrative Faktoren, wie beispielsweise Agenda-Setting durch die Bürokratie, Management der Entwicklungsrichtung, sowie personale Faktoren spielen bei detaillierter Betrachtung der Handlungen eines Ministeriums natürlich eine Rolle (Korte u.a. 2004: 204-209). Allerdings sind Faktoren dieser Art schwer messbar. Die meisten der Mitarbeiter sind Beamte des Bundes und bleiben auch nach Regierungswechseln Mitarbeiter des jeweiligen Ministeriums. Die Minister können jedoch die Aufgabenverteilung und die Gliederung ihres Ressorts nach eigenen Vorstellungen ausgestalten – sofern sie damit ihren Regierungsaufgaben nachkommen. Wie groß diese Unterschiede sein können, lässt sich am BMBF und dem Regierungswechsel 2005 zeigen. Zunächst zu den Kompetenzverteilungen im Ressort von Ministerin Bulmahn29: - Aus dem Leistungsbereich „Strategie“ des Ministeriums wird die Bund-Länder Kooperation gesteuert (LS 24), zudem gibt es eine hier angesiedelte Einheit „Regionale Innovationsstrategien; Neue Länder“ (LS 25). - Für die Schulpolitik ist die Abteilung 2: „Ausbildung; Bildungsreform“ verantwortlich, wobei die Bildungsreform-Abteilung (21) nochmals in sechs Aufgabenbereiche untergliedert ist. - Auffällig ist, dass es sogar Einheiten, die sich mit konkreten schulpolitischen Fragen (z.B. Standards, 212) beschäftigt haben. - Zudem ist bemerkenswert, dass alle mit der Schulpolitik verbundenen Organisationseinheiten dem Dienstsitz in Berlin, also Nahe der Bundesregierung zugeordnet sind; die meisten Organisationseinheiten des Ministeriums sind hingegen in Bonn angesiedelt. Der Regierungswechsel hat allerdings zu einer erheblichen Reorganisation und Neugliederung des Ministeriums geführt – jedoch bei gleich bleibendem Zuschnitt des Ministeriums. Das BMBF hat weiterhin acht Abteilungen; aber die Struktur und 28 Quelle: http://www.bmbf.de/de/5625.php (31.08.2006); bereits 1969, im ersten Jahr des Bestehens des Bundesministeriums, verfügte es über einen Mitarbeiterstab von 500 Bediensteten. 29 Die beiden Organisationspläne des Bundesministeriums, wie sie im Internet veröffentlicht waren, finden sich zum Vergleich im Anhang dieser Arbeit. - 47 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive inhaltliche Ausrichtung wurde umgewandelt. Die wesentlichen Veränderungen den Schulsektor betreffend sind: - Die Aufgabe „Bildungsreform“ ist völlig aus der Aufgabenaufteilung verschwunden. - Der Leistungsbereich „Strategie“ wurde zur neuen Organisationseinheit 1: „Strategien und Grundsatzfragen“, und beinhaltet die Zusammenarbeit Bund – Länder (123). - Die sechs Stellen des Bildungssektors wurden der Organisationseinheit 3 „Berufliche Bildung, Lebenslanges Lernen“ zugeteilt. - Folgende schulpolitische Einheiten sind noch im Ministerium: Bildungsforschung, Bildungsberichterstattung, Investitionen und Innovationen in der Bildung, kulturelle Bildung und „Neue Medien“. - Neben diesen Änderungen Gemeinschaftsaufgabe ist es zudem „Bildungsplanung“ bemerkenswert, im dass Organisationsplan die des Ministeriums nicht mehr vorkommt. Es gibt also eine sehr große Dynamik, die in manchen Fällen von Regierungswechseln ausgehend die Organisation eines einzelnen Ministeriums erfassen kann. Durch die Organisation wird deutlich, wie sich die Arbeitsschwerpunkte des Ministeriums verändert haben. Verbunden mit den organisatorischen Änderungen wurden auch die Mitarbeiter nach den Vorstellungen der Ministerin neu aufgeteilt. Durch die Vorgabe der Organisationsstruktur und die damit verbundene Programmsetzung des Ministers wird die Politik in erheblichem Maße vorgeprägt. Um diese These am angeführten Beispiel zu verdeutlichen: durch die Auflösung der Organisationseinheit „Bildungsreform“ sind durch das Bundesministerium keine neuen Impulse in diesem Bereich zu erwarten - unabhängig von den möglichen Strategien der Einflussnahme. 5.1.2 Das Bundesministerium und der Parteieneinfluss Der Stellenwert des Politikfeldes auf Bundesebene ist in der Relation zu den anderen Ministerien von Interesse. Dabei spielt die parteipolitische Zusammensetzung nahe liegender Weise eine wesentliche Rolle. Die zunächst in den Vordergrund rückende Frage ist: lässt sich anhand der parteipolitischen Zusammensetzung Bundesregierung eine gewisse Implikation für den Stellenwert feststellen? - 48 - der Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Um dies herauszufinden, bedarf es einer Analyse des Parteiinteresses der an dem Ressort, abhängig von den an der Regierung beteiligten Parteien. Dabei ist nur der Zeitraum seit der Institutionalisierung des Bundeseinflusses durch die Gründung des Bundesministeriums 1969 von Interesse. Zunächst werden die Bundesminister – einbezogen wurden die Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (1969-1994), Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (1994-1998) sowie für Bildung und Forschung (1998 – 2005) 30 - nach ihrer Parteizugehörigkeit dargestellt: Bundesminister für Bildung nach Parteizugehörigkeit (1969 - 2005) 23% 49% CDU / CSU 21% 7% 0% FPD GRÜNE Parteilos SPD Abbildung 4: Bundesminister für Bildung nach Parteizugehörigkeit (1969 - 2005), Quelle: Eigene Auswertung, Berechnung auf Tagesbasis Diese Grafik gibt an, dass seit Bestehen des nationalen Ministeriums es zur Hälfte der Zeit unter der Leitung von SPD Ministern war. Zu keinem Zeitpunkt oblag die Steuerung des Ministeriums den GRÜNEN, und es gab einen parteilosen Minister als Minister der sozialliberalen Koalition. Durch das Schaubild wird der Eindruck, dass das Bundesministerium während den 36 Jahren seines Bestandes unter starkem Einfluss der Sozialdemokratie stand, vermittelt. Daneben zeigt die Grafik, dass die CDU / CSU und die FDP fast zu gleichen Teilen an der Leitung des Ministeriums beteiligt waren. Wenn man dabei berücksichtigt, dass die Liberalen als kleinerer Partner einer Koalition stets nur eine geringe Anzahl an Ressorts zur Verfügung hatten, scheint es, als ob die Union bisher 30 Es wurde also nur der Zweig des Ministeriums einbezogen, der eine Relevanz für die Schulpolitik besitzt. Für die statistische Auswertung wurden die Regierungstage seit Gründung des Ministeriums bis zur Amtsübergabe 2005 berücksichtigt, die aktuelle, noch nicht abgeschlossene Periode aber nicht einbezogen. - 49 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive nur in eingeschränktem Maße an der Ausgestaltung des Politikfeldes durch das Ministerium beteiligt war. Diese Analyse wird bestätigt, wenn neben der Ressortzuteilung auch noch die Regierungszeit einer Partei hinzugenommen wird, wie es die folgende Tabelle bestätigt: Regierungszugehörigkeit der Parteien (1969-2005) Partei Regierungstage (in %) Ressortbesitz (in %) 5866 7281 10598 2549 44,6% 55,4% 80,6% 19,4% 3044 6404 2822 0 51,9% 88,0% 26,6% 0,0% CDU / CSU SPD FPD GRÜNE Tabelle 1: Regierungszugehörigkeit nach Parteien (1969-2005) Quelle: Eigene Auswertung Selbstverständlich lässt sich aus dieser geringen Datenbasis keine quantitative Analyse herleiten, jedoch bestätigen sich die bereits festgestellten Trends: Im Beobachtungszeitraum haben die CDU / CSU als große Koalitionspartner in gut der Hälfte ihrer Regierungszeit bei der überwiegenden Anzahl der Ministerien das Bildungsressort verwaltet. Im Gegensatz dazu war der Anteil der SPD mit 88%, wenn man die Phase des parteilosen Ministers unter ihrer Regierung hinzunimmt bei 100% - bis zum Regierungswechsel 2005. Für die kleineren Parteien ist die Aussage weniger eindeutig, da ihre Vergleichbarkeit auf Grund der sehr unterschiedlichen Länge ihrer Regierungsbeteiligung kaum gegeben ist. Für die Liberalen zeugt jedoch die Verwaltung des Ressorts, das die Schulpolitik beinhaltet, in einem Viertel ihrer Regierungszeit als kleiner Koalitionspartner doch von einem gewissen Stellenwert des Politikbereichs. In dieser qualitativen Analyse des Stellenwerts des Politikfeldes kann nicht unerwähnt bleiben, dass seit dem Regierungswechsel nach den Neuwahlen 2005 in der großen Koalition die Union das Ressort übernommen hat – es nun also bei einer sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung vom Koalitionspartner ausgeübt wird. Insofern ist der neuere Stellenwert des Politikbereichs für die Sozialdemokratie möglicherweise geringer. Wenn man dies jedoch in den Kontext der abgelaufenen Koalitionsverhandlungen setzt, und dabei insbesondere die Interessen der damaligen Spitzen der SPD im Vergleich zum Verhältnis Merkel / Schavan bedenkt, kommt diese Abkehr vom bisherigen Trend wenig überraschend. - 50 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Als Indizien für den Stellenwert der Schulpolitik, der sich aus der Darstellung der parteipolitischen Zusammensetzung entnehmen lässt, lassen sich die folgenden Aspekte bilanzieren: traditionell ist das Ministerium durch die SPD dominiert. Offenbar scheint die politische Wichtigkeit des Ressorts im Beobachtungszeitraum für die Sozialdemokratie größer zu sein, als für die Union und die Liberalen. Klare Aussagen über den Stellenwert der Ressortverwaltung bei den anderen Regierungsparteien sind kaum möglich. Der folgende Blick auf die Minister soll die Analyse dahingehend vertiefen. 5.1.3 Die Minister und ihr politischer Einfluss und Werdegang Aufwendiger, aber recht aufschlussreich ist es, den politischen Stellenwert des Politikfeldes zu ermitteln, in dem man in einem normativen Rahmen die Minister und ihren Werdegang näher betrachtet. Prominente Politiker haben einen größeren Einfluss sowohl auf die Öffentlichkeit als auch innerhalb des Kabinetts. Andererseits gibt es Ministerien, die sich in besonderer Weise zur Profilbildung eignen, also als Sprungbrett für die weitere Zukunft gedeutet werden können. Von Bedeutung ist auch, ob ein Politikfeld von Experten dieses Bereichs übernommen wird oder im Rahmen der Ämtervergabe Parteikarrieren zugeordnet wird – wobei sich diese beiden Kriterien nicht gegenseitig ausschließen müssen. Ein Blick auf die Personen soll nun Aufschluss über diese Zusammenhänge geben. - 51 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Tabelle 2: Bundesminister für Bildung, Amtsdauer und Parteizugehörigkeit Nr 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 Name (Lebensdaten) Amtsantritt Ende der Amtszeit Partei Amtsdauer (Tage) Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Prof. Dr. Hans Leussink 20. Oktober 15. März partei877 (*1912) 1969 1972 los Dr. Klaus von Dohnanyi 15. März 1972 16. Mai 1974 SPD 792 (*1928) 16. Februar Helmut Rohde (*1925) 16. Mai 1974 SPD 1372 1978 Dr. Jürgen Schmude 16. Februar 28. Januar SPD 1077 (*1936) 1978 1981 28. Januar 4. Oktober Björn Engholm (*1939) SPD 614 1981 1982 Dr. Dorothee Wilms 4. Oktober 18. Februar CDU 1598 (*1929) 1982 1987 Jürgen W. Möllemann 18. Februar 20. Dezember FDP 1401 (1945-2003) 1987 1990 Prof. Dr. Rainer Ortleb 20. Dezember 4. Oktober FDP 1384 (*1944) 1990 1994 Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans 4. Oktober 10. November FDP 37 Laermann (*1929) 1994 1994 Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 10. November 26. Oktober Dr. Jürgen Rüttgers (*1951) CDU 1446 1994 1998 Bundesminister für Bildung und Forschung 26. Oktober 18. Oktober Edelgard Bulmahn (*1951) SPD 2549 1998 2005 18. Oktober Annette Schavan (*1955) … CDU ---2005 Zunächst einmal bietet diese Auflistung Raum für statistische Bemerkungen: Bis zum Regierungswechsel 2005 war ein Bundesminister für Bildung durchschnittlich 3,6 Jahre in seinem Amt 31 ; die kürzeste Amtsdauer von unter zwei Jahren war Björn Engholm Bildungsminister, die längste Amtszeit hatte Edelgard Bulmahn mit fast sieben Jahren Regierungszeit. Der jüngste Bundesbildungsminister war ebenfalls Engholm (41), der Älteste Prof. Dr. Hans Leussink mit 57 Jahren, wenn jeweils der Beginn ihrer Ministerzeit zu Grunde gelegt wird. Das Eintrittsalter in das Ministerium liegt im Durchschnitt bei 46,86 Jahren32, und neben acht männlichen Ministern gibt es drei weiblichen Geschlechts. Die bisher abgeschlossenen Amtszeiten der beiden Frauen 31 Berechnung auf Tagesbasis; unberücksichtigt dabei die Amtstage von Prof. Learmann – die auch bei allen weiteren berechneten Werten nicht berücksichtigt wurden, da seine 37-tägige Amtszeit nur eine Übergangsfunktion hatte und inhaltlich kaum Relevanz entwickelt haben kann. 32 Eigene Berechnung auf Tagesbasis. - 52 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive im Amt waren auch gleichzeitig die beiden längsten Amtsinhaber. Auffällig ist zudem, dass alle Restrukturierungen des Ressorts in Form von Umbenennungen des Ministeriums in die jüngere Geschichte fallen: 1994 und 1998. Die Neuaufteilung 1994 stellt dabei in besonderer Weise einen Kompetenzgewinn im Rahmen der Bundesregierung dar. Wenn man die Karrieren der Minister im Detail verfolgt, stellt man eine Reihe von bemerkenswerten Details fest. Dabei ist zu beachten, dass nach derzeitigem Stand außer Jürgen W. Möllemann noch alle Bundesminister am Leben sind, d.h. die Einschätzung ihrer Karrieren notwendigerweise vorläufigen Charakter besitzen33. - Für Leussink, Rohde, Laermann sowie Bulmahn und Schavan stellt das Ministeramt den Höhepunkt ihrer politischen Laufbahn dar. Alle anderen hatten weitere Ministerämter oder wurden Ministerpräsidenten (Dohnanyi, Engholm, Rüttgers). Ortleb war der einzige deutsche Bildungsminister, der zuvor bereits ein anderes Ministerium geleitet hat. - Vier der Bundesminister waren zuvor bereits als Staatssekretäre im Einsatz, Dohnanyi und Engholm waren die einzigen beiden, die als parlamentarische Staatssekretäre im Bildungsbereich bereits aktiv waren. - Drei der Minister waren habilitiert, zwei haben eine abgeschlossene Lehramtsausbildung (Möllemann, Bulmahn) – und hatten somit einen besonderen Hintergrund im Bildungsbereich. - Bisher hat mit Engholm ein Bildungsminister den Bundesvorsitz seiner Partei übernommen. - Bemerkenswerterweise gab es trotz der starken Prägung des Politikfeldes durch die Länder erst eine Bundesministerin, die zuvor als Kultusministerin aktiv war, nämlich die amtierende Ministerin Schavan. Es lassen sich also die Befunde der Untersuchung des Einflusses der Bundesminister sowie ihres Werdegangs in der folgenden Weise charakterisieren: Offensichtlich ist das Bundesministerium eher als Einstiegsamt in die Regierungspolitik interpretiert worden; mit nur einer Ausnahme war noch nie ein Bundesbildungsminister zuvor in einem vergleichbar hochrangigen Amt. Die Amtsführung kann zu einem Sprungbrett für weitere Aufgaben dieses Niveaus dienen. Sich durch vorherige Aufgaben in diesem 33 Alle persönlichen Daten stammen aus dem „Munzinger Archiv“, teilweise ergänzt durch entsprechende Artikel von http://de.wikipedia.org - 53 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Bereich zu profilieren, spielte nur in zwei Fällen über das Amt des parlamentarischen Staatssekretärs eine Rolle, auffallend gering ist der Austausch zwischen Bundes- und Länderebene. Der Befund ist insgesamt eher als unauffällig zu beurteilen. Um den Stellenwert des Politikfeldes aus der Analyse der Minister zu bewerten, bleibt festzustellen, dass das Bundesministerium weder der Ort auffälliger Parteiprominenz ist, noch von besonders erfahrenen Politikern geleitet wurde. Damit kann die Wertschätzung des Amts in Konkurrenz zu den anderen Regierungsaufgaben als eher gering eingestuft werden. Zudem ist auch der „Stallgeruch“ im Ministerium nicht sehr ausgeprägt – weder, was die vorherige Beteiligung im Politikfeld in Ministerien betrifft, noch was die Bildungs- und Forschungspraxis angeht. 5.2 Einflussnahme des Bundeskanzlers I: Analyse der Regierungserklärungen von 1949-2005 „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“ (GG, Art. 65). Diese zentrale Steuerungsvorgabe des Grundgesetzes steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Neben dem Bundesministerium hat offensichtlich der Kanzler über seine Möglichkeiten, die politische Agenda zu bestimmen, Einfluss im Politikfeld. Dabei steht weiterhin die Frage des Stellenwerts des untersuchten Politikfeldes im Zentrum der Betrachtung. Im Vergleich zur Analyse des Bundesministeriums kann hier der Rahmen auch auf die Jahre vor der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben erweitert werden, also die gesamte Zeit seit Gründung der Bundesrepublik untersucht werden. In der neueren Forschung schenkt die Politikwissenschaft vermehrt der Analyse von „großen Regierungserklärungen“ Beachtung (s. insbes. Korte 2002, Stüwe 2003, Stüwe 2005). Diese Forschungstätigkeit wird hier aufgegriffen, die Regierungserklärungen des Bundeskanzlers sollen als maßgebliche Größen zur Einstufung des Stellenwerts der policy herangezogen werden. Zunächst wird erläutert, warum sich dieser Ansatz in besonderem Maße eignet, die Regierungsinteressen im untersuchten Politikfeld zu charakterisieren. In einem zweiten Schritt wird dann die inhaltliche Ebene der Reden hinsichtlich ihrer Relevanz für die Schulpolitik in der Bundesrepublik untersucht. - 54 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive 5.2.1 Grundlage der Analyse und Klassifikation der Erklärungen Die großen Regierungserklärungen wurden erstmals von Klaus von Beyme vergleichend kommentiert (Beyme 1979). Von ihm stammt auch die für die weitere Forschung prägende Einteilung in „große“ und damit implizierend auch „nicht-große“ Regierungserklärungen. Zunächst wird im Folgenden geklärt, wann und warum Regierungserklärungen abgegeben werden. Anschließend liefert eine Typologisierung die Eingrenzung auf einen speziellen Typ der Regierungserklärung, nämlich den der „großen“. Deren Möglichkeiten inhaltlicher Art werden dargestellt und begründet, warum sie ein geeignetes Mittel zur Feststellung des politischen Gewichts einer Thematik sind. Wann und wie Regierungserklärungen abzugeben sind, ist in der Verfassung der Bundesrepublik nicht explizit formuliert; der Begriff der Regierungserklärung ist im Text des Grundgesetzes nicht zu finden. Jedoch ermöglicht Artikel 43 (Abs. 2) den Regierenden jederzeit die Möglichkeit, eine Erklärung vor dem Bundestag abzugeben: Die Mitglieder […] der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten haben zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt. Sie müssen jederzeit gehört werden. Dieses Zutritts- und Rederecht bildet die Grundlage für Regierungserklärungen. Ein konkreter Zeitpunkt für eine solche Erklärung ist nicht festgeschrieben. Stüwe weist im internationalen Vergleich dabei auf eine deutsche Besonderheit hin: Art. 63 Abs. 1 gibt explizit vor, dass der Bundeskanzler ohne Aussprache gewählt wird, in diesem Zusammenhang also keine Regierungserklärung stattfinden kann (Stüwe 2002: 11). Grundsätzlich gibt das Grundgesetz vor, dass der Bundeskanzler gemeinsam mit den Ministern die Bundesregierung bildet (Art. 62). Somit müssen Erklärungen der Exekutiven von allen Beteiligten der Regierung zumindest gebilligt werden, um dem Kollegialprinzip zu genügen. Explizit sind Regierungserklärungen keine Erklärungen des Bundeskanzlers (Stüwe 2005: 41 – 44). Dessen juristische Sonderstellung gibt Regierungserklärungen, wie im Folgenden gezeigt wird, ein besonders großes Gewicht. Die Redeberechtigung der Regierungsmitglieder ist dabei nicht zeitlich begrenzt; somit ist Länge und Gegenstand von Regierungserklärungen nicht vorgeben und daher auch - 55 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive nicht begrenzt. Bisher haben große Regierungserklärungen zwischen einer (Kiesinger) und 2½ Stunden (Schmidt, Kohl) gedauert (Stüwe 2005: 117)34. Grundsätzlich lassen sich drei verschiedene Typen von Regierungserklärungen differenzieren: a) Große Regierungserklärungen sind nach Klaus von Beyme (1979) diejenigen, die vom Bundeskanzler bei Amtsantritt im Plenum des deutschen Bundestages gehalten werden. b) Daneben gibt es Regierungserklärungen des Bundeskanzlers zu beliebigen Zeitpunkten während einer Regierungsphase. c) Zudem gibt es Regierungserklärungen, die durch andere Mitglieder des Kabinetts im Bundestag eingebracht werden. Ehe auf die großen Regierungserklärungen detailliert eingegangen wird, werden zunächst diese drei Typen erläutert. Die Regierungserklärungen von Kabinettsmitgliedern unterscheiden sich dadurch von denen eines Regierungschefs, dass dem Kanzler durch die Richtlinienkompetenz ein rechtlicher Sonderstatus gewährt wurde. Grundsätzlich könnte die Regierung auch andere Personen beauftragen, Regierungserklärungen abzugeben. Dies wäre zwar juristisch denkbar (Stüwe 2005: 6062), erscheint jedoch schon dem Wort nach als wenig sinnvoll – und ist bisher in der Geschichte der Bundesrepublik auch noch nicht vorgekommen. Je nach dem Bedeutungsgrad einer Angelegenheit, kommt der Bundeskanzler nicht umhin, die Regierungserklärung persönlich abzugeben. Bei spezielleren, die Fachgebiete betreffenden Angelegenheiten, lässt der Kanzler jedoch in der Regel dem zuständigen Minister den Vortritt. Die Regierungserklärungen des Bundeskanzlers können zu verschiedenen Zeitpunkten seiner Amtsführung verschiedene Schwerpunkte haben und müssen nicht immer einen vollständigen Überblick geben. Durch seine besondere Befugnis der Richtlinienkompetenz – und eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers kann als Richtlinie gewertet werden – ist ein Widerspruch einzelner Minister nicht von Bedeutung. Offensichtlich konkurrieren in diesem Fall Kanzler- und Kollegialprinzip. 34 Es muss angemerkt werden, dass die statistischen Daten von Stüwe 2005 die Regierungserklärung von Merkel 2005 nicht berücksichtigen. Detailliert hat Stüwe ermittelt, dass durchschnittlich eine Antrittsrede 547 Sätze lang ist, im Schnitt wurden 9573 Wörter in einer solchen Regierungserklärung verwendet (Stüwe 2005: 118-123). - 56 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Die Bezeichnung „große Regierungserklärungen“ definiert von Beyme nicht explizit, die Begründung für die Auswahl seiner Sammlung der „großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt“ führt er folgendermaßen ein: Vorliegende Sammlung beschränkt sich auf die Erklärungen, die bei Amtsantritt der Bundesregierungen abgegeben wurden, da diese am stärksten weite Perspektive für die gesamte Tätigkeit der Regierung in einer Legislaturperiode eröffneten und damit als Dokumente für die geistige Entwicklung des politischen Klimas und der großen Kontroversen am repräsentativsten sind. (Beyme 1979: 8). Aus diesem Zusammenhang wird die Bezeichnung ersichtlich. Amtsantritte fallen nicht unbedingt mit Wahlperioden zusammen; im politischen System der Bundesrepublik gehen die Regierungschefs jedoch davon aus, das Programm für eine gesamte Legislaturperiode zu benennen. Insgesamt gab es in der Bundesrepublik bis zu Beginn der 15. Legislaturperiode bisher 20 solcher als „groß“ zu klassifizierenden Regierungserklärungen. 5.2.2 Inhalt und Funktion der Regierungserklärungen Um die Regierungserklärungen für die Untersuchung des Stellenwerts nutzbar zu machen, muss zunächst noch auf ihre Funktionen eingegangen werden. Mit den Funktionen korrespondieren entsprechende Redeinhalte; es zeigt sich aber auch, wie viel Gestaltungspotential die Regierung, vertreten durch den Bundeskanzler, in diesem Rahmen besitzt. Bei der Analyse der Funktionen wird jedoch nicht der Rahmen des deutschen Parlamentarismus gewählt, wie dies von Beyme darstellt (Beyme 1979: 34 44), sondern die Funktionen der Rede an sich werden untersucht. Zur Beschreibung der Funktionen teilt der neueste und wohl bisher umfassendste Ansatz, eingeführt von Klaus Stüwe, die Funktionen in sechs Kategorien (Stüwe 2005: 155f.): - Informieren - Appellieren - Danken - Solidarisieren und Integrieren - Demonstration für das Ausland - Selbstdarstellung und Imagepflege - 57 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Zweifelsfrei ist das größte politische Gewicht der Regierungserklärungen im Bereich des Informierens zu finden, die anderen Redefunktionen sind im Rahmen dieser Analyse nur von untergeordneter Bedeutung. Zu jeder der genannten Funktionen gehören entsprechende Inhalte, die sich mehr oder weniger direkt ergeben, wenn man die Funktion der Selbstdarstellung und Imagepflege einmal unberücksichtigt lässt. Zum Informieren gehört im Allgemeinen eine Art der Zustandsbeschreibung, die die Grundlage für die inhaltlichen Aussagen vorgibt. Aus dieser Darstellung entwickelt der Bundeskanzler dann, und dies ist die wichtigste Funktion der Regierungserklärung, seine konzeptionellen und programmatischen Aussagen (ebd.: 164f.). Als konzeptionelle Aussagen wird die Basis der Grundüberzeugungen verstanden. Dem gegenüber bilden die programmatischen Aussagen den Schwerpunkt der Reden, und betreiben damit maßgebliche Programmsetzungen für die kommende Periode: „Deutsche Bundeskanzler informieren vorwiegend darüber, welche Probleme sie als vordringlich erachten und welche Lösungsstrategien sie dafür entwickelt haben“ (ebd.: 165). In diesem Bereich liegt die wesentliche Begründung, große Regierungserklärungen als maßgebliche Messgröße für den Stellenwert eines Politikbereichs einzuführen. Wenn man nun die bereits beschriebene rechtliche Situation mit diesen Funktionen in Verbindung setzt, verdeutlicht sich das außerordentliche Potential der großen Regierungserklärungen. Wenn davon ausgegangen wird, dass die Rede stets die Richtlinienkompetenz beinhaltet, prägt eine solche Erklärung die Regierungstätigkeit. Im politischen System der Bundesrepublik, in dem es seit der Gründung fast ausschließlich Koalitionsregierungen gab, muss der Kanzler natürlich neben den programmatischen Interessen seiner eigenen Partei auch die des Koalitionspartners berücksichtigen. Dennoch kann er durch diese Reden in vielen Teilen faktisch eine Programmsetzung betreiben, die seinen Interessen genügt. Zwar wird der Kanzler den Partner in dieser Rede nicht bloßstellen wollen, sich aber auch nicht mit einer schlichten Darbietung der Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen begnügen. Da die Koalitionsverträge in der Regel durch alle beteiligten Parteien gebilligt werden müssen, existiert hier ein größerer Druck, Formalitäten zu genügen. In der Regel ist die Möglichkeit des Kanzlers, nach eigenen Vorstellungen Redezeit für bestimmte issues einzuplanen, den Möglichkeiten durch Koalitionsverträge Gewichtungen von Themenkomplexen vorzunehmen, weit überlegen. Gerade wenn die Parteien, die - 58 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive gemeinsam regieren, ihr eigenes Profil wahren wollen, beispielsweise im Bereich Umweltschutz- oder Wirtschaftspolitik, ist eine formale zustimmungspflichtige Formulierung einer Reihenfolge in einem Koalitionsvertrag äußerst unwahrscheinlich. Dass der Bundeskanzler jedoch die Wichtigkeit einzelner Politikbereiche in Regierungserklärungen zu Amtsantritt in den Vordergrund rückt, ist politische Normalität. Die Möglichkeiten, durch die Regierungserklärung zu Beginn der Amtszeit die Regierungstätigkeit zu prägen und in der Regel nach einem Wahlkampf zur Arbeitsroutine zurückzufinden, macht die Aufgabe zudem sehr komplex. Denn neben der Wirkung nach außen, besitzt die Regierungserklärung auch eine beträchtliche Wirkung nach innen, in die Bundesregierung: nämlich „regierungs-, fraktions-, koalitions- und administrationsinterne Festlegungen auf gesamtpolitische Richtlinien […] und Perspektivsetzungen“ (Korte u.a. 2004: 289). Die Erwartungen an die Rede sind in der Öffentlichkeit ebenfalls sehr hoch. Korte bezeichnet sie daher nicht zu Unrecht als „Visitenkarte und (…) Führungsinstrument“ (ebd.: 288) des Kanzlers – dessen „persönliche Handschrift“ (Berg/Vagt in Korte 2002: 80) insbesondere bei den ersten großen Regierungserklärungen mit Spannung erwartet wird. 5.2.3 Regierungserklärungen und Schulpolitik Die inhaltliche Zusammensetzung der Themengebiete hat im Verlauf der Geschichte variiert. Dennoch zeigt ein Blick auf die Themenverteilung einer fiktiven, durchschnittlichen Regierungserklärung (Abbildung 5), dass auf verschiedene Themen vertieft eingegangen wurde, also durchaus unterschiedliche Schwerpunkte abzulesen sind. Dabei ist es zunächst schwierig, das gesprochene Wort in entsprechende Kategorien aufzuteilen (Berg/Vagt in Korte (Hg.) 2002: 72f.). Es stellt sich nun die Frage, in wie weit die Bundeskanzler ihre Regierungserklärungen genutzt haben, schulpolitische Fragestellungen zu berücksichtigen. Dazu dient als eine erste Kennziffer der durchschnittliche Prozentsatz, den die Erklärung dem Bereich „Ausbildung, Bildung und Forschung“ gewidmet hat. - 59 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Abbildung 5: Themengebiete in der Durchschnitts-Regierungserklärung, (Quelle: Berg / Vagt in Korte 2002: 74) Wenn man diese Grafik betrachtet35, fällt auf, dass verschiedene Themengebiete nur im historischen Kontext wohl behandelt wurden, andere wiederum noch relevant geblieben sind. Dabei ist eine solche Operationalisierung mit verschiedenen methodischen Schwierigkeiten belastet; sie soll hier nur als Trend dienen. Bemerkenswert und gleichermaßen überraschend ist, dass das formal so schwache Themengebiet der „Ausbildung, Bildung und Forschung“ den sechsten Platz von 19 gelisteten Themengebieten erreicht hat - das Themengebiet „Sonstiges“ als Summation aller Themengebiete mit unter 2% Redeanteil muss hierbei unbeachtet bleiben. Bildungspolitische Fragestellungen liegen also im ersten Drittel der behandelten Themengebiete. Dieses Ergebnis gewinnt zusätzlich an Bedeutung, wenn man beachtet, dass nicht in jeder Rede bildungs- und schulpolitische Fragen berücksichtigt wurden. Daraus resultiert, dass das Politikfeld in verschiedenen Regierungserklärungen einen besonderen Stellenwert genossen hat. Hieraus lässt sich daher ablesen, dass in Regierungserklärungen von der Möglichkeit gebrauch gemacht wurde, Aussagen über Politikbereiche zu tätigen, die nicht in dieser Form zu den Aufgaben einer Bundesregierung zählen. 35 Die Daten beziehen sich auf die großen Regierungserklärungen von Adenauer, 1949 bis einschließlich Schröder, 1998. - 60 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Um diesen Befund zu überprüfen, bedarf es einer Durchsicht der Regierungserklärungen36, wie es durch die folgende Tabelle dokumentiert wird. Tabelle 3: Schulpolitik in Regierungserklärungen Bundeskanzler Adenauer Erhard Kiesinger Brandt Schmidt Kohl Schröder Merkel Datum der Rede 20.09.1949 20.10.1953 29.10.1957 29.11.1961* 18.10.1963 10.11.1965 13.12.1966 28.10.1969 18.01.1973 17.05.1974 16.12.1976 24.11.1980 13.10.1982 04.05.1983 18.03.1987 30.01.1991 23.11.1994 10.11.1998 29.10.2002 30.11.2005 Anteil Bildungspolitik 26/314 in % 8,28 38/847 4,49 3/752 143/898 0,40 15,92 27/834 3,24 18/858 2,10 128/1126 11,37 Schulpolitik Thema: ja/nein nein nein nein nein ja ja nein ja ja ja ja ja nein ja ja ja nein ja ja ja Bedeutung des Themas 0 0 0 0 2 1 0 3 3 1 2 2 0 1 1 1 0 1 3 1 Anmerkungen: Spalte 2: nach Berg/Vagt in Korte (Hg.) 2002: 61, Eigene Ergänzung Spalte 3: nach Stüwe 2005: 379-386, Zeilen zum Thema „Ausbildung, Qualifizierung, Wissenschaft“ / Gesamtzeilenanzahl der Regierungserklärung; Daten nur für „erste“ große Regierungserklärungen verfügbar. Spalte 4,5,6: Eigene Erhebung; Bewertungsschlüssel zu Spalte 6: 0 = nicht vorhanden, 1 = gering, 2 = mittel, 3 = groß * Die Regierungserklärung 1961 hat Vizekanzler Ludwig Erhard in Vertretung von Konrad Adenauer gehalten Diese Tabelle gibt einen Schlüssel zur Analyse der Schulpolitik über die Regierungserklärungen. Die bisherigen Auswertungen haben nicht zwischen allgemeinen, bildungspolitischen Bezügen und Schulpolitik unterschieden. Dies wird hier erstmals getrennt untersucht: Dabei unterliegt die Bewertung in der sechsten Spalte der Einschätzung, mit welchem Nachdruck der Themenkomplex behandelt wurde, wie groß die Relevanz der angesprochenen Themen einzuschätzen ist und wie dies im Rahmen 36 Die Regierungserklärungen liegen wie alle Parlamentsakten ab der 8. Legislaturperiode gemäß den Nummern der Plenarprotokolle auch im Internet unter http://dip.bundestag.de/parfors/parfors.htm (31.08.2006), betrieben vom Deutschen Bundestag, vor; die ältere Regierungserklärungen werden nach Beyme 1979 zitiert bzw. ausgewertet. - 61 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive der gesamten Rede zu bewerten ist. Es handelt sich dabei bewusst um die Verwendung eines normativen Konzeptes; eine umfassendere Operationalisierung hätte den Rahmen dieser Arbeit überschritten. Offensichtlich ist die Unterscheidung zwischen allgemeinen bildungspolitischen Inhalten, die zum Kompetenzbereich des Bundes gehören, und schulpolitischen Fragestellungen hier aufschlussreich. Fragen aus den Bereichen wie der Ausbildungsförderung oder dem Hochschulsektor verzerren den Blick auf die Regierungserklärung aus der hier gewählten Perspektive. Ein großer Anteil an Redeanteil zur Bildungspolitik, ohne große Bedeutung im Rahmen der Schulpolitik zu besitzen, zeugt jedoch ebenso von einer spezifischen Schwerpunktsetzung, wie eine geringe Beachtung des Themenkomplexes an sich. Bei der Analyse unter dem Aspekt der Schulpolitik (Spalten 5,6) fällt auf, dass alle Regierungserklärungen von sozialdemokratischen Kanzlern schulpolitische Fragestellungen behandelten. Bei Kanzlern aus den Unionsparteien ist dies nur bei weniger als der Hälfte der Fälle vorgekommen. Die jeweilige Bedeutung erschließt sich zum Teil aus dem jeweiligen Zeitkontext, die parteipolitische Zugehörigkeit scheint ebenfalls eine Rolle zu spielen. Diese These erhärtet sich, wenn man die Bewertungsskala hinzunimmt. Die Bedeutung des Themas wird insgesamt auf der Skala von 0 bis drei bei SPD-Kanzlern mit 2,29 eingestuft, bei Kanzlern aus der CDU/CSU erreicht das Mittel nur 0,54; der Gesamtdurchschnitt liegt bei 1,15. Adenauer und Kiesinger waren die einzigen beiden Bundeskanzler, bei denen Schulpolitik nie im Redebeitrag vorhanden war, die größte Bedeutung hatte der Themenkomplex für Brandt und die zweite Amtsperiode Schröder. 5.3 Einflussnahme des Bundeskanzlers II: vertiefende Analyse Um den Stellenwert in der Exekutive zu analysieren, soll nun in einem letzten Schritt die Rolle des Beitrages in der Regierungserklärung in den Einzelfällen untersucht werden. Dabei werden die Beiträge in drei Gruppen unterteilt: Zunächst die Regierungserklärungen, die zwischen 1949 und 1969 gehalten wurden. In der Folge sind zwei Phasen der besonderen Relevanz festzustellen, die in einem Vergleich der Beiträge von Schröder und Brandt aufgeschlüsselt - 62 - werden. Die weiteren Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Regierungserklärungen sind weniger eindeutig klassifizierbar und bilden den Abschluss dieses Kapitels. 5.3.1 Regierungserklärungen vor 1969 Die Regierungserklärungen von Konrad Adenauer sind natürlich in besonderem Maße zeithistorisch geprägt. Die neu gegründete Bundesrepublik war in ihren Institutionen noch in der Konsolidierung. Adenauers Regierungserklärung war entsprechend auch eher eine „nüchterne Aufzählung der drängendsten Probleme des neuen Staates“ (Stüwe 2005: 260), die bildungspolitischen Feststellungen der ersten Rede waren nur auf Ausbildungswesen und Forschungspolitik aus der Sichtweise der ökonomischen Erfordernisse bezogen (Beyme 1979: 59). Der Mangel an Fachkräften ist auch in der zweiten Regierungserklärung das Argument für eine Verstärkung der Bemühungen (ebd.: 86), in der dritten Regierungserklärung 1957 kommen bildungspolitische Bemerkungen gar nicht vor. Die Rede von 1961 behandelt forschungspolitische Fragen, im speziellen zur Kernenergie. Daneben wird eine spezielle Ausbildungsförderung geplant, geschuldet der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung. Schulpolitik spielt also in keiner der Reden eine Rolle. Mit dem Regierungswechsel 1963 änderte sich auch der Charakter der Reden. Erhard geht bereits in seiner ersten Rede direkt auf die Schulpolitik ein, mit dem Ziel, „unsere Zukunft gesichert zu wissen“ (ebd.: 173). Dabei bezieht er bemerkenswerter Weise alle Bildungsstufen mit ein. Wie das folgende Zitat belegt, zielt er direkt auf eine Neuordnung der Machtverhältnisse in diesem Politikfeld: Das Bund-Länder-Verhältnis wird zu einer Lebensfrage, wenn es sich um Zuständigkeiten und Verantwortung für das Schul- und Bildungswesen (…) handelt. So gewiß die Bundesregierung bereit ist, die Zuständigkeiten der Länder in der Kulturpolitik zu respektieren, so gewiß hat doch die Bundesregierung die Pflicht, vorausblickend die Lebensbedingungen eines modernen Staates zu garantieren. (ebd.: 173) Erhards erste Rede macht also bereits einen großen Unterschied zur bisherigen Rolle des Politikfeldes. In seiner zweiten großen Regierungserklärung 1965geht er einerseits aus ökonomischer Perspektive auf Ausbildungsfragen ein, spricht jedoch auch den neu geschaffenen Bildungsrat aus Sicht der Jugend- und Familienpolitik an (ebd.: 210), was eine neue Konnotation darstellt. - 63 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Bei der Regierungserklärung Kiesingers 1966 beziehen sich die innenpolitischen Kommentare nahezu ausschließlich auf wirtschafts- und konjunkturpolitische Fragestellungen. Er greift nicht die Tradition einer umfassenden Rede auf, und behandelt nicht die gesamte Palette der Themen. Bildungs- und Schulpolitik kommen in seinen Ausführungen gar nicht vor. 5.3.2 Zwei Hochkonjunkturen im Vergleich: Brandt und Schröder Nach dem Regierungswechsel 1969 hatte der Bundeskanzler erstmals die Möglichkeit, durch die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben im Rahmen eigener Kompetenzen über das Politikfeld Schulpolitik zu sprechen. Brandt machte, um dies vorweg zu nehmen, davon wie kein anderer Gebrauch. Seinen Regierungserklärungen soll hier ein besonderer Platz geboten werden, da sie zeigen, wie weitreichend die Möglichkeiten des Kanzlers sind. Um die Rede des Kanzlers in der zweiten Phase der Hochkonjunktur, Schröders Antrittsrede 2002, besser einordnen zu können, wird hier mit der Chronologie gebrochen und diese direkt im Anschluss dargestellt. Beide Phasen werden auf dieser Ebene verglichen. Die Regierungserklärungen von Bundeskanzler Schmidt, als dem dritten sozialdemokratischen Bundeskanzler, gehen überwiegend in der Fortführung begonnener Projekte auf das Politikfeld ein und werden daher erst im folgenden Abschnitt berücksichtigt. Brandts Antrittsrede 1969 wurde „zu einem Fanal einer neuen Zeit stilisiert“ (Stüwe 2005: 283). Seine besonderen rhetorischen Fähigkeiten kreisten dabei um die Begriffe Reform, Demokratie und Planung. Innerhalb dieses Gerüsts wurde auch die Bildungspolitik dargeboten, wörtlich sagt er: „Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt“ (Beyme 1979: 265). Dabei kündigt er an, dass die Bundesregierung die neu geschaffenen Möglichkeiten „voll ausschöpfen wird; sie will den Ländern – ohne ihre Zuständigkeiten anzutasten – helfen“ (ebd.). Kern seines schulpolitischen Konzeptes ist es, als Bundesregierung in die Bildungsplanung einzusteigen. Zudem kündigt er Ausgabensteigerungen an. Das Ziel der Bemühungen ist nicht ökonomisch motiviert, sondern wird eigenständig definiert: es geht um den kritischen, urteilsfähigen Bürger, sowie die Durchsetzung des Verfassungsziels „allen Bürgern gleiche Chancen zu geben“ (ebd.: 266). Man erkennt hier im Vergleich zum Beitrag Erhards eine ähnliche - 64 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Formulierung den Föderalismus betreffend. Die Aufwertung des Politikfeldes, es in das Zentrum der Bundespolitik zu stellen, ist jedoch zweifelsfrei eine neue Qualität. Ebenso verhält es sich bei der Motivation: wurde sonst die Schulpolitik aus wirtschaftlichen Erfordernissen heraus dargestellt, setzt Brandt erstmals Bildungsinhalte, den mündigen Bürger, als Begründung für die Bedeutung des Eingreifens der Bundesregierung. Brandts zweite große Regierungserklärung steht nach eigener Darstellung in der Kontinuität der ersten Rede (ebd.: 283). Jedoch ändert sich die Schwerpunktsetzung: Brandts Rede wird außen- und deutschlandpolitisch dominiert, innenpolitische Fragestellungen werden nun untergeordnet. Formal bezeichnet er jedoch weiterhin die Arbeit im Bereich Bildung als die Spitze der Reformvorhaben. Explizit geht er auf das Verhältnis und die Rolle der Länder ein: Es war allerdings schwierig, zwischen Ländern und Bund eine gemeinsame Grundlage zu finden. Wir müssen nun einen neuen Anlauf unternehmen. Dazu ist eine größere Kooperation aller Länder erforderlich. Die Bundesregierung wird ihre Kompetenz ganz nutzen, um die gesamtstaatliche Bildungsplanung mitzugestalten (ebd.: 300). Diese Kritik an der Bereitschaft der Länder stellt einen besonderen Beitrag seiner Rede dar. Umgesetzt werden soll die Detailplanung durch einen Gesamtplan, der angekündigt wird. Daneben führt Brandt auch aus, was er inhaltlich unter Bildungsreform versteht. Ziel der Maßnahme ist weiterhin die Chancengleichheit. Im Schlusswort appelliert Brandt noch an die Oppositionsparteien zur Zusammenarbeit insbesondere im Bundesrat, jenseits parteipolitischer Grenzen. Vielmehr weist er auf die „gemeinsame Verantwortung“ (ebd.: 312) hin, derer er gerecht werden möchte. Insofern bestärkt er nochmals die bereits zitierte Anforderung einer größeren Kooperation, die dieses Politikfeld in besonderer Weise betrifft. Gerhard Schröders Reden unterscheiden sich wesentlich von denen Brandts. Seine erste Rede 1998 steht stark unter dem übergeordneten Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Bildungspolitik kommt im Rahmen der Hochschulpolitik Bedeutung zu, ebenso wie zur Qualifizierung der Arbeitskräfte; Schulen bilden nur die Grundlage für weiterführende, berufsorientierte Bildung. Zwar sagt Schröder explizit: „Wir brauchen eine bessere Bildungsplanung, und wir werden sie machen.“ (Sten. Ber. 14/3: 55C), meint jedoch damit nur die Anpassung der Universitätsbildung an die Erfordernisse des Arbeitsmarktes. - 65 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Anders stellt er den Zusammenhang bei seinem Regierungsantritt 2002, also noch in zeitlicher Nähe mit den PISA-Veröffentlichungen, dar. Seine starken Forderungen nach mehr Bundeseinfluss, wie er sie in der Zeitung „Die Zeit“ (Schröder 2002), aber auch im Bundestag37 gefordert hatte, tauchen auch in dieser Rede nicht wieder auf. Zunächst erklärt er eine neue Bedeutung des Politikfeldes: „Obenan stehen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen“ (Sten. Ber. 15/4: 52B). Damit stellt er beide Themengebiete auf die gleiche Ebene. Zudem stellt Schröder das Ganztagsschulprogramm vor, im Besonderen im Hinblick auf den internationalen Vergleich von „führenden Bildungsnationen“ (ebd.: 54D). Außerdem gibt Schröder auch konkrete Vorhaben der Schulpolitik preis: mit dem Argument, Bildungschancen dürften nicht vom Wohnort bestimmt sein, kündigt er gemeinsam mit den Ländern entwickelte Bildungsstandards an. Daneben fordert er mehr Autonomie für die Schulen. Diese Rede Schröders bleibt wesentlich hinter seinen Forderungen vor der Wahl zurück. Schröder gibt eine hohe Relevanz des Themengebiets mehrfach in der Rede, in der Einleitung wie dem Schluss, an, jedoch scheint es nun so, als ob man dieser Relevanz im bestehenden System nachkommen könnte. Wie er letztlich die Länder dazu bringen möchte, sein Vorhaben nationaler Bildungsstandards unter Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und nicht mittels der KMK zu etablieren, konnte er weder erklären noch später durchsetzen. Die Forderung nach mehr Autonomie für die Schulen bleibt ebenfalls vage: Schröder erklärt weder die Umsetzung noch den Sinn dieser Forderung in seiner Rede. Wenn man nun beide Hochkonjunkturen im Vergleich betrachtet, werden große Differenzen deutlich. Brandts Reden sind davon geprägt, aus Gerechtigkeitsmotiven heraus echte Reformen auch in der Struktur des Bildungssystems anzugehen. Bei Gerhard Schröder sieht die Lage hingegen wesentlich nüchterner aus: Zwar kündigte Schröder vor der Wahl eine neue Relevanz des Themengebiets an, strebt aber keinerlei Einflussnahme jenseits der „goldenen Zügel“ des Ganztagsschulprogramms an. Zwar ist ein solches Programm in der Geschichte des Bildungswesens einmalig, dennoch bleibt damit die Rolle und der Einfluss des Bundes genauso gering wie bisher. Wenn man berücksichtigt, dass die großen Regierungserklärungen immer sowohl Aktion als auch Reaktion auf die bestehenden Erwartungen an eine solche Rede sind, 37 In einer stark auf die sozialen Aspekte der Schulpolitik eingehenden Regierungserklärung hat Schröder im Juni 2002 auch im Parlament weitreichende inhaltliche Forderungen – ohne die spitzen Formulierungen des Zeitungsartikels – vorgetragen. (s. Sten. Ber. 14/242: 24181Aff.) - 66 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive drängt sich der folgende Verdacht auf: Während Brandt versucht hat, das Themengebiet Schulpolitik mit einem neuen Stellenwert aktiv zu gestalten, hat Gerhard Schröder eher auf der Welle der PISA-Diskussion reagiert, und versucht, im Wahlkampf geweckten Erwartungen zu genügen. Diesen Verdacht, dass der Versuch der Kompetenzausweitung unter „elektoralen Gesichtspunkten“ gestartet wurde, hegen auch Henkes und Kneip (In: Egle u.a. 2003: 301). Anders formuliert: während Brandt an der Entwicklung einer Hochkonjunktur beteiligt war, versuchte Schröder die ohne sein Zutun entstandene Aufmerksamkeit zur Umsetzung eines bestimmten Ziels, der Ganztagsbetreuung, zu nutzen. 5.3.3 Uneindeutige Trends: Schmidt, Kohl, Merkel Die Regierungserklärungen von Schmidt, Kohl und Merkel haben gemäß der Phaseneinteilung in ruhigeren schulpolitischen Zeiten stattgefunden. Daher lassen sich aus ihren Erklärungen nur wenige eindeutige Trends erkennen. Letztendlich zeigt sich hier jedoch auch, dass die persönlichen Handschriften in den Regierungserklärungen durchaus stichhaltige Indizien für den Stellenwert der policy auf Bundesebene geben. Die Antrittsreden Schmidts sind, anders als bei seinem Vorgänger Brandt, von größerer Nüchternheit und einer wirtschafts- und finanzpolitischen Perspektive geprägt. In seiner ersten Erklärung 1974 nimmt aus bildungspolitischer Sicht die berufliche Bildung und Ausbildungspolitik einen Aufschwung, die von Brandt dargestellte schulpolitischen Konzepte werden nur mit dem Verweis auf den Bildungsgesamtplan gestreift. Insgesamt setzt Schmidt also einen eigenen Schwerpunkt, der im Rahmen des bestehenden Kompetenzgeflechts auch in die eindeutige Zuständigkeit des Bundes fällt. Ganz anders hingegen ist die Schwerpunktsetzung in seiner zweiten Regierungserklärung 1976. Umfassend stellt Schmidt dort Fragen zur Forschungspolitik, Ausbildungspolitik in Zeiten demographischen Wandels und der steigenden Qualifikationsansprüche im Berufsleben. Jedoch greift er auch schulpolitische Fragestellungen auf. Dabei zielt er direkt auf einen größeren Einfluss des Bundes: … es gibt vielfältig auch Mangel inhaltlicher Reformen auf allen Stufen des Bildungswesens. Diese kritischen Fragen können hier im Bundestag nicht ausgeklammert werden, auch wenn der Bundestag und wenn die Bundesregierung hier im Vergleich zu den Ländern auf all diesen Feldern nur ganz geringe Kompetenzen besitzt. Sie können deshalb nicht ausgeklammert werden, weil es sich hier um gesamtstaatliche Verantwortung handelt, von der wir zu reden haben. (…) - 67 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Viele Menschen verstehen nicht, dass ihre Kinder schulisch und beruflich benachteiligt werden, weil es keine gesamtstaatlich gleichen Bedingungen in unserem Lande gibt (…). Angesichts der tatsächlichen Erfahrungen der Eltern und der jungen Menschen ist ernsthaft zu prüfen, ob und wie die Notwendigkeit einheitlicher Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet einheitliche Regelungen sinnvoll erscheinen lässt. Die Bundesregierung tritt jedenfalls nachdrücklich für eine Stärkung der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Strukturen des Bildungswesens ein (Sten. Ber. 08/05: 39Bf.) Neben dieser fundamentalen Kritik führt Schmidt fünf konkrete Probleme des Bildungswesens an, darunter das ihn viel beschäftigende Problem der wechselseitigen Anerkennung von Abschlüssen, die Dauer der Schulpflicht sowie die Lehrerausbildung. Er kündigt einen Bericht über die strukturellen Mängel des Bildungssystems an, um den Bedarf für eine Änderung der Zuständigkeiten zu verdeutlichen. Daneben setzt er auch Akzente im Bereich der beruflichen Bildungspolitik. Insgesamt klassifiziert Schmidt die Bildungspolitik als einen seiner sieben Handlungsschwerpunkte (ebd.: 52B). Die dritte Regierungserklärung Schmidts geht weniger ausdrücklich auf die Problematik ein, spricht sie jedoch in aller Deutlichkeit an. Die genannten Ziele werden wieder aufgegriffen, konkret wird auch die Befürwortung der Gesamtschulen angesprochen. Die wechselseitige Anerkennung von Abschlusszeugnissen führt zum Disput, und Helmut Kohls Reaktion auf diese Forderung durch einen Zwischenruf, dass es sich dabei um die „dümmste Form der Volksverhetzung“ handele, ist bemerkenswert im Rahmen einer Regierungserklärung. Schmidt jedoch beschwichtigt in der Folge und fährt fort mit: „Wir wollen keine Glaubenskriege im Bildungswesen, wohl aber Pluralität, kulturelle Vielfalt und – bitte – Toleranz auch im Bildungswesen“ (Sten. Ber. 09/05: 38B). Insgesamt formuliert er seine Forderungen weniger umfangreich und deutlich als in der Erklärung zuvor. Im Mittelpunkt der Debatte stehen die Anerkennung von Abschlüssen und der Hochschulzugang. Kohls erste Regierungserklärung 1982 bricht mit der Kontinuität der Regierungserklärungen seit der Verfassungsreform 1969: Er berücksichtigt in seiner ersten Regierungserklärung Bildung nur im Sinne von Kapitalbildung – Schule spielt in dieser Rede überhaupt keine Rolle. Stüwe interpretiert sie als „eine Art Gegenmodell“ zu den Herangehensweisen von Brandt und Schmidt (Stüwe 2005: 321). Auch in seiner Antrittsrede 1983 spielt Schulpolitik faktisch keine Rolle; er bemerkt lediglich, dass die Bundesregierung die Anstrengungen der Länder begrüßt, Begabte besonders zu fördern - 68 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive (Sten. Ber. 10/04: 63D). Zudem kündigt er im Rahmen der Friedenspolitik an, deutsche Schulen im Ausland verstärkt zu fördern (ebd.: 67C). Die Regierungserklärung 1987 akzentuiert erstmals das Bund-Länder-Verhältnis in diesem Bereich; Kohl führt dazu aus: Auch die Länder bleiben auf das wohlverstandene Gesamtinteresse des Bundesstaates verpflichtet. Das gilt beispielsweise (…) nicht zuletzt für die Schul- und Bildungspolitik. Nur im konstruktiven Zusammenwirken können Bund und Länder ihrer Verantwortung gerecht werden (Sten. Ber. 11/04: 64B). Zudem möchte sich die Bundesregierung im Rahmen der Europapolitik für einen verstärkten europäischen Schüleraustausch engagieren (ebd.: 68C). Kohl rügt hier also die Länder, fordert jedoch keine direkte Kompetenzverschiebung. Seine konkreten Vorhaben bleiben im Rahmen der Kompetenzen des Bundes verhaftet. Die Rede 1991 greift im Rahmen des Wiedervereinigungsprozesses schulpolitische Fragestellungen auf, begnügt sich aber mit der vagen Ankündigung: „die Bundesregierung wird hierbei ihren Beitrag leisten“ (Sten. Ber. 12/05: 78D). Zudem kündigt er an, dass die Schulzeiten verkürzt werden sollen, um Jugendliche schneller in den Arbeitsmarkt zu bringen. Das „wie“ wird allerdings nicht erläutert. In seiner letzten großen Regierungserklärung 1994 spielt Bildungspolitik nur eine äußerst untergeordnete Rolle, Anmerkungen zum Gebiet des Schulwesens kommen überhaupt nicht vor. Bei Angela Merkels bislang einziger großer Regierungserklärung 2005 versucht die Kanzlerin im Bereich Schulpolitik einen Spagat: einerseits zeigt sie die Wichtigkeit des Politikfeldes für den Standort Deutschland, andererseits begnügt sie sich damit zu hoffen, die Länder werden dies entsprechend umsetzen. Wörtlich sagt sie „Es ist wichtig, dass wir die Bildungschancen verbessern. (…) Ich hoffe, dass das nach der Föderalismusreform von den Ländern in entsprechender Weise fortgesetzt wird“ (Sten. Ber. 16/04: 85C). Worauf sich diese Hoffnung begründet, wird nicht klar. Dennoch greift die Kanzlerin die Frage nochmals auf und fordert, im Rahmen der Integrationspolitik, eine verstärkte Förderung der Deutschkenntnisse von Kindern mit Migrationshintergrund. Dabei möchte Merkel die Handlungen der Länder unterstützen, eigene Förderungen stellt sie nicht in Aussicht. - 69 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive 5.4 Auswertung: Gesamtbild von Ministern und Kanzlern Um den Stellenwert des Politikfeldes in der Exekutive der Bundesrepublik im Rahmen der Kompetenzen zu bewerten, werden verschiedene Zusammenhänge für den Zeitraum 1949 bis 2005 deutlich. Diese lassen sich sowohl parteipolitisch, als auch personenbezogen deuten. Insgesamt zeigt sich also bei der Analyse der Erklärungen der ersten 20 Jahre der Bundesrepublik, dass die These, wie sehr die Thematisierung von den Interessen des Regierungschefs beeinflusst wird, durchaus bestätigt wird. Erhard zeigt dabei besonderes Interesse verglichen mit Adenauer und Kiesinger. Insgesamt jedoch war die SPD die stärkste und konstanteste Kraft in Richtung einer zunehmenden Unitarisierung. Zudem stellte sie mit Abstand die meiste Zeit die Minister des Ressorts auf Bundesebene. Parteipolitisch bemerkenswert ist zudem, dass die GRÜNEN das Politikfeld bisher nicht stärker gestalten konnten, wären doch hier klassische Ziele dieser Partei umzusetzen. Anders als im Konjunkturmodell angenommen, hat neben Brandt im Rahmen der Etablierung des Feldes Schmidt in Zeiten knapper werdender Kassen dem Politikfeld ein besondere Relevanz zugeordnet, wie sie in dieser Form bei Schröder nicht zu finden ist. Insofern ist also eine Neubewertung der Zusammenhänge notwendig: Bundespolitisch ist den Jahren der Regierung Schmidt ein deutlich größeres Gewicht zuzuordnen, als dies unter Schröder der Fall war. Die Bedeutung der Brandtschen Schwerpunktsetzung bleibt davon unberührt. Wenn man das tatsächliche Handeln der Regierung Merkel noch unberücksichtigt lässt, kann jedoch aus dieser Analyse abgelesen werden, dass die Schulpolitik in besonderem Maße unter Kohl marginalisiert wurde: hier spielt sie schlicht keine nennenswerte Rolle für den Kanzler. Entsprechend war die CDU in seiner Regierungszeit auch bereit, das Ressort an den kleineren Koalitionspartner abzugeben; den Rest der Zeit des Bestehens war das Ressort stets der Steuerung durch den größeren Koalitionspartner vorbehalten. Aus der Analyse der Minister ließ sich insgesamt ein eher geringer Stellenwert des verantwortlichen Ministeriums ableiten. Im Gegenzug dazu ist das Thema im Rahmen von Regierungserklärungen durchaus Gegenstand gewichtiger Ausführungen geworden. Diese Diskrepanz lässt sich nur schwer erklären; es liegt die Vermutung nahe, dass die persönliche Handschrift des Kanzlers in den Regierungserklärungen dem - 70 - Analyse des Stellenwerts der Schulpolitik in der deutschen Exekutive Politikfeld zumindest zeitweilig eine größere Bedeutung eingeräumt hat, als dies im Rahmen des Kabinetts und der parteipolitischen Auseinandersetzung zu vermuten war. Bemerkenswert ist, dass nach Auswertung des Stellenwertes des Politikfeldes auf Bundesebene seit PISA keine Änderungen in der Kompetenzstruktur seitens des Regierungschefs angestrebt wurden. Zwar konnte man die Regierung Schröder mit ihrer Ministerin Bulmahn noch als aktiven Akteur im Rahmen der Diskussion um Bildungsreformen interpretieren; hinter deren Konzepten blieb der Kanzler aber zurück. Unter der Administration Merkel und Ministerin Schavan jedoch zeichnet sich eine deutliche Reduktion einer Schulpolitik der Bundesebene ab: die Bundesebene ist offenkundig bereit, im Rahmen der Föderalismusreform weitere Teile der verbliebenen Kompetenzen auf die Länderebene zu übertragen, wie ein abschließender Blick auf die geplante Föderalismusreform zeigt. - 71 - 6. Zur Föderalismusreform aus Sicht der Schulpolitik Bevor ein endgültiges Fazit über die Rolle des Bundes im deutschen Föderalismus gebildet werden kann, muss die Zukunftsperspektive der bestehenden, verflochtenen Situation näher beleuchtet werden. Dabei ist während der Verfassung dieser Arbeit die Föderalismusreform gerade in Bundestag und Bundesrat von der Mehrheit von Union und SPD beschlossen worden, mittlerweile hat auch Verkündung stattgefunden. Das Reformprojekt wird also zum 1. Januar 2007 in Kraft treten. Die wissenschaftliche Kommentierung der Arbeit der „Gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ (KMbO) ist äußerst vielfältig. Zwar wird die Notwendigkeit einer Reform angemahnt, wirklich große Veränderungen wurden hingegen nicht erwartet. Lehmbruch folgert aus der außerordentlichen Kontinuität der bundesstaatlichen Ordnung, dass die Akteure „eher für ausgehandelte Veränderungen in kleinen Schritten mit überschaubaren Konsequenzen zu gewinnen sein“ werden, sofern keine besonderen Krisenlagen entstehen (Lehmbruch 2000: 93). Ähnlich leitet Schmidt ab, dass „Deutschlands Föderalismus (…) an einem kapitalen Steuerungsproblem laboriert“ (2001: 489) – woraus auch nur wenig Hoffnung für das Gelingen einer Reform zu schöpfen war. Letztlich, so charakterisiert Scharpf die Situation vor der Föderalismusreform, „war politisches Handeln nur noch im allseitigen Konsens möglich“ (2005: 6). Benz38 macht auch inhaltliche Faktoren für das – vorübergehende – Scheitern der Reform verantwortlich: Die Leitidee der Entflechtung förderte eine Blockierung der Reform. Schließlich wurde deswegen die Reduzierung der Reform auf ein „Feilschen um ein Tauschgeschäft“ nicht mehr korrigierbar (2005: 207f.)39. Die Ergebnisse der Reform für den Bildungssektor, speziell für die bundesstaatliche Einflussnahme auf die Schulpolitik, lassen sich in folgender Weise zusammentragen: Die bereits in Kapitel 3.2.9 angeführten Änderungen in der Aufgabe des Bundes, statt an der Bildungsplanung, die insbesondere in den letzten 25 Jahren nur eine sehr geringe Bedeutung genossen hat, von nun an an der Evaluierung der Ergebnisse beteiligt zu 38 Arthur Benz war als Sachverständiger mit Rederecht in „Föderalismuskommission“ vertreten, ebenso wie Fritz W. Scharpf. 39 Zum damaligen Scheitern der Föderalismusreform 2005 und den Einschätzung hiervon siehe auch die Beiträge in APuZ 13-14, 2005. - 72 - Zur Föderalismusreform aus Sicht der Schulpolitik sein, passt faktisch die Idee der Bildungsplanung an die neuere Entwicklung an. Insbesondere das Mitwirken an internationalen Berichten erscheint jedoch ohne die Beteiligung des Bundes als schwer möglich. Die Formulierung, die der neue Artikel 91b des Grundgesetzes haben wird, scheint keine substanzielle Veränderung der Kompetenzstruktur zu sein. Sie wird lediglich dazu führen, dass das Aufgabengebiet der BLK neu zu strukturieren ist; in wie weit damit eine Veränderung der Kompetenzen einhergeht, ist nicht abzusehen. Denkbar wäre auch die Auflösung der BLK zugunsten einer völlig neuen Instanz; in der Kommentierung der Drucksache wird jedoch von einer Anpassung und „Bereinigung“ des bisherigen BLK-Abkommens ausgegangen. Eine echte Entflechtung der Entscheidungsstrukturen könnte hier also erzielt werden, wird aber keineswegs garantiert; die Leitidee der Entflechtung konnte nicht eindeutig umgesetzt werden. Neu ist hingegen die explizite Interessenvertretung der Länder im schulpolitischen Bereich im Rahmen der Europäischen Union in Artikel 23 (Abs. 6 Satz 1): Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen. (BT DRS 178-06) Dies kann durchaus als eine Klärung der Kompetenzen interpretiert werden, bisher stand an gleicher Stelle ohne Nennung der Kompetenzbereiche, dass falls der Schwerpunkt der Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern liegt, der Bund die Rechte auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter übertragen solle. Ob damit allerdings die eine einheitliche Interessenvertretung der Bundesregierung im europäischen Rahmen gewährleistet werden kann, bleibt fraglich. Bisher haben sich diese Vertretungen jedoch wegen der langwierigen Abstimmungsprozesse unter den Ländern als wenig wirksam erwiesen (Scharpf 2005: 8, s. auch Buse 2004). Zudem wurde das Besoldungs- und Dienstrecht wieder auf die Landesebene übertragen, was über für die Arbeitsbedingungen in den Schulen von Bedeutung werden kann. Hierdurch wird ein Wettbewerb unter den Ländern befördert, der sich womöglich auch auf dem Schulsektor niederschlagen wird. Die tatsächlichen Effekte dieser Maßnahme sind jedoch kaum zu prognostizieren. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Differenzen im Bundesgebiet durch diesen Schritt nicht geringer werden. Beispielsweise erscheint es denkbar, dass spezielle Anreize für Lehrer gerade - 73 - Zur Föderalismusreform aus Sicht der Schulpolitik in besonders gesuchten Fächern (so genannten „Mangelfächern“) geben könnte. Durch das Fehlen einheitlicher Qualifikationsansprüche im Lehrberuf ist von einer steigenden Mobilität nur in geringem Umfang auszugehen, um die Folgen dieser Änderung realistisch einzuschätzen. Sehr bedeutend ist zudem die Änderung, dass im Rahmen von Artikel 104a, 104b eine neue Schranke der bundesstaatlichen Einflussnahme eingeführt wird. Der Wortlaut des Gesetzes sieht vor, dass der Bund den Ländern keine Finanzhilfen gewähren kann, wenn es sich bei dem Gegenstand der Investition um einen Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Länder handelt. Diese Beschränkung des Bundes, so entnimmt man der Begründung, bezieht sich explizit auf die Schulpolitik (ebd., S. 46f.). Das in dieser Arbeit als besonders gewichtig eingestufte Steuerungselement durch die Finanzierung seitens der Bundesebene wird zukünftig per Grundgesetz verboten sein. Zwar darf gemäß einer Übergangsregelung der Bund das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ fortführen, neue Programme dieser Art sind jedoch nicht möglich. Mit dieser Veränderung verliert der Bund eine seiner wichtigsten Optionen zur Einflussnahme im Politikfeld. Entsprechend wurde dies auch während der Expertenanhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags kontrovers diskutiert. Insgesamt verlaufen die Konfliktlinien uneinheitlich, wenn man die Protokolle der beschließenden Bundestagssitzung (Plenarprotokoll 16/44, vom 20.06.2006), der entsprechenden Bundesratssitzung (824. Sitzung, 7.0.7.2006) und Beratungen im Rechtssauschuss (Rechtsausschussprotokoll 16, vom 29.05.2006) verfolgt. Bei den Sachverständigenanhörungen zum Themenkomplex Bildung im Ausschuss40 dominieren hochschulpolitische Fragestellungen die Diskussion. Eindeutig Stellung gegen die Föderalismusreform beziehen jedoch zwei der drei expliziten Sachverständigen des Schulsektors, nämlich der Vorsitzende der Bundeselternrates und der Vertreter der GEW. Der Direktor eines Gymnasiums, als der dritte Vertreter, zeigt sich als Befürworter der Neuregelungen. Die Vertreter der Wirtschaft sind gespalten: 40 Der Bundestag hatte gegen den Willen der Opposition beschlossen, die Föderalismusreform als Paket im Rechtsausschuss zu behandeln und nicht die Gebiete aufzuteilen und an die entsprechenden Ausschüsse zu verteilen. Im Ausschuss wurden dann Sitzungen zu Themenblocks abgehalten, die als Protokolle, teilweise auch als Audiodateien und Videos im Internet verfügbar sind unter: http://www.bundestag.de/parlament/ gremien/foederalismus/index.html (31.08.2006). - 74 - Zur Föderalismusreform aus Sicht der Schulpolitik sie befürworten einen größeren Wettbewerb, möchten aber eine große Mobilität der Arbeitnehmer sicherstellen; daher sind ihre Argumente uneindeutig. Im Bundestag dominieren wieder parteipolitische Konfliktlinien die Argumentation. Eine breite Mehrheit aus SPD und CDU im Bundestag stimmte letztlich für eine nochmals geringfügig veränderte Fassung des Gesetzes und erfüllte damit die geforderte 2/3-Mehrheit, die Opposition votierte bei drei Enthaltungen aus der FDP geschlossen gegen das Gesetz41. Interessant waren die entsprechenden Beratungen und Abstimmungsverhalten im Bundesrat. 14 der 16 Länder stimmen für die Reform, das von einer großen Koalition unter der Führung der CDU regierte Schleswig-Holstein hat sich enthalten, das rot-rote Bündnis in Mecklenburg-Vorpommern lehnt als einziges Bundesland die Grundgesetzänderung ab. Es dominiert die Frage des Dienst- und Besoldungsrechts weite Teile der Wortbeiträge. Insbesondere die nicht zustimmenden Länder sehen keine fairen Voraussetzungen für einen zunehmenden Wettbewerb. Gerade finanzschwache Länder äußern Bedenken, auch explizit gegen das Verbot von Investitionsprogrammen des Bundes im Schulsektor. Kurt Beck, als Vertreter von Rheinland-Pfalz und SPDVorsitzender, kann den inneren Konflikt seiner Partei nur beschreiben, wenn er zwar den Kompetenzverlust des Bundes im Schulbereich bedauert, jedoch im Rahmen eines gesamten Pakets für unverzichtbar erklärt. Die Auswirkungen dieser Änderungen werden sich erst mittelfristig zeigen. Dass aber im Rahmen einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung die Vertreter des Bundes, sowohl der Regierung wie auch des Bundestages, einem Rückgang der eigenen Verantwortlichkeiten ausgerechnet im Bildungssektor zustimmten, ist ein nicht unwesentliches Zeichen für die Einstufung der Wichtigkeit des Politikfeldes auf Bundesebene. Wenn sich in der bisherigen Analyse herauskristallisiert hat, dass die Zeit der sozialliberalen Koalition für wesentliche Aktivität des Bundes im Schulesektor stand, so ist es bemerkenswert, dass die SPD in den Jahren nach PISA zunächst das größte Investitionsprogramm in der Geschichte des deutschen Schulwesens auflegte und nur kurze Zeit später zu einer Zustimmung zum Verbot solcher Programme bereit war. Der Kurs der Partei unter Schröder und Müntefering erscheint also in diesem Licht als wenig eindeutig; sicherlich kann jedoch von beiden behauptet werden, dass 41 Da es sich um namentliche Abstimmung handelte, ist die Stimmabgabe der Mitglieder des Deutschen Bundestages im Sitzungsprotokoll einzusehen (Plenarprotokoll 16/44). - 75 - Zur Föderalismusreform aus Sicht der Schulpolitik schulpolitische Fragestellungen nicht als die wesentlichen Inhalte ihres Arbeitens gelten können. Die ehemalige Bundesministerin Bulmahn war zwar Gegnerin der Reform, hat dem Gesamtwerk im Bundestag, dem sie angehört, dennoch zugestimmt. Auf Seiten der Union ist die Konstellation eindeutiger. Sie hatte nur selten ein besonderes Interesse in diesem Politikbereich aus Sicht der Bundespolitik; insofern ist das Entgegenkommen zugunsten der Landespolitiker erklärlich. Dennoch erscheint es als bemerkenswert, dass das Kabinett Merkel mit Schavan erstmals eine Ministerin im BMBF besitzt, die zuvor bereits Kultusministerin auf Länderebene war. Ausgerechnet in dieser Konstellation zeigt sich die Regierung also bereit, die eigenen Kompetenzen zurückzuführen. Das Bundesministerium veröffentlichte auf seiner Homepage eine weit optimistischere Situationsanalyse als dem hier festgestellten Verlust an Handlungsoptionen. Zur Schulpolitik heißt es dort: Die in der angestrebten Form ohnehin nicht realisierte Gemeinschaftsaufgabe "Bildungsplanung" wird beendet und durch wirksamere Steuerungsinstrumente ersetzt. Die neue Gemeinschaftsaufgabe umfasst die drei Elemente „Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich", „Bildungsberichterstattung" und „gemeinsame Empfehlungen". Bund und Länder haben künftig die Möglichkeit, das Fundament für ergebnisorientierte Vergleichbarkeit unserer Bildungseinrichtungen zu verbessern sowie gemeinsame strategische Ziele für die Weiterentwicklung des Bildungs- und Wissenschaftssystems zu vereinbaren. Der Bund wird vor diesem Hintergrund auch seine Anstrengungen in der Bildungsforschung erhöhen (http://www.bmbf.de/de/1263.php, 31.08.2006). Diese Einschätzung ignoriert bemerkenswerter Weise vollständig sämtliche Änderungen für den Schulsektor jenseits des Artikels 91b. Die Ankündigung, die Bildungsforschung zu intensivieren, kann jedoch als Signal gesehen werden, sich nicht von der Rolle des Agenda-Settings lösen zu wollen. Die KMK, neben den Landesparlamenten die wohl größte Gewinnerin der Reformen, begrüßt diese natürlich. Aufgrund der Organisationsstruktur gibt es jedoch seit dem Beschluss noch keine Stellungnahme des Gremiums, wie insbesondere der neu entstehende Wettbewerb im Besoldungsrecht koordiniert werden wird. Fritz W. Scharpf, als Beobachter aus Sicht der politischen Wissenschaft, kommt zu einem ernüchternden Fazit. Im Mai, kurz vor der Beschlussfassung, formuliert er über den Nutzen der Föderalismusreform: „In anderen [Einzelfragen], insbesondere in dem kategorischen Ausschluss von Bundeshilfen für Aufgaben der Länder – brächte sie eine - 76 - Zur Föderalismusreform aus Sicht der Schulpolitik gravierende Verschlechterung“ (Scharpf 2006: 16). Diese Ansicht der Sachlage stimmt mit den Ergebnissen dieser Untersuchung überein; eine Verschlechterung ist in diesem Sinne eine Verringerung der Steuerungsoptionen und der Möglichkeiten eines bundesstaatlichen Ausgleichs. Letztendlich unterstreicht die Schärfe der Diskussion und das öffentliche Interesse am Themenkomplex Schule in der Föderalismusreform die Bedeutung des Politikfeldes. Sie war sowohl lange Zeit für das vermeintliche Scheitern der Reform verantwortlich, und hat auch über die Politik hinaus auf unterschiedlichen Seiten, z.B. bei den Interessenverbänden und den Gewerkschaften zu großer Aktivität geführt. Dieser Widerstände zum Trotz, insbesondere wohl durch die Überwindung der Blockademöglichkeiten über eine Paketlösung, haben offenkundig die beiden großen Volksparteien einen entsprechenden Konsens auch in der Schulpolitik gefunden. Welche Reichweite der gefasste Beschluss jedoch tatsächlich haben wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. - 77 - 7. Resümee: Die Rolle des Bundes in der Schulpolitik Insgesamt ergibt sich ein gemischtes Bild bei dieser Erforschung der „Rolle des Bundes in der Schulpolitik der Bundesrepublik“. Die Kombination, Föderalismusforschung, Steuerungskonzepte und Bildungsinhalte zu einer Analyse zusammenzuführen, hat sich als durchaus ertragsreich erwiesen. Im Überblick über die gesamte Arbeit lassen sich die folgenden fünf Trends erkennen: (1) Exekutivlastigkeit: In einem Bereich der geringen formalen Bundeskompetenz zeigt sich stark die Exekutivlastigkeit des deutschen Föderalismus. Im Rahmen der Beratungs- und Koordinationsgremien zwischen Bund- und Länderebene, an denen teilweise auch der Bundestag beteiligt war, erkennt man, dass diese das Politikfeld nicht dauerhaft zu prägen vermochten. Die Kultusministerkonferenz, die einzige Institution ohne Beteiligung des Bundes, ist, anders als alle anderen, von einer gewissen Dauerhaftigkeit geprägt. In ihr spiegelt sich die Exekutivlastigkeit der Länderebene wieder. Trotz großer öffentlicher Kritik und konstruktiver Schwächen, konnte das Gremium sich gegenüber allen anderen Formen der Zusammenarbeit oberhalb der Länderebene behaupten. (2) Konjunkturelle Einflüsse: Die Schulpolitik scheint nicht den Gesetzen eines ständig wachsenden Bundeseinflusses zu unterliegen. Vielmehr herrscht neben formaler Konstanz seitens des rechtlichen Rahmens eine schwer zu messende, schwankende Bedeutung des Politikfeldes auf Bundesebene. Diese geht dabei nicht zwangsläufig mit den relativen Bedeutungsschwankungen des Politikfeldes insgesamt überein. Neben der formalen Kontinuität haben Regierungswechsel immer wieder zu Brüchen der bundespolitischen Einflussnahme geführt, beispielsweise 1982 oder jüngst, 2005. Daneben zeigt sich jedoch, dass die Schulpolitik des Bundes faktisch zumindest durch die Gremienarbeit und viele weitere Schritte der Einflussnahme stets existiert hat. Die Annahme, dass, obwohl Kulturpolitik eine besonders exponierte Stellung im Rahmen der Länderkompetenzen besitzt, es eine eigene Schulpolitik des Bundes gibt, lässt sich mit dieser Arbeit zweifelsfrei Belegen. - 78 - Resümee: Die Rolle des Bundes in der Schulpolitik (3) Potentiale seitens der Regierungen: Gerade durch die geringe bundespolitische Verantwortlichkeit in Bereich der Schulpolitik stecken besondere gestalterische Möglichkeiten seitens der nationalen Regierung. Die Möglichkeiten der Einflussnahme sind zwar überwiegend indirekt, aber - nichtsdestotrotz - sehr wirkungsmächtig. Neben der Steuerung durch monetäre Anreizstrukturen und Investitionen, wie es zumindest bisher möglich war, spielt hier auch die Ausrichtung des Bundesministeriums eine wesentliche Rolle. Wie unterschiedlich dies interpretiert werden kann, konnte am aktuellen Regierungswechsel gezeigt werden. Die großen Regierungserklärungen, die „seismographisch zum authentischen Bild der politischen Kultur der Bundesrepublik“ (Korte u.a. 2004: 289) wurden, zeigen ebenfalls das große Potential der Einflussnahme auf. Aus der Analyse des Stellenwerts lässt sich ableiten, dass neben parteipolitischen Faktoren die individuellen, schwer zu messenden Interessen der Bundeskanzler und der zuständigen Minister wichtige Indizien liefern, wie eine Regierung mit den Spielräumen umzugehen pflegte. (4) PISA 2000 und die Folgen: Wenn man den Zeitraum nach der Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA bis zur Bundestagswahl 2005 und den in diesem Zuge abgesprochenen Änderungen der Kompetenzen durch die Föderalismusreform betrachtet, zeigt sich ein gemischtes Bild. Die Rot-Grüne Bundesregierung konnte keine zusätzlichen Kompetenzen gewinnen, auch bei der Etablierung der Bildungsstandards blieb sie außen vor. Dennoch hat vor allem das Bundesministerium permanenten Druck ausgeübt, und das Thema auch auf der bundespolitischen Agenda stark forciert. Die Ankündigungen Schröders hingegen, sich als Regierung in inhaltliche Fragen des Schulsektors einzumischen, hat nur zwei greifbare Ergebnisse hervorgebracht: auf der einen Seite das Ganztagsschulprogramm, auf der anderen Seite die Begründung der Bildungsberichterstattung. Eine tatsächliche substanzielle Reform der Zuständigkeiten, wie sie in der Phase der Hochkonjunktur als denkbar erschien, hat nicht stattgefunden. Bemerkenswerter Weise spielte auch im Wahlkampf 2005 das Thema neben dem Ganztagsschulprogramm bereits keine Rolle mehr. Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass der große exogene Schock das Politikfeld nur sehr kurzfristig in Bewegung gebracht hat, ehe es vom Alltag eingeholt wurde. Offensichtlich waren die - 79 - Resümee: Die Rolle des Bundes in der Schulpolitik bewahrenden Kräfte des alten Systems in der entstandenen Krisensituation stark genug, sich gegen eine gesteigerte formale Einflussnahme der Bundesebene zu wehren. (5) Föderalismusreform: Die Ergebnisse der Föderalismusreform sind, auch wenn die Auswirkungen noch nicht direkt abzusehen sind, vor diesem Hintergrund erstaunlich. Wie insbesondere die verhandelnden Sozialdemokraten innerhalb von drei Jahren eines der definierten Hauptziele der Regierungspolitik zu einem weiteren Kompetenzrückgang überführen konnten, deckt deutlich den Stellenwert des Feldes in dieser Konstellation auf. Das die führenden Entscheidungsträger nicht an die – auch ideologische – Wichtigkeit, Finanzprogramme zur Chancengleichheit der Schüler über Bundesmittel zu erreichen glauben, liegt auf der Hand. Gewinner der Reform sind in diesem Sektor wohl die Länder mit größerem Interessen an kompetetiven Elementen im Schulbereich, allen voran wohl die unionsgeführten, reichen Länder im Süden. Dennoch behält, wie auch im Rahmen der Einflussmöglichkeiten gezeigt werden konnte, der Bund weiter Spielräume und wichtige Funktionen im Schulsektor. Es wird durch die neue Verfassungssituation jedoch zunehmend schwieriger werden, diese Einflüsse öffentlich und im parlamentarischen Weg auszuüben. Der Kreativität, wie sie beispielsweise bei „Schulen ans Netz“ gezeigt wurde, können offenkundig keinerlei Schranken auferlegt werden. Im Rahmen dieser Ergebnisse werden vielfältige Möglichkeiten für weitere Forschung erkennbar. Interessant wäre es, um das Stellenwertskonzept noch umfassender zu behandeln, die Ausgaben und – mindestens ebenso wichtig – die Anzahl der mit schulpolitischen Fragen betrauten Personen der Bundesebene im Verlauf der Bundesrepublik zu erheben. Dies könnte weitere Zusammenhänge aufdecken, die hier nicht erfasst werden konnten. Schulpolitische Fragestellungen werden national zweifelsfrei auf der Tagesordnung bleiben. Von der Erhebung PISA 2003 sind noch nicht alle Daten ausgewertet und veröffentlicht, in diesem Jahr wird bereits zum dritten Mal eine solche Erhebung durchgeführt. Aber auch die nationale Bildungsberichterstattung wird wohl jährlich die Debatte auf die Bundesebene führen. Zudem hat der Bundespräsident Horst Köhler angekündigt, sich ab Herbst dieses Jahres intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, - 80 - Resümee: Die Rolle des Bundes in der Schulpolitik wie Bildung in Deutschland aussehen muss. Dabei strebt er eine Verbesserung der Rahmenbedingungen im Bildungsbereich an (Köhler 2006). Auch aus internationaler Sicht scheint die Kritik am Bildungssystem nicht abzureißen. Der UN-Sonderberichterstatter Muňoz kritisierte im Februar 2006 ebenfalls die föderale Struktur des Bildungswesens42. Die OECD zeigte in ihrem Bericht „Education at a glance“ 2005 zwar eine Trendwende im deutschen Bildungswesen, mahnt aber weitere Veränderungen an (Schleicher 2005). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Bundesrepublik vor allem in Zeiten einer Verstärkung internationaler Mobilität im Schulsektor weiter stark unter Anpassungsdruck bleiben wird. Dazu werden weitere Veränderungen der Strukturen des Schulsektors notwendig werden. Welche Rolle die Bundesebene in diesem Rahmen spielen wird, bleibt eine spannende Frage für die Zukunft. 42 s. z.B. FAZ, 21.02.2006: UN-Beauftragter Muňoz rügt deutsches Bildungssystem. Er spielte mit seiner Kritik dabei auch direkt auf die Föderalismusreform an. - 81 - Anhang . Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Schema der Einfluss- und Kompetenzstrukturen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich............................................................................................. 12 Abbildung 2: Institutionen oberhalb der Länderebene im geschichtlichen Verlauf ...... 27 Abbildung 3: Logo SaN e.V. ......................................................................................... 41 Abbildung 4: Bundesminister für Bildung nach Parteizugehörigkeit (1969 - 2005),.... 49 Tabelle 1: Regierungszugehörigkeit nach Parteien (1969-2005)................................... 50 Tabelle 2: Bundesminister für Bildung, Amtsdauer und Parteizugehörigkeit............... 52 Abbildung 5: Themengebiete in der Durchschnitts-Regierungserklärung, ................... 60 Tabelle 3: Schulpolitik in Regierungserklärungen ........................................................ 61 Abbildung 6: Organisationsplan BMBF 2005 ............................................................... 88 Abbildung 7: Organisationsplan BMBF 2006 ............................................................... 89 - 82 - Literaturverzeichnis43 Anweiler, Oskar, Hans-Jürgen Fuchs, Martina Dorner und Eberhard Petermann 1992: Bildungspolitik in Deutschland 1945-1990, Opladen: Leske + Budrich. 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BLK Abkommen) oder weitere Rechtstexte wie den EU-Vertrag beziehen und in der Arbeit zitiert wurden, sind allgemein zugänglich und hier nicht nochmals als Quellen aufgeführt. Alle verwendeten Internetquellen wurden am 31.08.2006 nochmals auf ihre Existenz überprüft. - 83 - Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (BMBW) 1976: Bildungspolitische Zwischenbilanz. Bonn: BMBW. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (BMBW) 1978: Bericht der Bundesregierung über strukturelle Probleme des föderativen Bildungssystems, München: Gersbach. Cortina, Kai S., Jürgen Baumert, Achim Leschinsky, Karl Ulrich Mayer, Luitgard Trommer (Hg.) 2003: Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Reinbek bei Hamburg. Dahrendorf, Ralf 1965: Bildung ist Bürgerrecht, Hamburg: Nannen. Deutsches PISA-Konsortium / Jürgen Baumert (Hg.), 2001: PISA 2000 – Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen: Leske + Budrich. 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