Filme aus Norwegen

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Filme aus Norwegen
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Film
Jung
BEAUTIFUL COUNTRY
Plötzlich ist der norwegische Film ein global
beachtetes Phänomen – nicht, wie bisher,
von aller Welt abgeschnitten im ‚ewigen Eis‘
des hohen Nordens. Diese neue weltweite
Anerkennung rührt nicht nur daher, dass die
Filme fest im heimischen Terrain verwurzelt sind,
oder sich friedlich in einer relativen Idylle abspielen - wohlbehütet und frisch aufpoliert durch die
Einnahmen aus der Ölwirtschaft.
ke
hroc
c
s
r
e
n
u
und
ELLING
gen Völkerwanderungen verbunden sind, ist aber
in gleichem Maße als Metapher für den Wunsch
nach Versöhnung nach dem Vietnam-Krieg zu
verstehen.
Ein vietnamesisch-amerikanisches Kriegskind
wächst als Adoptivkind in einem vietnamesischen
Dorf auf, das er eines Tages verlässt, um nach
Saigon zu gehen und dort nach seiner biologischen Mutter zu suchen. Der junge Mann bleibt
weiter auf die Flucht – nun in Richtung USA
Denn die norwegische Filmszene wagt sich in
die große weite Welt hinaus. Wie könnte man es auf einem Seelenverkäufer übelster Sorte. Tim
Roth ist der menschenverachtende Kapitän – ein
anders sagen, wenn ein norwegischer Regisseur
samt Produktionsgesellschaft ebendieser Herkunft Teufel in Menschengestalt. Nach einem Fegefeuer
von apokalyptischen Erfahrungen an Bord des
sich auf ein Projekt des legendären Terrence
Malick (Badlands, The Thin Red Line) stürzen? Die Schiffes erweisen sich die USA nicht als Paradies
für die ankommenden Boat People. Auch die
Handlung wird an keiner Stelle nach Norwegen
Gestalt des Vaters entspricht in keiner Weise den
verlegt oder sonstwie mit Norwegischem assoErwartungen des Sohnes.
ziiert, sondern spielt in Vietnam und den USA.
Schauspieler wie Nick Nolte, Tim Roth und Bai
Nick Nolte bringt in einem leisen Finale die große
Ling werden engagiert. Und Beautiful Country
schauspielerische Leistung des Films. Beautiful
wird in die Auswahl für den Hauptwettbewerb
der Berlinale des Jahres 2004 aufgenommen.
Country wird zu einer bewegenden Odyssee zwischen Einzelschicksalen und Gegenwartsbildern.
Schon vorher hatte Hans Petter Moland für
Der Film ist mutig und engagiert.
Aufsehen gesorgt mit Kjærlighetens kjøtere (Zero
Ungewohnt
Kelvin/“Bastarde der Liebe“) und Aberdeen,
Der norwegische Film ist ungewohnt populär,
beides Studien männlicher Identität und
nicht nur im Rahmen von Filmwochen und
Selbstdarstellung. Beautiful Country handelt von
Festivals im Ausland, sondern auch in den norweden Gefahren und Strapazen, die mit den heuti-
gischen Kinos. Dieses kleine Wunder begann im
Jahre 2001 – zur Jahrtausendwende hatte sich
vieles verändert. Die Komödie Elling erhielt eine
Oscar-Nominierung. Und der Dokumentarfilm
Heftig & begeistret (Heftig und begeistert) war
ein echter Erfolg sowohl beim Publikum wie auch
bei den Kritikern im In- und Ausland.
Aber der eigentliche Durchbruch kam im Jahre
2003. Es entstand eine Rekordmenge an norwegischen Produktionen und sie wurden ernst
genommen – von einem Publikum, das sich bis
dato mit Hollywood als dem einzig gültigen
Filmmodell zufrieden gegeben hatte. Im sozialen
und kulturellen Leben konnte man nicht mehr
umhin, den neuesten norwegischen Kinofilm
gesehen zu haben. Die Besucherzahlen für norwegische Filme sind die höchsten innerhalb der
letzten 20 Jahre, und ihr Marktanteil im Lande
beträgt 22 %.
Im Jahr 2004 präsentierte der Macher von Elling
eine Komödie mit noch mehr amerikanischem
Flair, à la American Pie. In Bare Bea (Nur noch
Bea) geht es um ‚das erste Mal‘ im Sexualleben
16-jähriger Mädchen. Næss macht daraus keine
zynische High School-Komödie, sondern beleuchtet den Gruppenzwang und die mehr oder
weniger zweifelhaften Ideale, an die Jugendliche
sich klammern. So etwas bietet natürlich Stoff
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Tradra – Gestern wurde ich Zigeuner
für Komödien, und man leidet keine Sekunde an
Langeweile.
Heftig und begeistert
Filmgeneration verlief nicht ohne Kontroversen,
trotz aller Lobgesänge der Kritiker und trotz aller
Publikumserfolge. Es wurde behauptet, es handle
Die weiteren im Laufe des Jahres erschienenen
sich hier lediglich um seichte ‚Feelgood’-Filme,
Produktionen zeigten ein noch breiteres Spektrum die die Wirklichkeit verzerren und sich opporals die 2003 angelaufenen. Dies entwickelte sich tunistisch beim ständig wachsenden Publikum
auch als Resultat einer lebhaften Produktion von anbiedern. Einseitig drehe es sich dabei um junge
Kurz- und Dokumentarfilmen, die Talente fördert
Männer der verwöhnten ‚Zuckerwattegeneration‘,
und trainiert wie nie zuvor. Der Dokumentarfilm
die immer nur bedingungslose Unterstützung seihat eine ruhmreiche Geschichte innerhalb der
tens der Erziehungsberechtigten und der Schule
norwegischen Filmtradition - besonders die nüch- erfahren haben. Sie seien nie auf irgendeinen
tern-sachliche Variante, die der Forderung nach
Widerstand gestoßen, hätten immer von allem
Realismus entspricht. In den letzten Jahren zeich- mehr als genug gehabt und wollten sich nicht
nete Sigve Endresen verantwortlich für eine Reihe von ihrer Jugend verabschieden, die laut einigen
von Filmen über sensible Themen, die auch die
von ihnen bis zum Alter von 40 andauere, übernorwegische Gegenwart belasten: Drogensucht,
gangslos gefolgt von der Phase des hohen Alters.
Krebs, Schlankheitswahn. Mit Endresen hat sich
Weder wollten sie sich freiwillig aus der eltereine eigene Schule gebildet, die sich durch die
lichen Nestwärme lösen, noch die für ein selbbesondere Fähigkeit auszeichnet, dem Leben
ständiges Leben notwendigen Entscheidungen
von Menschen auf den Grund zu gehen, ohne
treffen, und schon gar nicht Verantwortung
sie auszunutzen. Weitere Namen, die in diesem
übernehmen.
Zusammenhang zu nennen wären, sind Karoline
Frogner, die mit Tradra – i går ble jeg tater
Auf Nebenschauplätzen dieser Komödien, denn
darum handelt es sich hier, befinden sich junge
(Tradra – Gestern wurde ich Zigeuner) die Nöte
des fahrenden Volkes thematisierte. Es ist jedoch Frauen, die geduldig darauf warten, dass die
Jungs sich mal entscheiden, bis sie dann doch
Knut Erik Jensen mit seinen Filmen über die
selbst eingreifen.
norwegische Region Finnmark, der das Genre
in der letzen Zeit am stärksten weiterentwickelt
hat, sowohl mit internationaler Anerkennung der In solchen Komödien ginge es eigentlich um
gar nichts, wird behauptet. Im Zauberspiegel
Kritiker als auch mit Erfolg beim Publikum..
der Komödie wird jedoch eine Haltung portraitiert, die leicht ins Tragikomische abgleiten
Der Kurzfilm wird nicht nur als Übungsfeld
kann. Norwegische Filme treffen den Ton einer
für werdende Spielfilmregisseure betrachtet,
Generation. Junge Norweger von heute leben
sondern als eigenständige Kunstform, die ihr
nicht in heroischen Zeiten.Viel ironische Tändelei
eigenes, höchst lebendiges Festival in Grimstad
tyrannisierte das letzte Jahrzehnt. Das macht die
hat. Finden norwegische Kurzfilme ihren Weg in
Wahl der nun leicht defensiven und entwaffnendie weite Welt hinaus, werden sie oftmals mit
den Form der Komödie verständlich - auf dem
Preisen ausgezeichnet. Nicht zuletzt ist hier das
Festival in Cannes zu nennen, mit drei wichtigen Weg zurück zu ernsten Anliegen. Fragen werden
auf nette unironische Art aufgeworfen, und die
Auszeichnungen.
Form zielt auf Versöhnung ab. Buddy von Morten
Tyldum, ein Film über Freundschaft, ist charakteDurchbruch
ristisch für dieses Genre. Die Jungs sind entweder
2003 als Jahr des Durchbruchs für eine neue
hin- und hergerissen zwischen zwei Mädchen,
oder drücken sich vor der Verantwortung unerwünschter Vaterschaft, oder sie leiden an starken
Symptomen jugendlicher Depression. Sie müssen
sich einem Arbeitsmarkt anpassen, auf dem
hochqualifizierte junge Leute plötzlich nicht mehr
gefragt sind.
Etwas leichter präsentieren sich United von
Magnus Martens und Jonny Vang von Jens Lien.
Die seltsamen Eigenheiten etwas älterer Semester
werden in Eva Isaksens Mors Elling (Mutters
Elling) beleuchtet. Hier wird mit Raffinesse und
Melancholie die Vorgeschichte zum Film mit
der Oscar-Nominierung erzählt. Ein dritter Film
von Petter Næss wird nach dessen Aufenthalt in
Hollywood anlaufen.
Norwegische Filme sind nicht mehr geprägt
vom Primat des Autorenfilms und persönlicher Handschrift, sondern folgen den Regeln
und Konventionen der verschiedenen Genres.
Wir bekamen einen Horrorfilm zu sehen:
Villmark („Dunkler Wald“) von Pål Øie. Einen
Märchenthriller über den Druck, der auf kleine
Mädchen in puncto Schönheit ausgeübt wird:
Lille frk. Norge (Das kleine Miss Norway) von
Hilde Heier. Einen Zeichentrickfilm über den
entschieden norwegischen Kaptein Sabeltann
(Der Kapitän Säbelzahn) von Stig Bergqvist. Eine
romantische Komödie mit Kvinnen i mitt liv (Die
Frau meines Lebens) von Alexander Eik. Um nur
einige der Filme aus dem Jahr 2003 zu nennen.
BENT HAMER - DER AUTOR
Der beste norwegische Film des Erfolgsjahres
steckt voller Kritik an der Zweckrationalität der
fünfziger Jahre. Seinerzeit sollte dieSozialdemokratie alles zum Besten aller regeln
und bestimmen – mithilfe ihrer wohlmeinenden, berechenbaren und phantasielosen
Gesellschaftsplanung.
Ein paar solcher braven schwedischen
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BUDDY
Gesellschaftsplaner sind da über die Grenze ins
(ungleich) weniger wohlgeordnete Norwegen
gereist. Sie hocken auf diskret in einem Winkel
der Küche plazierten Schiedsrichterstühlen,
wie man sie von Tennisplätzen kennt. Von
dort oben beobachten sie und zeichnen
sämtliche Bewegungen auf, die norwegische
Junggesellen auf dem Boden ausführen. Die
graphischen Darstellungen sollen zu einer rationelleren Benutzung der Küche führen. Erinnert
dies möglicherweise an die Denkmuster des
Wirtschaftsliberalismus?
Bent Hamer ist der Mann, der 1996 Eggs ausgebrütet hat: ein Erstlingswerk und Außenseiterfilm
über zwei Brüder, die als Rentner im norwegischsten aller Dörfer wohnen. Die Kritiker verweisen auf Namen wie Samuel Beckett, Harold
Pinter und Buster Keaton, um die intellektuellen
Wurzeln dieser Low Budget-Komödie zu charakterisieren, die für die Regiewochen (Directors‘
Fortnight) in Cannes ausgewählt wurde und weltweit zahlreiche Auszeichnungen erhielt. Dieses
tragikomische Stück wird nie prätentiös, dafür
recht universell, mit großen schauspielerischen
Leistungen durch alternde Clownsfiguren.
Im Jahr 2003 gewann Hamer den Hauptpreis
der anspruchsvollen Directors‘ Fortnight des
Filmfestivals in Cannes, bei der Eggs also
seinerzeit präsentiert werden durfte Kitchen
Stories ist exzentrisch und burlesk, und erinnert
deutlich an Jacques Tati, mit der inständigen
Bitte an notorische Weltverbesserer, ihre geplagten Mitmenschen in Ruhe zu lassen. Hamers
Intelligenz ist die eines Menschenfreundes
mit Scharfsinn. Ausstattung, schauspielerische
Leistung und anderes trug dazu bei, dass Kitchen
Stories viele Preise gewann und im In- und
Ausland wohlverdient viel gute Kritik erntete.
Kitchen Stories
Filmszene mit ihrem Medium bestens vertraut
ist. Es stellt die natürliche Ausdrucksform dieser
Generation dar. Außerdem stehen Schauspieler
zur Verfügung, die Ideen und Gedanken mühelos
aufgreifen und umsetzen.
Die Jahrtausendwende
Aber zurück zur Jahrtausendwende, mit der
es erst so richtig losging. Weit jenseits des
Polarkreises nehmen die Mitglieder eines
Männerchors Aufstellung in Schnee und Wind,
während das Eismeer hinter ihren sturmgebeugten Rücken dröhnt und schäumt. Unter weißen
Mützen sammelt sich immer mehr Schnee und Eis
in den Bärten und Augenbrauen der Männer.
Auch nicht weniger rauhe Lebenserfahrungen
werden in diesem Dokumentarfilm mit dem Titel
Heftig und Begeistert über den Männerchor
des Fischerdorfes Berlevåg in der nordnorwegischen Region Finnmark präsentiert. Licht und
Dunkelheit, Kälte und Einsamkeit, Wärme und
Vision, Schrecken und Schönheit entfalten sich
vor dem Hintergrund gefrorener Szenerien, zarter Stimmungen und häuslicher Wärme, wobei
gleichzeitig ein deftig-bissiger Humor den handfesten Kontakt zur Wirklichkeit verrät.
Die Existenz des Fischerdorfes Berlevåg in
Finnmark ist genauso bedroht wie die anderer
kleiner Gemeinden in den ländlichen Gebieten
Norwegens. Knut Erik Jensen, selbst aus
solch einem weitabgelegenen, frostig-stürmischen Ort stammend, führte mit poetischer
Sensibilität die Regie zu diesem Film. Dieses
Meisterstück von einem Dokumentarfilm lockte
in Norwegen so viel Publikum in die Kinos,
dass die Besucherzahlen Rekordhöhen erreichten, und erregte auch international Aufsehen
– unter anderem in den USA, wo Jensen später
eine Fortsetzung mit dem Titel Heftig und
Dies bestätigt den Eindruck, dass die norwegische Begeistert II über die Tournee des Chores durch
die Gebiete norwegischstämmiger Amerikaner
filmte. Überschattet durch die Ereignisse des 11.
September war dies ein weniger erfolgreiches
Projekt.
Im Jahr 2004 versuchte sich Jensen an einem
dritten Dokumentarfilm-Projekt mit dem wagemutigen Portrait einer Revue-Truppe in Finnmark,
im äußersten Norden des Landes. På hau i havet
ist der burlesken Karnevalstradition zuzurechnen,
wie man sie von kontinentalen Regionen Europas
kennt, in der das einfache Volk gegen die
Obrigkeit opponiert. Auch die dokumentarische
Portraitierung dieser Form von Gemeinschaft war
beim Publikum weniger erfolgreich.
Diese Dokumentarfilme sind ein Versuch, das
traditionelle Bild Norwegens zu bestätigen.
Gleichzeitig hat Jensen eine enge Verbindung zur
Kultur des Nachbarlandes, und zwar des russischen. Die Ästhetik und Thematik des Filmpoeten
Andrej Tarkowskij spuken im Hintergrund der
drei Spielfilme, die auch aus Jensens Produktion
stammen und ein mystisches Verständnis der
Wirklichkeit vermitteln, mit stark symbolistischen
Zügen, und oftmals umgestzt mithilfe modernistischer Techniken. Die Titel dieser Filme: Stella
Polaris (1993), Brent av frost (1996) und Når
mørket er forbi (2000).
Der Schriftsteller Alf R. Jacobsen, gleichzeitig
ein herausragender Vertreter des investigativen
Journalismus, lieferte die Drehbuchgrundlage zu
allen dieser drei Filme Jensens. Der norwegische
Film war in der Tat undenkbar ohne Verfasser
und Verlage, denn ohne diese wären ganz einfach weniger Filme zustande gekommen, und
zwar weitaus weniger. Mehr als die Hälfte aller
Projekte gründen in der Literatur, die inspiriert
und zu visuellen Neuinterpretationen anregt.
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Kristin Lavranstochter
Elastischer Elling
Im ungewöhnlichen Filmjahr 2001 tauchte also
- nach einer äußerst beliebten Romanserie und
der Dramatisierung für das Theater - der Film
Elling auf. Von einer Gesamtbevölkerung von 4,5
Millionen ließen sich mehr als 700 000 Menschen
aus dem heimischen Fernsehsessel locken, um die
elastische Komödie zu verfolgen. Auch über eine
halbe Million Deutsche erlebten sie im Kino. Sie
war ein Festival-Erfolg in Bombay, nachdem sie
vorher eine Oscar-Nominierung errungen hatte.
Danach trat Elling seinen Siegeszug durch Europa
als Theaterstück an.
DER TELEGRAFIST
Osloer Westend. Die Werke des Dramatikers Jon
Fosse werden auf Bühnen in der ganzen Welt
aufgeführt, wie die eines neuen Henrik Ibsen. Er
weiß, wie man provoziert, was man auch auf der
Berlinale von 2004 erleben durfte mit Romuald
Karmakars deutscher Version von Natta syng sine
songar (Die Nacht singt ihre Lieder). Die knappe
Form und die unterkühlten Gefühle riefen umso
mehr Temperament bei den Reaktionen hervor.
Der norwegische Film hat sich besonders eifrig
bei den drei Nobelpreisträgern der Literatur,
die das Land bisher hervorbrachte, bedient, zu
denen erstaunlicherweise nicht der Dramatiker
Ibsen gehört. Als das im Mittelalter spielende,
Zusammen mit einem Kameraden soll Elling
norwegische Nationalepos Kristin Lavransdatter
gezwungen werden, sich von Zwangsneurosen
und sozialer Berührungsangst zu befreien. Elling
(Kristin Lavranstochter) von Sigrid Undset verstrotzt geradezu vor Gehemmtheit und bedient
filmt werden sollte, musste Norwegens einzige
sich seiner halsbrecherischen Phantasie und
internationale Filmpersönlichkeit, Liv Ullmann, die
eines äußerst individuellen Stils in den oberInitiative ergreifen. Sie schloss sich mit Ingmar
sten Stimmlagen, um alle irgendwie mit Stress
Bergmanns virtuosem schwedischen Kameramann
verbundenen Herausforderungen erfolgreich zu
Sven Nykvist und einer langen Reihe guter
umgehen. Sein Freund ist vom schwerfällig-erdnorwegischer Schauspieler zusammen, um ihre
verbundenen Typ, auf eine naive Art. Ein hervorra- dreistündige Interpretation des ersten Bandes der
gendes Zusammenspiel bewirkt zuverlässig, dass Undset-Trilogie, die 1928 mit dem Nobelpreis für
Angst und Verängstigung mit Gefühl, Schwung
Literatur ausgezeichnet wurde, zu realisieren.
und graziöser Menschlichkeit geschildert werden.
Der Verfasser Ingvar Ambjørnsen gehört zu den
Ein goldenes Zeitalter
besten Lieferanten von Ausgangsmaterial für nor- Der Film wurde zu Norwegens bisher teuerster
wegische Filme. Ein Mann, der seiner Gegenwart und umstrittenster Produktion aller Zeiten.
Ausdruck verleiht.
Ullmann selbst bezeichnet den damit verbundenen Arbeitsprozess als den schwierigsten ihres
Der norwegische Film war undenkbar ohne die
Lebens. Der Film fegte dann jedoch in den Kinos
Belletristik und ihre Verfasser. Diese Verbindung
seines Ursprungslandes sämtliche Kritik hinist durchaus dem Prinzip der Mode unterworfen. weg und schuf die Atmosphäre eines goldenen
Einmal war es der wortkarge Symbolist Tarjei
Zeitalters. Die Norweger zogen in Scharen in die
Vesaas aus der norwegischen Region Telemark,
Lichtspielhäuser, um das Epos von der kühnen
der die Filmstoffe lieferte. Später war es der eher Kristin und ihrer nicht ganz unproblematischen
nervös-urbane Knut Faldbakken. Dann kam Lars
Begegnung mit der Liebe unter dem (noch)
Saabye Christensen, der nicht nur Knut Hamsun
katholischen Himmel zu sehen. Im Ausland wird
für die Leinwand umdichtete, sondern auch seine der Film in gekürzter Fassung gezeigt.
eigenen Romane über Kindheit und Jugend im
Ansonsten ist Knut Hamsun derjenige unter den
norwegischen Trägern des Literaturnobelpreises,
der Filmleute am häufigsten zu inspirieren
scheint; nicht nur durch sein Werk, sondern auch
durch sein Leben. 1996 fand die Premiere eines
längeren biographischen Films statt, eigentlich
einer Fernsehserie über Hamsuns ganzes Leben,
je nach Altersstufe dargestellt von drei verschiedenen Schauspielern. Gåten Knut Hamsun
(Das Rätsel Knut Hamsun) stammt von Bentein
Baardson und ist ein Versuch, den vielen Facetten
des Dichters aus gänzlich norwegischer Sicht
gerecht zu werden. Er basiert auf der Biographie
des Engländers Robert Ferguson.
Den Anfang machte hierbei allerdings der
Schwede Jan Troell, der den leidenschaftlich
umstrittenen Dokumentarroman Prosessen mot
Hamsun (Der Prozess gegen Hamsun) des Dänen
Thorkild Hansen verfilmte, mit Max von Sydow
in der Hauptrolle und der dänischen Ghita Nørby
als Ehefrau Marie. Hamsun unterstützte Hitler im
Zweiten Weltkrieg, bat aber gleichzeitig bei der
deutschen Besatzungsmacht um Begnadigung
zum Tode verurteilter Norweger. Nach dem Krieg
kam es zu einer Abrechnung mit dem derzeit
weltweit bekanntesten Norweger, in deren
Verlauf der alternde Dichterfürst endgültig für
geistig unzurechnungsfähig erklärt wurde. Diesem
Urteil entzog Hamsun dann jegliche Grundlage,
indem er das intellektuell beeindruckende Werk
På gjengrodde stier (Auf überwachsenen Pfaden)
verfasste.
Der Prozess war eine peinliche Angelegenheit für
alle Seiten, und sehr emotionsgeladen. Deshalb
musste es wohl ein Nicht-Norweger sein, der
diesen Stoff verfilmte. Es ist eine unbestrittene
Tatsache, dass von Sydow hierbei Hamsun mit
viel Würde und Einfühlungsvermögen darzustellen versteht. Hamsun war jemand, der immer in
seiner eigenen Welt gelebt hat, der sich seinem
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HERMAN
Prozess aber als aufrechter Mann stellen wollte.
Trotz aller juristischen und politischen Aspekte ist
der Film in der Hauptsache eine bewegende und
tragische Liebesgeschichte.
Hamsun ist der meistverfilmte norwegische
Romanautor, abgesehen von Ibsen, dessen
Dramen noch häufiger auf die Filmleinwand
übertragen worden sind. Der erste, der jemals
Hamsun verfilmte, war der Däne Gunnar
Sommerfeldt, der sich 1921 an Markens grøde
(Segen der Erde) heranwagte - das Werk, das
Hamsun den Nobelpreis eingebracht hatte. Die
Filmaufnahmen wurden in den schönsten Teilen
Nordnorwegens gemacht und waren lange Zeit
verschwunden, bis sie in den USA wiedergefunden wurden. Das Norwegische Filminstitut ließ
sie in den Niederlanden restaurieren. Sie werden
als lebende Romanillustration bezeichnet und
heutzutage häufig aufgeführt, mitsamt der von
dem Dirigenten und Geiger Leif Halvorsen komponierten Originalmusik, die zur Stummfilmzeit
auf Notenblättern an die Kinos verschickt wurde.
Im Jahr darauf, also 1922, entstand der erste
norwegische Film ohne ausländische Beteiligung:
Pan – fem akter og en epilog (Pan – Fünf Akte
und ein Epilog). An dieser Stelle sollte erwähnt
werden, dass das dänische Filmgenie Carl Th.
Dreyer zwei seiner Filme in Norwegen gedreht
hat, wobei Glomdalsbruden (Die Braut von
Glomdal) der Nationalromantik in den hintersten
Winkeln ländlich-abgelegener Täler Norwegens
stärker Ausdruck verliehen hat als jemals irgendein anderer Film. Ein Großbauer wählt einen reichen Mann zum Schwiegersohn, während seine
Tochter einen anderen heiraten möchte. Hier war
Dreyer schon weit fortgeschritten auf dem Weg
zu seiner enormen Virtuosität, die er ein paar
Jahre später in vollem Umfang mit Jeanne d‘Arc
unter Beweis zu stellen begann.
SONNTAGSENGEL
Der Däne Henning Carlsen hat seinerzeit
die beste Verfilmung eines Hamsun-Romans
gemacht: Sult (Hunger), mit der unvergesslichen
Darbietung des Schweden Per Oscarsson in
der Hauptrolle. Vor 10 Jahren entstand, auch
unter Carlsens Regie, Pan: ein Film, der zwar
nicht das gleiche Niveau erreicht, der aber die
Anziehungskraft nachvollziehbar macht, die
der Sprachvirtuose Hamsun nach wie vor auf
Filmleute ausübt, seien sie norwegischer, dänischer oder sonstiger Herkunft.
Am erfolgreichsten scheinen die Filmemacher
zu sein, wenn es um Hamsuns ‚kleinere’ Werke
geht, wie am Beispiel des Films Telegrafisten
(Der Telegrafist) nach dem Kurzroman
Sværmere (Schwärmer) deutlich wird. Der Film
von Erik Gustavson kam in die Auswahl des
Hauptwettbewerbs der Berlinale von 1993. Das
war das erste Mal nach neunzehn Jahren, dass
einem norwegischen Film diese Ehre zuteil wurde
– beim zweitwichtigsten Filmfestival der Welt.
Black Eyes ähnelt. Dem unfehlbar stilsicheren Erik
Gustavson scheint die Hauptfigur des Films, die
des Schürzenjägers und Tagträumers Rolandsen,
offensichtlich zu liegen. Hamsuns unwiderstehlicher Telegraphist macht eine Erfindung, die
sein eigenes Leben und das der malerischen
Galerie seiner Mitmenschen völlig auf den Kopf
stellt. Philip Øgaards Kameraführung übertreibt
an keiner Stelle den ästhetischen Aspekt - und
das, obwohl die märchenhafte Landschaft im
Norden Norwegens, mit ihren scharfkantigen,
steil aus dem Meer aufragenden Gipfeln, zum
Abgleiten ins übertrieben Pittoreske geradezu
einlädt. Jedoch zeigen sich leicht schönfärberische Tendenzen in der Darstellung einer gewissen
Idylle im hochsommerlichen Nordnorwegen, die
meilenweit entfernt ist von Frost und Sturm, die
im rauhen Alltag dieser Klimazonen, sozusagen
am Ende der Welt, an der Tagesordnung sind.
Internationale Inspiration
Die norwegische Filmszene ist zu Recht fasziniert
von Nordnorwegen. Im Jahre 2002 hat eine
weitere Literaturverfilmung Premiere: Jeg er Dina
Der Telegrafist ist kein besonders origineller
Film, aber er führt uns an die wunderschöne
(Ich bin Dina) nach dem Roman Dinas bok (Das
Küste der Region Nordland und auf Hamsuns
Buch Dina) der nordnorwegischen Schriftstellerin
Insel namens Kjerringøy, was allein schon ein
Herbjørg Wassmo. Gerard Dépardieu ist in einer
märchenhaftes Abenteuer ist. Die Kinogänger,
der Hauptrollen zu sehen, die norwegisch-schwedie Babettes Gjestebud (Babettes Fest) gesehen
dische Schauspielerin Maria Bonnevie spielt Dina,
während der Däne Ole Bornedal (Nattevakten/
haben (von der Romanautorin Karen Blixen in
Nordnorwegen angesiedelt, vom Filmemacher
”Die Nachtwache”) Regie führt in diesem
Gabriel Axel jedoch ins ach so dänische Jütland
gesamtnordischen Film, der ein Budget von weit
verlegt) und auch die bezaubernd tschechoweske über 100 Millionen norwegische Kronen verKomödie Black Eyes des Russen Nikita Mikhalkov, schlungen hat, und auf dem heimischen Terrain
der Hamsun-Filme gedreht wurde.
werden sich ganz wie zu Hause fühlen – was
die Atmosphäre des Films angeht – an der
Der norwegische Film orientiert sich also auch
Küste von Nordland und rund um Hamsuns
nach außen. Heutzutage kommt kaum eine
Heim auf der Insel Kjerringøy. Und das nicht
Produktion ohne nordische Zusammenarbeit
nur wegen Schwedens unnachahmlichem Jarl
zustande. Gleichzeitig werden durch die vielKulle (auch in Babettes Fest zu sehen) und einer
fältigen Programme der Filmförderung die
seiner schauspielerischen Höchstleistungen, die
Verbindungen zu Europa immer enger.
in mancher Weise der Marcello Mastroiannis’ in
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Soweit die Kräfte reichen
Erik Gustavson ist einer der norwegischen
Filmemacher, die sich nach außen orientieren.
Mit seinem ersten Film, Blackout, kopierte er
die düsteren amerikanischen Schicksalsdramen
des Film Noir der vierziger Jahre. Etwas weiter
unten auf der Liste seiner Werke findet man
die Komödie Herman, einen Film voller ‚tristem Charme’ und mit ziemlich universeller
Ausstrahlung. Gustavson erzählt hier über das
Oslo seiner Kindheit, wofür er den gleichnamigen
Roman des Schriftstellers Lars Saabye Christensen
zur Grundlage nahm. Bei Herman geht es um
einen Zehnjährigen, der sein Haar verliert. Der
Film reflektiert damit auch die Tatsache, dass sich
die Hälfte aller norwegischen Filmproduktionen
an Kinder und Jugendliche richtet. Genau wie
in den übrigen nordischen Ländern legt man
in Norwegen großen Wert darauf, die jüngeren
Altersgruppen zu ‚bedienen’ - mit Filmen, die
jedoch häufig das Ziel haben, der ganzen Familie
etwas zu bieten.
Überaus beliebt waren die Filme über die
jugendlichen Detektive Pelle und Proffen. Der
erste in dieser Reihe, Døden på Oslo S („Der
Tod im Osloer Hauptbahnhof“), 1990 gedreht
von Eva Isaksen, erreichte rekordverdächtig
hohe Besucherzahlen mit seiner lebendigen
Schilderung von Jugendlichen aus einem benachteiligten Milieu, wo Konflikte im Elternhaus und
Drogenmissbrauch an der Tagesordnung sind. In
der Fortsetzung, Giftige løgner (Giftige Lügen),
wird die Detektivtätigkeit auf das Gebiet des
Umweltschutzes sowie der Umweltkriminalität
ausgeweitet; auch dies ein populäres Werk. Ein
dritter Film aus dieser Serie heißt De blå ulver
(Die blauen Wölfe), und all dies stammt aus der
Feder des vielseitigen Ingvar Ambjørnsen.
Den meisten Charme von allen versprüht jedoch
der Film Frida – med hjertet i hånden (Frida
und die Liebe), Regie Berit Nesheim. Diese Figur
erschien erstmals in einer Fernsehserie, im öffentlich-rechtlichen Sender NRK, über ein Mädchen
am Anfang der Pubertät, das zusammen mit
Für und über Jugendliche
seiner Schwester und seiner alleinerziehenden
Der beste Film dieser Art kam in den
Mutter lebt. Sie verfügt sowohl über einen
Hauptwettbewerb der Berlinale und wurde dort
1995 mit dem „Blauen Engel Preiz“ ausgezeich- pubertäts- und hormongeschüttelten Körper, wie
auch über die zeitgemäße Körpersprache und
net. Dies war die erste einer langen Reihe von
internationalen Auszeichnungen für Marius Holst das entsprechende Vokabular. Frida wird mit
unvergleichlicher Präzision von Maria Kvalheim
und sein Erstlingswerk Ti kniver i hjertet (Zehn
gespielt, die damit über Nacht zum jugendlichen
Messer im Herzen), ein dunkel-mephistophelisches Drama. Auch in diesem Film geht es darum, Star in Norwegen und bei vielen internationalen Filmfestspielen wurde, bei denen Berit
wie Kindheit und Jugend in Oslo erlebt werden,
und wie in einem ‚normalen’ norwegischen Alltag Nesheims Film viele Preise, nicht zuletzt auch
das Böse zum Vorschein kommt. Auch hier ist das Publikumspreise, verliehen wurden. In Norwegen
lockte dieser Film die ganze Familie ins Kino.
Drehbuch von Lars Saabye Christensen.
Berit Nesheim erkämpfte sich eine OscarNominierung - die dritte für einen norwegischen
Gustavson hat außerdem aus Jostein Gaarders
internationalem Bestseller für Jugendliche, Sofies Spielfilm - mit Søndagsengler (Sonntagsengel),
verden (Sofies Welt), eine Fernsehserie sowie
einer weiteren bittersüßen Kostprobe ihrer
eine kürzere Kinoversion gemacht, die allgemeine Einblicke in die seelischen Turbulenzen der
Jugend.
Anerkennung fanden, und solide handwerkliche
Qualität mit einer ersten Einführung in den philosophischen Inhalt des Romans verbanden.
Die Drehbuchautorin von Frida und die Liebe
heißt Torun Lian, die 1998 ihr nüchtern-tragikomisches Erstlingswerk als Regisseurin nach
einem eigenen Roman drehte. Bare skyer beveger
stjernene (Nur Wolken bewegen die Sterne)
folgt dem Schicksal der elfjährigen Maria, die
ihren kleinen Bruder an den Krebs verliert und
ihre Mutter in Depressionen versinken sieht. Es
handelt sich hierbei um einen Anti-Action-Film,
gleichermaßen geprägt von Verstand und Gefühl.
Es hagelte Preise und Auszeichnungen weltweit,
unter anderem den Ingmar Bergman-Preis. Der
Film scheut sich nicht, den Ernst des Lebens
sowohl ernst als auch leicht zu nehmen, in einer
befreienden Mischung und mit einer Prise Humor.
Lian wird bald wieder auf der Bildfläche erscheinen mit ihrem nächsten Film Ikke naken (Die
Farbe der Milch).
Aus Finnmark
Ein großes Talent kam vor fast 20 Jahren aus
der Hochebene von Finnmark: Nils Gaup ist
samischer Herkunft und mit den verschiedensten Aufgaben betraut. Bislang war sein erster
Film auch der erfolgreichste; zur Zeit arbeitet
er an einem Werk, das auf der Hochebene
von Finnmark spielt und von einem Aufstand
des samischen Volkes gegen die norwegische
Obrigkeit im Jahre 1852 handelt.
Gaups Erstlingswerk Veiviseren (Der Pfadfinder)
wurde im 70 Millimeter-Breitwandformat lanciert,
welches nie zuvor in einem nordischen Land zur
Anwendung gekommen war. Der Film basiert auf
einer Legende aus dem 13. Jahrhundert, wobei
für die Dialoge die Minderheitssprache Samisch
gewählt wurde. Dieses waghalsige Projekt, an
das nur wenige geglaubt hatten, wurde mit
einer Oscar-Nominierung belohnt – und einem
nahezu weltweiten Erfolg in den Kinos mit für
einen norwegischen Film ungewohnt hohen
Besucherzahlen, und obendrein durchaus beeindruckten Kritikern.
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FANT
Hintertupfinger Grand Prix
All der Wirbel in den Medien erregte die
Aufmerksamkeit der Walt Disney-Tochter
Buena Vista und das Interesse dieser großen
Filmgesellschaft an Nils Gaup, die daraufhin in
sein neues Projekt, Håkon Håkonsen (Håkon
Håkonsen/Gestrandet), mit einstieg.
Diesmal ging es nicht um eine samische Legende,
in der ein junger Mann angreifende Eindringlinge
mit Klugheit in die Flucht schlägt, inklusive
Bärenkämpfe und ungefähr wie Hollywoods
altmodische Indianerfilme – die wenigen
Male, bei denen die Indianer die Oberhand
behielten. Dafür gab es eine Menge Exotismus
herauszuholen aus dem mehr als hundert
Jahre alten Abenteuerbuch für Jungen über
einen norwegischen Robinson Crusoe, der bei
seiner Weltumsegelung in einem kleinen Boot
in die Südsee kommt. Nils Gaup hat auch den
‚Räuberfilm’ mit dem Titel Tashunga gedreht, der
Oslos Umgebung in der ‚Rolle’ des Klondyke der
Goldgräberzeiten zeigt, und eine recht nüchterne
Verfilmung des jungen Lebens von Schriftsteller
Aksel Sandemose mit dem Titel Misery Harbour.
Gaup kehrte zurück zur Finnmark-Hochebene
mit seinem Kautokeino-opprøret: 2008 ein
Riesenpublikumserfolg in Norwegen. Hier
thematisiert er ein totgeschwiegenes historisches Ereignis aus dem Jahr 1852: einen
Aufstand der Lappen gegen die norwegischen
Behörden, der blutig niedergeschlagen wurde.
Dieses wenig ruhmreiche Kapitel norwegischer
Kolonialgeschichte wird nüchtern und sachlich erzählt – ein ”Northern” mit Kurosawa,
Leone und John Ford samt Indianerfilmen unter
seinen Vorbildern. Der Film über die verfolgten Ureinwohner präsentiert sich, genau wie
Veiviseren, nahezu in Form einer Sage. Jedenfalls
handelt es sich um ein eisiges, stürmisches und
blutiges Stück Geschichte – reflektiert in einer
sehr persönlichen Bearbeitung. Hier häufen sich
Die Ehefrauen
atemlose Kontraste, existentielle Entscheidungen,
gefolgt von Verrat und Niedertracht, Heldentum
und Schicksal, Blut und Feuer. Und es geht mit
tosendem Rentierauftrieb über die wei_schimmernde Hochebene in ihrem verzauberten
Tageslicht auf der Panorama-Leinwand.
Darüberhinaus erfreuen sich die Norweger eines
fast magischen Gefühls der Verbundenheit
mit der Natur als dem angeblich Einfachen,
Ursprünglichen und Unverwüstlichen. Das
Wunderlichste, was man in diesem Land erleben
kann, ist die alljährliche Pilgerfahrt in die Berge,
an der fast die gesamte Bevölkerung Norwegens
zu Ostern geschlossen teilnimmt. Wenn der
Die Natur als Inspirationsquelle
Schnee endlich das Land verlässt, wollen die
Die Berge und das Meer in Bild und Ton sind
Norweger plötzlich mehr davon. Sie verlassen
ein typisches ‚Markenzeichen’ des norwegischen
eilends ihre Wohnstätten und stürmen in die
Films, was sich in Nils Gaups Filmen mit großer
Berge, um sich dort schnurstracks auf die letzten
Authentizität widerspiegelt. Die norwegische
Schneewehen zu stürzen. Die Übereinstimmung
Filmgeschichte begann mit einem Drama, das
zwischen Landschaft und Gemüt ist auffällig groß
von den Wellen des Meeres ‚getragen’ wurde.
– und sie ist ein wesentliches Element norweIm Jahre 1907 wurde ein Boot zu Wasser gelasgischer Filmkunst, auch da, wo die Landschaft
sen in Frognerkilen, einem ruhigen Meeresarm
nicht so sanft ist und das Gemüt sich daher von
mitten im Herzen von Oslo, wo die See – zugeSchwermut gezeichnet depressiv in sich selbst
gebenermaßen – so still und glatt war wie ein
verschließt, oder aber heldenhaft den Kampf
Ententeich. Das Resultat, Fiskerlivets farer („Die
Gefahren im Leben eines Fischers“) führte gleich- aufnimmt mit den Unbilden der Witterung, dem
Ungemach beim Fischfang und der schwachen
wohl zu Stürmen - der Begeisterung – durch
seine Schilderung der harten Lebensbedingungen, Konjunktur.
die das Los der Norweger in ihrem Kampf mit
den Elementen seit ewigen Zeiten bestimmten.
Oscar-Nominierungen
Verglichen mit Der Pfadfinder und seinen kunstInternational betrachtet waren norwegische
vollen Kamera-Gemälden, die das gesamte Kino
Filme immer dann am erfolgreichsten, wenn
ausfüllen, wirkt dieser Auftakt zur Geschichte des sie ein Hauch von Abenteuer umgab, und der
norwegischen Films recht angegraut, aber von
Abglanz berühmter Polarforscher wie Roald
Thema und Inhalt her schon durchaus typisch.
Amundsen und Fridtjof Nansen sie erstrahlen
ließ. Bezeichnenderweise handelt der einzige
Der norwegische Film hat die Natur sozusagen
Film dieses Landes, für den jemals eine Oscarauf einem silbernen Tablett serviert bekommen,
Statuette zuerkannt wurde, von der Fahrt des
wie das Geschenk eines verschwenderisch
Balsaholz-Floßes Kon-Tiki über den Stillen Ozean.
großzügigen Bühnenbildners mit viel Sinn
Thor Heyerdal reiste hier eigentlich im Kielwasser
für Dramatisches, mittels welliger Konturen
des Forschers und Entdeckungsreisenden Fridtjof
und abrupter Kontraste. In den nordischen
Nansen; die Wellen schlugen über das Floß, als
Ländern hat die mit der Kamera ausgeführte
befände es sich in den heimischen Fischgründen
Landschaftsmalerei Tradition. Norwegische
des stürmischen Nordmeeres. Sechs Jahre später,
Kameraleute, heutzutage unter den besten der
im Jahre 1957, gab es zwar wieder eine OscarWelt, pflegten sich jedoch die Natur auf etwas
Nominierung, aber Arne Skouen und seine Ni liv
kommerziellere Weise zunutze zu machen als
(Soweit die Kräfte reichen) mussten sich gegen
beispielsweise ihre schwedischen Kollegen.
den großen Fellini geschlagen geben. Auch in
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Der Pfadfinder
diese film wird ein Kampf ums Überleben gegen
die Elemente dargestellt. Die Geschichte spielt
während der Besetzung Norwegens durch NaziDeutschland und schildert, wie ein an Land abgesetzter Soldat sich von der Küste Nordnorwegens
durch See, Schnee, Gebirge und Sturm bis ins
neutrale Schweden durchkämpft, und dabei
unterwegs Unterstützung erhält.
Es war auch der nördlichste Teil des Landes
– mit seiner Urbevölkerung, der den Hintergrund
für die nächste Oscar-Nominierung lieferte, gut
30 Jahre später. Der Pfadfinder ist randvoll mit
Handlung und Stunts, aber in der Hauptsache
geprägt von einer trotzigen, geradezu heroischen Menschlichkeit, und einer einfühlsamen
Kameraführung gegenüber den Naturgewalten.
Berit Nesheims Sonntagsengel, der 1997
nominiert wurde, ist dagegen geprägt von den
zerrissenen Landschaften innerer Konflikte. Im
Jahr 2002 wurde auch Elling für einen Oscar
nominiert.
Zwei Generationen
Norwegen ist immer schon eine ‚Poetokratie‘
gewesen, in der die Dichter ihre Stimmen am
lautesten erhoben haben. Jeder Winkel des
Landes hat seinen eigenen Dichterfürsten hervorgebracht, der dem Geistesleben seinen Stempel
aufgedrückt oder eifrig die Gesellschaft nach
eigenen Vorstellungen geformt hat. Die norwegische Filmwelt hingegen hat es in dem Punkt
nicht so weit gebracht; man hielt sich lange an
die bewährten volkstümlichen Erzählformen
und wurde dafür entsprechend mit Verachtung
gestraft, was man in der neueren Filmforschung
mittlerweile als ungerechtfertigt betrachtet. Wenn
man bedenkt, welch überwältigende Schatten
literarische Größen wie der Nobelpreisträger Knut
Hamsun, der lebhafteste Prosalyriker, der sich
denken lässt, werfen, oder auch der eher ernste
Dramatiker Henrik Ibsen, dessen Werk präziser
die Tatsache widerspiegelt, dass Norwegen weni-
ger das Land ausgelassener Verspieltheit, als vielmehr das Land wohlgeordneter Gutbürgerlichkeit
ist, dann wird verständlich, dass die Filmszene
etwas ins Hintertreffen geriet. An dieser Stelle
sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Ibsens
Enkelsohn, gleichzeitig auch der Enkel von
Ibsens Zeitgenossen, dem Dramatiker, Lyriker
und Sozialkritiker Bjørnstjerne Bjørnson, sich als
äußerst engagierter und innovativer Filmemacher
hervorgetan hat. Tancred Ibsen, der aus den
erwähnten offensichtlichen Gründen ‚der DoppelEnkel’ genannt wurde und zweifellos etwas
darunter litt, arbeitete nahezu vierzig Jahre lang
in vielen verschiedenen Filmgenres. Dieser Spross
des Ibsen-Klans schwankte dabei zwischem der
volkstümlichen Sparte einerseits und dem eher
ernsten anspruchsvollen Bereich andererseits.
In den Augen vieler ist Ibsens frisch-fröhlicher
Räuberroman auf Zelluloid über den munteren
norwegischen Robin Hood des Gebirges, Gjest
Baardsen, nach wie vor der beste norwegische
Film, obwohl er aus dem Jahre 1939 stammt.
Diese positive Resonanz verdankt sich nicht nur
der Tatsache, dass hier typisch urnorwegische
Grundhaltungen reflektiert werden, wie der
Widerstand freier Individualisten gegen Obrigkeit
und Bürokratie, sondern auch der erfrischendaufmunternden Wirkung auf die Seele, die die
Bilder milder Sommertage samt frischer Brise
im Gebirge ausüben. Mit Ibsens Zustimmung
beschloss die norwegische Vereinigung der
Filmkritiker, die Auszeichnung für den besten Film
– ob norwegisch oder ausländisch – beim heimischen Filmfestival in Haugesund an Norwegens
Westküste „Gjest Baardsen-Preis“ zu nennen.
Was durchaus nicht als Zufall zu werten ist.
Im Jahr zuvor drehte Ibsen einen Film in
Norwegens Arkadien, dem Sommerparadies
der südnorwegischen Küstenlandschaft, nach
dem Buch Fant des Schriftstellers Gabriel Scott.
Fant von 1937 ist jedoch die Geschichte von
Vagabunden, einem fahrenden Volk, das mit klei-
nen Booten von einem Fischerdorf zum nächsten
fuhr und sich Bezeichnungen zuzog, die damit
zusammenhingen, dass nicht immer ganz genau
zwischen Mein und Dein unterschieden wurde.
Der Schauspieler Alfred Maurstad, der auch
Gjest Baardsen spielte, zeichnet hier ein weiteres
dynamisch-kraftvolles Portrait, pfiffig und zäh, in
einem Stück norwegischer Sozialgeschichte, verpackt in einer guten Geschichte.
Um noch etwas bei den Pionierzeiten zu verweilen: Hier darf ein weiterer großer Name nicht fehlen, nämlich der des scharfzüngigen Kolumnisten
Arne Skouen von der liberalen Tageszeitung
Dagbladet, der von 1948 an im Laufe von 20
Jahren siebzehn Filme machte. Außer mit Soweit
die Kräfte reichen und anderen Kriegsdramen
machte er durch zeitkritische Dramen in der Form
des Dokumentarfilms auf sich aufmerksam. Bei
ihm verband sich der messerscharfe Verstand
mit einer besonnenen Erzähltechnik. Skouen
gab nie Anlass zum Zweifel an seiner polemischen Absicht – noch an seiner herausragenden
Stilsicherheit, wie zum Beispiel in Kalde Spor
(Kalte Spuren) von 1962 deutlich wird. Dieser
Film lässt einen Widerstandskämpfer des Zweiten
Weltkrieges den verzweifelten Versuch unternehmen, mit seiner enttäuschten Liebe abzurechnen,
was jedoch durch eine fatale Fehleinschätzung
im schneebedeckten Gebirge Norwegens 12
Kriegsflüchtlinge das Leben kostet. Ein eindringliches Beispiel für den ethischen Realismus in
Skouens anspruchsvollen Werken.
Skouen beschloss seine Karriere im Jahre 1969
mit seinem ersten Farbfilm – mit Sven Nykvist an
der Kamera. Der Film basiert auf einem Roman
von Johan Falkberget und schildert einfühlsam
die Lebensbedingungen der einfachen Leute, die
im Bergbau um den Ort Røros arbeiteten. In einer
verfrorenen und ausgehungerten Welt ist das,
was zählt, damals wie heute, einander das Gefühl
von Wärme und Zusammengehörigkeit zu geben.
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INSOMNIA
JUNK MAIL
Wenn der Postmann gar nicht klingelt
Die Figur der An-Magritt (Ich heisse An-Magritt)
wird von Liv Ullmann dargestellt: die starke und
energische Kohlenfahrerin, die sich in keiner
Weise damit abfinden will, als seelenlose Kreatur
behandelt zu werden; die wohl beste Rolle
Ullmanns in einem norwegischen Film.
Trickfilm
Kinderfilme sind ein Schwerpunkt im Bereich
Film in Norwegen, wobei im Laufe der Zeit eine
Reihe hervorragender Resultate zu verzeichnen waren und sind. Ob der Filmemacher Ivo
Caprino nun eigentlich Kinderfilme herstellte
oder nicht, ist umstritten. Er schuf jedenfalls
eine eigene Welt aus Puppen, und bevorzugte norwegische Volksmärchen bei der Wahl
seiner Motive. Der vielseitige Ivo Caprino, die
norwegische Antwort auf Walt Disney, machte den möglicherweise besten norwegischen
Film der letzten 25 Jahre: Flåklypa Grand Prix
(Hintertupfinger Grand Prix). Er verbindet pfiffige Bauernschläue und bodenständigen Humor
mit raffiniertester Puppentricktechnik in einem
filmischen Meisterwerk, das ein für norwegische
Verhältnisse ungeheuer großes Publikum fand.
Flåklypa liegt in 16 verschiedenen Sprachen vor,
was für einen norwegischen Film ganz unerhört
ist. Caprino stellte auch kürzere Nachdichtungen
norwegischer Volksmärchen her, die sich als
genauso langlebig erweisen wie Flåklypa. Der
Norweger mit dem italienischen Namen ist ein
Geschichtenerzähler, der im norwegischen Kino
und Fernsehen noch lange weiterleben wird.
CABiN FEVER
und Zeichners Kjell Aukrust, die geradezu bersten
vor ungestümer Lebensfreude. Auch dieser Film
wurde ein enormer Publikumsrenner, wenn auch
nicht mit der gleichen künstlerischen Dimension
wie Flåklypa. Später erschienen dann Karlsson
på taket (Karlsson vom Dach), auch eine John M.
Jacobsen-Produktion, basierend auf den Büchern
von Astrid Lindgren, und Der Kapitän Säbelzahn,
die Zeichentrickausgabe der Abenteuer eines
überaus beliebten norwegischen Piraten.
Nachkriegszeit
Im Jahre 1949 gab Norwegens erster weiblicher
Regisseur, Edith Carlmar, ihr aufsehenerregendes Debut. Døden er et kjærtegn (Der Tod hat
mich lieb) ist ein äußerst raffinierter Film Noir
über dunkelste Leidenschaft im grauesten Alltag
samt verborgener Verrücktheit, die sich über alle
Klassenschranken hinwegsetzt. Der Film hat in
den letzten Jahren in Frankreich, Grossbritannien
und den USA eine Renaissance erlebt. Die
Regisseurin sorgte auch späterhin für Aufsehen
mit erfrischend munteren Komödien, oft nicht
ohne sozialkritische Spitzen.
Norwegens einziger wirklicher Modernist
unter den Filmemachern, Erik Løchen, drehte
1959 Jakten (Die Jagd), zeitgleich mit dem
Aufkommen der französischen Nouvelle Vague.
Am Schneidetisch fabulierte er auf sehr elegante
Art und Weise durch Zeit und Raum, Traum und
Wirklichkeit, und er verlässt Chronologie und
Kausalität, welche der filmischen Erzähltechnik
bis dahin ausnahmslos starre Grenzen auferlegt
hatten. Løchen machte auch späterhin Filme,
Im Jahr 1998 lief ein abendfüllender
die der Devise Jean-Luc Godards folgten, dass
Zeichentrickfilm an, leicht Disney-inspiriert im
ein Werk einen Anfang, einen Mittelteil und
zeichnerischen Bereich, mit dem Titel Ludvig,
einen Schluss haben sollte, wenn auch nicht
Solan og Guri med reverompa (Gurin mit dem
unbedingt in dieser Reihenfolge. Folgerichtig
Fuchsschwanz). Er stammt aus der Produktion
bemerkte Løchen zu seiner Motforestilling (Die
von Nille Tystad und John M. Jacobsen. Genau
wie Flåklypa basiert auch dieser Film auf den zum Gegenvorstellung), die aus fünf Rollen à zwanzig
Minuten Länge besteht, diese könnten in beliebiTeil barocken dörflichen Figuren des Humoristen
ger Reihenfolge vorgeführt werden. Das ergäbe
15 750 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten.
Damit sowohl Løchen wie auch etwas weniger
experimentierfreudige Filmkünstler ihrer Berufung
folgen konnten, wurde ein neues öffentliches
Förderungssystem geschaffen. Eine notwendige
Voraussetzung auf einem so kleinen Markt, ohne
die die Entwicklung des Films als künstlerische
Ausdrucksform in Norwegen praktisch unmöglich
gewesen wäre.
Generationenwechsel
Inspiriert durch die französische Nouvelle Vague
und all die anderen Wellen innovativer Impulse,
die sich in den sechziger Jahren über die Filmwelt
ergossen, kam eine neue Generation an die
Reihe. Die dieser neuen Generation angehörenden Filmschaffenden gingen nicht nur ins Kino,
um dort einen Blick auf die neuesten Kuriositäten
in der Filmwelt zu werfen, sondern sie integrierten alles Neue in ihr eigenes Denken, und gingen
sogar ins Ausland, um das Filmemachen zu studieren. Der vielleicht wichtigste Name in diesem
Zusammenhang ist Anja Breien, die Spontanität
der Gefühle mit akademischer Feinjustierung
in der Form verbindet. Sie wollte eigentlich
Atomphysikerin werden, landete aber in einer
Filmakademie in Paris.
Mitte der siebziger Jahre kam dann der
Durchbruch für sie, nachdem sie ihr beeindruckendes Talent mit einem Film über Jostedalsrypa
unter Beweis gestellt hatte: über ein Mädchen,
das um das Jahr 1350 als einzige den Schwarzen
Tod in einem äußerst malerischen Bergdorf
in Westnorwegen überlebte. Hustruer (Die
Ehefrauen) von 1975 markierte den feministischen Durchbruch im norwegischen Film, mit
einer munteren und improvisierten Komödie über
drei ehemalige Klassenkameradinnen, die sich
bei einem Klassentreffen wiedersehen, was in viel
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Libellen
Gekicher und Erfahrungsaustausch mündet. 1985
kam Hustruer ti år etter ( Die Ehefrauen II), ernster im Ton, desillusionierter, aber dennoch nicht
ohne – zwar etwas verhaltene – Spontanität.
Anja Breien setzte die Stimmungsberichte aus
dem Leben ihrer drei Musketiere in Hustruer
III (Die Ehefrauen III) von 1996 fort. Diese
näherten sich nun mit Riesenschritten ihrem
50. Geburtstag. Es ist der am wenigsten
geglückte von den drei Filmen, aber die Serie
entwickelt sich zu einer einzigartigen fiktiven
Dokumentation über Lebenserfahrungen und
Lebensumstände norwegischer Frauen durch
mehrere Jahrzehnte hindurch – einzigartig auch
im Rahmen internationaler Filmgeschichte. Anja
Breien hofft auf das Zustandekommen des vierten
Teils der Serie im Jahr 2005.
Sie kam 1979 in den Hauptwettbewerb des
Filmfestivals in Cannes mit der Komödie Arven
(Das Erbe), die in gewisser Weise locker inspiriert
war von Rossinis Musik zu Die diebische Elster,
aber auch von typisch zeitgenössischer norwegischer Gier, und einem langen Blick auf Ibsens
Werk. Sie errang 1982 Preise beim Filmfestival
in Venedig mit dem Film Forfølgelsen (Die
Verfolgung), leicht Dreyer-inspiriert, der zurück
ins norwegische Gebirge und ins Spätmittalter
führt bei der Schilderung der Schicksals einer
Frau in der Rolle des Opfers. 1990 machte Breien
wieder von sich reden mit Smykketyven (Der
Juwelendieb), einem Liebesdrama mit Don Juan
in Oslo.
Die achtziger Jahre
Die achtziger Jahre mit ihren vielen Facetten
– selten gab es so viele jähe Umschwünge in der
norwegischen Filmszene – lassen sich aus der
Vogelperspektive fein säuberlich in zwei Phasen
unterteilen. Die erste Hälfte war gekennzeichnet
durch den Vortritt für Frauen und Kinder in einer
für den Feminismus geradezu triumphalen Phase.
Abgesehen von Anja Breien war auch Laila
Mikkelsen auf ihre sanfte Art in Topform, nicht
zuletzt mit Liten Ida (Kleine Ida) von 1981, über
das Kind einer sogenannten ‚Deutschenschlampe‘
aus der Zeit norwegischer Besetzung durch NaziDeutschland. Auch dieser Film fand internationale
Verbreitung, wenn auch nicht in dem Maße wie
Die Ehefrauen einige Jahre zuvor.
Die eigentliche Galionsfigur jedoch war
Fotomodell, Schauspielerin, Drehbuchautorin
und Regisseurin Vibeke Løkkeberg. Norwegens
fotogenster Mensch demonstrierte sein ungestümes und wunderschönes Filmtalent mit
Løperjenten (Der Verrat) von 1981, einem Stück
in norwegischem Neorealismus, das in kräftigen
Farben das Armenviertel der Stadt Bergen in der
Nachkriegszeit schildert, wo diese ganze merkwürdige Welt einfühlsam durch vergrößernde und
verstörte Kinderaugen betrachtet wird. Dieselbe
kindliche Perspektive findet man zu einem gewissen Grad weitergeführt im Inzest-Drama Hud
(Haut) von 1986, das als Beitrag zum Festival in
Cannes ausgewählt wurde, wie seinerzeit auch
Der Verrat. Es handelt sich um eine Art filmisches
Volkslied, das vor der Kamera zu einer hoffnungslos aufgeblasenen Wagner-Oper aus dem
windzerzausten Westnorwegen anschwoll.
Ende der achziger Jahre gab es ein weiteres
vielversprechendes Erstlingswerk. Auch wenn die
internationale Wirkung nicht ganz so stark war
wie die von Nils Gaups Der Pfadfinder, gewann
Martin Asphaug jedenfalls den nordischen
Debutpreis beim Festival von Göteborg für En
håndfull tid (“Eine Handvoll Zeit“). Hier mischt
sich ethischer Realismus mit Symbolismus und
Surrealismus, oder auch magischem Realismus.
Wann sah man jemals einen norwegischen Film
so phantasiefreudig daherkommen, dass selbst
vor dem Einsatz von Erzengeln nicht haltgemacht wird? Dieses filmsprachliche Jonglieren
mit Zeit und Raum hat möglicherweise auf
viele Filmschaffende eine befreiende Wirkung
im Hinblick auf ihre künstlerischen Ambitionen
gehabt. Asphaugs spätere Werke erreichen nicht
mehr ganz das Niveau des Erstlings. Sie umfassen
Kinder- und Jugendfilme wie die beliebten Giftige
Lügen und den phantasievollen und visuell
beeindruckenden Svampe. Danach verschwand
Asphaug nach Schweden, um dort stimmungsvolle Fernsehserien zu drehen. Jetzt hat er sich
zurückgemeldet mit dem Thriller Andreaskorset.
Die Jungs sind wieder da
Die Filmrebellen Svend Wam und Petter Vennerød
lieferten eine lange Reihe provozierender Filme,
die den Kritikern den Krieg erklärten und den
Jubel des Publikums ernteten. Sie bezeichneten sich selbst als Anarchisten und fuhren
schwerste Geschütze auf gegen den todernsten
Sozialrealismus, der in den Augen vieler die
siebziger und achtziger Jahre prägte. Die besten
Filme aus dieser Reihe sind Lasse og Geir (Ihr
könnt uns mal...) von 1976, und die Trilogie um
die Generation der 68‘er: Åpen fremtid (“Offene
Zukunft”) von 1983, Adjø solidaritet (“Adieu
Solidarität”) von 1985, und Drømmeslottet
(“Luftschloss”) von 1986.
Mitte der achtziger Jahre war die Zeit gekommen
für die Rückkehr der Jungs und ihren großangelegten Rachefeldzug. Die reine Antithese des
Feminismus war Orions belte (Das Orion-Dreieck):
muskulöse Action in arktischen Landschaften mit
weltpolitischen Obertönen und beschwörender
Musik. Diesem Survival-Drama folgten weitere
Ausfälle hinein in das Gebiet von Spannung
und Nervenkitzel. Gleichzeitig wurden die
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Kommanditgesellschaften eingeführt, als Mittel
zum Zweck der Förderung eines norwegischen
Hollywoods im Lande des Ölbooms. Woraufhin
Filmleute aus der englischsprachigen Welt
ins Land strömten mit Projekten, die sich zu
Hause nicht finanzieren ließen - was durchaus
kein Zufall war. In Norwegen ging das – erst
einmal. Solange, bis nichts mehr ging. Aber bis
dahin erhielten die Zeitungsleser jede Menge
Unterhaltung. Der Finanzierungsstreit führte
andererseits immerhin zu mehr Öffentlichkeit und
wachsendem Interesse sowohl am heimischen
Film als auch am Kino schlechthin.
Über all den typischen, dem Zeitgeist entsprechenden Spielereien mit Äußerlichkeiten, Genres,
Ornamenten, Fragmenten etc. verlor man die
künstlerische Ambition fast völlig aus dem Auge.
Viele fragten sich, warum die Steuerzahler das
Glücksspiel mit der Kamera finanzieren sollten;
oder wieso man sich jemals auf einen so ungleichen Wettbewerb wie den mit der übermächtigen Filmmetropole Hollywood einlassen solle.
Diesen Kraftakt vermochte einzig und allein Der
Pfadfinder zu bewerkstelligen, und zwar indem er
seine charakteristisch samische Eigenart maximal
ausnutzt und fest in der tiefgefrorenen heimischen Erde verwurzelt ist.
und ungewöhnliche Qualitäten. Der letztere Film
war im Jahr 2000 in Cannes während des gesamten Festivalverlaufs der große Favorit unter den
Anwärtern auf die Goldene Palme, musste sich
jedoch im Endspurt geschlagen geben. Später
erregte er Bewunderung im Ausland, aber nicht
unbedingt in Norwegen.
Gleich zwei norwegische Regisseure wurden
1997 mit ihren Debutfilmen zur Teilnahme an der
Filmkritikerwoche bei den Festspielen von Cannes
ausgewählt, bei insgesamt sieben internationalen
Teilnehmern. Erik Skjoldbjærgs Insomnia – den
som synder sover ikke (Insomnia – Todesschlaf)
ist von zentraler Bedeutung für das Phänomen,
das als Norwave bezeichnet wird. Ein eindrucksvoller Film Noir unter der Mitternachtssonne,
aus Tromsø, der Hauptstadt Nordnorwegens, mit
internationalem Gepräge. Der Thriller ist gleichzeitig eine Charakterstudie eines an Schlaflosigkeit
leidenden Polizeidetektivs, der einen fatalen
Fehler begeht und dessen Leben im Chaos endet.
Wo völlige moralische Verunsicherung herrscht.
Elegant und vielschichtig.
Später gab es ein Remake in Hollywood von
Skjoldbjærgs Schlaflosigkeit (Insomnia - Schlaflos)
- mit Al Pacino in der Hauptrolle - bei dem die
Handlung nach Alaska verlegt wurde.
Ein Werk mit dem seltsam vagen Titel X läutete eine Phase der Synthese zwischen dem
männlichen und dem weiblichen Prinzip ein.
Der Dokumentarfilmer Oddvar Einarson gab
einem (mit einer Mischung aus Schwarz-Weißund Farbfilm) das Gefühl, auf dem falschen
Planeten gelandet zu sein. Oslo wurde als eine
Art Mondlandschaft gezeichnet. Die poetische
Bildersprache war leicht inspiriert durch die Art
des großen Russen Tarkowskij, die Welt nach der
Katastrophe zu schildern: in einem seelisch ausgezehrten Wüstenzustand. Das Werk wurde mit
dem Sonderpreis der Jury beim einflussreichen
Filmfestival von Venedig ausgezeichnet. Es wird
untermalt von nahezu lautloser Rockmusik in
seinen vorsichtig tastenden Andeutungen einer
möglichen Liebe zwischen Jugendlichen, die
noch nicht von der Trostlosigkeit der Umgebung
geschädigt sind.
Pål Sletaune wurde mit dem Preis der Filmkritiker
in Cannes ausgezeichnet für seinen Film
Budbringeren (Junk Mail – Wenn der Postmann
gar nicht klingelt), und erlangte danach, wie
Skjoldbjærg, internationale Berühmtheit.
Budbringeren ist eine ‚Trashthriller’-Komödie aus
dem verkommensten Teil der Osloer Innenstadt.
Budbringeren ist ein träger, ungepflegter und
amoralischer Briefträger. Dieser Antiheld hat
sich jedoch ein wenig ungesunde Neugier
bewahrt – erstaunlicherweise - in dieser Welt
voller Tristesse, in der er lebt. Das ganze wird in
einem monoton leisen Stil präsentiert. Sletaune
legte nach mit Amatørene (Die Amateure), einer
Schelmenkomödie mit Zügen einer Farce, mit
Handlungselementen, die ineinandergreifen
wie Zahnräder, mit erfolglosen Verbrechern und
schlechten Verlierern. Gesehen durch ein leicht
absurdistisches Prisma.
Norwave
Der rote Faden der Tarkowskij-Inspiration zieht
sich auch durch Unni Straumes Film Til en
ukjent (“An einen Unbekannten”) von einer Art
Traumwelt mit russischem Klang und berauschenden Bildern. Unni Straume bekam eine Einladung
zum Festival in Cannes für das ehrgeizige
Experiment ihrer Umdichtung von Strindbergs
Drømspel (Traumspiel). Zum ersten Mal seit
1969 war der Name Liv Ullmann wieder in der
Besetzungsliste eines norwegischen Films zu finden, ein Zeichen vieler verpasster Chancen für die
Filmkunst im Norden. Nach Kristin Lavranstochter
hatte die Regisseurin Liv Ullmann Norwegen verlassen, um in Schweden Filme und Fernsehserien
nach Drehbüchern Ingmar Bergmans zu drehen.
Es ist sicher nicht einfach, sich in die norwegische
Filmwelt zu integrieren; aber sowohl Fortrolige
samtaler (Einzelgespräche) wie auch Troløs
– beide von Liv Ullmann - zeigen hohes Niveau
Dogma
Auch die dänische Dogma-Bewegung hat dazu
beigetragen, dem norwegischen Film neue
Impulse zu geben. Mona Hoels Når nettene blir
lange (Cabin Fever) spielt zu Weihnachten in
einer Ferienhütte in den Bergen, inklusive einer
angereisten polnischen Schwiegerfamilie. Das
Weihnachtsfest wird zu einer richtig herzlichspontanen Familienhölle. Die Leichen purzeln nur
so aus dem Keller, noch schneller als bei Ibsen.
Mona Hoel hält sich in Stil und Inhalt treu an die
Vorgaben der Dogma-Ästhetik. Sie präsentiert
hier ein vitales Exempel eines nackten wahrheitssuchenden Dramas, das im Hier und Jetzt mit
der Handkamera eingefangen wird. Mona Hoels
neuester film Salto, salmiakk og kaffe (Wir fliegen
zu Wenig) hat seine internationale Premiere im
Herbst 2004 bei dem Internationales Filmfstival
Mannheim-Heidelberg.
Auch Marius Holst machte wieder von sich
reden mit einem Kammerspiel unter freiem
Himmel, Øyenstikker (Libellen), über das ewige
Dreieck, das viele an die ewige Nummer Eins der
nordischen Länder, Ingmar Bergman, erinnert.
An Intensität und Verständnis für einen rohen
Machtkampf mangelt es hier jedenfalls nicht.
Auch dieser Film holte sich viel ‚Treibstoff‘ aus
der Dogma-Bewegung.
In Norwegen sind mehr fähige Regisseure beheimatet, als den meisten bewusst gewesen ist. Und
nun wird sehr auf die jüngsten gesetzt, vielleicht
zu sehr. Für ein so kleines Land wie dieses verfügt die Filmszene auch über erstaunlich viele
ausgezeichnete Kameraleute und Szenographen,
über äußerst professionelle Handwerker in
allen Bereichen der Filmbranche, und über
Schauspieler, die sich sehen lassen können. Auch
die Drehbücher werden immer besser. Die norwegische Filmwelt ist wie das hiesige Klima: stürmisch oder auch verschneit, grau oder auch voller
Sonnenschein, moralisch-ernsthaft wie Ibsens
Brand oder auch leichtlebig-verspielt wie Ibsens
Peer Gynt. In seinen besten Zeiten hat der norwegische Film die Kraft, mehr Menschen zu erreichen als ‚nur‘ das Publikum des eigenen Landes.
Besonders seit der Jahrtausendwende war das
Klima außergewöhnlich mild und freundlich,
mit einem sommerlichen Hauch von Erneuerung
sowohl in künstlerischer Hinsicht wie auch im
Hinblick auf seinen Erfolg beim Publikum. Einfach
heftig und begeistert. Und auch jung und unerschrocken.
Die Neue Norwegische Welle
Zusammen mit dem Drehbuchautor Nicolaj
Frobenius aktualisierte Erik Skjoldbjærg im
Jahr 2004 Ibsens zeitlos gültiges Drama En
folkefiende (Ein Volksfeind) und übertrug es in
unsere Gegenwart, indem er die Konflikte in
eine Mineralwasserfabrik im wunderschönen
Westnorwegen verlegte. Er stellte dabei unter
Beweis, dass Ibsens Bewunderer auch heutzutage, wie damals der Dichter selbst, höchst
wirksam dessen ‚Torpedos unter die Arche zu
legen’ wissen. Sowohl Ibsen als auch andere
große Ikonen der norwegischen Kultur wie der
Komponist Edvard Grieg und der Geiger Ole Bull
wurden letzthin gefeiert, aber auch mittels biographischer Dokumentarfilme sozusagen seziert
- eine aufklärerische Form von Geistes- und
Kulturgeschichte.
Dem Regisseur Bent Hamer sagt man nach, im
Besitz einer Dauerkarte für die Teilnahme am
Wettbewerb Quinzaine des Réalisateurs bei den
Filmfestspielen in Cannes zu sein. Er besaß die
Tollkühnheit, Charles Bukowskis saft- und kraftvollen Bohèmeroman Factotum in den USA mit
Matt Dillon und Lili Taylor zu verfilmen. Damit
kam zum dritten Mal einer der Filme Hamers
in Cannes zur Aufführung – ein Zeichen dafür,
dass die Neue Norwegische Welle länger und
weiter reicht als viele andere Wellen zuvor. Die
Factotum-Produktion muss als multikulturell
bezeichnet werden. Das Multikulturelle findet
sich auch in Izzat, einem handfesten Thriller
aus dem pakistanischen Einwanderermilieu in
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Auf Anfang
Norwegen, voller beinharter Action und ausgekochter Dialoge. Dieses Machoabenteuer
erhielt sein Gegengewicht mit dem Debüt der
Schriftstellerin Sara Johnsen als Regisseurin
des Films Vinterkyss (Kuss des Winters), einem
einfühlsamen Beziehungsdrama aus den norwegischen Randgebieten über Trauer und Verlust.
Die Komödie Elling erhielt 2001 eine OscarNominierung. Der zweite Film in der Reihe war
der etwas schwächere Mors Elling von 2003.
Vervollständigt wurde die Trilogie 2005 von
Petter Næss mit Elsk meg i morgen (Liebt mich
morgen), der hierfür wieder im Regisseurstuhl
saß. Das Niveau des ersten Films konnte auch
hier nicht ganz erreicht werden, aber auch
dieser Film mit den Schauspielern Per Christian
Ellefsen als unvergesslichem Neurotiker und Sven
Nordin als seinem tumben Freund erfreute sich
wieder außerordentlich großer Beliebtheit. Und
noch mehr Vielfalt: Pål Sletaune präsentierte
im selben Jahr den Polanski- und Hitchcockinspirierten Film Naboer (Nachbarn), der für
eine Sondervorführung bei den Filmfestspielen
in Venedig ausgewählt wurde – ein Film voller
raffinierter illusionistischer Kunststücke und
Fallstricke.
Im Jahr 1905 befreite sich Norwegen aus der
Union mit dem großen Bruder Schweden. Der
Erinnerung an das darauf folgende Jahrhundert
ist der Dokumentarfilm Alt for Norge (Alles
für Norwegen) gewidmet, eine spielerische,
auf Zelluloid gebannte Reise in die Welt der
Erinnerungen aus diesen ersten hundert Jahren
– mit bewegten Bildern illustriert. In den siebziger Jahren gab es in Norwegen eine kleine,
aber einflussreiche maoistische Bewegung, die
sich später in den Medien, den Universitäten
und im kulturellen Leben Geltung verschaffte.
Hans Petter Moland nahm sich mit bemerkenswertem Scharfsinn des Romans von Dag Solstad
über die Bewegung an und komponierte daraus
den Spielfilm Gymnaslærer Pedersen (Genosse
Pedersen), eine Tragikomödie von internationalem Format über die eigenwilligen Utopien, die
Psychologie und die Soziologie dieser Bewegung.
Der absolute Höhepunkt bislang war das
Filmfestival in Cannes 2006. Aus Norwegen
waren sage und schreibe vier Filme für die offiziellen Wettbewerbe ausgewählt worden – ein
nationaler Rekord. Der burleske und aufwendige Animationsfilm des Untergrundkünstlers
Der beschwerlicher Mann
Christopher Nielsen, Slipp Jimmy fri, über
einen drogenabhängigen Elefanten, wurde im
Wettbewerb Woche der Kritiker gezeigt – ein Film
mit großen Ambitionen. In derselben Kategorie
erhielt Jens Liens Den brysomme mannen (Der
beschwerlicher Mann) eine Auszeichnung – die
erste in einer langen Reihe von Preisen für diese
stilisierte Tragikomödie mit absurdistischen
Untertönen und Überbau. Für den Wettbewerb
Un Certain Regard wurde Stefan Faldbakkens
temporeicher Polizei-Thriller Uro ausgewählt, ein
amerikanisch inspirierter Actionfilm mit bressoneskem Schluss. Der absolute Gipfel jedoch war
die Goldene Palme für Norwegen. Sie wurde im
Kurzfilmwettbewerb an Sniffer vergeben, in der
Regie von Bobbie Peers, eine zutiefst europäische
und dialogfreie Weiterentwicklung der Tradition
Kafkas und der Absurdisten, Tatis und anderer.
Im Februar 2007 erreichte die Neue Norwegische
Welle einen weiteren Höhepunkt mit Torill Koves
Den danske dikteren (Der Dänische Dichter),
einer Phantasie über die Bewunderung eines
dänischen Dichters für die norwegische Literat
urnobelpreisträgerin Sigrid Undset, gewürdigt
durch die Verleihung eines Oscar im Wettbewerb
der kurzen Animationsfilme. Liv Ullmann gehört
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die Erzählerstimme in diesem außergewöhnlich
bezaubernden Opus ganz eigener Art. Im gleichen
Jahr meldete sich Marius Holst mit Blodsbånd
(Mirush) zurück, der beeindruckenden multikulturellen Schilderung eines Jungen aus dem Kosovo,
der in Norwegen auf seinen unbekannten Vater
trifft. Dieser Film ist geradezu ein Meisterwerk.
Für den seit Jahr und Tag vielleicht erfreulichsten
Debütfilm sorgte Joachim Trier. Seine Reprise (Auf
Anfang) ist ein locker-leichtes, aber keinesfalls
substanzloses Generationsportait im spirituellen
Stil von François Truffaut über die norwegische
Generation um die 30, die alles hat - außer
einem Lebensinhalt. Trier gewann den Regiepreis
in Karlsbad und den Kritikerpreis in Toronto,
gefolgt von einer Flut von internationalen
Auszeichnungen.
Ermutigt durch diese positive Entwicklung wird
die öffentliche Hand in Norwegen noch mehr
Mittel in die Filmförderung fließen lassen –
zugunsten einer noch größeren Vielfalt. Die
Produktionsmenge ist bereits beachtlich und
soll weiter gesteigert werden, der Export soll
erhöht werden, es herrscht weithin Optimismus.
Schönheitsfehler sind kaum zu verzeichnen.
Wirklich nennenswert wäre hier nur, dass
Norwegens einzigem Weltstar, Liv Ullmann, die
Unterstützung zu ihrer Version von Henrik Ibsens
“Nora oder Ein Puppenheim“ mit internationaler
Starbesetzung verweigert wurde.
Ansonsten ist es größtenteils sehr gut um den
norwegischen Film bestellt, sowohl in technischer als auch in künstlerischer Hinsicht.
Außerordentlich gut. Das nächste Ziel ist die
Auszeichnung mit einem der wirklich großen
internationalen Preise für einen abendfüllenden
Spielfilm. Dies erscheint nicht ganz unmöglich, so
wie die Stimmung zur Zeit ist.
Der norwegische Film hat den Kontakt zu seinem
Publikum endlich wieder hergestellt. Gleichzeitig
produzierte man damit Filme, die auch für
Filmfestspiele im Ausland interessant waren.
Eva Sørhaugs Debut Lønsj, ein Film der
Gourmetklasse, wurde bei den Festspielen in
Venedig, Toronto und London gezeigt. Er kommt
minimalistisch, locker und leichtfüssig daher, hat
Substanz und wartet mit gro_en Mengen an
Ingredienzen aus der raffinierten französischen
Filmküche auf. Es werden sechs bis acht unauffällige Osloer Gro_stadt-Schicksale begleitet.
Jeweils an einem Scheideweg angelangt, muss
jeder von ihnen das Wagnis einer Entscheidung
eingehen, trotz unterschiedlicher Situation und
verschiedenen Alters. Manches wirkt schwarzmalerisch, doch es finden sich durchweg beträchtliche Dosen disziplinierten Humors in diesem
diskreten Schicksalsgewebe.
Die Schilderung einer Kindheit und Jugend im
eher kleinstädtischen Stavanger der 1980er Jahre,
wie sie in Mannen som elsket Yngve dargestellt
wird, erwies sich mit ihrer Verletzbarkeit und
ihrem mitfühlenden Humor, aber auch mit hohem
Wiedererkennungsfaktor, als preisgekrönter
Publikumsmagnet.
Die wohl grö_te Herausforderung bot jedoch
Erik Poppes De Usynlige - genau wie sein nach
dem Paradies sich sehnenden Hawaii, Oslo eine
triumphierende Horizonterweiterung für den
norwegischen Film. Eine talentvolle und tollkühne
Konstruktion, die auf Ideen und Impulsen gründet, die weit über das hinausgehen, was gerade
angesagt ist. Hier kommt die Einbeziehung christlicher Symbolik und christlichen Milieus noch
direkter zum Ausdruck – ohne Berührungsangst
und ohne Priesterkarikaturen. Zwei Geschichten
werden miteinander verwoben. Eine Mutter hat
ihren kleinen Sohn verloren. Der Verurteilte wird
nach acht Jahren Haft entlassen. Eine Gemeinde
stellt ihn befristet als Organist ein. Die Mutter
des getöteten Jungen kommt in die Kirche und
entdeckt den Organisten. Wie geht man um
mit Vergebung und Versöhnung unter derart
extremen Umständen? In zugespitzer Form werden unangehme Fragen in tragfähigen Szenen
aufgeworfen, mit einem Ensemble voller auserlesenstem Einfühlungsvermögen und eindringlichster Ausdruckskraft.Der Film De Unsynlige
enthält Anklänge an Dostojewski und andere
künstlerisch Verwandte, auch aus der Welt des
Films, wie Bergman und die Dardenne-Brüder.
Und er gräbt sich hinunter bis in die tiefsten
Schichten existentiellen Urgesteins. Dies ist ein
Zeit- und Stadtportrait, in dem es nur so wimmelt
von unkultivierten Charakteren. Und das Ganze
schwingt sich auf in die höheren Filmsphären
– vom Tragischen und Unerlösten hin zum
Ewiggültigen.
Seit Flåklypa Grand Prix hat kein norwegischer
Film so viele Zuschauer angezogen wie Max
Manus, der tollkühnste Saboteur des Zweiten
Weltkrieges. Und nie zuvor gab es professionellere Actionszenen und eine stilsicherere und
üppigere Ausstattung in einem norwegischen
Kriegsfilm, um nicht zu sagen beeindruckendere Spezialeffekte. Das Regie-Duo Rønning/
Sandberg versteht es, die Dinge zuzuspitzen und
dramatisch hohe Temperaturen zu erreichen.
Manches ist kompakt und stringent stilisiert.
Der Film hat mitunter ein lärmend jungenhaftes
Gepräge – nicht untypisch für Männer, die unter
Druck stehen. Aksel Hennie in der Titelrolle
zeigt wieder Eigenschaften, die ihn zum vielleicht herausragendsten in seiner Generation
von Filmschauspielern machen: ein offener und
ausdrucksvoller Blick, die Fähigkeit, Neugier zu
erwecken mit seiner Interpretation eines geistesgegenwärtigen, fast hyperaktiven Mannes,
der, wann immer erforderlich, grö_te Risiken
auf sich nimmt. Der Film geht jedoch nicht in
Richtung Film- oder Geschichtsrevisionismus,
sondern beschränkt sich auf eine eher traditionelle Annäherung an das Thema, ohne besondere
Reibungspunkte, indem er die Ereignisse in
einer etwas unpersönlichen Mainstream-Manier
nacherzählt. Es wurde also wenig im eigentlichen Sinne von Originalität neu aufgefasst und
ausgeformt. Diese fehlende Risikobereitschaft bei
einem Film über Menschen, die äu_erste Risiken
auf sich nahmen, schien jedoch keine Rolle zu
spielen. Das Publikum nahm diese aufwändige
Nacherzählung einer Geschichte, die im Begriff
stand in Vergessenheit zu geratenen, trotzdem
mit Begeisterung auf. Max Manus trug mehr
noch als die meisten anderen dazu bei, dass der
norwegische Film wieder zu einem wirklichem
Publikumserfolg zurückfand.
Der Verfasser des Artikels, Per Haddal, ist
Filmkritiker bei der Tageszeitung Aftenposten.
Uberzetzung: Susanne Hiller Giertsen
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