Die blaue Offenbarung
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Die blaue Offenbarung
Die blaue Offenbarung Nach jahrelangem Suchen und Sichten hat Neil Young nun endlich den ersten Teil seiner „Archives“ veröffentlicht, einer gigantischen Sammlung aus Schrift-, Ton und Filmdokumenten. Doch was ist davon zu halten, wenn ein Künstler zu seinem eigenem Nachlassverwalter wird? Von Navid Kermani Der Kölner Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, 41, sorgte 2002 mit seinem „Buch der von Neil Young Getöteten“ für Furore, auch jenseits der Fanzirkel der Rocklegende. Die Freunde rasen vor Begeisterung. Im Vergleich klinge selbst Vinyl wie ein Transistorradio, sagen sie und machen verzückte Gesichter. Es sei, als stünden sie im Studio, als seien sie Ohrenzeuge der Aufnahme selbst, der initialen Fügung, die für sie einer Offenbarung gleichkommt, da mit irdischen Mächten allein nicht zu erklären. Und dann erst die Extras, die die zehn Blu-rays böten, weil sie hundert Mal so viel Daten speichern könnten wie ordinäre CDs, 70 Gigabyte im Vergleich zu lächerlichen 700 Megabyte, um genau zu sein wie die Freunde: Super 8Schnipsel, Neil Young im Plattenladen oder an der Tankstelle, selbstverständlich sensationelle Aufnahmen legendärer Konzerte, ob Woodstock oder vor zwanzig Leuten im Hinterzimmer einer Kneipe, 15 Minuten des letzten Springfield-Gigs, Riverboat 1969 (nicht Canterbury 68!, verstehst du? 69! Riverboat! wo immer Riverboat sein mag), Kindheitsphotos, Gebrauchsgegenstände, die für die Freunde längst Ikonen sind, Journey through the Past mitsamt der Werbetrailer, alle Liedtexte natürlich, handgeschrieben, Unmengen Links, da heutzutage die Standleitung ins Internet Voraussetzung ist, entsprechend die Aussicht auf regelmäßige Aktualisierungen und Erweiterungen, die Postkarte, die er seiner Mama und die er seinem Papa schickte, Radiogespräche, Fernsehgespräche, Selbstgespräche – und alles polyfunktional, sagen die Freunde und meinen damit, dass man Broken Arrow hören kann, während man ein Interview mit Neil Young liest, in dem er über Broken Arrow spricht, oder Photos betrachtet, auf denen er Broken Arrow spielt, oder sich über Rezensionen wundert, die seinerzeit zu Broken Arrow erschienen. Man kann aber auch Broken Arrow hören, während man sich durch alle möglichen anderen Texte, Bilder und Videos hangelt, so dass sich, stelle ich mir vor, ungeahnte Zusammenhänge, unerwartete Assoziationen und zufällige Kongruenzen ergeben wie bei jeder Offenbarung, ob Bibel, Rumi oder Joyce, die man auf jeder beliebigen Seite aufschlägt, um jedesmal ein neues Buch zu finden. Mehrere Tausend verschiedene Audio-, Bild- und Videodateien wollen die Freunde gezählt haben, und dabei hat Neil Young nur den ersten von fünf Teilen veröffentlicht, auf die sein Archiv angelegt ist, genau gesagt die Dokumente der Jahre 1963 bis 1972. Der Künstler als sein eigener Editor und Nachlaßverwalter – ich glaube nicht, daß es einen Fall von vergleichbarem Perfektionismus je gab. Viele sammeln ja, was sie sich nie wieder anschauen werden, Familienphotos, Schulzeugnisse, Urlaubsvideos, die Resultate ihrer Arbeit. Hier hat einer gesammelt, der gewußt haben muß, daß es angeschaut wird. Es ist, als hätte Hölderlin schon an die verschiedenen Editionsschulen gedacht, die zweihundert Jahre nach ihm über seine Hinterlassenschaft streiten, als er wöchentlich die Liste seiner Wäsche erstellte oder das gleiche Gedicht in sechs Varianten schrieb. Hätte es im 19. Jahrhundert bereits Blu-ray gegeben, hätte sich die Philologie als die Priesterdisziplin der Geisteswissenschaft erübrigt. Wie im Protestantismus jeder Gläubige in der Lage ist, die Bibel eigenständig zu verstehen, würde jeder Leser oder Hörer seine eigene Werkausgabe erstellen. Ist dieser unvermittelte Zugriff auf die Quellen nicht erst recht ein Betrug? frage ich mich und höre den Freunden längst nicht mehr zu. Ist es an dem Künstler selbst festzulegen, welche Zeugnisse bleiben und welche verschwinden? Und angenommen, er würde ohne Ansehen alle Varianten und Dokumente vorlegen, was nach Mega und Giga den nächsten Datensuperlativ bedeutete – grenzt es nicht an Idolatrie, sich dafür zu interessieren? Die Freunde würden mich von ihrem nächsten Jahrestreffen ausladen, stellte ich ihnen solche Frage. Für „taub, blind und stumm“ würden sie mich halten, wie es in Sure 2:18 über die Ungläubigen heißt, unfähig, das Offenkundige zu erkennen, aber es stimmt, es stimmt auch und vielleicht erst nach meinem Buch über Neil Young und der Beschäftigung mit Hölderlin: Die erste Wäscheliste studiere ich gern, die zweite halte ich für eine Kuriosität, die dritte werfe ich in den Papierkorb zurück, aus dem sie die Editoren hervorgeholt haben. Nein, ich glaube nicht daran, daß jede Fassung wert ist, aufbewahrt zu werden. Abgesehen davon, brauche ich mir kein Blu-ray-Gerät anzuschaffen, da ich nicht einmal mit dem Internet verbunden bin. Die Plattenfirma, die ich anrief, verschickt keine CDs als Rezensionsexemplar und lieferte statt dessen 10 DVDs, die zwar das Bildmaterial enthalten, aber die neue Freiheit auf die Alternative reduzieren, entweder das eine zu hören oder das andere zu sehen. Ich legte sie in den Laptop, dessen Lautsprecher tatsächlich wie ein Transistorradio klingen, und starrte auf den Bildschirm, der weniger Zusammenhänge, Assoziationen und Kongruenzen bot als sagen wir Youtube. Hört man Musik, sieht man einen Plattenspieler; liest man den Liedtext, fehlt die Musik. Ohnehin ist der beste Ort, Neil Young zu hören, das Auto, wie Neil Young sicher zugäbe, dessen neue Platte ausschließlich von seinem Lincoln Continental handelt, den er auf Elektrobetrieb umgerüstet hat. So radelte ich am letzten Werktag vor Pfingsten zu Saturn, kaufte mir für 139 Euro, die der Spiegel mir hoffentlich erstatten wird, rund acht Stunden Musik ohne Photos, Videos, Texte oder Postkarten und verbrachte die Feiertage glücklich auf der Autobahn. Aus der Bewertung, die der Spiegel von mir erwartet, fallen zwei der acht CDs eigentlich heraus, weil sie vorab bereits erschienen sind, nämlich die grandiosen Konzerte 1970 im Fillmore East und 1971 in der Massey Hall. Der größte Teil des Materials besteht aus bereits veröffentlichten Stücken, die in anderen Aufnahmen, häufiger nur in neuer Abmischung zu hören sind. Bleiben 17 unbekannte Lieder, die vor allem auf der ersten CD zu finden sind und die Bemühungen des Teenagers dokumentieren. Musikalisch interessant werden die frühen Jahre erst durch die kreative Explosion, die 1968 ausbricht und vielleicht wirklich nicht mit irdischen Mächten allein zu erklären ist. Denn in den frühesten Aufnahmen, die Neil Young aus seinem Archiv hervorgeholt hat, deutet kaum etwas auf seine spätere Originalität hin, den frappanten Eigensinn und das herausragende Sensorium für wunderschöne Melodien, tiefgründige, manchmal geradezu altersweise Texte und den Wechsel von bizarr weinerlichen und fieberhaft krachschlagenden Kompositionen. Selbst die Stücke, die er vor 68 erstmals einspielte, werden erst in den Aufnahmen nach 68 richtig gut. Hört man bis dahin vor allem seine Vorbilder, hört man seither nur Neil Young selbst – mit allem, was die einen abstößt, die anderen begeistert und jedenfalls zu einer Entscheidung zwingt: die Fistelstimme, die Gitarrengewitter, das Hohelied der Depression. So paradox es klingt: Das Überraschende an der ersten Folge des Archiv ist, daß sie so wenig Überraschungen birgt. Neil Young habe ich stets als Verfechter des Rohen, Unabgeschlossenen, Improvisierten gerühmt. Vergleicht man jedoch die unterschiedlichen Versionen der gleichen Stücke, sind die Unterschiede vergleichsweise gering. Die Unmittelbarkeit, die Neil Young musikalisch erzeugt, dieser Eindruck, daß jedes Stück nur einmal so klingen konnte und schon die bloße Wiederholung es grundlegend verändern muß, ist höchst artifiziell, wie das Archiv beweist. Und beinah durchgängig sind die Aufnahmen, die es auf eine Platte schafften, schräger, kapriziöser, enervierender als die Aufnahmen, die Neil Young beiseite gelegt hat. Noch das Peinlichste, Jammervollste, musikalisch Beschränkteste erweist sich als gewollt. Kann sich also, wer keine Philologie betreiben möchte, den Kauf des Archivs sparen, wenn kaum eine der Neuveröffentlichungen an die bereits erschienenen Interpretationen reicht? Nein!, würden nicht nur die Freunde rufen. Wie bei Caravaggios restaurierter Ursula eine Hand auftaucht, die in keinem Katalog zu sehen ist, sind auch in den zuvor bereits veröffentlichen Stücke vielfältige Nuancen oder gar eigene Instrumente zu entdecken, wo vorher nur ein Rauschen oder Summen war, hier eine Mundharmonika, dort ein Baßlauf in seiner ganzen Monotonie. Übertroffen werden die neu aufbereiteten Stücke nur von den Livemitschnitten, vorab erschienen oder noch nicht, auf denen jedes Stück wirklich nur einmal so klingen konnte und schon die bloße Wiederholung es grundlegend veränderte. Die beiden CDs, die ich mir bereits vorher zugelegt hatte und nun also zweimal besitze, hob ich mir für die letzten zweihundert Kilometer auf. In der Massey Hall sang er 19710 erstmals die Lieder, die er später auf Harvest veröffentlichte und seither nicht mehr singen kann, ohne daß Tausende mitgrölen. Die Unsicherheit, die Neugier, auch der Stolz, mit denen er sie 1971 vorstellte, geben selbst einem Gassenhauer wie Heart of Gold etwas Fragiles, eine Zartheit, die sich nur dort einstellen konnte und damals. Ein Jahr früher spielt er sich im Fillmore East mit Crazy Horse in jene Ekstase, wie sie sonst Mystikern vorbehalten ist oder Propheten: Nie geht es um einen Höhepunkt wie gewöhnlich in der Kunst als einer Selbstäußerung; als religiöse Form ist ihr Wesen die Wiederholung, die einen aus sich herausträgt. Aber im Gegensatz zu den Freunden würde ich selbstredend nicht von einer Offenbarung sprechen, nur von der unverhofften Gnade, die vertraute Musik zu hören, als wohnte ich der initialen Fügung bei. Den Strafzettel reiche ich dann auch beim Spiegel ein.