Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert
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Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert
ATLASKARTOGRAPHIE B. Schulte: Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert 78 Tradition und digitales Zeitalter – Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert Tradition and the Digital Era – The Putzger Historical World Atlas in the 21st Century Bennet Schulte, Berlin Der Putzger Geschichtsatlas hat sich seit 1877 vom Kartenheft zu einem didaktischen Standardwerk der historischen Kartographie entwickelt. Dabei wurde die Anzahl der enthaltenen Karten mehr als vervierfacht und es entstanden mehrere Produktlinien. Der Putzger, seit über hundert Jahren analog erstellt, wurde in eine digitale Verarbeitung überführt. Es stellt sich, nach Neuerzeugung aller KN 2/2011 B. Schulte: Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert ATLASKARTOGRAPHIE Karten und einer grundlegenden Umstrukturierung, die Frage, ob an die hohe Qualität der früheren Auflagen angeknüpft werden konnte. n Schlüsselbegriffe: Historischer Weltatlas, Putzger, Geschichtsatlas, Atlaskartographie, Lehrmaterial letzten kleinen Ausgabe (103.KA.2006) Anwendung finden. Since 1877, the Putzger Historical Atlas has evolved from a map booklet to an educational standard work of historical cartography. The amount of maps contained has since more than quadrupled and there are now several different product lines. This atlas created analogously for over a hundred years was converted into a pure desktop publishing product. After re-creating all maps and a complete restructuring of the entire content the question arises whether the current products will continue to live up to their usual high expectations. n Keywords: Putzger, historical world atlas, historical cartography, educational material Der „neue“ Putzger im „alten“ Format beseitigt ein Grundproblem seit der letzten vollständigen Überarbeitung der 100. Auflage. Seit 1988 wurden die aktuellen Geschehnisse nicht mehr in das Gesamtwerk eingearbeitet, sondern lediglich angehängt. Die 103. Auflage verfügt nun über eine eindeutige chronologischepochale Gliederung, die durch Farben am Rand zusätzlich verdeutlicht wird. Zudem wurde auch nach geographischen Räumen neu geordnet. War früher nur Europa bis 1990 chronologisch abgedruckt und außereuropäische Gebiete fast ausschließlich am Ende des Atlas dargestellt, so werden nun z. B. Indien und China nicht mehr gemeinsam am Ende, sondern zusammen mit den europäischen Mächten im jeweiligen Zeitabschnitt dargestellt. Dies zeugt von der Abkehr einer eurozentrischen Sicht und macht den Putzger mehr zu einem „Weltatlas“ als die vorherigen Auflagen. Auch wurden zunehmend wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Themen berücksichtigt, was das Spektrum des Einsatzes in der Lehre erweitert. Beispielsweise werden dem großen Schisma (S. 93), der Kultur im Heiligen Römischen Reich (S. 126), den Wahlergebnissen der Weimarer Republik (S. 177), den Weltreligionen und dem Völkermord an den europäischen Juden (S. 181) ebenso wie den deutschen Kriegsgefangenen nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 186) Beachtung geschenkt. Auch England findet größere Berücksichtigung in mehreren teilweise ganzseitigen Karten (S. 140f). Es wurden nicht nur historische Karten ergänzt, sondern auch aktuelle Karten zu internationalen Konflikten aufgenommen. Leider wurden nicht alle der 357 Karten der großen 103. Auflage von 2001 über- Vorwort Der „Putzger“, der als der wichtigste Schulatlas für Geschichte im deutschsprachigen Raum bezeichnet werden kann, soll hier in seiner neuesten Auflage als reiner Atlas bzw. teilweise in seiner größeren Form als Atlas und Chronik beleuchtet werden. Dabei soll die Frage beantwortet werden, ob bei der Digitalisierung des ursprünglich analogen Atlas die Qualität gewahrt oder gar verbessert wurde. Es liegt ein besonderer Fokus auf den Karten und bei diesen auf der inhaltlichen und handwerklichen Ausführung. Der Verlag Cornelsen hatte zum 125. Jubiläum des Putzger im Jahr 2001 mit der 103. Auflage neue Wege beschritten. Statt wie die vorhergehenden Auflagen auf ein reines Kartenwerk in einem handlichen Format von 26,5 mal 18 cm zu setzen, präsentierte der Verlag ein wesentlich größeres Format (ca. 34 mal 24,3 cm) und eine Kombination aus Atlas und Lehrbuch. Die Beibehaltung des Namens hätte vermutlich zu Verwirrung geführt. Deshalb führte man für die „große“ 103. Auflage ein Jahr später als Ersatz für die alte Bezeichnung „Putzger – Historischer Weltatlas“ den neuen Namen „Putzger – Atlas und Chronik zur Weltgeschichte“ ein und änderte das Cover. 2006 wurde eine weitere 103. Auflage herausgeben, jedoch wieder im alten kleinen Format, als reines Kartenwerk und wieder unter dem Namen „Putzger – Historischer Weltatlas“. Um der vorangegangenen Verwirrung vorzubeugen, vergab man ein Cover im gleichen Design wie bei der großen 103. Auflage von 2001 und ergänzte es um die Aufschrift „Kartenausgabe“. Parallel erschienen dazu 2005 Karten auf zwei CD-ROMs, die ebenfalls das Design der 103. Auflage trugen, ergänzt um die Aufschrift „Foliensammlung“. Um aus der großen Ausgabe eine eigenständige Produktlinie zu entwickeln und eine Verwechslungsgefahr endgültig zu eliminieren, wurde die große 103. Auflage von 2002 umgedeutet zur 1. Auflage des „Putzger – Atlas und Chronik zur Weltgeschichte“, worauf Ende 2009 die 2. Auflage folgte und Cornelsen so nach den Wirrungen von 2001 und 2002 zwei Produktlinien etabliert hatte: Zum einen die reinen Kartenwerke unter dem Namen „Putzger – Historischer Weltatlas“, die dem klassischen Putzger entsprechen und auch in dem seit 1992 bekannten blauen Design vermarktet werden, und zum anderen den „Putzger – Atlas und Chronik zur Weltgeschichte“. Auf Grund der Vergleichbarkeit der Atlanten wird der Fokus auf die letzten beiden Auflagen der reinen Kartenwerke gesetzt, dem kleinen Putzger in der 102. Auflage von 1998 (102.1998) und der Kartenausgabe der 103. Auflage von 2006 (103.KA.2006). Die Karten finden sich letztlich auch im neuesten, dem großen Putzger (2.2009), da dort häufig unveränderte Karten der 1 Neuer Putzger im alten Format Cornelsen Produkte der Marke Putzger Textkürzel klassischer „kleiner“ Putzger (ca. 26,5 x 18 cm) Putzger Historischer Weltatlas, 102. Auflage, 6.Druck, 1998 102.1998 Putzger Historischer Weltatlas Kartenausgabe, 103. Auflage, 1.Druck, 2006 103.KA.2006 „großer“ Putzger (ca. 34 x 24,3 cm) Putzger Historischer Weltatlas, 103. Auflage, 1.Druck, 2001 Putzger Historischer Weltatlas und Chronik, 2. Auflage, 2009 Tab. 1: Putzger Produkte, die betrachtet wurden 103.2001 2.2009 Digitaler Putzger auf CD-Rom Putzger Historischer Weltatlas Foliensammlung 1 & 2, 2005 Digital.2005 KN 2/2011 79 B. Schulte: Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert neuen Karten ist jedoch durchwachsen. So ging z. B. bei der Digitalisierung der schon in der analogen 102. Auflage (I, S. 157, 102.1998) schwer zu erkennende Unterschied zwischen der Provinz Brandenburg und der Grenzmark Posen-Westpreußen vollends verloren. Beide Provinzen werden in der 103. Auflage (I, S. 193, 103. KA.2006) als eine Einheit dargestellt. Auch die Exklave Ostheim, Teil von Thüringen, ist dabei der Digitalisierung zum Opfer gefallen. Die gravierenden Fehler des stark abstrahierten Grenzverlaufs SachsenAnhalts in der Karte „Die Länder des vereinigten Deutschlands“ auf derselben Seite wurden zwar reduziert, jedoch bleiben die Grenzverläufe der neuen Länder insgesamt geometrisch inkorrekt und werden in Karte I der gegenüberliegenden Seite (S. 192, 103.KA.2006) zwischen Sachsen und Thüringen gänzlich unterschlagen. Erst in der 2. Auflage des großen Putzger von 2009 wird dieses Problem nach 20 Jahren angegangen. Man verwendete die Karte des geteilten Deutschlands (S. 267 2.2009) und ersetzte die Bezirksgrenzen durch Ländergrenzen. Dabei wurde allerdings das Problem geschaffen, dass die alten einen stärkeren Generalisierungsgrad aufweisen als die neuen Bundesländer (S. 273, 2.2009). Es wurde nur selten von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, alte Mängel mit der Digitalisierung der Altkarten zu beseitigen. So jedoch wurde beispielsweise in einer Nachkriegskarte (II, S. 186, 103.KA.2006) endlich die Zugehörigkeit des Ausseerlandes von 1938 bis 1948 zu Oberdonau statt zur Steiermark berücksichtigt. Für alle anderen Karten dieses Zeitraums bleiben die Darstellungen jedoch inkorrekt. Gleiches gilt für die Gaugrenzen, die Jungholz und das Kleinwalsertal zu Tirol rechnen. Kleinigkeiten wie die Exklaven des Gaus Thüringens und die Grenzänderung zwischen der KarpatoUkraine und der Slowakei vor und nach dem Slowakisch-Ungarischen Krieg 1939 bleiben weiter unberücksichtigt. Gleiches findet sich auf Seite 180. Darüber hinaus fehlt dort die Grenze zwischen dem Gau Ostpreußen und Danzig-Westpreußen ab 26.10.1939. Die Flächenfärbung der Fläche von Eupen-Malmedy und die Gaugrenzen und Flächenfarbgebung für besetzte Gebiete folgen auch keinem ein- ATLASKARTOGRAPHIE Abb. 2: Gefährliches Spiel mit dem Karteninhalt, aus zwei alten wird eine neue Karte 81 heitlichen Muster. Diese Probleme wurden ebenfalls in der 2009er-Auflage bereinigt und man fand zu einer gleichzeitigen Darstellung der Gaue und Länder (S. 248 2.2009). Es unterliefen aber neue Fehler bei der Darstellung des Gaus Mark Brandenburg 1939 bis 1945 (S. 250 2.2009), der nun das Gebiet der Grenzmark PosenWestpreußen absorbiert, das er jedoch nur bis 1.10.1938 inne hatte. Die Grenze im Bereich der nördlichen Arwa und Zips, zwischen Polen bzw. dem Generalgouvernement und der Slowakei, wird in den neuen Karten der 2. Auflage des großen Putzger im Zeitraum 1939 bis 1945 falsch dargestellt. Es wurden aus Karten von 1924 bis 1938 Grenzlinien ohne Prüfung übernommen (S. 248 Jd/Kd 2.2009) und fälschlicherweise auch für 1939 bis 1945 verwendet (S. 250/252 2.2009). Auch bei Karten, an denen zwischen 2006 und 2009 scheinbar keine Änderungen vorgenommen wurden, tauchen nun unbemerkt gebliebene hand werkliche Fehler auf. So wurde in der Karte „Europa zur Zeit Napoleons“ (S. 190 2.2009) die Jahreszahl 1813 für die Schlacht an der Katzbach dupliziert und beide Jahreszahlen so verschoben, dass sie nicht mehr an der Schlachtsignatur zu finden sind, sondern in einiger Entfernung (Ic). Andere Fehler wurden zwischen 2006 und 2009 korrigiert, z. B., dass auf Seite 124 und 125 (103. KA.2006) die gesamte Flächenfarbe der Republik Venedig vergessen und diese in einem falschen Ton und mit sichtbaren Textfreistellungen dargestellt wurde. KN 2/2011 ATLASKARTOGRAPHIE B. Schulte: Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert die Mittelmächte den Kriegseintritt Bulgariens erkaufte – bleibt leider selbst bei den Darstellungen des Ersten Weltkrieges (S. 166, 103.KA.2006) unberücksichtigt. Sie wurde zwar auf Seite 151 (103. KA.2006) bzw. 298 (2.2009) eingezeichnet, jedoch nicht wie auf Seite 101 (102.1998) mit dem Zusatz 1915 versehen. 82 Abb. 3: Identischer Kartenausschnitt 1998 (oben) und 2006 (unten) Alte und neue Mängel sind ferner die Grenzen Finnlands (III,S. 186,103. KA.2006), welche in der Nachkriegsdarstellung die Vorkriegsgrenzen zeigen, sowie die Städtesignatur von Tirana (vgl. S. 111, 102.1998 und S. 173, 103. KA.2006), die aus Platzmangel an die Küste verlegt wurde. Außerdem werden Gebiete von Italien, Dänemark, Belgien, Frankreich, Litauen und Österreich, die nach dem Ersten Weltkrieges hinzugewonnen wurden, nicht wie bei den restlichen Staaten durch hellere Farben dargestellt (S. 173, 103.KA.2006). Nicht aktualisiert wurde auch bis zur aktuellen Auflage (2.2009) die Darstellung Polens im 20. Jahrhundert (S.128, 130. KA.2006/S. 177, 2.2009). Dort liest man immer noch mit dem Zusatz „Staatsgrenzen 1990“: „Sowjetunion“ und „Tschechoslowakei“. Über die Bedeutsamkeit einiger dieser Details kann man streiten – gerade weil es sich um ein Schulbuch handelt. Aber um über die Nutzung in der Schule hinaus interessant zu sein und der historischen Hintergründe wegen könnte so manches Detail und eine bis an die Grenzen ausgereizte Präzision sinnvoll sein. Die territoriale Veränderung beispielsweise des westlich der Mariza gelegenen Vorlandes von Edirne (Adrianopel) – mit dessen Übergabe das Osmanische Reich 1915 für KN 2/2011 Grundsätzlich gibt es bei der Recherche der Geometrie historischer Grenzen gelegentlich das Problem, dass aktuelle Geodaten geometrisch wie historische aussehen, es aber im Detail nicht sind. So ist in generalisierten Karten von Europa, die die Grenze zwischen Schleswig und Dänemark (1864 –1920) zeigen, ein Fehler zu bemerken, der bereits in den letzten Auflagen des Putzger enthalten ist. Der Grenzverlauf entspricht dort nicht der von 1864 bis 1919 etablierten Grenze, sondern vielmehr der des Amtes Süd-Jütland (Nordschleswig) von 1970 bis 2007. Bei einer Gebietsreform 1970 waren drei Gemeinden vom Amt Vejle hinzugekommen, die den Unterschied zur alten Grenze zwischen Preußen und Dänemark ausmachen (siehe Abb. 5). Ein Fehler, der auch in anderen Quellen häufig vorkommt, im Putzger jedoch nur in der Europakarte. Die geometrische Ausführung der Digitalisierung ist meist eine präzise Kopie des Originals. Leider wurde die Gelegenheit verpasst, auf eine GIS-basierte Verarbeitung der Geometrie zu setzen. Da jede Karte separat digitalisiert wurde, verfügt auch jede Grenze, wie in der analogen Vorlage, im gleichen Maßstab über eine andere Generalisierung (siehe Abb. 4). 3 Überarbeitungen Im Zuge der digitalen Neuerstellung nahm man eine Anpassung des Kartenbildes vor. So wurden die Städtesignaturen, die die Einwohnerzahl klassieren, geändert, um optisch eine bessere Unterscheidung zu ermöglichen. Auch wurden an der Größe der Signaturen Änderungen vorgenommen. Sie sind nun grundsätzlich leicht größer und besser erkennbar. Auch die Symbolik der Signaturen wurde modifiziert. So sind die Abwürfe der Atombomben auf Japan nun mit einem Abb. 4: Ausschnitte desselben Raums aus vier verschiedenen Karten aus dem digitalen Putzger (Digital.2005) B. Schulte: Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert Atompilz- statt mit einem BombenSymbol dargestellt (vgl. S. 116, 102.1998 u. S.184, 103.KA.2006). Grundsätzlich wurde eine einfache und übersichtliche Darstellung angestrebt. So wurden Schummerungen häufig weggelassen (vgl. S. 38/112, 102.1998 u. S. 62/176, 103.KA.2006). Leider bleibt der neue Putzger der erwähnten kartographischen Inkonsistenz treu. Obwohl Cornelsen in den letzten Auflagen bemüht war, sie zu vermeiden, gibt es seit neuestem wieder einen Trend zu mehr Schummerungen. Waren z. B. 2006 noch die Polardarstellungen ohne, sind sie nun mit Schummerungen versehen (vgl. S. 159, 193.KA.2006 und S. 211, 2.2009). Die neue Karte des Kaukasusgebiets z. B. beinhaltete 2001 noch keine Schummerung, ist aber 2006 mit einer solchen versehen (vgl. Karte IV S. 159, 103.2001 u. II, S. 169, 103. KA.2006). Die digital erzeugten Schummerungen reichen optisch jedoch nicht an die früheren Handschummerungen heran (Karte II, S. 169, 103.KA.2006). Darüber hinaus werden weniger Linienfüllungen und mehr Farbfüllungen verwendet (vgl. Brit. Militärzone, Grenze Transkaukasische SFSR S. 111, 102.1998 u. S. 173, 103. KA.2006). Neu ist auch eine häufigere Nutzung von Bewegungspfeilen, z.B. auf Seite 133 (103.KA.2006) und 235 (2.2009). Eine sinnvolle neue Ergänzung ist z. B. das Aufzeigen von Rohstoffen beim „Wettlauf um Afrika bis 1914“ (II S. 163, 103.KA.2006). Obwohl die Farben seit jeher von Auflage zu Auflage leicht variieren, wirken die aktuellen Farben blasser, mit teilweise inkonsistenten Farbüberarbeitungen. So wird z. B. Polen auf Seite 67 statt gelb nun grün dargestellt, während es im Folgenden jedoch weiter gelb ist (vgl. S. 67 u. S. 69, 103.KA.2006). Eine andere Veränderung ist, dass bei den Karten der Bevölkerungsverluste in Asien und Europa im Zweiten Weltkrieg nun die Europakarte eine andere Netzabbildung als in früheren Ausgaben hat und in der Kartengrundlage sowjetische Stauseen auftauchen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg angelegt wurden (vgl. S. 117, 102.1998 u. S. 185, 103.KA.2006). Auch textliche Anpassungen wurden vorgenommen. Diese sind meist sinnvoll Abb. 5: Die aktuelle ist als damalige Grenze interpretiert, ein häufiger Fehler in Geschichtskarten und aktualisieren ältere Begrifflichkeiten. So heißt beispielsweise die „deutsche Ostsiedlung“ (S. 50f, 102.1998) jetzt „europäische Ostkolonisation“ (S. 78f, 103.KA.2006) bzw. „Mittelalterlicher Landausbau in Mittel- und Ostmitteleuropa“ (S. 105, 2.2009). „Die Wirtschaft […] im Zeitalter des Frühkapitalismus“ (S.68f, 102.1998) heißt nun „Die Wirtschaft […] im 16. Jahrhundert“ (S. 102f, 103.KA.2006). Ferner wurden nützliche Detailinformationen in den Karten (103. KA.2006) ergänzt: Z. B. finden sich für Österreich die mittelalterliche Bezeichnung „Regio Ostarrichi“ (S. 67), bei Istanbul der Zusatzhinweis „1918 – 23 v. Alliierten bes.“ (S. 173) und mehrere zeitliche Details zu Armenien nach dem Ersten Weltkrieg. In der Europakarte 1949 – 1989 (S.189) sind nun auch die Vorgänge im Nahen Osten erfasst. Darüber hinaus wurde in einigen Punkten von deutschen exonymen Bezeichnungen zu endonymen gewechselt. Dies erfolgte jedoch nicht konsequent. So wird z. B. in der 103. Auflage von 2006 das polnische Endonym „Łód z´ “ verwendet. Bis 1998 wurden die deutschen Exonyme „Lodz“ oder „Lodsch“ wechselnd verwendet und 2001 grundsätzlich zu „Lodz“ (vgl. S. 112 u. 113, 102.1998, S. 143, 103.2001 und S. 176, 103.KA.2006). Jedoch wurde ausschließlich bei „Łód z´ „ das Endonym verwendet, während in denselben Karten weiterhin Exonyme wie „Warschau“ und „Krakau“ statt „Warszawa“ und „Kraków“ zu lesen sind. Ein weiteres Beispiel für die Vergabe uneinheitlicher Ortsnamen stellt die Überarbeitung der Schreibweise von „Kamenets-Podolsky“ (II S. 85, 102.1998) dar, die zu Kamenez-Podolskij (S. 129, ATLASKARTOGRAPHIE 103.KA.2006) inkonsequent geändert wurde. Der Hauptunterschied ist, dass die alte Schreibweise eine Transkription des russischen, die neue eine Transkription des ukrainischen Namens darstellt, der jedoch an anderer Stelle weiterhin mit der auch früher parallel auftretenden jiddischen Schreibweise „Kamenez-Podolsk“ (siehe S. 99, 102.1998 u. S. 149, 103.KA.2006) auftritt. Zusammen mit der Kurzform „Kamenez“ führt dies zu drei verschiedenen Schreibweisen in der aktuellen Auflage. 83 4 Gelungener Spaß oder Beleg für mangelnde Qualitätssicherung? Ein Beispiel zeigt das Niveau der Qualitätssicherung besonders auf: Vom Verlag unbemerkt wurden fiktionale Orte aus den Romanen „Herr der Ringe“ in die 103. Auflage von 2001 eingearbeitet, die neben den realen Fakten präsentiert werden. So wird beispielsweise in „Mitteleuropa im Zeitalter der Reformation um 1547“ (S. 94, 103.2001) der Heimatort der Hobbits in der Untersteiermark verortet, wo eigentlich der Ort Sulzbach (Solčava) liegen sollte (siehe Abb.6 oben). Die Elbensiedlung Bruchtal hingegen ersetzt Abb. 6: Fiktionale Orte aus „Herr der Ringe“ in seriösen Geschichtskarten KN 2/2011 84 ATLASKARTOGRAPHIE B. Schulte: Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert in „Mitteleuropa nach dem 30-jährigen Krieg 1648“ (S. 99, 103.2001/S. 153 2.2009) den Ort Makád an der Donau (siehe Abb.6 unten). Beide fiktiven Orte werden auch im Register behandelt. Ob derlei die inhaltliche Glaubwürdigkeit senkt und für ein recherchiertes und vertrauenswürdiges Standardwerk angemessen ist, ist fraglich. Bei Cornelsen sieht man es angeblich ganz gelassen. Nach dem Verlagssprecher Nico Enger seien die Orte „in alter Tradition von Kartografieredakteuren“ platziert worden (Spiegel, 2009). Dabei ist dem Verlag tatsächlich vom Druck 2001 bis Ende 2006 dieser Sachverhalt gar nicht bekannt gewesen (Spiegel, 2009). Wie sich herausstellte hatte sich ein als Redakteur tätiger Gymnasiallehrer unbemerkt verewigt (Rindler, 2009). Ganz gelassen betrachtete man die Problematik beim Verlag dann wohl doch nicht und entfernte in der 2. Auflage der großen Ausgabe 2009 Hobbingen von der Karte (S. 147, 2.2009), beließ es aber, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, im Register. Abb. 7: Sprachen auf dem Balkan um 1910 (oben 1998, unten 2006) 5 Inhaltliche Modifikationen In der Dissertation „Deutschlandbilder: Historische Schulatlanten zwischen 1871 und 1990“ wird das Thema der Anpassung von Karten nach politischem Klima im Zusammenhang mit dem Putzger ausführlich belegt (Lehn, 2008, S. 568 ff.). Unklar bleibt, ob die Anpassungen der Aussagen in den neuen Auflagen beabsichtigt oder Nebenprodukte der neuen Kartengestaltung sind. Auch ob hinter beabsichtigten Veränderungen ein didaktischer Sinn, neue Erkenntnisse oder nur eine persönliche Präferenz der Autoren steckt, ist bei dieser Art von brisanter, emotionaler und politisch geladener Thematik schwer zu sagen. Es allen recht zu machen ist jedoch sicherlich schwierig, wenn nicht sogar ausgeschlossen. Schulgeschichtsatlanten (Schulz, 2007, S. 33 ff.), allen voran der Putzger mit seiner weiten Verbreitung als Lehrmittel, tragen zur Meinungsbildung und Bildung überhaupt bei und tragen daher auch eine große Verantwortung für die Aussagen ihrer Karten. Besonders brisant sind seit jeher Ethnienkarten (Keményfi, 2007; Schulz, 2007, S. 23ff; Lehn, 2008, S. 219). Beispielsweise wird in der aktuellen Auflage in Karte II, S. 222 (103.KA.2006 / S. 299, 2.2009) in der Bevölkerungskarte Jugoslawiens eine Trennung zwischen Deutschen, z. B. Resten der Donauschwaben, und Österreichern vorgenommen, die in der 102. Auflage noch nicht existent war (vgl. II, S156. 102.1998). Zwar wurde aus der „Völkerkarte“ eine „Völker- und Ethnienkarte“, und folgte der Auffassung des am Putzger beteiligten österreichischen Historikers Bruckmüller (2001), nach der sich seit 1871 zwei bzw. mehrere deutsche Ethnien gebildet haben. Jedoch ist, wenn in diesem speziellen Bereich zwischen den Termini „Deutsche“ und „Österreicher“ unterschieden wird, zu beachten, dass dort unterschiedliche Ebenen vermischt werden. „Deutsche“ kann nur als Sammelbegriff für die kulturelle und sprachliche Gemeinschaft verschiedener deutscher Ethnien wie Russlanddeutsche, Sachsen, Österreicher oder Donauschwaben Anwendung finden. Die im Ausschnitt der Karte ansässigen „Deutschen“ definieren sich beispielsweise nach Bindorffer (2001) fast ausschließlich als lokale Ethnie, z. B. als Donauschwaben. Österreicher zu separieren, aber diese in den „deutschen“ Topf zu werfen, wirkt hier forciert. Die Darstellungen an sich sind zudem inkonsistent. So werden in der vollkommen neu erstellten Sprachenkarte für Mittel-, Ost- und Südeuropa um 1910 (S. 149 103.KA.2006/S. 234 2.2009) Deutsche als geschlossene germanische Gruppe dargestellt, während die ehemals vereinte serbo-kroatische Sprache (S. 99 102.1998) nun in Kroatisch und Serbisch untergliedert wird. Zudem führt dies zu 15 slawischen Gruppen samt eigener Flächenfarbe, statt wie bisher neun (zuzüglich Kaschubisch und Sorbisch). Eine Unterscheidung der Sprachgruppen ist aufgrund sehr ähnlicher Farben und dem Fehlen jeder Beschriftung in der KN 2/2011 B. Schulte: Der Putzger Historischer Weltatlas im 21. Jahrhundert Karte kaum noch möglich (siehe Abb. 7). Gut gemeint ist die Nennung der Kraschowaner als eigene slawische Gruppe. Diese maximal 5000 Personen zählende Gruppe wird mit einer dem slowakischen Grünton zu ähnlichen Farbe in der Karte dargestellt. Auf Grund der nur einmalig existierenden Fläche von 1mm2 Größe und der fehlenden Beschriftung in der Karte sind die Kraschowaner ohne Zusatzquellen praktisch nicht auffindbar. Abgesehen von den Farben, die grundsätzlich anders sind als in früheren Auflagen und immer noch keinen Bezug zu den anderen Karten haben, wurde auch die Bevölkerung neu verteilt. In einigen Fällen führt dies zu einem Informationsverlust, in anderen Bereichen gibt es Verbesserungen. Beispielsweise werden Serben nun auch an der Grenze zwischen Kroatien und Slawonien, Weißrussen im Raum Bialystok oder eine nun mehrheitlich russisch statt ukrainisch besiedelte Krim dargestellt. Die teilweise primitiv und absolut wirkende neue Darstellung fällt in Sachen Detail stark hinter der alten Karte (Abb. 7 oben) zurück und kennt auch keine Mischgebiete mehr, sondern lediglich Mehrheiten (Abb. 7 unten). Wie Abbildung 8 zeigt, wurden die Karten im wahrsten Sinne nicht nur für deutsche Siedlungsgebiete, sondern für alle neu gemischt. Dies führt z. B. bei den Tataren, Aromunen und Deutschen zu einer reduzierten Siedlungsfläche (siehe Abb. 7 und 8). Dies mag unbeabsichtigt an der Generalisierung liegen, führt aber in Kombination mit dem Verlust der Darstellung von Mischgebieten zu Verhältnissen, in denen ehemalig kleine Flächen plötzlich sehr groß werden oder sogar ganz verschwinden. Offen bleibt die Frage, ob das Fehlen des Neuschwabenlandes in der Antarktis (S. 159 103.KA.2006) – das sonst in nahezu jeder Antarktiskarte, besonders aus historischen Gründen, vermerkt ist (siehe z. B. C18/C1 S.110 BSV.1981) – Zufall oder Absicht ist. Auch das Weglassen der Außengrenze des Deutschen Reiches vor Beginn des Zweiten Weltkrieges könnte eine gezielte Änderung sein. Die gleichzeitige und beibehaltene Darstellung der Aufteilung der Tschechoslowakei mit Indexzahlen in der Farbe der früheren Außengrenze, ATLASKARTOGRAPHIE Abb. 8: Sprachen im östlichen Mitteleuropa um 1910 (oben 1998, unten 2006) 85 wirkt nun eher zusammenhangslos und deutet auf den bewussten Wunsch eines geänderten Gesamteindrucks hin (vgl. S. 111, 102.1998 u. S. 173, 103.KA.2006). Im Kartentitel jedenfalls heißt es „1918 bis 1939“, während in der 102. Auflage noch „1919 –1939“, in der digitalen Foliensammlung „1919 bis 1938“ und in der 2. Auflage der großen Ausgabe „1919 bis 1939“ als Titel derselben Karten vermerkt ist. Man gewinnt den Eindruck, dass der Verlag die Übersicht verloren hat oder zu viele Bearbeiter ohne Abgleich zu den anderen Produkten des Verlags arbeiten. 6 Fazit Der Putzger ist nicht irgendein Geschichtsatlas, er ist mit seiner 133-jährigen Tradition im deutschsprachigen Raum das Schul- und Standardwerk für Geschichtskarten schlechthin. Cornelsen hat seit der 103. Auflage einen durchgängigen chronologischen Aufbau vorgenommen und beendet das aus den vorhergehenden Auflagen bekannte simple Anhängen aktueller Karten an eine ältere Auflage. Das Erscheinungsbild konnte erfolgreich ansprechend modernisiert und der Umfang erhöht werden. Dem Verlag gelang des Weiteren durch die Digitalisierung seiner alten Karten der Übergang in die digitale Kartographie. Geometrisch exzellent ausgeführt, bleibt dabei jedoch teilweise die inhaltliche Qualität mangels Überprüfung der neuen Karten auf der Strecke. Über den Zugewinn an Übersichtlichkeit auf Grund der digitalen Neuerstellung, die auf Kosten des analogen Charmes geht, den z. B. händisch erstellte Schummerungen ausmachen, soll sich jeder Betrachter selbst eine Meinung bilden. Auch wenn in einigen Punkten die Arbeit der Kartographen und der Redaktion kritisch betrachtet wurde, muss eindeutig heraus gestellt werden, dass der Putzger inhaltlich und kartographisch auf seinem Niveau nur wenig Konkurrenz KN 2/2011 86 ATLASKARTOGRAPHIE R. Sieber, L. Hollenstein, L. Hurni: Der neue Atlas der Schweiz 3 hat. Fehler in den Karten müssen im Detail gesucht werden. Klar jedoch ist, dass im Vergleich zu alten Auflagen ein zunehmender Verlust der inhaltlichen Qualitätssicherung erkennbar ist und sich vermehrt innerhalb des Atlasses uneinheitliche Kartenbilder, unterschiedliche Maßstäbe und Projektionen etabliert haben. Es bleibt zu wünschen, dass Cornelsen den modernen und gut strukturierten Aufbau künftig mit den Stärken der früheren Auflagen zu verbinden weiß und so den Putzger nicht nur nach Verkaufszahlen, sondern auch nach Qualität wieder zum verlässlichen Standardwerk macht. Spiegel (2009): Hobbits im Weltatlas. Der Spiegel 49/2006, 4.12.2009. S. 155. Spiegel-Verlag, Hamburg. Literatur 102.1998: Putzger – Historischer Weltatlas, 102. Auflage, 6. Druck 1998. Cornelsen, Berlin. 103.2001: Putzger – Historischer Weltatlas, 103. Auflage, 1. Druck 2001. Cornelsen, Berlin. 103.KA.2006: Putzger – Historischer Weltatlas Kartenausgabe, 103. Auflage, 1. Druck 2006. Cornelsen, Berlin. 2.2009: Putzger – Atlas und Chronik zur Weltgeschichte. 2. Auflage, 1. Druck 2009. Cornelsen, Berlin. Bindorffer, G. (2001): Doppelte Identität: Ethnisches und nationales Bewusstsein in Dunabogdány. Dissertation in ungarischer Sprache. Auf Deutsch Online in Internet: http://mek.niif.hu/03600/03665/html (Stand 1.2.2010). Bruckmüller, E. (2001): Die Entwicklung des Österreichbewusstseins (Joanneum – Demokratiezentrum). Online in Internet: http://iiss210.joanneum.at/demokratiezentrum2/media/pdf/bruckmueller.pdf (Stand 1.2.2010). BSV.1981: Großer Historischer Weltatlas – Dritter Teil Neuzeit. 4. Auflage, 1981. Bayerischer SchulbuchVerlag, München. Digital.2005: Putzger – Historischer Weltatlas Foliensammlung 1 & 2, 2006. Cornelsen, Berlin. Keményfi, R. (2007): Karten machen – Macht der Farben. Zur Frage der Visualisierung des ungarischen nationalen Raumes. – In: Tzschaschel, S.; Wild, H.; Lentz, S. (Hrsg.) (2007): Visualisierung des Raumes. Karten machen – die Macht der Karten. Forum ifl 6/2007. Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig. Lehn, P. (2008): Deutschlandbilder: Historische Schulatlanten zwischen 1871 und 1990. 1. Auflage. Böhlau, Köln/Weimar/Wien. Rindler, H. (2009): Schulatlas „beweist“ Hobbingen liegt in Kärnten! oe24.at, 05.03.2009. Online in Internet: http://www.oe24.at/oesterreich/chronik/Hobbingen_ liegt_in_Kaernten_91847.ece (Stand 1.11.2009). Schulz, H.-D. (2007) Sie wussten, was sie taten! Die Propagandistische „Kraft der Karte“ in der deutschen Schulgeographie der Zwischenkriegszeit. – In: Tzschaschel, S.; Wild, H.; Lentz, S. (Hrsg.) (2007): Visualisierung des Raumes. Karten machen – die Macht der Karten. Forum ifl 6/2007. Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig. KN 2/2011 Über den Verfasser: Bennet Schulte M.Sc. Dipl.-Ing. (FH) ist als Forschungsassistent an der Beuth Hochschule für Technik Berlin tätig und Doktorand an der TU Dresden zum Thema Geschichtsatlanten. Sein Forschungsschwer- punkt ist die Erhebung und Visualisierung historischer Geodaten. Weitere Arbeits- und Forschungsgebiete sind GIS-Analysen, historische Kartographie und Geschichtskartographie sowie Multimediasysteme und virtuelle Globen. E-Mail: [email protected] Manuskript eingereicht im August 2010, nach Review angenommen im November 2010.