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Die Entwicklung der britischen
Tagespresse seit den 90er Jahren
Diplomarbeit
im Fach Mediendokumentation
Studiengang Wissenschaftliche Bibliotheken
der
Fachhochschule Stuttgart –
Hochschule der Medien
Birgit Patzelt
Erstprüferin:
Zweitprüfer:
Prof. Susanne Speck
Prof. Dr. Wolfgang von Keitz
Angefertigt in der Zeit vom 15. Juli 2002 bis 15. Oktober 2002
Stuttgart, Oktober 2002
Kurzfassung
Kurzfassung
Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit der Entwicklung der Tagespresse
in Großbritannien seit den 90er Jahren. Sie beginnt mit einem knappen historischen Abriss, der vorhergehende Entwicklungen auf dem überregionalen
Pressemarkt während der 70er und 80er Jahre beschreibt. Eine Untersuchung
des Leseverhaltens und der Zeitungsnutzung der Briten zeigt die Aspekte und
die Entwicklung des Mediums im Hinblick auf den Nutzer. Verschiedene Strategien der Zeitungsverlage stellen das Agieren der Unternehmen im Absatzmarkt
und wesentliche Charakteristiken dessen dar. Ferner werden der Einfluss des
Anzeigenmarkts auf die verschiedenen Segmente des Pressemarkts und dessen
Entwicklung
beschrieben.
Es
folgt
eine
Darstellung
des
Konzentrationsprozesses im Medienmarkt mit Bezug auf den Pressemarkt. Die
Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungen und
Sachverhalte, die die Untersuchung ergab, mit einem Ausblick in die Zukunft.
Schlagwörter:
Tagespresse, Presse, Pressemarkt, Zeitung, Großbritannien, Massenmedium, überregionale Presse, regionale
Presse
Abstract
Abstract
The development of the British daily press since the 1990s is the subject of this
diploma thesis. It begins with a short historical overview, which describes several developments on the national press market during the 1970s and 1980s.
An examination of the reading habits and the newspaper use of the British
shows the aspects and the development of this medium in regard to the user.
Several strategies used by the newspaper publishers represent the action taken
by the industry in the sales market and its main characteristics. In addition to
that the influence of the advertising market on the press market’s different segments and its development are described. The following chapter shows the
media market’s concentration process in regard to the press market. The thesis
closes with a summary of the most important developments and facts, which the
examination revealed, with a look into the future.
Keywords:
daily press, press, press market, newspaper, Great Britain,
mass medium, national press, regional press
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Kurzfassung
Abstract
Inhaltsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
1.
Einleitung
1
2.
Die überregionale Tagespresse vor den 90er Jahren
3
3.
Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
8
3.1
Leserforschung
8
3.1.1
Grundlagen
8
3.1.2
Methodik
9
3.1.3
Problembereiche
10
3.2
Interessenschwerpunkte der Leserschaft
11
3.3
Soziologische Aspekte der Zeitungsnutzung
12
3.3.1
Sozial bedingte Nutzungsstrukturen
13
3.3.2
Individuell bedingte Nutzungsstrukturen
16
3.3.3
„Soziale Zeit“
16
3.3.4
Wirkung von Zeitungsinhalten
18
Entwicklung der Zeitungsnutzung
21
3.4
3.4.1
Ausgangslage
21
3.4.2
Entwicklungsfaktoren
24
4.
Absatzmarkt
28
4.1
Auflagensituation
28
4.2
Konkurrenz
29
4.3
Von der Preispolitik zum Preiskrieg
30
4.4
Entwicklung der Zeitungsinhalte
36
4.4.1
Sensationsjournalismus und Presserecht
36
4.4.2
Politische Berichterstattung
44
Inhaltsverzeichnis
4.4.3
4.5
5.
Regionale und lokale Berichterstattung
Zusätzliches Standbein Internet
Anzeigenmarkt
47
49
55
5.1
Einfluss auf den Zeitungsmarkt
55
5.2
Entwicklung
57
6.
Unternehmenskonzentration
63
6.1
Vielfaltsicherung contra Wirtschaftsinteressen
64
6.2
Restrukturierung der Regionalpresse
68
7.
Zusammenfassung und Ausblick
71
Literaturverzeichnis
74
Internetquellen
78
Erklärung
79
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1:
Klassenschema "Social Grade"
13
Tabelle 1:
Prozentsätze der Leserschaft von Broadsheets und
Tabloids aus den Gruppen A, B und C1
14
Tabelle 2:
Parteipräferenzen der überregionalen Tagespresse
im Vergleich zur Wahlentscheidung der Bevölkerung,
Großbritannien 1945-1997
19
Tabelle3:
Häufigkeit der überregionalen Zeitungsnutzung
35
Abbildung 2:
Wachstum der Anzahl britischer Internet-Hosts
1990-2000
50
Abbildung 3:
Verteilung des britischen Werbevolumens 2000 auf
Medientypen
58
Abbildung 4:
Entwicklung des jährl. Werbevolumens der Tagespresse
in Mio. Pfund
60
Abbildung 5:
Convergence of computing, transmission and content
industries
73
1. Einleitung
1.
1
Einleitung
Der britische Pressemarkt ist weltweit für seine große Anzahl von Zeitungstiteln
und seinen harten Wettbewerb bekannt.
Von 1 450 veröffentlichten Titeln sind 109 Titel Tageszeitungen, die wiederum
in zwei Märkte unterteilt sind: die überregionale und die regionale Tagespresse.
Die regionale Tagespresse beinhaltet Zeitungen, die sowohl im Rahmen einer
bestimmten Region als auch einer kleineren Verwaltungseinheit täglich erscheinen.
Die überregionale Tagespresse besteht aus 10 Titeln, die alle in der Hauptstadt
London veröffentlicht werden und wiederum in drei Segmente unterteilt sind:
Die Qualitätspresse, auch Broadsheets genannt, die Titel des mittleren Marktsegments und die Boulevard- und Sensationspresse, auch Tabloids genannt.
Ich werde im Bezug auf die Qualitäts- und die Boulevard-Presse die englischen
Begriffe verwenden, da sie in der englischen Medienwissenschaft gebräuchlich
sind, welche ich bei meinen Untersuchungen hauptsächlich heranziehe.
In den 90er Jahren fanden in der britischen Tagespresse umfassende Veränderungen statt, die unter anderem durch den technologischen Wandel, die
Etablierung der neuen Medien und die zunehmende Fragmentierung des Medienmarkts
und
verschiedenen,
mit
diesen
Prozessen
verbundenen
Entwicklungen ausgelöst wurden.
Hervorgehoben sei unter diesen Veränderungen eine bemerkenswerter und
entscheidender Entwicklungsprozess der regionalen Tagespresse ab Mitte der
90er Jahre, was die Struktur und zukünftige Sinngebung eines zu Beginn der
Dekade totgesagten Markts betrifft.
Die vorliegende Diplomarbeit untersucht die britische Tagespresse und deren
Entwicklung seit Anfang der 90er Jahre bis heute im Hinblick auf verschiedene
Aspekte, an denen Veränderungsprozesse gemessen werden können. Die
hauptsächliche Fragestellung ist dabei, welche Entwicklungsprozesse im Umfeld des Markts stattfanden und wie dieser darauf reagierte und sich
1. Einleitung
2
weiterentwickelte, auch im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen
Unternehmen. Sowohl die Nutzerseite, als auch die wirtschaftliche Seite werden
in diese Untersuchung einbezogen.
Die Forschungsliteratur hat bis jetzt noch keine Ergebnisse erbracht, die die britische Tagespresse in diesem Umfang und dieser Aktualität darstellen. Zum
einen sind seit vier Jahren keine neuen Werke und Arbeiten erschienen, die eine umfassende Übersicht über den Pressemarkt und dessen Entwicklungen
bieten. Zum anderen behandelte die Literatur bis jetzt nur ein begrenztes Feld
und bestimmte Aspekte oder Submärkte der britischen Tagespresse.
Um die heutige Struktur der überregionalen Tagespresse verständlich zu
machen, bietet Kapitel 2 dem Leser einen kurzen historischen Abriss an, der
die erheblichen Umbrüche darstellt, die während der 70er und 80er Jahre in
diesem Markt stattgefunden haben.
Das dritte Kapitel befasst sich mit den komplexen Grundlagen und Faktoren,
sowie der Entwicklung des Leseverhaltens und der Zeitungsnutzung der Briten.
Zu Anfang wird ein Überblick über die Grundlagen, die Methodik und Problembereiche der Leserforschung geschaffen.
Die Situation des Absatzmarkts und verschiedene Strategien, anhand derer die
Presseunternehmen einen Einfluss darauf ausüben, werden in Kapitel 4 ausführlich erläutert.
Das nachfolgende Kapitel stellt zunächst den Grad des Einflusses des Werbeund
Anzeigenmarkts auf die Tagespresse dar. Danach wird chronologisch
dessen Situation und Entwicklung seit Beginn der 90er Jahre geschildert.
Ebenfalls in chronologischer Form wird im sechsten Kapitel auf die Konzentrationsprozesse eingegangen, die den britischen Pressemarkt, sowie den
gesamten heutigen Medienmarkt, sosehr prägen. Zuvor werden skizzenhaft
verschiedene Konzentrationsstrategien dargestellt.
Anschließend folgt im letzten Kapitel eine Zusammenfassung der gewonnenen
Ergebnisse und eine Einschätzung der zukünftigen Perspektiven der britischen
Tagespresse.
2. Die überregionale Tagespresse vor den 90er Jahren
2.
3
Die überregionale Tagespresse vor den 90er Jahren
In den 70er und 80er Jahren fanden im überregionalen Pressemarkt Großbritanniens bedeutende Ereignisse, Entwicklungen und Veränderungen statt. Um
die heutige Struktur dieses Markts zu verstehen, ist es notwendig, auf diese
prägenden Prozesse genauer einzugehen.
Seit Entstehung der britischen Presse war die Fleet Street, eine Straße der
Londoner City, das Zentrum der Herstellung eines jeden überregionalen Titels.
Charakter, Erscheinung und Struktur der überregionalen Presse fanden dort ihren Ursprung.
Für die Zeitungsverlage und die dazugehörigen Druckereien gab es zahlreiche
Gründe, sich auf diesen Ort als Zentrum zu konzentrieren. Eine wesentliche
Rolle spielte die Tatsache, dass London zugleich das Zentrum der politischen
Macht innerhalb Großbritanniens ist und sich somit alle wichtigen Informationsquellen in unmittelbarer Nähe befanden. Außerdem waren in der Fleet Street
sowohl die Press Association als auch die Nachrichtenagentur Reuters angesiedelt. Durch die nahe Lage am britischen Transportnetz ergaben überdies
sich große Vorteile für die landesweite Distribution.1
Die Atmosphäre innerhalb dieses Zentrums der Zeitungsindustrie glich der eines Dorfes2, in dem die Macht der Presse vor allem durch die Stärke und
Kontrolle der Druckerei-Gewerkschaften zusammen gehalten wurde.
All diese Aspekte verdeutlichen die Tiefe des Einschnittes, der in den 80er Jahren innerhalb der überregionalen Presse folgen sollte, der das Ende der Fleet
Street bedeutete und dessen Konsequenzen bis heute spürbar sind.
1
Vgl. Littleton, Suellen M.: The Wapping Dispute. An examination of the conflict and its impact
on the national newspaper industry. Aldershot, Hants u. a.: Avebury. 1992, S. 3 f.
2
U. a. war “The Village” ein verbreitetes Synonym für die Fleet Street als Institution des britischen Wirtschaftslebens
2. Die überregionale Tagespresse vor den 90er Jahren
4
Die Grundlage hierfür bildete die Entwicklung moderner computergesteuerter
Drucktechnologien Mitte der 70er Jahre, die eine Massenproduktion in bisher
unbekannten Ausmaßen und umfassende Rationalisierungen ermöglichten.
Die Person, die am stärksten mit dem dadurch ausgelösten Veränderungsprozess in Verbindung gebracht wird ist der Medienmogul Rupert Murdoch. Er
kaufte sich 1969 durch die Übernahme der Titel Sun und News of the World in
den britischen Pressemarkt ein und galt schon damals als Unternehmer, der
sich in besonderem Maße von Macht und Profit angezogen fühlte.
1977 starteten Verhandlungen zwischen Murdoch und Lord Thompson, dem
Besitzer des Unternehmens Times Newspapers, denen 1981 die Übernahme
der Times und der Sunday Times durch Murdoch folgte. Murdochs generell erfolgreiche Unternehmungen stellten sich auch hier unter Beweis: in der Zeit bis
1986 verdoppelte sich die Auflagenzahl der Times.3
Es war ebenfalls 1977 als Murdoch in den Londoner Docklands ein Grundstück
erwarb - eine Reaktion auf die neuen technologischen Entwicklungen. Dieses
Grundstück war zunächst ausschließlich für die Errichtung neuer Druckereien
vorgesehen.
Ein Faktor, der die darauffolgenden Entwicklungen entscheidend unterstützte,
war die Politik der 1979 gewählten konservativen Regierung unter Margaret
Thatcher. Es war eine Regierung die die Wirtschaft in den 80er Jahren grundlegend prägte. Anders als ihre Vorgänger, die die damals sehr mächtigen
Gewerkschaften zu besänftigen versucht hatten, ging Thatcher auf direkten
Konfrontationskurs. Sie leitete einen Prozess ein, der die Verantwortung für
ökonomische Entscheidungen vom Staat hauptsächlich auf die Firmen und den
Markt übertrug.4
Es wurden in den Jahren zwischen 1980 und 1984 eine Serie neuer Arbeitsgesetze (Employment Acts) und ein Gewerkschaftsgesetz (Trade Union Act)
3
Vgl. Littleton, Suellen M., a. a. O., S. 44
4
Vgl. ebd., S. 27
2. Die überregionale Tagespresse vor den 90er Jahren
5
verabschiedet, die es den Zeitungsverlegern ermöglichten, Beschlüsse gegen
die Gewerkschaften vorzunehmen.
Murdoch war der Erste, der die Gunst der Stunde nutzte und nach Beendigung
des Baus seines neuen Standorts 1984 beschloss, die Fleet Street mit seinen
Titeln vollständig zu verlassen. Da die Auflagenzahlen seiner Titel, so wie der
Tagespresse überhaupt, stetig sanken, sah er es, wie andere Zeitungsverleger
nach ihm, als betriebswirtschaftlich notwendig an, die neuen Produktionsmethoden einzusetzen.
Zunächst begann er mit der Unterteilung seines Verlags News International in
kleine dezentrale „Schattenfirmen“ in den Docklands, wie z. B. News International Distribution Ltd. und News International Advertising Ltd.. Mit Hilfe der neuen
Gesetze konnte er so sein Unternehmen gegen das Handeln der Gewerkschaften gesetzlich schützen. Diese hätten rechtlich nur dann mit Arbeitskämpfen auf
den mit dem Umzug verbundenen Personalabbau reagieren können, wenn die
Firma in der gleichen Form als in der Fleet Street erhalten worden wäre. Dennoch wurde der vollständige Umzug News Internationals 1986 von heftigen
Arbeitskämpfen begleitet, da Murdoch eine Personalreduzierung um 2/3 vornahm.5 Aus bereits genannten Gründen erlebten die Gewerkschaften allerdings
eine herbe Niederlage, die sie bis heute schwächt.
Dieser erste vollständige Umzug eines Unternehmens aus der Zeitungsstraße
kann als „Beginn des Exodus der Fleet Street“6 bezeichnet werden. Diese drastische Bewertung erscheint mir durchaus angemessen. Es folgten im Laufe der
80er Jahre die Auszüge weiterer großer Presseunternehmen, die durch den
produktionstechnischen Wandel alle von starkem Personalabbau und Rationalisierungen begleitet wurden. Einige dieser Unternehmen, wie z. B. die Guardian
Media Group, hatten bereits Anfang der 80er Jahre ebenfalls neue Grundstücke
in den Docklands oder direkt an der Themse erworben.
5
6
Vgl. Littleton, Suellen M., a. a. O., S. 57
O. Verf. (1): Britanniens Presse vor neuer Restrukturierung. In: Neue Zürcher Zeitung. Ausgabe vom 20.10.2001
2. Die überregionale Tagespresse vor den 90er Jahren
6
Neben der Änderung der Produktionsweise führten News International und die
Mirror Group neue Distributionssysteme ein. Beide Unternehmen kündigten ihre
Verträge mit British Rail und beauftragten private Distributionsfirmen, die Großhändler über das nationale Straßennetz zu beliefern. Beide Presseunternehmen
stellten fest, dass sich die Distribution durch Privatfirmen als wesentlich effizienter, preiswerter und schneller erwies. Daneben wurden nur noch die großen
Großhändler mit Titeln beliefert.
1989 verließ mit Associated Newspapers das letzte Unternehmen die Fleet
Street.
Diese immensen Veränderungen können wohl als Industriereform angesehen
werden, bei der die Macht von den Gewerkschaften ins Management überging.
Obwohl schon vor News International einige Zeitungsverlage Großbritanniens
die Entwicklung der neuen Technologien genutzt hatten um ihr Unternehmen zu
rationalisieren hat Murdochs Handeln einen unerwartet dramatischen Schub
ausgelöst, der sich zu einer Reform entwickelte, die die gesamte Presseindustrie mit einbezog. Alle anderen Unternehmen folgten seinem Beispiel, so
dass der „Machtwechsel“ von Murdoch auf die gesamte Mentalität der Tagespresse überging.
Zu den Veränderungen die alle ehemaligen Fleet-Street-Titel erlebten kam der
Eintritt zahlreicher neuer Zeitungstitel in den Pressemarkt hinzu. Als Beispiel
lässt sich die Gründung des Titels „The Independent“ durch drei Journalisten
nennen, die zuvor in der nun reformierten Zeitungsindustrie angestellt waren.
Die anderen Titel wurden allerdings wegen Erfolglosigkeit nach ziemlich kurzer
Zeit wieder eingestellt so dass keine erhöhte Vielfalt der Titel und damit keine
Erweiterung des ideologischen Spektrums der Presse entstand.7
Dies bedeutete einerseits, dass die Pressestrukturen insofern verändert wurden, als dass die Produktion wesentlich modernisiert und rationalisiert wurde
und die Distribution über neue Wege stattfand. Andererseits fand keine Änderung der Tatsache statt, dass die Macht im Zeitungsmarkt immer noch in
7
Vgl. Curran, James; Seaton, Jean: Power without responsibility. 5. ed. London: Routledge,
1997, S. 105
2. Die überregionale Tagespresse vor den 90er Jahren
7
wenigen Händen lag und sich Markteintritte neuer Titel weiterhin als schwer erwiesen.
Daneben ergaben sich durch verschiedene Kostensteigerungen neue Herausforderungen für die Unternehmen. Die Anzahl der Seiten pro Ausgabe wurde
von allen Unternehmen stark erhöht, so wie auch die Investitionen in Eigenwerbung. Außerdem hielten die Unternehmen die Preise ihrer Titel möglichst
niedrig, um einen weiteren Impuls für Auflagensteigerungen zu geben.
Es muss also festgestellt werden, dass die überregionale Tagespresse Großbritanniens in ihrer Mentalität und Struktur durch wirtschaftspolitische Grundlagen
unter der Thatcher-Regierung und den technologischen Fortschritt starke Veränderungen erlebte, sich die Dynamik und die Herausforderungen des
Pressemarkts an sich allerdings keineswegs veränderten.
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
3.
Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
3.1
Leserforschung
8
3.1.1 Grundlagen
Der grundsätzliche Zweck empirischer Forschungen zur Mediennutzung liegt
darin, die Stärke der Wechselwirkung zwischen soziologischen Faktoren und
der politischen oder wirtschaftlichen Entwicklungen auf der einen Seite und der
Mediennutzung auf der anderen Seite zu untersuchen.
Bei Forschungen zur Nutzung bestimmter Medienarten, wie in unserem Falle
die Zeitungsnutzung, kommt die Nutzung der jeweils anderen Medienarten als
weiterer Faktor hinzu. Als besonderer Schwerpunkt hat sich in den letzten Jahren der Einfluss der neuen Medien, vor allem des Internet, herausgebildet.
Bei der Erforschung der quantitativen Mediennutzung wird die Reichweite eines
Mediums ermittelt. Auflagenzahlen geben keine Informationen darüber, wie
häufig ein Einzelner eine Zeitung kauft und wie viel Zeit er mit dem Zeitungslesen verbringt. Davon abgesehen kann ein verkauftes Zeitungsexemplar in
einem mehrköpfigen Haushalt mehrere Leser erreichen.
Es ist vor allem für die Werbeindustrie wichtig, das Mediennutzungsverhalten
einzelner Zielgruppen zu ermitteln.8 Ebenso wird es für die Medienindustrie von
hohem Interesse sein, bestimmte Entwicklungstrends der Mediennutzung und
ihrer Faktoren zu erkennen, um darauf entsprechend reagieren zu können.
Als wichtigste Aspekte der Medienforschung lassen sich folgende Punkte nennen:
8
•
Wettbewerbsverhältnis der aktuellen Medien
•
Generationsverhalten bzw. Nutzungsverhalten einzelner Altersgruppen
•
Nutzungsverhalten einzelner sozialer Gruppen
Vgl. Meech, Peter: Advertising. In: The media in Britain. Current debates an developments.
Stokes, Jane; Reading, Anna (ed.) Basingstoke: Macmillan 1999, S. 27
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
9
•
Freizeitverhalten und die Entwicklung des Freizeitverhaltens
•
Medienwirkung
3.1.2 Methodik
Um die Entwicklungen der verschiedenen Zusammenhänge und Auswirkungen
zu erfassen und auszuwerten sind Langzeitstudien notwendig. Diese finden in
sogenannten „Erhebungswellen“ statt, die in regelmäßigen Zeiträumen erfolgen.
Sie müssen auf einer Basis, das heißt mit Hilfe gleichbleibender Instrumente
und Fragekataloge durchgeführt werden, so dass ein Vergleich der Ergebnisse
möglich ist und langfristige Trends erkennbar sind.
Um zu einem repräsentativen Ergebnis zu kommen, muss eine ausreichende
Anzahl von Personen befragt werden. Diese Personen müssen so ausgewählt
werden, dass sie insgesamt die Bevölkerungsstruktur wiederspiegeln. Um sinnvolle und auswertbare Daten zu erhalten, werden die Befragten in Kategorien
unterteilt, wie z. B. Altersgruppe, Bildungsgrad oder Geschlecht.
Mögliche Erhebungskomplexe sind u.a.:
•
Allgemeines Nutzungsverhalten der aktuellen Medien
•
Tagesablauf am Stichtag
•
Mediennutzung innerhalb der letzten sieben Tage oder am Stichtag9
•
Komparative Imageumfragen zu den aktuellen Medien und ihren publizistischen Funktionen
•
Wahlverhalten
Erhebungen zur Mediennutzung werden in Großbritannien vor allem durch Forschungsinstitute durchgeführt. Hervorzuheben ist dabei das Unternehmen
National Readership Survey Ltd. (NRS), das sich ausschließlich auf die Leserforschung
spezialisiert
hat
und
deshalb
besonders
wichtig
für
den
Pressebereich ist. Außerdem sind zahlreiche sogenannte „Media Independents“
9
Vgl. URL: http://www.nrs.co.uk/reports/openmethodbody.cfm, Zugriff am 10.10.2002
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
10
in der Forschung tätig. Die „Media Independents“ sind Werbeagenturen, die
sich darauf spezialisiert haben, Werbeflächen bzw. Werbezeit im Medienbereich zu kaufen. Ein bedeutendes Unternehmen dieser Gattung ist z. B. Zenith
Media.
3.1.3
Problembereiche
Verschiedene Aspekte problematisieren die Erhebung und Auswertung von
Langzeitstudien:
•
Aktuelle Ereignisse, wie z. B. der Anschlag vom 11. September 2001
oder Kriege, wirken sich kurzfristig auf das Nutzungsverhalten aus und
können so die Ergebnisse einer „Erhebungswelle“ verfälschen
•
Der soziokulturelle Wandel bewirkt Verschiebungen oder ein Verschwimmen der Grenzen zwischen den sozialen Gruppen
•
Die Einteilung der Personen in bestimmte Altersgruppen wird von verschiedenen Forschungsinstitutionen oft anhand verschiedener Spannen
vorgenommen
Dies ist nur eine Auswahl bestimmter Problempunkte, die bei der Auswertung
einzelner „Erhebungswellen“ im Rahmen einer Langzeitstudie berücksichtigt
werden müssen. Diese können allerdings oft nur begrenzt berücksichtigt werden, da z. B. der Einfluss aktueller Ereignisse auf die Mediennutzung nicht
ausreichend belegbar ist, um in die Forschungsergebnisse einfließen zu können.
Für uns ergibt sich daraus die Konsequenz, dass sämtliche Statistiken, die sich
auf die Mediennutzung beziehen, immer mit soziologischen, wirtschaftlichen
und politischen Faktoren in einen Kontext gesetzt werden müssen.
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
3.2
11
Interessenschwerpunkte der Leserschaft
Schon in den 80er Jahren fanden Medienforscher heraus, dass innerhalb einer
Zeitungsausgabe die meistgelesenen Rubriken „Boulevard“ und „Unterhaltung“
sind, das heißt Bereiche, die nicht zum traditionellen Journalismus zählen.10
Eine weitere Untersuchung ergab, dass 4/5 der britischen Bevölkerung sich
stärker für Titel interessieren, die detailliert über Sport, Prominenz und Themen
aus dem Unterhaltungsspektrum informieren, als für Titel, die über politische
und wirtschaftliche Themen berichten.11
Die Medienwissenschaft folgerte daraus, dass ein gewisser Teil der Leserschaft
der Broadsheets, wie z. B. der Times, des Daily Telegraph, des Guardian oder
des Independent, des Segments, das für anspruchsvollen, qualitativen und
ernsthaften Journalismus steht, sich auch für die leichte, massenorientierte Unterhaltung interessiert, auf die sich Tabloids wie die Sun oder der Daily Mirror
spezialisiert haben. Ferner, dass die Leser der Tabloids umgekehrt kaum an
der detaillierten wirtschaftlichen und politischen Berichterstattung der Broadsheets interessiert sind.12
Diese Ergebnisse lassen sich dadurch erklären, dass vor allem die Unterhaltungs-Rubriken alle Altersgruppen, Gesellschaftsschichten und Geschlechter
ansprechen.
Die Rolle, die die Tagespresse des mittleren Marktsegments für die Nutzer
spielt, lässt sich indessen schwer einschätzen. Ihr Inhalt ist zwar seriöser gehalten als der z. B. der Sun, durch ihre äußere Aufmachung und einem
Schwerpunkt auf Unterhaltungsthemen gleichen sie jedoch sehr stark den
Tabloids.
Ein weiterer Aspekt, der die Interessenschwerpunkte der Nutzer tangiert, ist die
Tatsache, dass Großbritannien eine sehr große Bevölkerung auf einer relativ
10
Vgl. Curran, James; Seaton, Jean, a. a. O., S.96
11
Vgl. Sparks, Colin: The Press. In: The media in Britain. Current debates an developments.
Stokes, Jane; Reading, Anna (ed.) Basingstoke: Macmillan 1999, S. 53
12
Vgl. Tunstall, Jeremy: Newspaper Power. The new national press in Britain. Oxford:
Clarendon Pr., 1996, S. 218
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
12
kleinen Fläche besitzt und die wesentliche politische, wirtschaftliche, gesetzliche und soziale Macht auf London zentriert ist. Die britische Tagespresse wird
somit durch die überregionale Presse dominiert, da für den Großteil der Bevölkerung ein besonders starkes Interesse am nationalen Geschehen besteht.
Die regelmäßigen Leser der Regionalpresse sind vor allem an Informationen
über die regionalen Verwaltungseinheiten sowie an regionalen Nachrichten interessiert.
Ein gewisser Anteil verzichtet sogar völlig auf die überregionale und internationale Berichterstattung der überregionalen Presse. Die Forschungsinstitute TGI
und BMRB/TCI ermittelten, dass 2001 41% der Leser der Regionalpresse keine
überregionale Zeitung lasen und wiederum fast 41% dieser Leser sich besonders für lokale Berichterstattung interessieren.13
3.3
Soziologische Aspekte der Zeitungsnutzung
Zahlreiche soziologische Faktoren beeinflussen die Zeitungsnutzung, oder werden mit ihr verbunden. Ich werde im Folgenden auf einige wichtige dieser
Gesichtspunkte eingehen. Dies allerdings überwiegend für den Bereich der überregionalen Tagespresse oder bezüglich der britischen Tagespresse
allgemein, da kaum Forschungen zu den soziologischen Faktoren der regionalen Zeitungsnutzung vorliegen. Ebenso werde ich Altersstrukturen kaum
einbringen. Britische Zeitungsverlage stellen verschiedene Unternehmungen
an, jüngere Altersgruppen als Leser zu gewinnen. Allerdings wurde herausgefunden,
dass
andere
soziologische
Aspekte
die
Zeitungsnutzung
als
Einflussfaktoren dominieren.14
13
14
Vgl. URL: http://www.newspapersoc.org.uk, Zugriff am 22.07.2002
Vgl. Gustafsson, Karl Erik; Weibull, Lennart: European newspaper readership: Structure and
development. In: Communications. The European journal of communication research, Berlin,
1997, H. 3, S. 262
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
13
3.3.1 Sozial bedingte Nutzungsstrukturen
Britische Soziologen spiegeln die Unterteilung der Gesellschaft in soziale
Schichten anhand der Einteilung in gesellschaftliche Klassen wieder. Diese beruhen auf einer wirtschaftlichen Grundlage, nicht auf einer religiösen,
ethnischen oder gesetzlichen.
Generell wird Mobilität, also Offenheit, zwischen den verschiedenen Klassen
voraus gesetzt. Diese Mobilität äußert sich in einem möglichen gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildungsmobilität und freie Berufswahl.15
Großbritannien hat ein national anerkanntes und verwendetes Klassenschema.
Bis 1998 war dies sechs-stufig und wurde anschließend durch ein Modell, das
aus neun Stufen besteht, abgelöst, um der voranschreitenden Individualisierung
der Gesellschaft gerecht zu werden.
In der britischen Leserforschung wird das sechs-stufige Klassenschema „Social
Grade“ angewandt, das durch die Werbeindustrie entwickelt wurde.
A
Upper professional
B
Lower professional
C1
Routine clerical
C2
Skilled manual
D
Unskilled manual
E
Economically inactive
Abbildung 1: Klassenschema "Social Grade"16
Es ist fraglich, ob dieses Modell nicht auch eine zu grobe Darstellung der heutigen Gesellschaftsstruktur ist. Allerdings wäre es für die Leserforschung
ungünstig, zu kleine Nutzergruppen auswerten zu müssen, um generelle Sachverhalte und Trends feststellen zu können.
15
Vgl. Roberts, Ken: Class in modern Britain. Basingstoke u. a.: Palgrave, 2001, S.7
16
Vgl. Sparks, Colin, a. a. O., S. 50
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
14
Ein bedeutender soziologischer Sachverhalt, der seit Jahrzehnten festgestellt
wird, ist im überregionalen Bereich eine besonders ausgeprägte „Klassentrennung“17 in der Zeitungsnutzung der Briten. Laut Tunstall waren 1995 im
Durchschnitt 87% der Leser von Broadsheets und 31% der Leser von Tabloids
der Mittel- und der Oberklasse zugehörig.18
Broadsheets
Financial Times
90%
The Times
89%
Independent
87%
Daily Telegraph
87%
Guardian
83%
Tabloids
Daily Mirror
34%
Sun
31%
Daily Star
27%
Tabelle 1: Prozentsätze der Leserschaft von Broadsheets und Tabloids aus den Gruppen
A, B und C119
Sparks differenziert zwischen allen drei Segmenten des überregionalen Zeitungsmarkts. Er kommt zu dem Ergebnis, dass 1997 die Leser aus den
Schichten A und B zu über 50% Broadsheets, zu 20-30% Titel des mittleren
Marktsegments und zu weniger als 10% Tabloids bevorzugten.20
Er erklärt diesen Sachverhalt dadurch, dass zum einen die höheren Klassen oft
besser über politische und wirtschaftliche Themen informiert sind. Dies trotz
dem Fernsehen, das das Publikum zwar weniger detailliert informiert, aber alle
17
Tunstall verwendet den Begriff „class segregation“
18
Vgl. Tunstall, Jeremy, a. a. O., S. 8 f.
19
Nach ebd., S. 9
20
Vgl. Sparks, Colin, a. a. O., S. 50
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
15
Klassen anspricht. Zum anderen sind die niedrigeren Gesellschaftsschichten
eher an Informationen über Themen interessiert, die denen sie sich verbunden
fühlen und auf die sie einen gewissen Einfluss ausüben können. Viele sehen
Politik und Wirtschaft nicht als Gebiete an, auf denen dies der Fall ist.21
Curran und Seaton widersprechen diesen Argumenten mit der These, dass gerade die niedrigeren Gesellschaftsschichten stärker informiert über die
Gesellschaft und ihre Position darin sind, da sie sich stärker damit beschäftigen.22 Außerdem sind, wie wir zuvor festgestellt haben, die Leser der Gruppen
A und B ebenso an den Unterhaltungsthemen der Tabloids interessiert.
Jedoch sehe ich es als erwiesen an, dass das Bestehen verschiedener Gesellschaftsschichten sich nach wie vor wiederspiegelt in der Segmentierung des
überregionalen Zeitungsmarkts und dass im Laufe der 90er Jahre diesbezüglich
kaum Veränderungen stattfanden. Die Tabloids sind auf ein Massenpublikum
ausgerichtet, während die Broadsheets durch Unterhaltungselemente versuchen können, die Leser der Gruppen A und B zu halten, aber offenbar kaum
Anziehungskraft auf Leser der unteren Gesellschaftsschichten entwickeln werden.
Ebenso bestehen gewaltige Unterschiede im Konsumverhalten der einzelnen
Klassen. Angehörige der Ober- und der Mittelklasse investieren wesentlich
mehr Geld in Dienstleistungen, Freizeit- und Investitionsgüter als Angehörige
der unteren Klassen. Marktforschungen ergaben, dass Manager und Akademiker viermal mehr in Freizeitgüter und Dienstleistungen investieren.23
Der Zusammenhang zwischen dem bestimmten Lese- und Konsumverhalten
der einzelnen Gesellschaftsschichten beeinflusst stark das Werbeverhalten der
Agenturen und somit die Struktur des Anzeigenmarkts, was an späterer Stelle
genauer erläutert wird.
21
Vgl. Sparks, Colin, a. a. O., S. 54
22
Vgl. Curran, James; Seaton, Jean, a. a. O., S. 282
23
Vgl. Roberts, Ken, a. a. O., S. 7
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
16
3.3.2 Individuell bedingte Nutzungsstrukturen
Der Begriff des „aktiven Publikums“ ist ein zentrales Element der Kommunikationsforschung.24
Die Zeitungsnutzung wird, wie wir soeben festgestellt haben, durch das soziale
Netz beeinflusst, in das der Mediennutzer eingebettet ist. Laut Renckstorf und
MacQuail kommt allerdings als weitere Dimension die selektive Mediennutzung
hinzu. Diese wird bestimmt durch persönliche Kriterien und individuelle Informationsbedürfnisse des einzelnen Nutzers.25
Demnach lassen sich sehr schwer konkrete inhaltliche Bedürfnisse einer großen Leserschaft erkennen. Der einzige schon länger feststellbare Sachverhalt
ist das verstärkte Interesse der Zeitungsleser an Boulevard- und Unterhaltungsthemen und eine soziale Segmentierung der Leserschaft.
Dieser Ansatz nimmt die Entwicklung der sozialen und kulturellen Individualisierung des Einzelnen auf, die seit Jahren besteht und fortschreitet. Diese stellt
auch einen wichtigen Faktor für die Medienwirkung dar.
3.3.3 „Soziale Zeit“
In den 90er Jahren haben Kommunikationsforscher angefangen, Zeitkonzepte
und –strukturen zu hinterfragen, die ihren Forschungen zugrunde liegen. Es
wurden bis heute noch keine zufriedenstellenden Theorien hervorgebracht, die
das Verhältnis zwischen der Zeit als soziales Konstrukt und der Mediennutzung
eindeutig klären.
Es wurde allerdings festgestellt, dass die Nutzungsdauer, die Häufigkeit und die
Intensität der Mediennutzung durch die jeweiligen Tagesabläufe und Zeitstruk-
24
Vgl. Nicholas, Joe ; Price, John: Advanced studies in media. Walton-on-Thames: Nelson,
1999, S. 63 f.
25
Vgl. Renckstorf, Karsten; MacQuail, Denis: Social action perspectives in mass communications research. In: Communications. The European journal of communication research, Berlin,
1996, H. 1, S. 5
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
17
turen des Nutzers beeinflusst werden.26 Diese unterliegen wiederum sozialen
Strukturen. Das heißt, dass sie z. B. von der Art des Haushalts oder des Berufs
des Nutzers abhängen. Der Nutzer passt seinen Zeitplan und sein Freizeitverhalten bewusst oder unbewusst daran an. Dementsprechend ist auch die
Zeitungsnutzung mehr oder weniger stark in den Tagesablauf eingebunden.
Im Gegensatz zum Radio und teilweise zum Fernsehen ist die Zeitung kein
„Nebenbei-Medium“. Die Aufmerksamkeit des Nutzers wird beim Medium Zeitung somit nicht durch diese Zeitstrukturen beeinflusst. Sie beeinflussen
allerdings prinzipiell den Kauf einer Zeitungsausgabe, da davon ausgegangen
wird, dass diese dann auch gelesen wird. Dadurch kann auch der Zeitpunkt der
Veröffentlichung der einzelnen Zeitungstitel für die Zeitungsnutzung eine Rolle
spielen.27 So werden den Käufen von Sonntagszeitungen, was die überregionale Presse betrifft, und Morgen- und Abendzeitungen, was die regionale
Tagespresse betrifft, verschiedene Zeitmuster zugrunde liegen.
Im Hinblick auf die Zeitungsnutzung soll der Faktor „soziale Zeit“ also als Interpretationshilfe zur Nutzungshäufigkeit dienen. Dies besonders angesichts der
Feststellung, dass der Zeitdruck, unter dem die Mediennutzer stehen, immer
größer wird. 28
Darüber hinaus wird diskutiert, ob die neuen Medien möglicherweise einen
Wandel dieser Zeitstrukturen einleiten könnten. Es wird davon ausgegangen,
dass sie als erste Mediengattung das Zeitgefühl des Nutzers, dem u. a. die Mediennutzung unterliegt, auslöschen könnten. Diese Befürchtung wird darauf
zurückgeführt, dass bei der Nutzung neuer Medien durch die Verbindung von
Echtzeit und Interaktivität eine Art „virtuelle Realität“ entstehen kann.29 Die Theorie über den Einfluss bestimmter Zeitstrukturen auf die Mediennutzung würde
dann nicht mehr zutreffen.
26
Vgl. Huysmans, Frank: Social time and media use. In: Communications. The European journal of communication research, Berlin, 1996, H. 4, S. 488
27
Vgl. ebd.
28
Vgl. ebd.
29
Vgl. ebd., S. 489
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
18
Trotz eines raschen Anstiegs der Nutzung z. B. des Internet wird vor diesem
möglichen Wandel allerdings noch viel Zeit verstreichen. Daneben würde, aufgrund von Berufstätigkeit und anderen notwendigen Aktivitäten der Nutzer
außerhalb ihres Haushalts, weiterhin das Bestehen von alltäglichen Zeitstrukturen notwendig sein.
3.3.4 Wirkung von Zeitungsinhalten
Als nächstes stellt sich die Frage, inwieweit trotz der Komplexität der Faktoren,
die die Zeitungsnutzung beeinflussen, generelle Aussagen zur Wirkung der Zeitungsinhalte auf die Leserschaft getroffen werden können, das heißt, inwieweit
die Zeitungsnutzung selbst den soziologischen Prozess der öffentlichen Meinungsbildung beeinflusst.
Es ist unbestritten, dass Zeitungen die öffentliche Meinung beeinflussen. Dennoch ist durch die individuelle Aufnahme und Interpretation von Inhalten durch
die Leser der Grad der Beeinflussung sehr schwer kalkulierbar.
Ein Anhaltspunkt, von dem Medienwissenschaftler bezüglich dieses Problems
häufig ausgehen, ist das Maß an politischer Macht, die die Zeitungen durch ihre
meinungsbildende Funktion ausüben. Schon seit Jahrzehnten vergleichen Wissenschaftler die jeweiligen politischen Ausrichtungen von Zeitungsinhalten mit
den Wahlentscheidungen ihrer Leser bei den britischen Parlamentswahlen.
Diese Untersuchungen ergeben, dass seit den 40er Jahren der Anteil der verkauften Auflagen der überwiegend konservativ ausgerichteten britischen
Zeitungen immer größer war, als der Anteil der Wahlstimmen, die tatsächlich
zugunsten der „Tories“ ausfielen. Laut Esser betrug „bis 1964...der Unterschied
durchschnittlich sieben Prozentpunkte, dann öffnete sich die Schere jedoch gewaltig.
Zwischen
1974
und
1992
lag
er
durchschnittlich
bei
30
30
Prozentpunkten...“ .
30
Esser, Frank: Die Kräfte hinter den Schlagzeilen. Englischer und deutscher Journalismus im
Vergleich. Freiburg u. a.: Alber, 1998. (Alber-Reihe Kommunikation; 23), S. 164
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
Auflagenanteil
Tagespresse
(%)
50
51
55
59
64
66
70
74
79
83
87 92
97
Pro Conservati- 52
ve
35
Pro Labour
50
52
52
54
57
55
57
71
67
78
74 70
33
40
39
40
38
42
42
43
32
27
22
26 27
62
13
10
10
9
9
-
3
5
5
-
-
2
-
Pro Conservati- 40
ve
48
Pro Labour
43
48
50
49
43
42
46
38
44
42
42 42
31
46
49
46
44
44
48
43
37
37
28
31 34
44
9
2
3
6
6
8
7
19
14
25
23 18
17
Pro Liberals
1945
19
-
Wahlergebnisse
(%)
Pro Liberals
9
Tabelle 2: Parteipräferenzen der überregionalen Tagespresse im Vergleich zur
Wahlentscheidung der Bevölkerung, Großbritannien 1945-199731
Nur 50 % derjenigen, die bei der Parlamentswahl 1992 die Labour Party unterstützten, lasen auch eine Labour-nahe Zeitung. Schon vor dem politischen
Seitenwechsel der Sun im März 1997 bezeichnete sich die Mehrheit ihrer Leser
als Labour-Wähler.32
Die Hauptgründe für diesen Seitenwechsel der meisten Titel der britischen Zeitungen lagen wohl in der Unpopularität der Regierung des ThatcherNachfolgers John Major und in den Hoffnungen, die in eine Regierung unter
Tony Blair auch von den Zeitungsverlegern gesetzt wurden. Es kam tatsächlich
zu einem Regierungswechsel zugunsten der Labour Party.
Es liegt natürlich nahe, dass dies zum Großteil mit der allgemeinen öffentlichen
Stimmung für einen notwendigen Regierungswechsel zusammenhing, wenn
schon vor 1997 die meisten Leser gegen eine Fortsetzung der konservativen
Regierung waren.
31
Vgl. Esser, Frank, a. a. O., S. 164
32
Vgl. ebd., S. 177
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
20
Es wurde ebenfalls herausgefunden, dass schon 1994 die Unterstützung für die
Conservative Party am meisten unter der Leserschaft der Zeitungen nachließ,
die traditionelle Anhänger der Konservativen waren. Dies gilt z. B. für die Times
und den Daily Telegraph.33
Diese Argumente sprechen eindeutig für einen nur mäßigen Einfluss der Tagespresse auf Wahlentscheidungen.
Andererseits fand zu dieser Zeit eine personalisierte Kampagne der Zeitungen
gegen Major statt, die mit Sicherheit zum Wahlsieg der Labour Party beigetragen hat. Nach den vorhergehenden Wahlen wurde der Tagespresse außerdem
immer ein gewisses Maß an Verantwortung für Wahlergebnisse durch die betroffen Parteien vorgeworfen bzw. zugebilligt. Eine Statistik von 1992 belegt,
dass Leser einer konservativen Zeitung mit hoher Wahrscheinlichkeit die Conservative Party wählten.
Nach den Parlamentswahlen 1992 erhob der Labour-Vorsitzende Neil Kinnock
den Vorwurf, dass die eigentlichen Gewinner neben der Conservative Party die
Chefredakteure der Daily Mail, des Daily Express und der Sun waren, die inhaltlich Wahlkampf zugunsten der Konservativen betrieben.34 Einer Studie des
Umfrageinstituts MORI zufolge hatte es in den letzten Tagen vor der Wahl z. B.
unter den Sun-Lesern einen Meinungsumschwung von vier Prozent zugunsten
der Conservative Party gegeben.35 Und dies, obwohl die Wirkung der Zeitungsinhalte auf den Leser als relativ verzögert gesehen wird, im Vergleich zum
Fernsehen, das das Publikum mit seinen Informationen direkter erreicht.36
Hinzu kommt die Tatsache, dass selbst ein geringer Meinungsumschwung
durch das britische System der Direktwahl große Auswirkungen haben kann.
Da die Mobilität zwischen den gesellschaftlichen Schichten immer größer wird
und eine Art Individualisierung der Überzeugungen des Einzelnen stattfindet,
33
Vgl. Worcester, Robert; Riddell, Peter: Readers take a step to the left. In: The Times. Ausgabe vom 03.05.1995
34
Vgl. Esser, Frank, a. a. O., S. 167
35
Vgl. ebd., S. 168
36
Vgl. Curran, James; Seaton, Jean, a. a. O., S. 276
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
21
kann auch dem sozialen Umfeld des Lesers, was Parlamentswahlen angeht,
keine allzu große Rolle mehr zugesprochen werden. Je mehr die Klassenzugehörigkeit des Einzelnen an Prägungskraft für die politische Meinungsbildung
verliert, desto wichtiger wird die Rolle der Medien sein, da er sich bei seiner
Entscheidung immer mehr auf Informationen verlässt.37
Er wird sich als selbstbewusster und in seiner Meinung von zahlreichen verschiedenen Faktoren beeinflusster Mediennutzer freilich sein eigenes Bild
machen. Und zwar unabhängig von der politischen Ausrichtung der Zeitungen.
Gleichwohl besteht immer die Möglichkeit, dass er sich vor allem von negativen
politischen Kampagnen der Zeitungen, entweder personalisiert oder auf ein bestimmtes Thema bezogen, beeinflussen lässt. Dies gilt insbesondere für den
Wechselwähler und kann sich entsprechend auswirken.
Es ist zudem allgemein bekannt, dass auch Tony Blair darauf aus ist, sich mit
Zeitungen wie der Sun oder dem Daily Mirror, die für besonders reißerische
personalisierte Kampagnen bekannt sind, gut zu stellen. Dies betrifft auch unabhängig vom Wahlverhalten die öffentliche Meinungsbildung gegenüber
Themen von öffentlichem Interesse, wie z. B. einer möglichen Euro-Einführung
in Großbritannien.
So besitzt die Tagespresse trotz des Aspekts eines aktiven und mündigen Lesers, der sich schon seit Jahrzehnten an verschiedenen Informationsquellen
orientiert, eine Rolle im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung, die nicht zu
unterschätzen ist.
3.4
Entwicklung der Zeitungsnutzung
3.4.1 Ausgangslage
Es wird schon seit den späten 80er Jahren häufig diskutiert, ob die britische
Tagespresse ihre Attraktivität als Printmedium gegenüber einem erstarkten lokalen Radio, dem Fernsehen und den neuen Medien, vor allem dem Internet,
37
Vgl. Curran, James; Seaton, Jean, a. a. O., S. 274
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
22
als Konkurrenten bewahren konnte. Dies gilt im übrigen für die gesamte europäische Zeitungslandschaft und setzt sich in die Gegenwart hinein fort.38
Statistiken hierzu ergeben, dass 85-90% der Briten in den 90er Jahren immer
noch regelmäßig eine überregionale Tageszeitung lasen, allerdings nicht mehr
einmal pro Tag, sondern mindestens einmal pro Woche.39
40% kauften sich einmal pro Tag eine überregionale Zeitung, oder besaßen
zum Teil ein Abonnement, und können als „starke Leser“ bezeichnet werden.
Wenn man die regionale Tages- und Wochenpresse, Magazine und die Lokalpresse dazu zählt, so lasen sie wohl zwischen zehn und zwanzig Exemplare
pro Woche.
20% lasen vier bis sechs mal die Woche einen überregionalen Titel. Sie gelten
als „mittelstarke Leser“ und als der Teil, der typischerweise keine große Loyalität gegenüber bestimmten Zeitungstiteln aufweist. Sie haben keinen Titel
abonniert und die Wahl findet jedes Mal erneut am Zeitungskiosk statt. Diese
Gruppe ist somit besonders interessant für die ständige Konkurrenz unter den
Zeitungstiteln.
Als dritte Gruppe der „leichten Leser“ konnten die 20% definiert werden, die
mindestens einmal und höchstens viermal pro Woche ein überregionales Zeitungsexemplar erwarben.
Daneben existierten 20%, die nur regionale Tages- oder Wochenzeitungen oder
gar keine Zeitung lasen.40
Tunstall konstatiert, dass die Zeitungsnutzung in den 90ern erheblich instabiler
wurde als zuvor. Die Loyalität der Leser, die den Zeitungstiteln so wie dem Zeitungsmarkt entgegengebracht wurde, sei gesunken.
38
Lauf, Edmund: The vanishing young reader: Sociodemographic determinants of newspaper
use as a source of political information in Europe, 1980-98. In: Communications. The European
journal of communication research, Berlin, 2001, H. 2, S. 233
39
Vgl. Tunstall, Jeremy, a. a. O., S. 223
40
Vgl. ebd., S. 223
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
23
Dies gelte auch für Anzahl der Abonnements überregionaler Zeitungen bei den
Kiosken, die die Privathaushalte mit den gewünschten Titeln beliefern.41
Der Anteil der Abonnements überregionaler Zeitungen machte laut National
Readership Survey Mitte der 90er Jahre nur noch ein Drittel der insgesamt verkauften Auflagen der Tagespresse aus. Während der 80er Jahre betrug der
Anteil noch zwei Drittel. 42
Vor allem langfristig betrachtet, in der Zeitspanne zwischen 1950 und 1990, ließ
sich ein negativer Trend in der Zeitungsnutzung feststellen, der sich fortgesetzt
hat. 1952 wurden pro 1000 britischen Einwohnern durchschnittlich 575 überregionale Zeitungsexemplare verkauft, 1990 nur noch 330.43 Ferner ist die
britische Zeitungsnutzung insgesamt laut Zenith Media in der Zeitspanne zwischen 1989 und 1999 um 13% gefallen.44 2001 wurde herausgefunden, dass
nun nur noch 68% der Briten regelmäßig eine überregionale Zeitung lesen.45
Die Tabloids scheinen von dieser Entwicklung besonders betroffen zu sein,
während die Broadsheets sich eine relativ stabile Leserschaft bewahren konnten.
So lässt sich allgemein betrachtet bei Lektüre kommunikations- und medienwissenschaftlicher Literatur eine pessimistische Perspektive feststellen, was die
Entwicklung der britischen überregionalen Zeitungsnutzung angeht.
Die Statistiken weisen tatsächlich unweigerlich in die Richtung, dass das die
Zeitungsnutzung der Briten wesentlich an Regelmäßigkeit und Loyalität eingebüßt hat.
Das Nutzungsverhalten der regionalen Presse hingegen ist durchaus stabiler.
Die von der Newspaper Society, der Vereinigung der regionalen Zeitungsverlage, beauftragten Forschungsinstitute BMRG/TCI und TGI fanden 2001 heraus,
41
Vgl. Tunstall, Jeremy, a. a. O., S. 215
42
Vgl. ebd., S. 219
43
Vgl. Gustafsson, Karl Erik; Weibull, Lennart, a. a. O., S. 255
44
Vgl. O. Verf. (2): Commentary. In: World press trends 2001. Paris: World Association of
Newspapers, 2001, S. 219
45
Vgl. O. Verf. (3): Regional press at a glance. Fassung vom Oktober 2002. URL:
http://www.newspapersoc.org.uk/facts-figures/ataglance.html, Zugriff am 10.10.2002
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
24
dass 84% der erwachsenen Briten regelmäßig eine regionale Zeitung lesen,
somit 16% mehr als bei der überregionalen Tagespresse. Außerdem ist seit
1999 die regelmäßige Leserschaft der regionalen Presse um 1,4% angestiegen,
während im Vergleich dazu die regelmäßige Leserschaft der überregionalen
Presse um 3% sank.46
Selbstverständlich ist auch die Regionalpresse langfristig gesehen von dem allgemeinen Absinken regelmäßiger Leserschaft in den letzten Jahrzehnten
betroffen, was sich in den sinkenden Auflagenzahlen wiederspiegelt. Sie
scheint allerdings eine wesentlich loyalere Leserschaft zu haben, als die überregionalen Titel.
3.4.2 Entwicklungsfaktoren
Da die Mediennutzung verschiedenen soziologischen Faktoren unterliegt, gilt
dies per se auch für ihre Entwicklung. Die wichtigste Auswirkung auf die steigende Instabilität der Zeitungsnutzung haben mit Sicherheit die immer stärkere
Individualisierung des Einzelnen in der Gesellschaft, die steigende wirtschaftliche Unsicherheit und der immer größer werdende Zeitdruck. Der Nutzer wird
durch beide Faktoren selektiver in der Zeitungsnutzung geworden sein und weniger Gewohnheiten nachgehen. Dies wird auch für einen Teil der „starken
Leser“ gelten.
Ein Aspekt, der die Entwicklung des Nutzungsverhaltens besonders dramatisch
erscheinen lässt, ist laut Tunstall ein großer Anstieg der Anzahl der Haushalte
in Großbritannien. Dieser geht aber auch mit einer zunehmenden Vereinzelung
in kleinere oder Single-Haushalte einher, die in den letzten Jahrzehnten feststellbar ist und allmählich ihre Auswirkungen nach sich zieht. In größeren
Haushalten von vier bis fünf Personen werden naturgemäß häufig zwei Zeitungen pro Tag gekauft, was bei einem Haushalt von einer bis drei Personen kaum
der Fall ist.47
46
Vgl. O. Verf. (3), a. a. O.
47
Vgl. Tunstall, Jeremy, a. a. O., S. 219
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
25
Die Abnahme der Anzahl von Abonnements wird auf die mangelnde Zuverlässigkeit der von den Zeitungskiosken beauftragten Austräger, meist Schüler,
zurückgeführt. Außerdem sind immer mehr Briefkästen der zu beliefernden
Haushalte von der Straße aus nicht erreichbar. Hinzu kommt, dass ab Ende der
80er Jahre immer mehr Supermärkte, Tankstellen und Lebensmittelläden anfingen, ein breites Zeitungsangebot zur Verfügung zu stellen und damit
Konkurrenz zu den traditionellen Zeitungskiosken entstand, die den Lesern Abonnements anbieten.
Neben einem Rückgang der Zeitungsnutzung hängt mit diesem Wandel der
Distribution sicherlich ein Loyalitätsverlust der Leser zu bestimmten Titeln zusammen.48
Laut verschiedener Medienwissenschaftler lässt sich der negative Trend in der
überregionalen Zeitungsnutzung zu einem gewissen Grad auch auf die Entwicklung des Rundfunks als Nachrichtenquelle für die Mehrheit der Bevölkerung
zurückführen. Die Radionutzung ist in den letzten Jahrzehnten unaufhörlich angestiegen, während die Fernsehnutzung in den 90er Jahren stagnierte.49
Der Rundfunk kann, was die Vielfalt an Informationen und Unterhaltung betrifft,
täglich ein wesentlich größeres Angebot zu Verfügung stellen als die Zeitung.50
Dagegen kann das Argument eingewandt werden, dass die Zeitungsverlage
seit des technologischen Wandels die Seitenzahlen pro Ausgabe extrem erhöht
haben. Dadurch wurde auch die Anzahl der Themenbereiche und Rubriken pro
Ausgabe größer. Dies erhöht zwar an den Wochenenden den Absatz, allerdings
nicht an den Wochentagen.51 Da der Leser an diesen Tagen weniger Zeit zur
Verfügung hat, verhält er sich selektiver was den Kauf eines Zeitungstitels oder
überhaupt einer Zeitung angeht. Der Rundfunk besitzt hingegen zusätzlich den
Vorteil, dass er als „Nebenbei-Medium“ genutzt werden kann und so auch an
48
Vgl. Tunstall, Jeremy, a. a. O., S. 219
49
Vgl. Seymour-Ure, Colin : The British press and broadcasting since 1945. Oxford: Blackwell,
2. ed. 1999. (Making contemporary Britain), S. 166
50
51
Vgl. ebd., S. 218 u. Gustafsson, Karl Erik; Weibull, Lennart, a. a. O., S. 260 f.
Vgl. MacArthur, Brian (1): The battle for 33m readers and falling. In: The Times. Ausgabe
vom 02.11.2001
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
26
den Wochentagen, also unter erhöhtem Zeitdruck, das Angebot umfangreicher
genutzt werden kann.
Auch Curran und Seaton machen unter anderem den Rundfunk für die relativ
starke Abnahme der Leserschaft der Tabloids verantwortlich. Sie fanden heraus, dass die Mehrheit der Leser dieses Segments dazu neigen, besonders
starke Nutzer des kommerziellen Fernsehens zu sein.52
Als weiterer wichtiger Faktor wird die immer stärkere Verbreitung des neuen
Mediums Internet und sein rasanter Nutzungsanstieg gesehen. Andere neue
Medien, wie z. B. das digitale Fernsehen hat noch keine eindeutig messbaren
Erfolge erzielen können.
Allein von 1996 bis einschließlich 1997 hat sich die Anzahl der britischen Haushalte mit Internetanschluss von 400 000 auf 960 000 mehr als verdoppelt.
Vorhersagen von British Telecom besagen zudem, dass im Jahre 2010 90%
der britischen Haushalte mit einem Internetanschluss versehen sein werden.53
Freilich sind die Einflüsse des Internet auf die Zeitungsnutzung begrenzt. Trotz
des rapiden Nutzungsanstiegs dieses neuen Mediums kann es momentan noch
keines der traditionellen Medien ersetzen. Sollte dies geschehen, so nur unter
Mitwirkung der traditionellen Medien selbst.
Was die Regionalpresse betrifft, so kann die positive Entwicklung der letzten
Jahre auf notwendige produktpolitische und wirtschaftliche Entwicklungen, die
die regionale Presse ab Mitte der 90er Jahre durchlief, und die sich auf ihre
Struktur und die Art ihres Angebotes auswirkte, zurückgeführt werden.
Ferner spielt sie als Informationsquelle für die Gesellschaft auf regionaler und
kommunaler Ebene eine einzigartige Rolle. Diese kann auch durch die regionalen Fenster des Fernsehens, das lokale Radio und die neuen Medien nicht
geschwächt werden, da die Regionalzeitung wesentlich substanzieller und detaillierter informiert und ein sehr hohes Vertrauen durch die Nutzer genießt.
52
53
Vgl. Curran, James; Seaton, Jean, a. a. O., S. 90
Vgl. Cornford, James; Robins, Kevin: New media. In: The media in Britain. Current debates
an developments. Stokes, Jane; Reading, Anna (ed.) Basingstoke: Macmillan 1999, S. 117
3. Leseverhalten und Zeitungsnutzung der Briten
27
Durch die Nähe zu ihnen besteht eine relativ enge Bindung zwischen der Regionalpresse und den Lesern. Es wurde festgestellt, dass dies umso mehr für
lokale und regionale Titel zutrifft, je weiter sie von der Hauptstadt London entfernt sind.54
So scheinen für die Regionalpresse etwas andere Regeln zu gelten, was die
Konkurrenz durch andere Medien und den Einfluss soziologischer Aspekte auf
die Nutzung angeht.
54
Vgl. Crossley, Jack: Kings only die if the local paper says. In: The Times. Ausgabe vom
20.09.1995
4. Absatzmarkt
4.
Absatzmarkt
4.1
Auflagensituation
28
Zwischen den drei Segmenten der überregionalen Presse bestehen, neben der
inhaltlichen Unterschiede, deutliche Abstände zwischen den jeweiligen Auflagenvolumen. Diese ergeben sich wiederum aus den verschiedenen inhaltlichen
Schwerpunkten, die unterschiedliche Anteile der Bevölkerung ansprechen.
Zwischen der überregionalen und der regionalen Tagespresse ist die Differenz,
wenn man die Gesamtauflage der britischen Tagespresse betrachtet, ebenfalls
groß. Der Anteil der überregionalen Titel an den sich täglich im Umlauf befinden
Zeitungen beträgt 69%.55
Wir haben herausgefunden, dass die Loyalität der Leser, sowie die regelmäßige
Zeitungsnutzung der überregionalen Tageszeitungen sinkt. Viele Stimmen sehen analog dazu den überregionalen Zeitungsmarkt, was die Verkäufe angeht,
in einer allgemeinen Stagnation, oder weisen auf einen Abwärtstrend hin, der
nicht mehr umkehrbar sei.56 Laut Zenith Media sind zwischen 1989 und 1999
die durchschnittlichen täglichen Auflagen um 14% auf 13,2 Mio. gesunken.57
1998 betrug der jährliche Absatz zum ersten Mal seit den 60er Jahren weniger
als fünf Milliarden.58
Die regionale Tagespresse ist trotz anhaltender Loyalität der Leser ebenso von
stetig sinkenden Auflagen betroffen, wenn auch in den letzten Jahren weniger
stark. Der kostenpflichtige Sektor erreichte mit durchschnittlich 2,095 Mio. täg-
55
Vgl. Sparks, Colin, a. a. O., S. 42
56
Vgl. Carter, Meg: Newspapers appeal to readers’ baser instincts. In: Campaign. Ausgabe
vom 15.08.1997 u. Snoddy, Raymond: Newspaper’s future “gloomy”. In: Financial Times. Ausgabe vom 28.04.1995
57
58
Vgl. O. Verf. (2), a. a. O., S. 219
Vgl. O. Verf. (4): Zenith Media publishes the UK media yearbook. Fassung vom 19.01.2001.
URL: http://www.zenithmedia.co.uk/prukyr01.pdf, Zugriff am 26.07.2002
4. Absatzmarkt
29
lich verkauften Exemplaren 1999 ähnliche Zahlen als 1997, allerdings eine halbe Million weniger als 1989.59
4.2
Konkurrenz
Einer negativen Entwicklung der Auflagenzahlen, aber auch der stetig sinkenden
regelmäßigen
Zeitungsnutzung,
können
die
Presseunternehmen
verschiedene Maßnahmen der Preis- und Produktpolitik entgegensetzen, um
ihren Absatz zu steigern und Leser möglicherweise längerfristig an sich zu binden. Letzteres gilt seit den 90er Jahren als hauptsächliche Herausforderung für
die Zeitungsindustrie.60 Die Absicht Nichtleser zu gewinnen spielt eine untergeordnete Rolle. Der Markt ist statisch geworden und diesbezüglich wurde bisher
kein durchschlagendes Konzept entwickelt, so dass es für die Unternehmen
notwendig geworden ist, um gegenseitige Leser zu kämpfen. Dadurch werden
Marktanteile gegenüber den konkurrierenden Unternehmen hinzu gewonnen
oder verloren.
Ein wichtiges Element, in dessen Rahmen die Strategien der Presseunternehmen zum Einsatz kommen, ist somit die Konkurrenz. Der Wettbewerb der
Unternehmen untereinander gilt mittlerweile sogar als eine der wichtigsten prägenden Eigenschaften der überregionalen Tagespresse Großbritanniens.
Dieser findet allerdings nicht in ein und der selben aggressiven Form zwischen
allen Titeln statt.
Zum einen liegt dies daran, dass die wirklich harte Konkurrenz durch die Marktsegmentierung eher innerhalb der drei bestehenden Sektoren stattfindet, da
jeder Sektor verschieden stark von Absatz- und Werbeeinnahmen abhängig ist.
59
Vgl. O. Verf. (2), a. a. O., S. 219
60
Vgl. Carter, Meg, a. a. O.
4. Absatzmarkt
30
Zum anderen bestehen im britischen Pressemarkt konzentrierte Eigentumsstrukturen.
Die
10
wichtigsten
überregionalen
Titel
gehören
sieben
Medienfirmen. Eine geringe Anzahl dieser Firmen dominieren den Markt. Die
zwei Unternehmen News International und die Mirror Group machen über 50%
der Gesamtauflagen aus.61 Dies schränkt die Offenheit ein, die auf einem freien
Markt theoretisch existieren würde, und verhärtet die Konkurrenz zwischen den
dominierenden Unternehmen.
4.3
Von der Preispolitik zum Preiskrieg
Eine Strategie der Zeitungsindustrie, Auflagen zu erhöhen, sind Preissenkungen. Diese finden in der Regel statt, wenn Auflagen so stark sinken, dass die
Produktionskapazitäten der Zeitungsverlage nicht ausgefüllt sind. Daraus ergibt
sich die Notwendigkeit, höhere Marktanteile gegenüber den anderen Titeln und
Unternehmen zu gewinnen, teilweise mit der Absicht, diese Unternehmen in
den Ruin zu führen, oder sie zumindest stark zu schwächen.
In der Regel findet dieser Prozess als Reaktion auf eine wirtschaftliche Rezession statt, die sich negativ auf die Zeitungsverkäufe, sowie auf den
Anzeigenmarkt als zweite Einnahmequelle auswirkt.
Die erste systematische Preissenkung der 90er Jahre fand 1993 durch Murdochs News International statt. Die Rezession, die vorausging, hatte ihren
Höhepunkt 1991 erreicht und sich z. B. für die Sun durch ein Abfallen der
durchschnittlichen täglichen Verkaufszahlen um 500 000 Exemplare geäußert,
begleitet von Preiserhöhungen aller Titel, die über der Inflationsrate lagen.
Da das Unternehmen annahm, dass diese Preiserhöhungen erheblich mitverantwortlich für die nachlassende Kaufkraft zu dieser Zeit waren, stellte es sich
nun die Frage, ob sich Auflagen durch Preissenkung nennenswert erhöhen las-
61
Vgl. Sparks, Colin, a. a. O., S. 47
4. Absatzmarkt
31
sen oder ob der Preis bei der Kaufentscheidung nur eine untergeordnete Rolle
spielt. 62
Ein weiteres Ziel, das neben einer erhofften Wende der negativen Auflagensituation hinter der Strategie Murdochs stand, war, den Vorsprung der
Verkaufszahlen gegenüber dem Daily Mirror zu vergrößern und an Dominanz
im Markt und Macht hinzu zu gewinnen.
Murdoch senkte den Verkaufspreis der Sun im Juli von 25 auf 20 Pence. Im
September folgte die Preissenkung der Times von 45 auf 30 Pence. Tatsächlich
stiegen die Verkaufszahlen rasant an. Ende August konnte für die Sun eine Erhöhung der täglichen Verkaufszahlen um 234 341 gegenüber dem Vormonat
festgestellt werden, und damit die stärkste Erhöhung seit August 1987.63 Der
Daily Mirror reagierte noch im Juli mit einer eintägigen Preissenkung um 17 auf
10 Pence, was ihm für diesen einen Tag 250 000 verkaufte Exemplare mehr
gegenüber der Sun einbrachte. Auch abgesehen davon konnte der Daily Mirror
nach langer Zeit der Verluste im August ein Plus von 46 502 verkauften Exemplaren erreichen.64
Was den Preiskrieg unter den Broadsheets angeht, den die Times entfachte, so
klagte der Independent zunächst vor der britischen Kartellbehörde gegen einen
angeblichen Vernichtungswettbewerb durch Murdoch. Der Klage wurde nicht
stattgegeben, da die Behörde keinen Hinweis darauf habe finden können.65
Diese Entscheidung öffnete selbstverständlich den Weg für zukünftige systematische Preissenkungen und Preiskriege.
Die durchschnittlichen Tagesverkäufe der Times stiegen von 359 822 im Juli
1993 auf 442 106 Exemplare im September an.66 Der Daily Telegraph, der in
62
Vgl. Kratz, Wilfried: Sturm und Drang. In: Die Zeit. Ausgabe Nr. 37 vom 10.09.1993
63
Vgl. MacArthur, Brian (2): Cut-price war boosts sales. In: The Times. Ausgabe vom
15.09.1993
64
Vgl. MacArthur, Brian (3): Sales soar in tabloid war. In: The Times. Ausgabe vom 21.07.1993
65
Vgl. O. Verf. (5): Preiskrieg britischer Zeitungen ist legal. In: Die Welt. Ausgabe vom
22.10.1994
66
Vgl. ebd. u. Franklin, Bob: Großbritannien. In: Verantwortung im freien Medienmarkt. Internationale Perspektiven zur Wahrung professioneller Standards. Ingrid Hamm (Hrsg.) Gütersloh:
Verl. Bertelsmann Stiftung 1996, S. 252
4. Absatzmarkt
32
diesem Sektor Marktführer war und ist, und der die Times als seinen Hauptrivalen ansieht, kostete pro Exemplar 18 Pence mehr als die Times und verlor,
gegenüber Zugewinnen im August von 10 173, im September 19 969.67 Dieser
Verlust setzte sich in ähnlicher Weise über die folgenden Jahre hinweg fort, wie
man an der Auflagenstatistik erkennen kann, während die Times gegenüber
dem Daily Telegraph Boden gewann.
Im mittleren Sektor wurde der Preis des Titels Today, ebenso ein Blatt von
News International,68 zwar bei 25 Pence gehalten. Die Preise der Daily Mail und
des Daily Express wurden je um 7 Pence auf 32 Pence erhöht, als entgegengesetzte Strategie, die dem Leser eine höhere Qualität dieser Zeitungen
suggerieren sollte. Allerdings verzeichnete Today schon im August einen Zugewinn von 23 728 zusätzlich verkauften Exemplaren
gegenüber dem
Vormonat, während die Daily Mail und der Daily Express Einbußen von 35 240
und 19 343 erlitten.69
Die letztendlichen Gewinner dieses Preiskriegs, der als der größte jemals galt,
waren klar die Blätter von News International. Sie konnten ihre Position gegenüber den anderen überregionalen Titeln stärken und somit ihre Marktanteile
vergrößern. Die Frage nach dem Einfluss einer Preissenkung, oder gar eines
Preiskampfes, für die Auflage eines Titels war für die Unternehmen angesichts
dieses Erfolgs durch News International positiv beantwortet worden, und zwar
für jeden Sektor. Im August 1994 wurden die Zeitungspreise wieder erhöht.
Der Preiskrieg hatte neben den Verkaufsverlusten für abgeschlagene Titel eine
weitere negative Folge. Durch die Preisabsenkungen entstanden erhebliche
Kosten für die Verlage. Laut Analysen kostete der Preiskrieg Murdochs Unternehmen 38 Mio. Pfund. Das Unternehmen Hollingsworth,70 mit dem Daily
67
Vgl. MacArthur, Brian (4): Locked in a circulation struggle for survival. In: The Times. Ausgabe vom 20.10.1993
68
Der Titel wurde 1995 wegen mangelnder Rentabilität vom Markt genommen.
69
Vgl. MacArthur, Brian (2), a. a. O.
70
heute Hollinger International
4. Absatzmarkt
33
Telegraph, büßte 22 Mio. Pfund ein, die Mirror Group und der Verlag United
Newspapers, mit dem Daily Express, je 11 Mio. Pfund.71
News International konnte als dominierendes Unternehmen auf dem überregionalen Zeitungsmarkt, aber auch als Teil eines ohnehin erfolgreichen
Multimediakonzerns, diese Kosten tragen, ohne bedrohliche Gewinneinbußen
hinnehmen zu müssen. Durch die weitere Stärkung dieser Position würde sie in
Zukunft noch mächtiger im Markt sein, auch was weitere Preissenkungen angeht, während die übrigen Unternehmen verletzlicher wurden. Diese fingen
daraufhin an, sich zunächst auf Marketing- und Werbestrategien zu beschränken.
Ein zweiter Preiskrieg folgte zwischen 1996 und 1998, als Murdoch den Preis
der Times auf 10 Pence absenkte, um seine Gegner weiter zu schädigen. Diese
sahen sich dazu gezwungen, ebenfalls Preissenkungen vorzunehmen und
mussten dadurch auf Investitionen verzichten. News International nahm dabei
bewusst einen Verlust in Kauf, der von Experten auf ca. 100 Mio. Pfund geschätzt wird. Nach anschließendem Protest der anderen Broadsheets wurde
Murdoch dazu verpflichtet, Preissenkungen künftig dem Londoner Office of Fair
Trading (OFT) zehn Tage im Voraus eine detaillierte Begründung mit Finanzinformation vorzulegen.72
Im Mai 2002 wurde ein erneuter Preiskrieg unter den Tabloids entfacht, da die
Werbeeinnahmen durch die geschwächte Weltkonjunktur seit dem 11. September 2001 erheblich zurückgegangen waren. Diesmal wurde er angeregt durch
die Herausgeber der Blätter.
Der Verkaufspreis des Daily Mirror wurde um rund ein Drittel auf 20 Pence gesenkt. Die Sun folgte ihm mit einer Herabsenkung auf den gleichen Preis,
während ihr Herausgeber David Yelland seine Redaktion wörtlich zur Schlacht
gegen den Daily Mirror aufrief.
71
Vgl. O. Verf. (6): Preiskrieg kostet britische Verlage 265 Millionen DM. In: Die Welt. Ausgabe
vom 28.07.1994
72
Vgl. O. Verf. (7): Kein zweiter Preiskrieg mit Murdochs Londoner „Times“. In: epd medien.
Ausgabe Nr. 41 vom 29.05.1999
4. Absatzmarkt
34
Innerhalb der vorhergehenden 12 Monate hatte die durchschnittliche tägliche
Auflage des Daily Mirror einen Verlust von 4,3% auf 2,18 Mio., die der Sun einen Verlust von 4% auf eine Auflage von 3,49 Mio. erlitten.73 Da außerdem eine
Werberezession herrschte, erschien es somit aus mehreren Gründen für die
Unternehmen wichtig, ihre Auflagen zu erhöhen. Wobei freilich erneut das Paradoxon zwischen erhöhten Absatzeinnahmen und den mit der Preissenkung
verbundenen Verlusten auftaucht.
So wurde der Preiskrieg im Juni vorerst beendet. Der Sun hatte er in der ersten
Woche einen durchschnittlichen täglichen Auflagengewinn von 225 000-250
000 eingebracht, dem Daily Mirror einen Auflagengewinn von 170 000. Dazu
wurde die Vermutung angestellt, dass der Daily Mirror in dieser Woche unter
Umständen einen Gewinn von 400 000 verkauften Exemplaren hätte verbuchen
können, wenn die Sun nicht in den Preiskrieg eingestiegen wäre.74 Der Preiskrieg erwies sich somit insgesamt als etwas enttäuschend für den Daily Mirror,
allerdings als wirkungsvoll für die Anhebung der Auflagen, da das Interesse
zahlreicher Nutzer angeregt wurde.
Nun kann die Frage gestellt werden, inwiefern durch die offenbare Reaktion der
Leser auf Preissenkungen ihre Loyalität zu den bezogenen Blättern erlangt oder
gestärkt wird. Gerade durch die Reaktion auf Absenkungen der Preise kann
vermutet werden, dass die Höhe des Preises eines der Hauptkriterien der Käufer beim Bezug ist und so ihre Untreue den einzelnen Titeln gegenüber gar
ermutigt wird.75
Ein entgegengesetztes Argument ist, dass für das starke Anwachsen der Verkaufszahlen z. B. der Sun zwangsläufig Tausende von neuen oder verlorenen
Lesern verantwortlich waren, die das Produkt testeten. Ein Teil dieser Leser
wird dem Titel treu geblieben sein, auch wenn die Preise wieder angehoben
werden. Dies gilt ebenso für Werbekampagnen, die den Lesern, z. B. in Form
73
Vgl. Kroder, Titus: Britische Zeitungen zetteln neuen Konkurrenzkampf an. In: Financial Times Deutschland. Ausgabe vom 14.05.2002
74
Vgl. Kane, Frank: Over the top in price war. Fassung vom 19.05.2002. URL:
http://www.media.guardian.co.uk/circulationfigures/story/0,11554,718904,00.html, Zugriff am
18.06.2002
75
Vgl. Carter, Meg, a. a. O.
4. Absatzmarkt
35
von Gutscheinen, einen Preisnachlass für eine begrenzte Zahl von Ausgaben
eines Titels anbieten.
Die Ergebnisse sind hinsichtlich der Loyalität der Leser allerdings schwer
nachweisbar. Hohe Auflagenzahlen bedeuten kaum ein hohes Maß an Loyalität
und die Ergebnisse des National Readership Survey geben die regelmäßige
Nutzung der einzelnen Titel wieder, allerdings nicht absolute Loyalität zu einem
bestimmten Titel.
1996 fand eine spezielle, nach Nutzungshäufigkeit differenzierte, Umfrage des
National Readership Survey statt, die zeigt, dass die Broadsheets trotz geringer
Auflagen die loyalste Leserschaft haben.
Title
“quite often”
“only occasionally”
“almost always”
The Sun
83,6%
10,4%
6%
Daily Mail
80,1%
11,6%
8,3%
Mirror
79,8%
12,4%
7,8%
Express
77,8%
11,1%
11,1%
Daily Telegraph
77,2%
12,4%
10,3%
Guardian
70,2%
16,3%
13,6%
Daily Star
70,1%
15,5%
14,5%
The Times
69,8%
17,4%
12,8%
Independent
63,9%
18,3%
17,9%
Financial Times
62,9%
19,2%
18%
“almost always” = at least three out of four issues, “quite often” = one out of four issues,
“only occasionally” = less than one out of four issues
Tabelle 3: Häufigkeit der überregionalen Zeitungsnutzung76
Loyalität der Leser wird somit offenbar wesentlich durch inhaltliche Differenzierung erreicht. Daraus lässt sich allerdings für sämtliche Sektoren ableiten, wie
76
Nach Carter, Meg, a. a. O.
4. Absatzmarkt
36
wichtig die zusätzliche Nutzung des Internets durch die Zeitungen ist, und darüber
hinaus
weitere
Maßnahmen
inhaltlicher
Differenzierung
und
Diversifizierung, um den Lesern einen gewissen Mehrwert anzubieten und sie
dadurch möglicherweise an einen Titel zu binden.
Preiskriege und Werbekampagnen geben vor allem Impulse, eine vermehrte
Leserschaft zu erreichen, die dann allerdings gehalten werden muss.
Die Preispolitik der Regionalpresse besteht darin, die Verkaufspreise möglichst
lange auf dem gleichen Stand zu halten, das heißt, sie weder zu senken noch
zu erhöhen. Ein Absenken findet nicht statt, da der Wettbewerb um Leser unter
den regionalen Unternehmen gegenüber dem überregionalen Markt verschwindend klein ist. Ferner erhöhen die Verlage ungern die Preise, da sie die relativ
große Loyalität ihrer Leser nicht auf die Probe stellen wollen.77
Im übrigen ist die gesamte Regionalpresse besonders stark vom Anzeigenmarkt abhängig.
4.4
Entwicklung der Zeitungsinhalte
Da ein preispolitischer Wettbewerb sich auf Dauer als sehr kostspielig und
schon daher als wenig wünschenswert erweist, findet der Wettbewerb in hohem
Maße auch durch Produktdifferenzierung statt. Durch diese versuchen die Unternehmen, einen Zeitungstitel möglichst einzigartig zu machen und so einen
Wettbewerbsvorteil zu erlangen.
Bei der Beschreibung der Entwicklung des Sensationsjournalismus werde ich
ausnahmsweise bis in die 80er Jahre zurückgreifen, um die Zusammenhänge
besser darstellen zu können.
4.4.1 Sensationsjournalismus und Presserecht
„Tickle the public, make ‘em grin,
77
Vgl. O. Verf. (2), a. a. O., S. 219
4. Absatzmarkt
37
The more you tickle, the more you’ll win;
Teach the public, you’ll never get rich,
You’ll live like a beggar and die in a ditch.”78
Diese Aussage, die auf der Titelseite eines Buches zur Sensationspresse
Großbritanniens abgedruckt ist, fasst die These, dass ein Mehr an Unterhaltung
das beste redaktionelle Konzept für den Zeitungsverleger sei, möglichst hohe
Auflagen zu erreichen, sehr gut in Worte.
Diesem Konzept nahmen sich vor allem die Tabloids an. Schon Anfang der
70er Jahre hatte die Sun angefangen, sich auf einen Massenmarkt zu konzentrieren, gefolgt vom Daily Mirror, der ebenfalls seinen Schwerpunkt von
öffentlichen Angelegenheiten auf Boulevard- und Unterhaltungsthemen konzentriert hatte.
Das hauptsächliche Motiv dieser beiden Zeitungen war eine Maximierung der
Verkäufe, durch den Druck, die Kosten, die im Zuge des technologischen Wandels entstanden, aufzufangen und die Titel im Markt zu etablieren. Ein weiterer
Titel dieses Segments ist der Daily Star, der allerdings gegenüber den anderen
beiden Titeln außer Konkurrenz steht. 2001 erreichten die Sun und der Daily
Mirror eine durchschnittliche Tagesauflage von 3,487 Mio. und 2,204 Mio., während die Auflage des Daily Star sich auf 0,591 Mio. belief. 79
Dass sich leichte Unterhaltung an ein breites Publikum verkaufen lässt, wurde
schon im Kapitel „Interessenschwerpunkte der Leserschaft“ deutlich und an
meinen Ausführungen zur allgemeinen Auflagensituation. Diese Tatsache spiegelte sich schon in den 70er Jahren durch Lücken wieder, die zwischen den
Auflagen der Tabloids, der Blätter des mittleren Segments und der Broadsheets
bestanden. Außerdem äußert sie sich laut Tunstall darin, dass die überregionalen Titel seit den späten 80er Jahren ständig um inhaltliche Rubriken erweitert
wurden.
78
Nach Engel, Matthew: Tickle the public. One hundred years of the popular press. London:
Gollancz, 1996, Titelseite
79
Vgl. URL: http://www.abc.org.uk, Zugriff am 09.08.2002
4. Absatzmarkt
38
Durch die wirtschaftlich größere Abhängigkeit der Tabloids vom Absatzmarkt
gegenüber dem Anzeigenmarkt war die inhaltliche Anziehungskraft auf eine
große Masse der Bevölkerung schon sehr früh überlebenswichtig.
Dieser kommerzielle Druck wurde durch den Wettbewerb unter den Tabloids
noch verstärkt, so dass die inhaltliche Differenzierung gegenüber dem Konkurrenten immer wichtiger wurde, wodurch sich der Sensationsjournalismus der
Tabloids im Laufe der 80er und 90er Jahre entwickelte und immer weiter zuspitzte.
Das
Ziel
eines
jeden
Tabloid-Titels
wurde,
nach
möglichst
skandalträchtigen Geschichten und Enthüllungen zu recherchieren, um damit
die Konkurrenz an Attraktivität für den Leser zu überbieten. In der Branche
nennt sich dies „hunting for the ultimative scoop“80.
Es entwickelte sich währenddessen ein Sensationsjournalismus modernen
Stils, dessen Vorreiter erneut die Sun war. Die Sensationspresse begann,
schärfere Mittel einzusetzen:
•
Eindringung in die Privatsphäre von Prominenten und Politikern
•
Scheckbuchjournalismus
•
Fiktion enthüllter Tatsachen und Skandale81
Dieser Entwicklung begannen die Leser schon gegen Ende der 80er Jahre zunehmend skeptisch gegenüber zu stehen. Die Auflagen der Tabloids fallen
seitdem stetig, konnten durch Preiskriege allerdings etwas stabilisiert werden.
Außerdem konnten die Tabloids ihr Ansehen in der Bevölkerung bis zur Mitte
der 90er Jahre wieder verbessern, indem sie zusätzlich verstärkt Berichterstattung zu Themen betrieben, die zur Stiftung einer nationalen Identität beitragen
sollten. Beispiele sind die Berichterstattung zur Katastrophe 1989 im Hillsborough-Stadion in Liverpool, die Glorifizierung britischer Helden aus der
Sportwelt oder anti-europäische Kampagnen.
80
Bens, Els De; Ostbye, Helge: The European Newspaper Market. In: Media policy. Convergence, concentration and commerce. Denis MacQuail; Siune, Karen (ed.) London: Sage, 1998,
S. 18
81
Vgl. MacNair, Brian: News and journalism in the UK. A textbook. 3. ed. London u. a.:
Routledge, 1999. (Communication an society), S. 171
4. Absatzmarkt
39
Nichtsdestotrotz büßte der harte und von ausländischen Zeitungen wie z. B. der
Frankfurter Rundschau als „...krass...brachial...rücksichtslos...“82 umschriebene
Wettbewerb der Tabloids um die Leser von diesem Stil nichts ein. Man kann
wohl die berechtigte Behauptung aufstellen, dass die britische Presse dafür
weltweit negative aber zum Teil auch bewundernde Berühmtheit erlangte.
Ein Beispiel für den fortschreitend extremen Journalismus der Tabloids ist die
Veröffentlichung von Fotos, Namen und Adressen von Sexualstraftätern im Jahr
2000, was in Großbritannien zu einer großen Aufruhr führte. Ein weiteres die
kommentierte Veröffentlichung eines Nacktfotos von Sophie Rhys-Jones durch
die Sun.
Neben der Berichterstattung spielt für die Tabloid-Presse die äußerliche Aufmachung der Ausgaben, vor allem durch von Paparazzi geschossene Fotos
von Prominenten, eine wesentliche Rolle. Die britischen Tabloids gelten als die
einzigen Zeitungen, die bereit sind, für Paparazzi-Fotos Erstverwertungsrechte
zu zahlen. Auch deutsche Journalisten bestätigen diesen Ansatz als wirtschaftlich wirkungsvoll, indem sie betonen, dass diese Fotos die Auflage eines Titels
stabilisieren oder steigern können.83 Das besagte Nacktfoto steigerte am Tag
der Veröffentlichung die Auflage der Sun um rund 250 000 Exemplare, was einen Gegenwert von ca. 130 000 Pfund ausmacht.84
Durch den Konkurrenzdruck des Markts kann seit Mitte der 90er Jahre als weiterer Prozess festgestellt werden, dass die Broadsheets ebenfalls immer mehr
Unterhaltungsthemen und Skandalenthüllungen in ihre Berichterstattung aufnahmen. Freilich findet dieser Prozess auf einer etwas anderen Ebene statt,
z. B. in Form der Veröffentlichung umstrittener Biographien.85 Allerdings wird in
der britischen Medienszene schon scherzhaft die Bezeichnung „Broadloid“ ver-
82
Nonnenmacher, Peter: Das Beste und das Krasseste. In: Frankfurter Rundschau. Ausgabe
vom 09.06.1999
83
Vgl. Riedel, Donata; Thibaut, Matthias: Mit Paparazzi-Fotos die Konkurrenz verdrängen. In:
Handelsblatt. Ausgabe vom 02.09.1997
84
Vgl. Borger, Sebastian (1): Busen plus Reue. In: Die Woche. Ausgabe vom 11.06.1999
85
Vgl. Franklin, Bob, a. a. O., S. 245
4. Absatzmarkt
40
wendet, der das Phänomen eines Broadsheets mit boulevard-ähnlichen redaktionellen Zügen beschreiben soll.
Dies bedeutet einen sehr interessanten Prozess, in dem sich die ehemals als
unumstritten ernsthafte Presse geltenden Broadsheets noch immer befinden.
Erst vor wenigen Wochen wandte sich eine ehemalige britische Verbraucherministerin an die Times mit der Behauptung, vier Jahre lang ein Liebesverhältnis
zum ehemaligen Premierminister John Major unterhalten zu haben. Die Times
war somit die erste Zeitung, die diese Enthüllung veröffentlichte.
Diese neue Linie versuchen die Broadsheets, vor allem die Times, momentan
offenbar dadurch auszugleichen, dass sie einen stärkeren Schwerpunkt vom
Nachrichtenteil auf qualitativ hochwertige Analysen und Kommentare legen.
Es wird in jedem Fall interessant sein, diesen Prozess der inhaltlichen Annäherung der verschiedenen Sektoren weiter zu verfolgen.
Dem Interesse der Leser an Themen von „human interest“, so der englische
Ausdruck, stehen paradoxerweise ein dennoch weiter sinkendes Ansehen der
Tabloids durch die Öffentlichkeit und erhebliche moralische Bedenken gegenüber. Dies wurde unter anderem durch das Verhalten der Leser kurz nach dem
Tod Prinzessin Dianas offenbar. Leser, die während Earl Spencers Traueransprache klatschten, die Schuldzuweisungen an die Sensationspresse enthielt,
kauften sich anschließend noch mehr Tabloids mit Sonderausgaben über die
Prinzessin.86
Die Auflagen der Tabloids sinken zwar stetig, über einen längeren Zeitraum betrachtet, dieses zweigespaltene Verhalten der Leser wird jedoch, neben
weiteren Strategien der Zeitungsverlage, noch für längere Zeit ein allzu starkes
Absinken der Auflagen der Tabloids verhindern.
Die Grundlage für die extremen Verhältnisse, was den Sensationsjournalismus
in Großbritannien angeht, bildet der besondere presserechtliche Bestand in diesem Land. Auf diesen möchte ich an dieser Stelle eingehen.
86
Vgl. Borger, Sebastian (1), a. a. O.
4. Absatzmarkt
41
In Großbritannien existiert keine geschriebene Verfassung, lediglich verfassungsähnliche Prinzipien und Konventionen. Das heißt, dass die Pressefreiheit
als solche bis 1998 nicht gesetzlich verhaftet war. Sie war nur im negativen
Sinne definiert, unter anderem durch das Zensurverbot. Somit sind waren auch
die Restriktionen der Pressefreiheit, also das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen, nicht allgemeingültig festgelegt.
Ferner ist das Rechtssystem Großbritanniens so aufgebaut, dass Gesetze im
Rahmen von Gerichtsurteilen zu bestimmten Fällen neu entstehen, oder sich
die Urteile an vorhergehenden zu ähnlichen Fällen orientieren. Es können also
nur Prozesse zwischen der Presse und dem Einzelnen stattfinden, die sich auf
Gesetze beziehen, die für alle Bürger gelten, und der gesetzlich eindeutige
Rahmen ist eng gesteckt.
Dadurch ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Pressefreiheit, d. h. dem
Recht der Öffentlichkeit auf Information, und dem Schutz der Privatsphäre des
Einzelnen, dem Persönlichkeitsschutz.
Für die Presse bedeutet dies, dass sie ihre Pressefreiheit permanent als zu verteidigendes Gut ansieht, und ihre Funktion als meinungsbildendes Medium
betont. Dadurch versucht sie seit jeher, selbst moralisch äußerst bedenkliche
sowie eindeutig parteiische Berichterstattung zu verteidigen.
Für die Personen, in deren Privatsphäre die Presse eingedrungen ist, oder die
sich sonst ihre Persönlichkeitsrechte in irgendeiner Form durch die Presse verletzt sehen, existieren mehrere Gesetze, auf die sie sich berufen können. Einige
wichtige sollen hier genannt werden:
•
Law of defamation mit dem defamation act 1996: damit kann eine
Person Veröffentlichungen verhindern, die unwahr sind, oder ihr Ansehen verletzen. Dazu ist allerdings viel Beweismaterial zu erbringen und
die Prozesse ziehen sich über einen sehr langen Zeitraum hin.
•
Breach of confidence: ein Gesetz das angewandt werden kann, wenn
vertrauliche Daten und Informationen unerlaubt veröffentlicht werden sollen.
4. Absatzmarkt
•
42
Protection from harassment act 1997: kann einzelne Personen vor der
Belästigung durch Pressevertreter schützen.
•
Art. 8 der europäischen Menschenrechtskonvention: wurde 1998 in
englisches Recht umgesetzt und besagt, dass jeder ein Recht auf die
Respektierung seines Privat- und Familienlebens, seines Hausfriedens
und seiner Post hat.87
Abgesehen davon besteht mit der Press Complaints Commission (PCC) ein
Organ der freiwilligen Selbstkontrolle der britischen Presse. Sie wurde 1991 als
Nachfolgeinstitution des Press Council gegründet, der recht erfolglos in der Regulierung der Presse gewesen war. Da die Öffentlichkeit immer vehementer
strengere Pressegesetze forderte, beschloss die Presseindustrie, vor allem aus
Furcht vor einem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, eine freiwillige Selbstkontrolle einzuführen.
Die PPC besteht aus 15 Mitgliedern, zum Teil aus der Presseindustrie, zum Teil
unabhängig, und aus einem unabhängigen Vorsitzenden. Unmittelbar nach ihrer Gründung verabschiedete die PCC einen Code of Practice, einen
journalistischen Ehrenkodex, der Vorschriften zu verschiedenen Aspekten der
Berichterstattung enthält, darunter auch zur Privatsphäre. Jede Person oder Institution kann vor der PCC eine Beschwerde einreichen, die sich gegen einen
Chefredakteur oder Herausgeber der kritisierten Zeitung richtet. Diese Beschwerde wird innerhalb eines schriftlichen Verfahrens bearbeitet. Das Urteil
fällt ebenfalls in schriftlicher Form aus.
Allerdings hat die PCC, wie schon ihr Vorgängerorgan, keinerlei rechtliche
Kompetenzen. Sie kann weder Bußgelder auferlegen, noch Schadenersatz
aussprechen. Auch kann sie die Veröffentlichung eines persönlichkeitsverletzenden Artikels nicht zwingend untersagen oder eine Gegendarstellung
verlangen.
87
Vgl. Branscheid, Michaela: Zivilrechtlicher Persönlichkeitsschutz gegen die Presse in England. Münster u. a.: Lit, 2001. (Münsteraner Studien zur Rechtsvergleichung; 78), S. 26 f. u.
Dewall, Gustaf von: Press ethics. Regulation and editorial practice. Düsseldorf: Europ. Inst. For
the Media, 1997, S. 176 ff.
4. Absatzmarkt
43
So kann die PCC zwar das Vertrauen der Presse durch die Öffentlichkeit steigern, allerdings wohl nicht als wirklich regulierendes Organ betrachtet werden.
Noch hinzu kommt, dass sie kein unabhängiges Organ ist, da sie von der Zeitungsindustrie eingerichtet wurde und unterhalten wird. Somit kann sie wohl
kaum redaktionelle Standards angemessen überwachen. Hierzu sollte erwähnt
werden, dass von 2225 Beschwerden, die im Jahr 2000 bei der PCC eingingen,
1458 bearbeitet wurden und nur über 57 geurteilt wurde.88 Dennoch ist sie für
die Presse ein wichtiges Organ, um zu beweisen, dass Selbstkontrolle funktioniert.
Mit der Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention in englisches
Recht sind durch Art. 8 und Art. 10, der Meinungs- und Pressefreiheit garantiert,
zum ersten Mal beide Ansprüche ausdrücklich gesetzlich festgelegt.89 Jedoch
kann Art. 8 wohl ebenfalls nur bedingt dem Persönlichkeitsschutz dienen, da er
doch sehr allgemein formuliert ist und dadurch sicherlich nicht immer bindend
für spezielle Fälle angewandt werden kann.
Vor allem nach dem Unfalltod Prinzessin Dianas kam die Diskussion um die
Notwendigkeit der Einführung strikterer gesetzlicher Regelungen wieder auf.
Gegner dieser Einführung halten die bestehenden Gesetze, zusammen mit der
Selbstkontrolle der PCC, für eine schon sehr enge Regulierung für westliche
Standards. Sie gehen davon aus, dass die freiwillige Selbstregulierung wirkungsvoll ist, da die Beurteilung durch die eigenen Berufskollegen stattfindet.90
Angesichts der Vermutung, dass die PCC durch ihre fehlende Unabhängigkeit
wohl kaum den gesetzlichen Persönlichkeitsschutz verlässlich ersetzen kann,
die zivilrechtlichen Gesetze nur für einen sehr engen Bereich bindend anwendbar sind und Art. 8 der europäischen Menschenrechtskonvention ebenfalls nicht
auf alle Fälle bindend angewendet werden kann, scheint die Einführung eines
allgemeinen Persönlichkeitsrechts immer noch notwendig zu sein.
88
Vgl. URL: http://www.pcc.org.uk/2000/figs.html, Zugriff am 10.10.2002
89
Vgl. Branscheid, Michaela, a. a. O., S. 106
90
Vgl. Petley, Julian: The regulation of media content. In: The media in Britain. Current debates
an developments. Stokes, Jane; Reading, Anna (ed.) Basingstoke: Macmillan 1999, S. 145
4. Absatzmarkt
44
4.4.2 Politische Berichterstattung
Die überregionale britische Tagespresse ist seit ihren Anfängen eine in ihrer
Berichterstattung sehr parteiische Presse, auch im Vergleich zu anderen Ländern. Dies bezieht sich auf gesellschaftliche, soziale, wirtschaftliche und
politische Themen, äußert sich aber besonders stark in der politischen Berichterstattung.
Prinzipiell sieht sich die Presse in ihrer öffentlichen Funktion als eine Art vierte
Staatsgewalt, die die drei anderen Staatsgewalten kontrolliert.
Sie liefert außerdem Nachrichten, Meinungen und Kritik und nimmt dementsprechend am Meinungsbildungsprozess teil.
Darüber hinaus übt sie allerdings auch eine eigene Macht aus, indem sie politische und wirtschaftliche Entscheidungen durch eben diese meinungsbildende
Funktion dementsprechend beeinflussen kann.
Dem journalistischen Ehrenkodex entsprechend, der ja durch die PCC niedergeschrieben wurde, sollte die Berichterstattung der Presse auf einer möglichst
professionellen und objektiven Basis stattfinden.
Wenn man jedoch die britische Presse nach einer völlig wahrheitsgemäßen Berichterstattung
untersucht,
die
weder
Tatsachen
unterschlägt,
noch
Sachverhalte subjektiv interpretiert, so stellt man fest, dass sie diesem Anspruch oft nicht gerecht wird. Die Presse verfügt über Bindungen und
Interessen in bezug auf die Gesellschaft, die zwingend zu entsprechender Parteinahme führen.
Auch Sparks behauptet in seinem Aufsatz zur Presselandschaft Großbritanniens, dass die britische Tagespresse zu einem hohen Grad eine Anzahl von
Medienunternehmen ist, die eher auf wirtschaftlichen Erfolg aus sind als darauf,
ihre Funktion als meinungsbildendes Medium wahrzunehmen.91
In der Tat nimmt die Presse ihre meinungsbildende Funktion zwar wahr, scheint
diese jedoch häufig zur Erreichung eigener Interessen zu instrumentalisieren.
91
Vgl. Sparks, Colin, a. a. O., S. 46
4. Absatzmarkt
45
Eine Grundlage hierfür ist die starke Personalisierung der überregionalen Presseunternehmen Großbritanniens. Dadurch will jeder Besitzer eines solchen
Unternehmens auf die Herausgeber und Chefredakteure seiner Titel Einfluss
ausüben, was den redaktionellen Teil angeht. Offiziell geht es dabei nur um politische Grundausrichtungen, die auf das Personal übertragen werden, da die
Redakteure ihrem Ehrenkodex ja gerecht werden sollen. Es ist allerdings in der
Branche bekannt, dass z. B. Chefredakteure, denen die politische oder ideologische Linie ihres Titels nicht entspricht, in der Regel durch andere
Chefredakteure ersetzt werden.92
Dies ist im Besonderen ein gebräuchliches Vorgehen Murdochs, was somit
eben doch eine starke Beeinflussung der redaktionellen Inhalte bedeutet. Mittlerweile stellen auch die Herausgeber sehr starke Persönlichkeiten dar, die
gemeinsam mit den Besitzern einen gewissen Druck auf die Redaktionen ausüben können. Eine Ausnahme dieses Musters ist der Scott-Trust, ein liberaler
Verlag, dem der Guardian und der Observer, ein weiterer Broadsheet-Titel, gehören.
Einige Besitzer nützen somit ihr Eigentum und die dadurch entstehende Einflussnahme
auf
die
öffentliche
Meinung
zur
Durchsetzung
ihrer
wirtschaftspolitischen Ziele. Auch die konservative Haltung des überwiegenden
Teils der überregionalen Presse bis Mitte der 90er Jahre hatte ein gewisses
Kalkül zum Hintergrund.
Ein Beispiel hierfür ist die Unterstützung der Politik Margaret Thatchers durch
die zuvor Labour-nahe Sun. In dieser Zeit wurden Murdochs Absichten zum
Erwerb von Zeitungen zweimal bewilligt, obwohl laut einem Gesetz die Vorlage
bei der Kartellbehörde nötig gewesen wäre.
Ebenso lassen sich ähnlich kalkulierte Beweggründe hinter der plötzlichen Unterstützung der Labour Party durch einen Großteil der Presse ab Mitte der 90er
Jahre vermuten. Es wird sogar behauptet, dass Tony Blair mit der Sun eine Art
impliziten Handel geschlossen hatte. Die Unterstützung der Labour Party durch
92
Vgl. Curran, James; Seaton, Jean, a. a. O., S. 74
4. Absatzmarkt
46
die Sun sollte eingesetzt werden für eine Politik Blairs, die die wirtschaftlichen
Interessen der Presseunternehmen nicht gefährdete.93
Diese vielleicht etwas überspitzte Vermutung scheint angesichts des Trends zu
einer noch stärkeren Konzentration des Medienmarkts, und der Notwendigkeit,
welche die Unternehmen in der weiteren Konzentration der britischen Medienlandschaft sehen, grundsätzlich die Motive einiger Presseeigentümer zu
erfassen.
Dass der parteipolitischen Grundausrichtung der politischen Berichterstattung
einiger Titel ein bestimmtes Kalkül zugrunde liegt, lässt sich auch daran festmachen, dass trotz anhaltender Parteinahme zugunsten der Labour Party in
den letzten drei bis vier Jahren ein ideologischer Rechtsdrall der Titel Murdochs
festzustellen war, z. B. bezüglich der politischen Haltung Europa gegenüber.
Dies untermauert die Vermutung, dass Murdoch kaum aus ideologischer Überzeugung anfing, seine Titel zugunsten der Labour Party agieren zu lassen.
Dabei scheinen einige Presseunternehmen in Kauf zu nehmen, dass immer ein
gewisser Anteil ihrer Leserschaft ihre Parteinahme nicht teilen, wie wir im Kapitel „Wirkung von Zeitungsinhalten“ bereits festgestellt haben.
Die Unterstützung ihrer politischen Macht, und somit ihrer wirtschaftspolitischen
Interessen, scheint den überregionalen Presseunternehmen offenbar häufig
wichtiger zu sein, als auch durch politische Berichterstattung ein Massenpublikum oder bestimmte Zielgruppen anzusprechen.
93
Vgl. Borger, Sebastian (2): Blairs Blätter. In: Die Woche. Ausgabe vom 04.04.1997 u. Curran,
James; Seaton, Jean, a. a. O., S. 83 f.
4. Absatzmarkt
47
4.4.3 Regionale und lokale Berichterstattung
Die Regionalpresse besitzt zweifellos eine größere Meinungsvielfalt als die
überregionale Presse. Diese Pluralität spiegelt zum einen die Tatsache wieder,
dass eine größere Anzahl von zur Zeit 1 300 Titeln auf dem regionalen Pressemarkt existiert.94
Zum anderen wird die Funktion der verschiedenen regionalen und lokalen Titel
deutlich, verschiedene Meinungen in einem regional begrenzten Bereich und
eine Art regionalen und lokalen Patriotismus zu vertreten.
Ihre Berichterstattung besitzt gegenüber anderen regional agierenden Medien
den Vorteil, dass sie wesentlich detaillierter und hintergrundbezogener ist. Die
Regionalpresse kann außerdem, genau wie die überregionale Presse, viel freimütiger Partei zu bestimmten regionalpolitischen Themen ergreifen, da sie
anders als ihr Hauptkonkurrent, der lokale Rundfunk, keinen Gesetzen und Regelungen unterliegt, die zur Neutralität zwingen.
Noch in den 80er Jahren enthielt die regionale Presse neben regionalen auch
nationale und internationale Berichterstattungen. Da viele Leser allerdings detaillierter über nationale und internationale Ereignisse informiert werden wollten,
und der Zugang zu überregionalen Zeitung kein Problem mehr darstellte, war
die regionale Presse für die Leser keine wirkliche Alternative zur überregionalen
Presse mehr. Der übrige Teil der Leser hätte vermutlich auf nationale und internationale Nachrichten völlig verzichten können.
Seit den 90er Jahren hat die regionale Presse sich inhaltlich auf lokale und regionale Berichterstattung und Informationen konzentriert und wird von ihren
Lesern als eigenständige Alternative anerkannt. Sie kann die überregionale
Presse selbstverständlich nicht für alle Leser ersetzen. Ihr geographischer Bezug ist nun allerdings klar einzuordnen, was ihr zu einer wichtigen Profilierung
im britischen Pressemarkt verhilft.
Außerdem fingen die Kräfte des Markts Mitte der 90er Jahre an, die redaktionellen Bedingungen auch der regionalen Presseunternehmen zu verändern. Um
94
Vgl. URL: http://www.newspapersoc.org.uk/facts-figures/structure.html, Zugriff am 26.07.2002
4. Absatzmarkt
48
die immer höheren Produktionskosten angesichts fallender Auflagen zu decken,
fanden rigorose Personalkürzungen statt. Diese wurden abgesehen davon auch
durch einen starken Konzentrationsprozess bewirkt, den die regionale Presse
erfuhr.
Durch die sinkende Verfügbarkeit von Journalisten verließen sich die Redaktionen in ihrer Recherche immer mehr auf Werbematerial der entsprechenden
behandelten Institutionen oder Firmen.95
Ein weiterer Grund für dieses Verhalten war die Notwendigkeit, sinkende Werbeeinnahmen, von denen der regionale Pressemarkt erheblich stärker abhängig
ist als der überregionale, wieder zu erhöhen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei
die Konkurrenz der kostenlosen Anzeigenblätter. Die Zeitungen fingen an, den
Leser nicht mehr nur als Wähler und Bürger, sondern eher als Konsumenten
von Gütern und Dienstleistungen anzusprechen.
Franklin und Murphy begründen diese Entwicklung mit der Notwendigkeit, die
Kunden zufrieden zu stellen, wenn eine Zeitung überleben wolle. Wenn diese
Zeitung überwiegend durch Werbeeinnahmen finanziert werde, so seien die
werbenden Firmen als diese Kunden zu betrachten.96
Der redaktionelle Teil wich dadurch quantitativ einem etwas anwachsenden
Werbeanteil. Es entstand währenddessen auch das sogenannte „advertorial“.97
Dies sind Zeitungsartikel, die einen Anteil an Werbung enthalten und somit eine
Mischung zwischen beiden Teilen darstellen.
Durch die Verlagerung auf Unterhaltungs- und Boulevardthemen sanken die
redaktionellen Standards weiter. Dieser Wandel vollzog sich relativ schnell. Laut
Franklin und Murphy waren 1997 z. B. nur noch weniger als ein Dutzend von 72
lokalen Abendzeitungen Vertreter des ernsthaften Journalismus. Von 17 lokalen
Morgenzeitungen wechselten acht Titel zum Tabloid-Format über.
95
Vgl. Franklin, Bob; Murphy, David: Changing times: Local newspapers, technology and markets. In: Making the local news. Local journalism in context. Bob Franklin; David Murphy (ed.)
London: Routledge, 1998, S. 9 f.
96
Vgl. ebd., S. 13
97
Vgl. ebd., S. 17
4. Absatzmarkt
49
Verantwortlich machen die beiden Autoren für die Entwicklung vor allem die
Annahme der Regionalpresse, durch eine ähnliche Strategie, wie die der überregionalen Zeitungen, sich attraktiver für eine größere Menge potenzieller Leser
zu machen.98
Diese Strategie scheint aufzugehen, da die Auflagen, in den letzten Jahren etwas stabiler waren.
Die Kürzung des redaktionellen Teils wird ebenso vorteilhaft gewesen sein, da
der Anzeigenmarkt der regionalen Presse Mitte der 90er Jahre wieder besondere Aufmerksamkeit durch die Werbekunden erlangt hat. Dass sie die Auflagen
nicht gefährden könnte war voraussehbar, da die lokalen und regionalen Nutzer
ebenso sehr an Stellen- und Verkaufsinseraten für ihre Stadt oder ihre Region
interessiert sind, als an der Berichterstattung über diesen Raum.
4.5
Zusätzliches Standbein Internet
Der Eintritt der neuen Medien hat die 90er Jahre stark geprägt. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, sei an dieser Stelle erwähnt, dass sowohl
überregionale als auch regionale Zeitungsunternehmen, mit Beteiligungen an
Firmen und Projekten des gesamten neuen Medienspektrums reagiert haben.
Da wir herausgefunden haben, dass sich unter den neuen Medien vor allem
das Internet als Konkurrent des Pressemarkts heraus kristallisiert hat, werden
wir die Reaktion der Presseunternehmen am Beispiel des Internets genauer untersuchen.
Nicht zuletzt durch den rapiden Nutzungsanstieg hat es in Großbritannien ein
starkes Wachstum erlebt.
98
Vgl. Franklin, Bob; Murphy, David, a. a. O., S. 18
4. Absatzmarkt
50
2000000
1800000
1600000
1400000
1200000
1000000
800000
600000
400000
200000
0
Okt 90 Okt 91 Okt 92 Okt 93 Okt 94 Okt 95 Okt 96 Okt 97 Okt 00
Abbildung 2: Wachstum der Anzahl britischer Internet-Hosts 1990-200099
Die neuen Medientechnologien besitzen im wesentlichen durch drei Schlüsselinnovationen erhebliche Vorteile.
•
Konvergenz: Information kann dem Nutzer in Form von Text, ruhigen
und bewegten Bildern und vertont auf einer Oberfläche präsentiert werden.
•
Daten-Kompression: Internet-Broadcasting und digitaler Rundfunk werden ermöglicht.
•
Interaktivität: Die Medien reagieren in Echtzeit auf gezielte Auswahl
durch den Nutzer und somit auf individuelle Informationsbedürfnisse.100
Es war angesichts des großen Wachstums des Internet zunächst befürchtet
worden, dass die komplette Medienlandschaft durch die neuen Möglichkeiten
für neue Anbieter dezentralisiert werden könnte.
Es stellte sich jedoch heraus, dass es zwar Neueinsteiger durch die Beteiligung
von Kommunikationsfirmen gab, die meisten im Internet etablierten Firmen sich
99
Nach Cornford, James; Robins, Kevin, a. a. O., S.117
100
Vgl. ebd., S. 109
4. Absatzmarkt
51
jedoch schon im traditionellen Medienmarkt etabliert hatten, oder bekannte
Software- und Telekommunikationsfirmen sind.101
Mitte der 90er Jahre fing die Zeitungsindustrie an, das Internet nicht länger als
Konkurrenz oder Bedrohung zu betrachten, sondern als Mittel, das auch von
den traditionellen Medien genutzt werden kann. Auch der Rundfunk bediente
sich selbstverständlich der neuen Medien, so dass sich schon allein aus diesem
Grund die Notwendigkeit für die Zeitungen ergab, sich ihnen ebenfalls zuzuwenden.
Durch die Nutzung der neuen Möglichkeiten, die es zur innovativen Präsentation traditioneller Inhalte und zur Diversifizierung des Angebotes bietet, stellt das
Internet eine neue Möglichkeit zur Produktdifferenzierung dar, die sich aus dem
traditionellen Marktfeld heraus bewegt. Durch seine Interaktivität können Angebote zielgruppengerechter zugänglich gemacht werden und das traditionelle
Distributionsproblem der Zeitungen erübrigt sich.
Daneben ergeben sich durch die Nutzung des Internets durch traditionelle Medien auch neue und zum Teil attraktivere Möglichkeiten für die Werbeindustrie.
Von Anfang an war klar, dass die relativ hohen Kosten102, die die Unternehmen
in die Herstellung und Pflege einer hochwertigen Web Site investieren mussten,
zunächst vor allem durch Werbung gedeckt werden müssten, bevor eventuell
mit verschiedenen Dienstleistungen Geld verdient würde.
Zuerst traten mit News International, Associated Newspapers, Guardian Media
Group und Hollinger die größten Zeitungsunternehmen in den neuen Markt ein.
Die erste elektronische Zeitung war der Electronic Telegraph, eine OnlineVersion des Daily und des Sunday Telegraph. Sie wurde 1994 gestartet und
konnte 1997 täglich schon 350 000 Leser verzeichnen, was somit die knappe
Hälfte der durchschnittlichen täglichen Print-Auflage des Daily Telegraph von
710 000 ausmachte.
101
Vgl. Cornford, James; Robins, Kevin, a. a. O., S. 112
102
laut Cornford und Robins werden diese auf $ 3,1 Mio. pro Jahr geschätzt
4. Absatzmarkt
52
1997 wurde den Zeitungen noch ein zu starker Wiederverwertungsgrad der
Print-Ausgabe vorgeworfen.103 Es fanden allerdings zu dieser Zeit Anstrengungen der Zeitungsindustrie statt, die interaktiven Möglichkeiten besser zu nutzen.
Ein Beispiel hierfür ist die Entstehung der Web Site GuardianUnlimited104, die
neben den aktuellen Nachrichten Jobangebote der Print-Ausgabe suchbar
macht105 und zahlreiche weitere Rubriken enthält, die mit Diensten verknüpft
sind.
News Corporation, der international tätige Dachkonzern Murdochs, gründete die
Tochterfirma News Networks, die verschiedene Internetdienste und die Titel
News Internationals online anbot. Allerdings konnten die Titel im Internet wirtschaftlich bis jetzt keine großen Erfolge erzielen, was dazu führt, dass in letzter
Zeit wieder heftig über die Anforderungen an Web Sites von Zeitungen hinsichtlich der Tiefe und Breite des Angebotsspektrums diskutiert wird.
Im März 1998 lag die Web Site der Times, was die Anzahl der in diesem Monat
in Großbritannien erfolgten Seitenanrufe betrifft, an achter Stelle. Sie hatte aber
nur 5,208 Mio. Aufrufe zu verzeichnen, im Vergleich zum Anführer der Skala,
der BBC, mit 66,705 Mio. Aufrufen, und zum Unternehmen Associated
Newspapers, das mit 12,618 Mio. Aufrufen an vierter Stelle lag.106
Ein Problem, das für überregionale Unternehmen auftritt, ist, dass sie die Bindung zu den Lesern nur durch das Bestehen einer Markenidentität erhalten
können. Dies kann durch eine Verknüpfung zwischen Print- und OnlineAngeboten geschehen, z. B. durch einen Hinweis auf die Web Site am Ende eines gedruckten Zeitungsartikels. Besonders leicht fällt diese klare Orientierung
Unternehmen, die höchstens zwei überregionale Titel auf dem Markt haben, wie
z. B. den Guardian und den Observer.107
103
Vgl. Bromley, Michael; Tumber, Howard: From Fleet Street to cyberspace: The British “popular” press in the late twentieth century. In: Communications. The European Journal of
communication research, Berlin, 1997, H. 3, S. 366
104
URL: http://guardian.co.uk, Zugriff am 06.10.2002
105
URL: http://jobs.guardian.co.uk, Zugriff am 06.10.2002
106
Vgl. Cornford, James; Robins, Kevin, a. a. O., S. 120
107
Vgl. ebd.
4. Absatzmarkt
53
Wesentlich schwerer ist dies zum Beispiel für die Zeitungen News Internationals, da die Firma im Tabloid- und zusätzlich im Broadsheet-Sektor tätig ist.
Die Regionalpresse machte etwas später den Schritt ins Internet. Dies hatte
den Vorteil, dass die Technologie schon ausgereifter war, und mehr Geldgeber
bereit, ins Internet zu investieren. Die regionalen Zeitungen im Internet verfügen
im Gegensatz zu den überregionalen Blättern über den Vorteil einer stärkeren
Nähe zum Leser und zu den Werbekunden. Dies machte die lokalen Portale,
die meist von Allianzen mehrerer Regionalzeitungen aufgebaut wurden, in kurzer Zeit außerordentlich erfolgreich.
Das bekannteste regionale Internetportal ist Fish4108. Es wurde aufgebaut von
den fünf regionalen Zeitungsverlagen Newsquest Media Group, Northcliffe
Newspapers Group Limited, Trinity Mirror plc, Guardian Media Group Regional
Newspapers und Regional Independent Media Group plc.. Das Portal stellt Anzeigen zum Automobilmarkt, zur Haus- und Jobsuche zur Verfügung. Dabei
greift es auf die Datenbanken der teilnehmenden Zeitungsverlage zu, aber auch
auf die von neun weiteren regionalen Teilnehmern, die fish4 ihre Dienste und
Datenbanken anbieten.
Seine Popularität wächst in hohem Maße, wodurch das Konzept von Fish4 bestätigt wird. Konnte das Portal 1999 noch 1,8 Mio. Seitenaufrufe verzeichnen, so
lag die Anzahl der Seitenaufrufe 2000 bei 18,9 Mio..109
Die regionalen Zeitungsverlage scheinen die Wichtigkeit darin erkannt zu haben, im Internet Allianzen zu gründen. So können Dienste in einer Bandbreite
und Tiefe angeboten werden, die Internetauftritte von Zeitungen wirtschaftlich
wirklich sinnvoll macht.
Im übrigen wird dabei der Absatz im Print-Bereich der Unternehmen nicht gefährdet, sondern die gedruckten Zeitungsausgaben tatsächlich ergänzt, da die
Portale eine andere Nische füllen und nicht nur eine Online-Version darstellen.
108
URL: http://fish4.co.uk, Zugriff am 10.10.2002
109
Vgl. ebd., Zugriff am 10.10.2002
4. Absatzmarkt
54
Letzterer Aspekt wird, neben der Schwierigkeit, eine Markenbindung der Nutzer
zu erreichen, als Hauptproblem der Online-Angebote der meisten überregionalen Zeitungen gesehen. Nur wenige von ihnen erfüllen diese Nischenfunktion,
da die meisten ihr Angebot interaktiver Dienste nicht genügend auf thematische
Vielfalt und Tiefe hin ausgebaut haben.110 Viele Internetauftritte überregionaler
Zeitungen stellen somit keine Ergänzung zur gedruckten Zeitung dar. Wenn der
Internetauftritt einer Zeitung lediglich die Online-Version der gedruckten Exemplare anbietet, wird sie für viele Leser, da sie ja nicht kostenpflichtig ist, den Kauf
der Print-Ausgaben ersetzen und somit den Absatz schwächen.
Auch durch die direkte Konkurrenz der anderen im Internet tätigen klassischen
Medienunternehmen, wie z. B. die BBC, ITV und die anderen überregionalen
Zeitungen, ist es für die Titel der überregionalen Presse schwieriger, sich überzeugend mit ihren jeweiligen Marken zu profilieren. Allerdings ist durch die
große Konkurrenz in diesem Markt kaum denkbar, dass sich mehrere Unternehmen
über
die
überregionalen
Titel
jemals
zu
einer
Allianz
zusammenschließen würden.
Es wird allerdings für die gesamte Zeitungsindustrie wichtig sein, ihre Position
im Internet, sowie in den anderen neuen Medien, weiter auszubauen, um im
Medienmarkt wettbewerbsfähig bleiben zu können.
110
Vgl. O. Verf. (8): Why Tunbridge Wells matters. Fassung vom 14.02.2000. URL:
http://guardian.co.uk/newmedia/story/0,3605,233733,00.html, Zugriff am 05.10.2002
5. Anzeigenmarkt
5.
Anzeigenmarkt
5.1
Einfluss auf den Zeitungsmarkt
55
Die Beziehung zwischen der Werbung und den Medien, in unserem Falle dem
Anzeigenmarkt und dem Zeitungsmarkt, ist symbiotisch.
Allerdings ist das Maß der Abhängigkeit der überregionalen Zeitungen vom Anzeigenmarkt verschieden gelagert. Besonders abhängig sind per se die
regionalen und überregionalen Gratisblätter, da sie ausschließlich über Werbung finanziert werden. Auf sie folgen im überregionalen Markt an zweiter Stelle
die Broadsheets und an dritter die Tabloids. Letztere beziehen 20% ihrer Einnahmen aus der Werbung, die Broadsheets indessen 60%.111 Die Titel des
mittleren Marktsegments sind, durch ihre äußere Aufmachung ähnlich wie die
Tabloids, stärker vom Absatzmarkt abhängig.
Die Segmentierung des überregionalen Zeitungsmarkts spiegelt sich, wie wir
festgestellt haben, im Bestehen verschiedener sozialer Schichten mit verschiedenem Konsumverhalten wieder. Die Werbeindustrie orientiert sich an diesem
Muster. Neben dem Bezug auf soziale Schichten spielt dabei auch die Erreichung von Konsumenten weiterer Merkmale, wie z. B. Hausfrauen, eine Rolle.
Die Zeitungsnutzung solcher Gruppen wird von den „Media Independents“
selbst und von der Marktforschung ermittelt. „Media Independents“ werden jedoch als Werbeagenturen durch die Auftraggeber bevorzugt, da sie auf die
Medienbranche spezialisiert sind.112
Da die Broadsheets einen hohen Anteil an Lesern höherer sozialer Schichten
und somit höherer Einkommensgruppen haben, sind sie in der Lage, Werbeflächen zu höheren Raten zu verkaufen und somit den Großteil ihrer
Gesamteinnahmen darüber zu beziehen. Dies liegt daran, dass sie der Werbeindustrie die optimale Werbefläche bieten, um diese Zielgruppen zu erreichen.
111
Vgl. Sparks, Colin, a. a. O., S. 53
112
Vgl. Meech, Peter, a. a. O., S.28
5. Anzeigenmarkt
56
Dagegen kann das Argument eingewandt werden, dass z. B. die Sun durch ihre
hohen Auflagen doch ebenfalls zahlreiche Leser aus den höheren Schichten
haben wird.
Ein weiterer Faktor, der zu dem hohen Anteil an A- und B-Lesern bei den
Broadsheets für die Werbeindustrie hinzukommt, ist jedoch auch das Format,
das Layout und die Inhalte der Zeitungen. Sie sollten die Werbebotschaft optimal transportieren und unterstreichen können, anstatt womöglich von ihr
abzulenken.113
Dasselbe gilt wiederum für die Bewerbung alltäglicher Konsumgüter. Die Werbeindustrie bevorzugt hierfür die Tabloids und die Titel des mittleren Segments,
da sie ein Massenpublikum erreichen will, die angesprochenen Zielgruppen vor
allem in diesem Segment zu finden sind und das Layout für die Werbebotschaft
passender ist.
Ein Fallbeispiel für die Wichtigkeit der redaktionellen Gestaltung und des Layouts für die Werbeindustrie, sowie für die hohe Bedeutung des Anzeigenmarkts
für die Zeitungen, bot 1987 die Umgestaltung des Daily Star. Um mehr Leser zu
gewinnen, enthielt nun jeder Titel ein Oben-ohne-Foto eines Models. Daraufhin
zogen mehrere Supermarktketten wie z. B. Tesco oder Sainsbury’s ihre Werbung zurück, da sie nicht davon ausgingen, dass ihre hauptsächliche
Zielgruppe, die Hausfrauen, weiterhin zur Leserschaft dieses Titels gehören
würden. Die Zeitung war gezwungen, ihre Umgestaltung wieder zurück zu ziehen, da dadurch erhebliche Verluste ihrer Einnahmen durch Werbung
entstanden wären.
Unterstrichen wird die Aussagekraft des Beispiels durch die Tatsache, dass der
Daily Star als Zeitung des mittleren Marktsegments abhängiger vom Absatzmarkt ist.
113
Vgl. Meech, Peter, a. a. O., S. 35
5. Anzeigenmarkt
57
Die Regionalpresse bezieht etwa drei Viertel ihrer Einnahmen über den Anzeigenmarkt.114
Sie
spielt
überwiegend
für
die
regionale
Industrie
als
Werbeplattform eine besondere Rolle.
Durch die schon seit Jahrzehnten sinkenden Auflagenzahlen ist die Abhängigkeit der Regionalzeitungen vom Anzeigenmarkt noch größer geworden.
Die viel engeren Bindungen der Regionalpresse zur regionalen und lokalen Industrie, was die Werbung angeht, zeigen sich an einem besonderen
Phänomen: dem „advertorial“. Wie schon beschrieben ist dies Werbung, die innerhalb eines Zeitungsartikels versteckt wird. Diese Form von Werbung ist
allerdings bei zahlreichen Journalisten unpopulär. Außerdem verlangt der Sales
Promotion Code eine klare Unterscheidbarkeit zwischen Textteil und Werbung.
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass der Anzeigenmarkt der Zeitungen,
im Gegensatz zur Werbung in Radio und Fernsehen, keiner staatlichen Kontrolle unterliegt.
5.2
Entwicklung
Der Pressemarkt besitzt den höchsten Anteil der jährlichen Medieneinnahmen
durch Werbung. Die regionale Presse hat die zweithöchsten Werbeeinnahmen
nach dem Fernsehmarkt.
114
Vgl. Meech, Peter, a. a. O., S. 32
5. Anzeigenmarkt
58
6%
4% 1% 1%
Cinema
Internet
6%
28%
Television
Regional New spapers
6%
National New spapers
Magazines
Directories
14%
Direct Mail
Posters
19%
Radio
15%
Abbildung 3: Verteilung des britischen Werbevolumens 2000 auf Medientypen115
Der Anteil der Presse am Gesamtwerbevolumen nahm seit Mitte der 80er
gleichmäßig ab, obwohl die Einnahmen wuchsen. Die Regionalpresse hatte
z. B. 1980 noch über einen Anteil von 25,8% verfügt.116
Ein proportional gesehen sehr großes Werbewachstum gegenüber allen anderen Medien erfuhren zwischen 1985 und 1996 jedoch die Werbeträger Radio
und Kino. Beide Werbeanteile haben sich in dieser Zeit verdoppelt. Der des
Fernsehens stieg zwischen 1985 und 1996 nur um 0,6% an. Dennoch blieb die
Presse als „beliebtester“ Werbeträger unangefochten.117
Inwieweit das Internet das Spektrum der Werbeträger beeinflussen wird konnte
noch nicht genau gemessen werden.118 Es steht aber außer Frage, dass es vor
allem für den Werbemarkt eine höchst attraktive Plattform darstellt. Allein schon
aus dem Grund, dass übers Internet Zielgruppen gezielter ermittelt werden
können und so auch reaktive Werbung betrieben werden kann. Über ihre Internet-Auftritte werden die Zeitungen davon sehr profitieren können.
Der Anzeigenmarkt der britischen Presse ist aufgeteilt in zwei Arten von Werbung:
115
Nach: O. Verf. (9): The UK Media Advertising Expenditure 2000. In: JICREG Intelligence Unit
factsheet, Ausgabe Nr. 42 vom 08.2000
116
Vgl. Franklin, Bob; Murphy, David, a. a. O., S. 11
117
Vgl. Meech, Peter, a. a. O., S. 32 f.
118
Vgl. O. Verf. (2), a. a. O., S. 219
5. Anzeigenmarkt
59
•
Display advertising: Werbeanzeigen von Firmen
•
Classified advertising: Anzeigen von Firmen oder Privatpersonen, die direkt in Verbindung mit einem Angebot geschalten werden, wie z. B.
Verkaufsanzeigen für Autos und Häuser oder Stellenanzeigen
Bei den regionalen Zeitungstiteln nehmen die Anzeigen des classified advertising etwa zwei Drittel ihrer Werbefläche ein. Der Anzeigenmarkt der
überregionalen Presse wird hingegen zu etwa drei Vierteln von Anzeigen des
display advertising beherrscht.119
Die Werbeindustrie, somit auch der Anzeigenmarkt, reagiert sehr empfindlich
auf Wirtschaftsschwankungen. Da zwischen dem Werbebudget von Firmen und
der Konjunktur eine direkte Verbindung besteht, wirken sich Schwankungen direkt auf den Anzeigenmarkt aus, besonders auf den Bereich des classified
advertising, während zum Absatzmarkt nur eine indirekte Verbindung besteht.
Eine Rezession in den frühen 90er Jahren in Großbritannien führte so ebenfalls
zu einer Rezession des Anzeigenmarkts, von der er sich nur langsam erholte.
Mitte der 90er Jahre kam es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, durch den
wieder das Werbevolumen der Jahre 1988 und 1989 erreicht wurde.
119
Vgl. O. Verf. (10): World press trends 2001. Paris: World Association of Newspapers, 2001,
S. 221
5. Anzeigenmarkt
60
6
5
4
3
2
1
19
85
19
86
19
87
19
88
19
89
19
90
19
91
19
92
19
93
19
94
19
95
19
96
19
97
19
98
19
99
20
00
0
Abbildung 4: Entwicklung des jährl. Werbevolumens der Tagespresse in Mio. Pfund120
Neben einer sehr erfolgreichen Diversifizierung in die neuen Medien hinein fand
auch was den Anzeigenmarkt betrifft Mitte der 90er für die Regionalpresse ein
großer Wandel statt. Dieser hing wiederum mit der starken Konzentration und
Konsolidierung des regionalen Pressemarkts zusammen, die 1995 neue Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Wirtschaft für diesen
Mediensektor weckten.
Daraufhin wurde in den folgenden zwei Jahren durch die Newspaper Society
die umfangreichste konzeptuelle Restrukturierung in der Geschichte der Regionalpresse eingeleitet, die auch einen Wandel der Marketingkonzepte bedeutete.
So wurde zum einen das Forschungsinstitut JICREG gegründet, das die Leserschaft genauer untersuchen und Entwicklungen stichhaltiger feststellen sollte.
Zum anderen sollte durch erhebliches Engagement die neue Aufmerksamkeit
der Wirtschaft genutzt werden, indem nationale und internationale Firmen für
120
Nach Meech, Peter, a. a. O., S. 33
5. Anzeigenmarkt
61
den regionalen Anzeigenmarkt angeworben werden sollten. Dabei wurde die
der besondere Vorteil der Regionalpresse durch ihre räumliche und damit geistige Nähe zu den potenziellen Konsumenten betont.121
Es konnten dadurch mehrere Unternehmen gewonnen werden. Z. B. wurden
mit den Ölgiganten BP und Mobil für 40 regionale Titel Werbeverträge abgeschlossen.122 Bemerkenswert ist auch, dass Mitte 1999 bis Mitte 2000 der
deutsche Discounter Lidl der größte Anzeigenkunde der britischen Regionalpresse war.123
Somit war dieser Prozess ein wichtiger Impuls für den Werbemarkt der Regionalpresse, wenn auch weiterhin der Einzelhandel ihr wichtigster Werbekunde
blieb.
Trotz des Tiefschlags der New Economy, der die Wirtschaft verunsicherte,
konnte die gesamte britische Tagespresse im Jahr 2000 große Gewinne ihrer
Werbeeinnahmen verzeichnen. Von 1999 zu 2000 erhöhten sie sich bei den
überregionalen Titeln um 14, 9%, bei den regionalen um 7,9%.124
Dies sollte allerdings den Höhepunkt der Werbeeinnahmen für die nächsten
Jahre darstellen, da das wirtschaftliche Klima auf der ganzen Welt durch den
Anschlag am 11. September erheblich geschwächt wurde. Aus Unsicherheit,
die sich während des Afghanistan-Kriegs fortsetzte, kürzten die meisten Firmen
ihre Werbebudgets.
Diese Reaktion löste einen schlagartigen Einbruch des Anzeigenmarkts aus,
dem die Marktforscher mindestens ein weiteres Jahr guten Wachstums prophezeit hatten. Der Anzeigenmarkt sollte laut dem IP Status Report 2001 ein
Wachstum von 8,6% bei den überregionalen und 3,8% bei den regionalen Ti-
121
Vgl. O. Verf. (11): The Regional Press struggles for respect. In: Campaign. Ausgabe vom
20.06.1997
122
Vgl. ebd.
123
Vgl. O. Verf. (12): Die Konzentration der Regionalzeitungen hat Früchte getragen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ausgabe vom: 02.01.2001
124
Vgl. O. Verf. (13): Status Report 2001. Advertising and the economy. Vol. 2. Köln: IP
Deutschland, 2001, S. 82
5. Anzeigenmarkt
62
teln,125 erfahren. Nach dem September war klar, dass diese Prognose sich nicht
erfüllen würde.
Der Guardian z. B. baute 35 Personalstellen ab. Der Daily Mirror musste mit einem Bruttoverlust von 35 Mio. Pfund rechnen, gegenüber einem Zugewinn von
154,1 Mio. Pfund im Jahr 2000.126
Die Regionalpresse war der einzige Marktsektor des gesamten Medienmarkts,
der seine Werbeeinnahmen 2001, mit einem Zugewinn von 2,6% gegenüber
2000, steigern konnte,127 was ein Beleg dafür ist, dass die regionalen und lokalen Leser, durch die enge Bindung zu den Titeln, für die Werbung wertvolle
Nutzer sind. Dies gilt im übrigen auch für den Werbemarkt im Internet.
Zenith Media prophezeien ein weiteres Schrumpfen des Anzeigenmarkts bis
2004, das sich aber langsam abschwächen soll. Demnach sollen, nach einem
Abfallen der Werbeeinnahmen 2001 um 6,1%, 2002 ein weiteres Sinken um
3,6% und 2003 nur noch eine Abschwächung um 0,4% stattfinden.
Auch der regionale Pressemarkt wird laut Zenith Media nicht nur eine Schrumpfung des Einnahmewachstums aus dem Anzeigenmarkt erfahren, sondern
ebenfalls Einnahmeverluste.128 Es wäre kaum verwunderlich, angesichts der
starken Abhängigkeit der Regionalpresse vom classified advertising, das wiederum sehr stark konjunkturabhängig ist.
125
Vgl. O. Verf. (13), a. a. O., S. 82
126
Vgl. O. Verf. (14): Ad slump forces Guardian to shed staff. Fassung vom 15.01.2002 URL:
http://media.guardian.co.uk/advertising/story/0,7492,633981,00.html, Zugriff am 28.07.2002
127
128
Vgl. O. Verf. (3), a. a. O.
Vgl. Cozens, Claire: Zenith cautious on ad upturn. In: The Guardian. Ausgabe vom
16.04.2002
6. Unternehmenskonzentration
6.
63
Unternehmenskonzentration
Die meisten britischen Presseunternehmen sind national und international auch
auf anderen Sektoren tätig, somit in der Regel relativ große Medienkonzerne.
Selbst die meisten Verlage der Regionalpresse gehören heutzutage großen
Konzernen an.
Vor allem durch den technischen Fortschritt in den 80er Jahren spielte die Konzentration dieser Unternehmen innerhalb und außerhalb des Pressemarkts in
den 90er Jahren eine immer größere Rolle, auch auf internationaler Ebene. Die
Entstehung und Etablierung der neuen Medien verstärkten diese Expansionsinteressen umso mehr.
Es existieren folgende vier Arten der Medienkonzentration:
•
Horizontale Konzentration bezieht sich auf Konzentrationsprozesse innerhalb eines Mediensektors. Ein typisches Beispiel hierfür wäre das
Zusammengehen zweier Zeitungsverlage im selben geographischen
Markt. Diese Konzentrationsform bewirkt einen hohen Marktanteil und
oligopolistische Profite.
•
Vertikale Konzentration ist die Integration von Unternehmen, die an
verschiedenen Produktionsstufen des selben Produkts beteiligt sind.
Durch vereinfachte Planungsprozesse erhält das Dachunternehmen einen Marktvorteil.
•
Durch Cross-media-Konzentration kontrolliert ein Medienunternehmen
mehrere Medienprodukte in verschiedenen Medienmärkten. Sie ermöglicht den Unternehmen Cross-Marketing, die Rationalisierung von
Produktionskosten und eine stärkere Marktposition.
• Diagonale oder konglomeratartige Konzentration bezieht sich auf die
Integration eines Medienunternehmens in ein Unternehmen eines ande-
6. Unternehmenskonzentration
64
ren ökonomischen Sektors. Finanzielle und ökonomische Macht eines
Unternehmens kann dadurch erhöht werden. 129
6.1
Vielfaltsicherung contra Wirtschaftsinteressen
Den überregionalen Pressemarkt, sowie den gesamten Medienmarkt Großbritanniens, charakterisiert eine sehr starke Eigentumskonzentration. 1996
kontrollierten die vier führenden überregionalen Presseunternehmen 88% des
Markts, das heißt sieben von acht Exemplaren, die verkauft wurden.130
Ein Markt mit diesem Maß an Konzentration kann als Oligopol bezeichnet werden, das heißt als Markt, der durch eine sehr geringe Anzahl von Unternehmen
dominiert wird.131
Ein Problem, das in dieser Marktform besteht, ist, dass es neue Unternehmen
schwer haben, mit neuen Produkten in den überregionalen Pressemarkt einzutreten. Dies würde Innovationen antreiben, zu einer automatischen ständigen
Preisregulierung führen und das längerfristige Entstehen von Oligopolen wiederum vermeiden. Die übliche Methode des Eintritts neuer Unternehmen in den
Markt ist somit die Übernahme eines schon bestehenden Unternehmens, wobei
kein neues Produkt entsteht.
Für die Unternehmen, die erfolgreich im Zeitungsmarkt etabliert sind und ihn
dominieren, bedeutet dieser Zustand eine Erhöhung ihrer politischen Macht, die
durch ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung entsteht. Diese politische Macht
kann ihnen zu weiterer wirtschaftlicher Macht und Erfolg verhelfen, indem sie
damit die Regierung zur Erreichung ihrer wirtschaftlichen Interessen unter
Druck setzen.
129
Vgl. Meier, Werner A.; Trappel, Josef: Media concentration and the public interest. In: Media
policy. Convergence, concentration and commerce. Denis MacQuail; Siune, Karen (ed.) London: Sage, 1998, S. 38
130
Dewall, Gustaf von, a. a. O., S. 171
131
Sparks, Colin, a. a. O., S. 48
6. Unternehmenskonzentration
65
Kritiker sehen den Zustand des Oligopols durch die daraus entstehende Einschränkung der Meinungsvielfalt der Presse als äußerst gefährdend für die freie
Meinungsbildung der Bevölkerung und die Demokratie an.132
Ein starker Konzentrationsprozess im britischen Medienmarkt, der zu dieser Situation des überregionalen Pressemarkts beitrug, konnte schon in den 70er und
80er Jahren durch zahlreiche Aufkäufe, Fusionen oder das Verschwinden von
Konkurrenten aus dem Markt festgestellt werden.
Wie wir bereits festgestellt haben, hatte dies mit einer sehr lockeren Handhabung des Kartellrechts durch die Regierung zu tun.
Der entscheidende Grund für die Ermöglichung dieses Prozesses liegt allerdings im damaligen Kartellrecht selbst, das erst 1990 verschärft wurde.
Fusionen im Medienmarkt, sowie in der gesamten britischen Wirtschaft, sollten
durch den Fair Trading Act von 1973 reguliert werden. Die Kontrolle übte hierbei
die
Monopolies
and
Mergers
Commission
(MMC),
die
britische
Kartellbehörde, in Zusammenarbeit mit dem Handelsminister aus.
Der Mangel an diesem Gesetz, welcher zu einer unerwünscht hohen Konzentrationsrate führte, lag in einer Ausnahmeregelung, nach der der Minister ohne
Konsultation der MMC einer Fusion zustimmen konnte, wenn der den übernommenen Zeitungsverlag wirtschaftlich als nicht überlebensfähig erachtete.133
Die Einführung von Cross-Ownership-Rules durch den Broadcasting Act von
1990 war ein wichtiger Schritt, den zunehmenden Konzentrationsgrad der Presse- und Medienindustrie zu kontrollieren. Sie regelten Beteiligungen von
Medienunternehmen an Unternehmen eines anderen Mediensektors anhand
jeweiliger prozentualer Festlegungen des erlaubten Grades, an die die einzelnen Unternehmen sich zu halten hatten.134
132
Meier, Werner A.; Trappel, Josef, a. a. O., S. 38
133
Vgl. Doyle, Gillian: Konzentrationsregeln im Konflikt mit wirtschaftlichen Interessen: Debatte
um Medienverflechtungen in Großbritannien. In: Media Perspektiven, Frankfurt a. M., 1995, H.
3, S.142
134
Vgl. Stock, M.; Röper, H.; Holznagel, B.: Medienmarkt und Meinungsmacht. Zur Neuregelung der Konzentrationskontrolle in Deutschland und Großbritannien. Berlin u. a.: Springer,
1997, S. 129 f.
6. Unternehmenskonzentration
66
So sollte nun anhand zweier Gesetze die exzessive Konzentration im Medienbesitz verhindert werden, obgleich dies nicht immer gelang. Die Ballung eines
großen Teils britischer Medien in der Hand Murdochs australischer News Corporation gab sowohl innerhalb als auch außerhalb der Medienindustrie Anlass
zur Sorge.135
Mitte der 90er Jahre brach im unmittelbaren Umfeld der Medienunternehmen,
allerdings auch in der Öffentlichkeit, eine äußerst konfliktreiche Debatte aus.
Das Dilemma zwischen den kommerziellen Ambitionen der meisten Unternehmen auf der einen Seite und sozialpolitischen und kulturellen Anliegen auf der
anderen Seite spitzte sich zu.
Diese Diskussion wurde vor allem durch die außerdem zunehmende vertikale
Konzentration zu transnationalen Medienorganisationen ausgelöst, die wiederum durch die Konvergenz im Telekommunikationsbereich angeregt wurde. Es
kam zu Überlegungen der Unternehmen zu den Chancen der einheimischen
Medienindustrie.
Viele traditionelle Grenzen zwischen den Mediensektoren Presse, Rundfunk
usw., die bislang auch vor Konkurrenz aus dem Ausland schützen konnten,
verschwammen seit Anfang der 90er Jahre immer stärker, angesichts eines
immer einheitlicheren europäischen Markts und der technologischen Entwicklungen.
So setzten sich vor allem die großen Zeitungsgruppen für größtmögliche
Flexibilität in der Medienkonzentration ein, und damit für eine Lösung der
bestehenden gesetzlichen Restriktionen. Schon allein aus kommerziellem
Selbstinteresse unterstützte auch der Werbemarkt diese Forderung.
Gewerkschaften, Lobbygruppen und kleinere Medienfirmen waren selbstverständlich für den Erhalt der bestehenden Kartellgesetze.136
Der britische Gesetzgeber war angesichts des zunehmenden Drucks von Seiten der Medienindustrie gezwungen, zwischen dem Erhalt einer größeren
135
Vgl. Doyle, Gillian, a. a. O., S. 142
136
Vgl. ebd., S. 145
6. Unternehmenskonzentration
67
Meinungsvielfalt, und damit auch der Begrenzung der politischen und wirtschaftlichen Macht der Presse und der anderen Medien einerseits, und der
notwendigen Weltmarktfähigkeit der britischen Medienindustrie andererseits,
abzuwägen.
Er entschied, dass der Standortaspekt gegenüber dem Vielfaltgebot überwiegen sollte und verabschiedete 1996 einen neuen Broadcasting Act,137 der die
mehrjährige Diskussion über eine Lockerung der Konzentrationsregeln zu einem Abschluss brachte.
Das neue Gesetz enthält vor allem eine Lockerung der Cross-Ownership-Rules,
die nur noch besonders auflagenstarken Zeitungsunternehmen verweigern, sich
an Rundfunkanstalten zu beteiligen. Die jeweilige Auflagenstärke wird am prozentualen Anteil am Zeitungsmarkt gemessen.
Diese Veränderung bewirkte, dass nun alle Zeitungsgruppen Mehrheitsbeteiligungen
an
privaten
Fernsehsendern
und
weitere
Beteiligungen
am
terrestrischen Rundfunk erwerben konnten. Ausgenommen waren durch die
Marktanteilregelung lediglich News International und die Mirror Group.
Die Verflechtung zwischen Presse und Rundfunk konnte somit weiter verstärkt
werden. Allerdings besteht in der Verhinderung weiterer Ausdehnungen von
News International und der Mirror Group dennoch eine wirksame Kontrolle wesentlicher Kräfte im Medienmarkt.
Die einzige Expansionsmöglichkeit, die der News Corporation im britischen Medienmarkt geblieben ist, ist die Investition in digitales Fernsehen. Aus diesem
Grund setzte sie sich schon 1997 für die Auflösung der in ihren Augen überholten Cross-Ownership-Rules ein.
Dies ging einher mit der politischen Richtungsänderung der Presse Murdochs
und weiterer Eigentümer. Sie erhofften sich offenbar durch die Politik Blairs unter anderem eine schnellere Lockerung der Konzentrationsregeln.
Es wird allgemein gesagt, dass Blair mit einer Initiative in diese Richtung warten
möchte, bis das Euro-Referendum 2003 vorbei ist. Die Presse soll durch ver-
137
Vgl. Stock, M.; Röper, H.; Holznagel, B., a. a. O., S. 145
6. Unternehmenskonzentration
68
mehrte Konzentrationsmöglichkeiten nicht schon davor an gesellschaftlichem
Einfluss gewinnen und die Meinung der Bevölkerung entgegen seine beabsichtigte Euro-Einführung beeinflussen.
6.2
Restrukturierung der Regionalpresse
Die Regionalpresse hat in den 90er Jahren einen sehr prägenden Konzentrationsprozess erfahren.
Die fünf führenden regionalen Zeitungsverlage, darunter Trinity Mirror, Newsquest und Northcliffe, besitzen heutzutage einen regionalen Marktanteil von ca.
50%.138 1995 betrug dieser Marktanteil noch 43%.139
Die Anzahl der regionalen Presseunternehmen wurde von 126 Anfang der 90er
Jahre auf 106 im Jahr 2000 reduziert.140
Ferner besitzen die meisten lokalen Zeitungen in ihren Einzugsgebieten Monopole, welche der britischen Kartellbehörde allerdings als wenig bedenklich
erscheinen.
Die wesentlichen Ereignisse, die radikale Veränderungen der Eigentumsstrukturen im regionalen Pressemarkt auslösten, lassen sich auf die Jahre 1995 und
1996 datieren. Vier der zehn größten Unternehmen der Regionalpresse, deren
Kerngeschäft jedoch außerhalb des regionalen Medienmarkts liegt, zogen sich
in dieser Zeit aus diesem Markt zurück.
Reed Regional Newspapers und Thomson Regional Newspapers, die zwei
größten Gruppen des Markts, wurden durch ihre Mutterkonzerne Reed Elsevier
und Thomson verkauft. Ebenso verkauften Pearson Plc und EMAP ihre lokalen
und regionalen Holdings. Alle vier Konzerne wollten sich zum einen auf ihr
Kerngeschäft konzentrieren, zum anderen international expandieren, so dass
ihre regionalen Verlage nicht mehr zu ihrem Konzept passten.
138
Vgl. O. Verf. (4), a. a. O.
139
Vgl. Curran, James; Seaton, Jean, a. a. O., S. 78
140
ebd.
6. Unternehmenskonzentration
69
Dies führte zu einer Reihe von Übernahmen durch Firmen, die im regionalen
Pressemarkt als „Spezialisten“ bekannt sind, da ihr Geschäftsfeld primär und
meist ausschließlich Regionalzeitungen sind. So kaufte zum Beispiel das Unternehmen Newsquest das gesamte Management von Reed Regional
Newspapers auf. Außerdem erwarb es Westminster Press, den erfolgreichen
ehemaligen Titel von Pearson Plc..
Die Aquisition von Reed Regional Newspapers wurde durch die USamerikanische Kapitalfirma KKR unterstützt. Dass dies die erste Tätigkeit dieser
Firma auf britischem Boden war, machte diese Übernahme besonders bemerkenswert und lenkte plötzlich besondere Aufmerksamkeit der nationalen
Wirtschaft auf die Regionalpresse.
Allein in den Jahren 1996 und 1997 fanden auf dem regionalen Markt insgesamt 20 große Übernahmen mit einem Investitionsvolumen von 1, 4 Mill. Pfund
statt141, und dies scheint nur ein Anfang gewesen zu sein. Aktuelle Zahlen der
Newspaper Society besagen, dass zwischen Oktober 1995 und Oktober 2002
6,5 Mill. Pfund in regionale Übernahmen investiert wurden.142
Als neue Marktführer haben sich Newsquest und Trinity Mirror etabliert. Danach
folgen die Verlage Northcliffe Newspapers und Johnston Press.
Diese vier Unternehmen geben insgesamt genau die Hälfte der insgesamt 1300
Regional- und Lokalzeitungen heraus.
Es entstand somit auf dem regionalen Markt eine völlige Neuordnung mit Unternehmen, die zum Teil ausschließlich auf dem regionalen Zeitungssektor tätig
sind. Dieser Prozess führte zu internen Konsolidierungen und 1997 zu einer
Restrukturierung, die in eine Neuausrichtung der Geschäftskonzepte der Regionalpresse mündete.
Betrachtet man die Vorteile, die diese Entwicklung für verschiedene Geschäftsbereiche der Regionalzeitungen, wie vor allem den Anzeigenmarkt und die
Betätigung im Internet, mit sich gebracht hat, so hat sie die Regionalpresse we-
141
O. Verf. (11), a. a. O.
142
O. Verf. (3), a. a. O.
6. Unternehmenskonzentration
70
sentlich effizienter, zukunftsfähiger und angesichts der hohen Investitionen wirtschaftlich gesünder gemacht.
7. Zusammenfassung und Ausblick
7.
71
Zusammenfassung und Ausblick
Die britische Tagespresse hat sich während der letzten zwölf Jahre in ihren
charakteristischen Eigenschaften keineswegs geändert. Viele dieser Eigenschaften
haben
sich
durch
soziologische
und
wirtschaftliche
Veränderungsprozesse weiter heraus kristallisiert.
Der Kampf um die Leserschaft sowie die weitere Konzentration der Unternehmen haben die Konkurrenz im überregionalen Markt verschärft. Neben einer
unerbittlichen Preispolitik hat dies weitere Versuche der inhaltlichen Differenzierung der einzelnen überregionalen Titel ausgelöst.
Das Motiv der politischen Macht der Besitzer, anhand derer sie versuchen, ihre
wirtschaftlichen Ziele zu verfolgen, zog sich ebenfalls durch die gesamte Untersuchung. Die Frage bleibt, ob dadurch schließlich eine Lockerung des
Kartellrechts erreicht werden wird.
Ferner trat die enge Bindung des regionalen Pressemarkts zur Leserschaft, und
während der 90er Jahre als sein besonderer Vorteil gegenüber dem überregionalen Markt, in den Vordergrund. Diese Entwicklung war verbunden mit drei
grundlegenden Prozessen, die Mitte der 90er Jahre zu einem extremen Wandel
der Regionalpresse führten. Als erster lässt sich die Konzentration und Konsolidierung der Zeitungsverlage anführen. Des weiteren hat der Anzeigenmarkt
einen entscheidenden Impuls durch die darauf folgende Restrukturierung der
gesamten Regionalpresse erfahren. Außerdem hat das Ausbleiben verschärfter
Konkurrenz unter den regionalen Presseunternehmen, eine weitere Charakteristik des regionalen Markts, eine erfolgreiche Diversifizierung des Angebots in
die neuen Medien hinein ermöglicht.
Letztere Entwicklung dürfte als äußerst zukunftsweisend angesehen werden.
Falls den britischen Presseunternehmen tatsächlich durch eine weitere
Lockerung der Kartellgesetze zusätzliche Konzentrationsmöglichkeiten gewährt
werden, was sehr wahrscheinlich ist, kann dies unter anderem zu einer weiteren Entwicklung der harten Konkurrenz im überregionalen Pressemarkt führen.
Allerdings wird eine Weiterverfolgung der während der 90er Jahre angewandten
7. Zusammenfassung und Ausblick
72
preispolitischen und inhaltlichen Strategien, trotz ihrer Wirksamkeit innerhalb
des Pressemarkts, das Problem der abnehmenden Leserschaft im Zeitalter des
Internets nicht mehr befriedigend lösen können.
Die weitere Fragmentierung des Medienmarkts, die durch die neuen Medien
stattgefunden hat, wird einer weiteren Individualisierung der Mediennutzer Vorschub leisten. Die Nutzer werden sich weiter in Zielgruppen aufspalten und
vereinzeln, denen die einzelnen Mediensektoren ein möglichst anspruchsvolles
Angebot bieten müssen. Vor allem die regionale Presse hat diese Herausforderung bis jetzt vorzüglich angenommen und dadurch entsprechenden Auftrieb
bekommen. Weitere neuen Medien sind schon durch die meisten Medienkonzerne und Zeitungsverlage mit britischer Beteiligung strategisch besetzt
worden. Dies sollte auch weiterhin verfolgt werden.
Die Newspaper Society kündigt an, dass der Print-Sektor mindestens in diesem
Jahrzehnt noch das Kerngeschäft der regionalen Zeitungsindustrie bleiben
wird.143 Dies wird mit Sicherheit für den gesamten britischen Pressemarkt gelten, da bis heute kein Medium ein Substitut der Zeitung darstellen kann.
Danach wird wohl viel davon abhängen, ob die Print-Ausgaben der Zeitungsverlage weiterhin stetig gefallen sein werden.
Des weiteren wird in der Medienwissenschaft gar über eine zukünftige völlige
Restrukturierung der britischen Tagespresse durch eine Konvergenz der gesamten Medienindustrie diskutiert.144 Dabei würden den Nutzern ausschließlich
hybride Angebote zur Verfügung gestellt. Die Entwicklungen, die im britischen
Pressemarkt und dessen Umfeld seit den 90er Jahren zu beobachten waren,
lassen diese Vorstellung nicht allzu abwegig erscheinen. Die Tagespresse
kann, sowohl auf regionaler, als auch auf überregionaler Ebene, ihre Angebote
und Stärken optimal in diese neue Form der Präsentation von Inhalten einbringen.
143
Vgl. O. Verf. (3), a. a. O.
144
Vgl. Maier, Werner; Trappel, Josef, a. a. O., S. 58
7. Zusammenfassung und Ausblick
Abbildung 5: Convergence of computing, transmission and content industries145
145
Nach Maier, Werner; Trappel, Josef, a. a. O., S. 58
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Erklärung
79
Erklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbständig angefertigt habe. Es wurden nur die in der Arbeit ausdrücklich benannten Quellen und
Hilfsmittel benutzt. Wörtlich oder sinngemäß übernommenes Gedankengut habe ich als solches kenntlich gemacht.
_________________________
_______________________
Ort, Datum
Unterschrift

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