Der Kreuzweg in St. Theodor, KölnVingst von Alo Renard

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Der Kreuzweg in St. Theodor, KölnVingst von Alo Renard
Der Kreuzweg in St. Theodor, Köln­Vingst
von Alo Renard
Inhalt:
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Geschichte des Kreuzwegs
Gedanken zur Entstehung
Ausführung (Technik)
Beschreibung der einzelnen Szenen
Anmerkungen des Künstlers zur Geschichte und Entstehung des Kreuzwegs
Einzelne Szenen des Kreuzwegs sind schon in bildlicher oder plastischer Form hergestellt worden, seit die bildnerischen Techniken dies ermöglichten. So gibt es unzählige, teils beeindruckende Beispiele – insbesondere von Kreuzigungsszenen. Der Pilgerin Egeria, eine vermutlich spanische Ordensfrau, die im 4. Jahrhundert eine Reise nach Jerusalem machte, wird nachgesagt, dass sie den Gedanken einer Darstellung der Leidensgeschichte erstmals aufgrund persönlicher Erlebnisse in Jerusalem zu Papier brachte, der dazu führte, dass Kaiser Konstantin die heiligen Orte des Lebens Jesu durch Kirchen auszeichnete. Mit Kaiser Konstantin begann auch erstmals die Verehrung des Kreuzes, nachdem dem Sieg an der Milvischen Brücke im Jahr 312 eine Vision vorangegangen war, die zusagte: „In diesem Zeichen wirst du siegen“.
Aber es dauerte noch bis zum 15. Jahrhundert, bis in Görlitz erstmals das Stadtgebiet zu einer Kopie Jerusalems gestaltet wurde. Es gab eine „Via dolorosa“, ein Bachtal diente als „Kidrion“, eine Anhöhe als „Ölberg“, und eine Kopie der Grabeskirche Jerusalems diente als Ziel der Wallfahrt.
Aus diesem Paschaweg entstanden zunächst die sogenannten „Kalvarienberge“, danach im Freien aufgebaute „Kreuzwege“ von ehemals 12 Stationen, die dann ab dem 17. Jahrhundert in die Kirchenräume verlagert wurden und z. T. auf 14 Stationen erweitert wurden.
Auch 2000 Jahre nach dem geschichtlichen Ereignis hat die Faszination nicht nachgelassen, so dass sich fast alle Künstler des 20. Jahrhunderts (zumindest mit Teilen) der Darstellung des Leidenswegs Jesu befassten. Bei der Erstellung des Kreuzwegs, den Sie hier sehen, war mir klar, dass ich nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde. Als ich die Arbeit begann, reizte mich das Thema wegen der Dichte und Komplexität. In vergangenen Jahrhunderten dargestellte Kreuzwege sollten dem „einfachen Volk“, das oft nicht einmal der Sprache mächtig war, in Bildern der Leidensweg näher gebracht werden. Dabei wurden, um die Sache nicht zu kompliziert zu machen, lediglich die Abläufe des geschichtlichen Ereignisses – mal mehr, mal weniger ergreifend – dargestellt. Oftmals gerieten die Darstellungen aber nur verniedlichend, verklärend oder einfach naiv. Erst ab dem 20. Jahrhundert begann man, einen Bezug zur Neuzeit herzustellen, offensichtlich, weil man die sich immer weiter bildende Kluft zwischen der Religion und dem täglichen Leben wieder schließen wollte. Es scheint aber noch immer die Ansicht vorzuherrschen, dass der Kreuzweg nicht dazu dienen soll, das Leiden des Menschen zu meditieren, weil das Elend dann ohne Antwort bleiben würde. Lange Zeit bestand die Intention, dass die glorifizierende Darstellung des Leidens Christi allein das Leiden des Menschen aufhebe und auf Hoffnung hin deute, obwohl bereits Franz von Assisi in der Leidensgeschichte Jesu ein Deutungsschema seines eigenen Lebens und Leidens sah. Also schloss ich mich dem Tenor des 20. Jahrhunderts an und versuchte, eine Verbindung zu heute herzustellen – aber nicht nur zum Jahr der Fertigstellung (2000), sondern ich schaltete die zeitliche Komponente völlig aus, indem ich weder Landschaften, noch Gebäude noch Kleidung darstellte. Die beteiligten Personen sind in einen irrealen, in sich abgeschlossenen Raum versetzt. Jede einzelne Szene erzählt eine eigene Geschichte als Teil des Gesamtablaufs (wobei sowohl die Anzahl als auch die Auswahl und Reihenfolge der einzelnen Stationen nicht mit den liturgischen Stationen übereinstimmen). Dadurch soll vermieden werden, dass der Betrachter die Situation in die Vergangenheit zurückversetzt und aus der Jetztzeit verdrängt, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen.
In der Deutung bin ich bei meinem Kreuzweg den umgekehrten Weg zu Kreuzwegen vergangener Jahrhunderte gegangen und habe ihn zu einem Kreuzweg der Fragen gemacht. Da eine kollektive Änderung der Menschen bei der Betrachtung der Geschichte nicht zu erwarten ist, habe ich mir vorgestellt, dass, wenn jeder Einzelne sich bemühen würde, sein Verhalten an dem christlichen Vorbild zu orientieren, die Welt besser aussehen könnte. Also fragte ich mich bei jedem Schritt: „Wie würdest du in dieser Situation reagieren?“ Durch die (weltliche) Darstellung soll über den Umweg der eigenen Überprüfung des Lebens Bilanz gezogen werden. Aus der isolierten Darstellung der agierenden Personen soll auch die Einsamkeit des Individuums deutlich werden, das sich auf der betroffenen Seite befindet. Diese Einsamkeit beeinträchtigt auch uns bei unseren täglichen Entscheidungen. Die unverklärte, „nackte“ Darstellung erschien mir sinnvoller, als den Abstand durch Verklärung der Ereignisse zu vergrößern und damit die Hoffnung auf Verringerung der eingangs erwähnten Kluft zwischen der Erwartungshaltung der Religion und dem Leben zu vermindern. Die Darstellung komplexer Vorgänge durch wenige Personen führte allerdings dazu, dass vermehrt Symbole zu Hilfe genommen werden mussten, auch wenn sie dadurch der Interpretation bedürfen. Mit dem anhängenden Blatt möchte ich deshalb einige Gedanken wiedergeben, die Hintergrund der Darstellung waren. Der Betrachter ist aufgefordert, die versteckte Symbolik zu erkunden.
Der Kreuzweg wird heute Tag für Tag gegangen. Wir quälen und denunzieren, verraten und verleugnen immer wieder, so, als hätten wir die Botschaft Jesu nicht verstanden. Bei dem dargestellten Leid soll aber Hoffnung übrigbleiben und die Erkenntnis, dass man auch mit kleinen und kleinsten Schritte den Strom der Gleichgültigkeit verlangsamen kann. Alo Renard
Die Leidensgeschichte Jesu ­ Kreuzweg in St. Theodor, Köln­Vingst
Der Kreuzweg von Alo Renard stellt 16 Szenen auf 15 Bildern dar und hat damit drei Stationen mehr als der traditionelle Kreuzweg. Die drei ersten Szenen sowie die Geißelung sind den Evangelien entnommen und eingefügt worden, um den Ablauf von der Verhaftung Jesu bis zur Grablegung vollständig zu erfassen. Bei der Erstellung des Kreuzwegs unterstützten die Künstler Joseph Höntgesberg und Jürgen Grümmer sowie die Pfarrer Alf Spröde und Franz Meurer die Arbeit von Alo Renard mit künstlerischen und theologischen Anregungen.
Um einen Bezug zwischen dem Ereignis vor zweitausend Jahren und heute darstellen zu können, hat Alo Renard die geschichtlichen Ereignisse weitgehend in den Hintergrund treten lassen und die religiösen Elemente durch Symbole ersetzt. Die beteiligten Personen sind in einen irrealen, in sich abgeschlossenen Raum versetzt. Jede Szene erzählt eine eigene Geschichte als Teil des Gesamtablaufs. Bis auf die „Sterbeszene“ am Kreuz sind Landschaftsteile, wenn überhaupt, nur als Fragmente enthalten und haben lediglich symbolischen Charakter. Dadurch soll vermieden werden, dass der Betrachter die Situationen in die Vergangenheit zurückversetzt und aus der Jetztzeit verdrängt, um sich nicht damit persönlich auseinandersetzen zu müssen. Jede einzelne Szene spiegelt uns umgebende persönliche Konflikte in unseren Alltag wider und legt die psychologischen Situationen, in denen wir uns immer wieder befinden, bloß.
Die dargestellten Figuren wurden weitgehend unbekleidet dargestellt um einerseits den Ausdruck und die Verletzlichkeit zu steigern, andererseits aber auch durch die zeitliche Neutralität einen besseren Zugang in der heutigen Zeit zu erreichen.
Die Kreuzigung und der Weg dahin werden heute Tag für Tag gegangen. Wir quälen und denunzieren, verraten und verleugnen jeden Tag aufs Neue, nur sind die historischen Figuren durch Menschen ersetzt, die uns im Alltag begegnen.
Im Gegenzug wird auf den Bildern die Einsamkeit des Individuums deutlich, das sich auf der betroffenen Seite befindet. Das Leid ist nur bedingt nachzuempfinden und uns gleichgültig geworden, sofern es uns nicht betrifft.
Der Kreuzweg soll uns das Leiden Christi nicht nur als das Leiden eines anderen, uns fremden Menschen deutlich machen, sondern auch das Leid der Menschen heute. Durch die stark abgegrenzten Einzelereignisse kann die jeweilige Situation besser nachvollzogen werden. Der Kreuzweg soll uns klarmachen, welch einem enormen Druck das Individuum durch die Allgemeinheit ausgesetzt ist, welch ein Mut erforderlich ist, gegen den Strom zu schwimmen.
Technische Ausführung
Die Bilder wurden zunächst in Acryl auf Leinwand/Holz aufgetragen. Die Farben gehen von einem dominierenden Gelb für das Licht aus, wechseln über eine große Farbpalette wieder zum Gelb zum Ende des Kreuzwegs. Hoffnung wird über die widersprüchlichsten Gefühle zum Schluss wieder zur Hoffnung zurückgeführt.
Die Hauptpersonen wurden farblich aufgehellt, hervorgehoben und detaillierter dargestellt als die Nebenfiguren, um die Blicke des Betrachters (zunächst) auf das wesentliche Geschehen zu lenken. Die Nebenfiguren wurden zusätzlich noch farblich verfremdet.
Die Verwendung von Blattgold sowie einer Holzplatte mit einer ausgeschnittenen Figur dienen der besonderen Hervorhebung eines Details. Ein dunkles Rot als Symbol des Lebens wird durchgängig bei Szenen (z.B. im Kreuzbalken) verwendet, bei denen Leid im Vordergrund steht, um die zwingende Verknüpfung von Leben und Leid zu unterstützen.
Zum Schluss der Arbeit wurden Teile der Bilder mit Wachs überzogen und übermalt, um die Plastizität der Darstellung zu verstärken.
Farben, Darstellungsweise, Hervorhebung wesentlicher Bildelemente und die Übermalungen dienen darüber hinaus dem Zweck, den Betrachter zu zwingen, nach der oberflächlichen Betrachtung näher auf die Einzelheiten der Bilder einzugehen, Details zu suchen und die symbolische Bedeutung von zum Teil versteckten Einzelheiten zu interpretieren.
Die zunächst klar erkennbaren Situationen, die auf den ersten Blick erfasst werden können, zeigen sich dem aufmerksamen Betrachter als Aufforderung, seine Gedanken von dem dargestellten Geschehen auf die Details und bei den damit verbundenen Gedanken auf sein Inneres zu lenken.
Bei all dem dargestellten Leid soll Hoffnung übrigbleiben und die Erkenntnis, dass die Gegenwart der Zeitpunkt ist, gegen die dargestellten Situationen anzugehen.
Erläuterungen zu den einzelnen Bildern:
1. Gefangennahme Jesu
Es sind keine Soldaten, die Jesus gefangen nehmen. Soldaten sind oftmals Figuren in einem rechtlosen Raum – im Sinne der Initiatoren Roboter ohne Gewissen, die töten sollen. Diese dazwischengeschalteten, neutralen Personen erhalten den Befehl zum Töten, sollen also ausführen, ohne ihre Handlung durch eine gewissenhafte Prüfung zu bewerten. Als schuldig wird derjenige bezeichnet, der die Befehle erteilt hat, aber dieser fühlt sich seinerseits nicht für die Grausamkeiten Einzelner verantwortlich. In der ersten wie auch in den folgenden Szenen sind deshalb die Befehlenden auch die Ausführenden und somit auch für die Handlungen unmittelbar verantwortlich.
Jesus wird den Schauplatz nach rechts verlassen, auf die dunkle Röhre zu, auf die jeder Sterbende zuläuft, weil er nicht weiß, was ihn erwartet. Die schwach erkennbaren Ketten demonstrieren die Unmöglichkeit, den vorgegebenen Weg verlassen zu können.
2. Jesus vor den Hohepriestern
Die starre Haltung der Hohepriester, ihr Festhalten an subjektiven Auslegungen und Vorstellungen der Schrift machen sie zu steinernen Säulen in einer sich verändernden Welt, in der für einen Revolutionär wie Jesus kein Platz ist. Die ausgeschnittene Figur Jesu symbolisiert gleichzeitig seine Ausgrenzung aus der Gesellschaft, so wie Andersdenkende oftmals auch von unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden.
Orange als Hintergrundfarbe hebt die Ausgrenzung besonders deutlich hervor. Sie ist gleichzeitig Signal für den Betrachter, gegenüber den Minderheiten sensibler zu sein und sich nicht von Vorurteilen und demagogischen Parolen leiten zu lassen.
3. Verleugnung
„Ehe der Hahn dreimal kräht, wirst du mich verraten haben.“ Petrus lebt in der Angst, als Begleiter Jesu erkannt zu werden, möchte andererseits aber auch Jesus nahe sein. Der Druck derjenigen, die soziale Kontrolle ausüben und die ihn beobachten, treibt ihn in die Situation, seine Überzeugung zu verraten.
Der Zwiespalt wird durch die verdrehte Haltung und die durch seinen Körper verlaufende Trennlinie deutlich. Die Fischgerippe symbolisieren den Verlust der Identität und den vermeintlichen Verrat der Ideale.
4. Jesus vor Pilatus
Es ist ein Kreislauf, innerhalb dessen sich die Gedanken der Beteiligten bewegen und der sie miteinander verbindet – Jesus ausgenommen, über den befunden wird. Pilatus ist zu einer Puppe der römischen Macht und der Anklagenden geworden und übernimmt das Gedankengut der Masse in seine Entscheidung. Pilatus hat ihre Farbe angenommen. Von seiner Entscheidung ist er nicht überzeugt, verurteilt Jesus aber zum Tode, weil er sonst um seine Privilegien fürchten müsste. Er wäscht seine Hände nicht in Wasser, sondern in dem Blut, das zu denen zurückfließt, die den Verbrecher Barrabas lieber frei sähen.
5. Geißelung Jesu
Alo Renard hat bei der Darstellung der Geißelung wie auch bei der Verhaftung keine Soldaten als Befehlsausführende zwischengeschaltet. Männer und Frauen schlagen gleichermaßen auf Jesus ein. Der Stacheldraht, mit dem seine Hände gebunden sind und der im Hintergrund erkennbar ist, stellt eine Verbindung zu Konzentrationslagern und Gefängnissen her, in denen Menschen aus rassistischem und nationalistischem Fanatismus sowie politischer Willkür gefoltert werden.
Die Frau trägt ein kleines Kreuz als Anhänger – ein Symbol, das gerade in der heutigen Zeit zu einem Modeartikel geworden ist und absolut nichts über die geistige Einstellung der Person verrät, die es trägt (und schon gar nichts über die Beweggründe, die in der Vergangenheit das Kreuz zu einem Symbol des Leids und des Krieges gemacht haben). Es ist ein langer Weg, das Kreuz wieder zum Symbol der Christlichkeit werden zu lassen – dazu ist jeder Einzelne aufgerufen.
6. Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz
Auf den Bildern des Kreuzwegs trägt Jesus kein Kreuz, sondern nur den Querbalken. An diesen Querbalken wurden die Gefangenen festgebunden und mussten ihn zu dem bereits senkrecht aufgerichteten Balken tragen. Dort wurden die Gefangenen entweder angebunden oder zusätzlich angenagelt hochgezogen, und der Querbalken wurde oben befestigt.
Vor allen Dingen aufgrund des ansteigenden Geländes zwang das Gewicht des Balkens die bereits Geschwächten in die Knie. Jesus richtet sich auf den Stufen wieder auf, die aus Menschenskeletten bestehen, Soldaten, die in unzähligen Kriegen getötet worden sind. Sie klagen die Sinnlosigkeit des Mordens an.
7. Jesus begegnet seiner Mutter
Maria steht wie versteinert am Wegesrand. Sie scheint erstarrt zu sein in ihrem Leid, einem Leid, das nur eine Mutter verstehen kann, die ihren Sohn so sehen muss. Die Geste, die Hand auf den Bauch zu legen, deutet den Schmerz an, den sie mit ihrem eigenen Sohn empfindet. Vielleicht ist Maria auch enttäuscht und resigniert, weil sie eine andere Erwartungshaltung hatte.
Die gesichtslosen, glotzenden Menschen im Hintergrund, die nur noch eine vergitterte Fratze haben, sind durchsichtig, weil sie an die Vergänglichkeit ihres Lebens erinnern sollen.
Die Farbe des Bildes wechselt abrupt in ein tiefes Rot, das wie das Blut als Symbol für Leben und Neubeginn steht. In dem Rot sind Dornen zu erkennen, Sinnbild dafür, dass Leben auch untrennbar mit Leid verbunden ist. Das Rot soll gleichzeitig auch für Freiheit stehen, weil Leben ohne Freiheit kein Leben ist.
8. Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz / Die weinenden Frauen
Die Doppelszene wurde zu einem Bild zusammengefasst, um ihnen eine verwandte Bedeutung zu geben.
Inmitten verhungernder Kinder und der sterbenden Natur – dargestellt durch einen Pferdekadaver – wird die Unmenschlichkeit und Gleichgültigkeit der Menschheit als Symbol dem Leid Jesu unterlegt. Es wird immer unfassbar bleiben, weshalb unschuldige Kinder verhungern und die Natur vergewaltigt wird, nur weil eine Minderheit daraus einen Vorteil erzielt.
Verzweifelt betrachten auch die weinenden Frauen ihre gestorbenen Kinder, auf die Jesus hinweist. Unklar bleibt, ob die Kinder an Hunger oder Einsamkeit gestorben sind. Die im Hintergrund schwach erkennbaren Poller eines Hafenkais deuten auf das Zweite hin.
9. Das Schweißtuch der Veronika
Vermutlich hat es die Veronika nie gegeben. Die Symbolik der Barmherzigkeit ist jedoch wesentlicher Bestandteil des Weges nach Golgatha, weil ohne sie das Leid noch unerträglicher würde. Der Frau, die aus der Masse heraustritt und mit einem Tuch auf Jesus zugeht, um seinem Leiden ein wenig Linderung zu verschaffen, gebührt Respekt.
Die Rosen, auf denen sie geht, sind der Legende der heiligen Elisabeth entnommen worden, die gegen den Willen ihres Mannes den Armen half und sie mit Brot versorgte, das sich in Rosen verwandelte, als ihr Mann sie dieser „Untat“ überführen wollte.
10. Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz
Zwischen Devotionalien und inmitten einer Journalistenschar richtet Jesus sich mit dem Balken erneut auf. Es genügt nicht, dass ein Mensch Leid ertragen muss. Die Medien schlachten das Leid so lange aus, bis von dem Menschen nur noch ein Skelett übrig geblieben ist. Man nimmt ihm auch die letzte Würde. Leid läßt sich gut vermarkten, und viele möchten daran teilhaben.
Zum Schluss ist noch eine zerbrochene Krone hinzugekommen – ebenfalls, wie auch das kleine Kreuz der Devotionalien, in Blattgold. Jesus ist kein König mehr, wie ihn seine Anhänger gesehen hätten – er benötigt ein weltliches Machtsymbol wie die Krone nicht – er besitzt die viel größere geistige Macht.
11. Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen
Im traditionellen Kreuzweg befindet sich diese Szene an einer anderen Stelle. Alo Renard hat sie an diese Stelle gesetzt, weil er der Auffassung ist, dass Jesus die Hilfe zuteil geworden sein muss, als er bereits mehrere Male unter dem Kreuz gefallen ist.
Simon wird zu der Hilfe gezwungen. Die Mauer mit den Ringen symbolisiert diesen Zwang. Hätte Simon von Cyrene freiwillig geholfen, hätte er sich den Zorn der Soldaten zugezogen. Da man aber will, daß Jesus die Richtstätte lebend erreicht, stellt man ihm einen kräftigen Mann zur Seite. Der Zwang ist nicht nur an deder Mauer und den Ringen zu erkennen, sondern auch an der verkrampften Haltung von Simon.
Dass Simon Mitgefühl für Jesus empfindet, ist ohne Weiteres nachvollziehbar und wird dadurch angedeutet, dass Simon Jesus die Hand auf die Schulter legt.
12. Jesus wird seiner Kleider beraubt
Wie eine Sache wird Jesus behandelt; man nimmt ihm alles ab, was er noch besitzt und lässt ihn schutzlos zurück. Um diese Schutzlosigkeit in besonderer Weise zu betonen, sind keine Kleider neben ihm zu erkennen, man hat ihm sinnbildlich die Haut abgezogen. Im Hintergrund sind schwach diejenigen zu erkennen, die um seine Kleider spielen. Wie viele Menschen werden auch heute wie eine Sache gebraucht – ausgenutzt und ausgebeutet. Sie stehen ihren „Besitzern“ und Machern wehrlos gegenüber; diese Szene ist Sinnbild dafür, wie oft wir andere Menschen missachten und verachten. Wir entblößen sie vor anderen und rauben ihnen die Menschenwürde.
Hinter der Szene sind die bereits aufgestellten Pfähle zu sehen, an denen die Verurteilten mit den Querbalken hochgezogen werden. Zwei der Balken sind rot als Sinnbild für das Leben (der von Jesus und der von dem ebenfalls Gehenkten, der sich Jesus zugewandt hat).
13. Jesus wird ans Kreuz geschlagen
Mit völlig unbeteiligter Miene treibt ein Mann Nägel in den Körper eines Menschen. Die Schmerzen, die er dabei verursacht, scheinen ihn überhaupt nicht zu beeindrucken. Der Hammer, der den Nagel in das Fleisch hineintreibt, ist zu einem Stempel geworden, dessen Aufschrift „Fides“ (Treue) den absoluten Gehorsam und die Fügung des Ausführenden unter die anordnende Gewalt verrät.
Das Bild ist ein Pendant zu oftmals im öffentlichen Raum vorhandene Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer Menschen. Pflichterfüllung lässt kein Mitleid zu. Das kleine Gänseblümchen am Rand des Bildes verstärkt den Eindruck der Brutalität noch.
14. Jesus stirbt am Kreuz
Das Kreuz wurde lediglich als Symbol ohne Korpus dargestellt. Dies geschah aus der Überlegung heraus, dass sich in der Kirche eine weitere Kreuzigungsdarstellung befindet und eine Konkurrenzsituation vermieden werden sollte. * Die blutroten Balken des Kreuzes gehen in die Darstellung einer Koralle über ­ dem Sinnbild für das Leben. Auch die sich am Fuße des Kreuzes befindlichen Figuren stellen den Tod durch einen alten Mann und das Leben und den Neubeginn durch einen Säugling dar, wie im Ablauf des Lebenszyklus. Die sich andeutende Helligkeit weist darüber hinaus zusätzlich auf einen neuen Morgen und den Beginn einer neuen Epoche hin.
Die schattenhaften Fetzen quer über das Bild weisen auf den zerrissenen Vorhang im Tempel Jerusalems hin.
15. Grablegung
Die Grablegungsszene ist fast abstrakt dargestellt worden, weil damit der Zustand der Ruhe, der Leere und der offensichtlichen Ausweglosigkeit dieser Bildaussage am nächsten kommt. Nichts lenkt von diesem statischen Zustand der Starre ab. Die bei der Kreuzigung Anwesenden tragen noch den Schock der Ereignisse in sich und sind deshalb nicht in der Szene dargestellt. Ihre Hoffnungen haben sie mit Jesus zu Grabe getragen, und sie sind wie gelähmt, aber die helle Farbe des Bildes, die sich in Anfängen bereits im vorherigen Bild andeutete, weist auf die positive Wende, die Auferstehung hin.
* Siehe nachfolgend auch die Abbildung der großen Kreuzigungsszene.

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