Ulmer et al. (2012) Management von Zufallsbefunden

Transcrição

Ulmer et al. (2012) Management von Zufallsbefunden
246
© Schattauer 2012
Neurophilosophie und Neuroethik
Management von Zufallsbefunden
in Neuroimaging-Studien
S. Ulmer1,2; C. Stippich1; O. Jansen2; R. v. Kummer3; G. Fesl4; S. Reiter-Theil5
1Diagnostische
und Interventionelle Neuroradiologie, Universitätsspital Basel; 2Institut für Neuroradiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel; 3Abteilung Neuroradiologie, Universitätsklinikum Dresden; 4Abteilung für
Neuroradiologie, Klinikum der Universität München, Standort Großhadern; 5Fachbereich Medizin- und Gesundheitsethik, Medizinische Fakultät, Basel
Schlüsselwörter
Keywords
Zufallsbefunde, Neuroimaging, verantwortungsvolles Management, Ethik
Incidental findings, neuroimaging, responsible management, ethics
Zusammenfassung
Summary
Die Inzidenz von Zufallsbefunden (IF) liegt
zwischen 2 und 19%. IF können direkten Einfluss auf das Leben der Probanden haben, einschließlich weiterer Diagnostik, Therapie, Versicherungs- oder sozialer Aspekte. 250 Probanden wurden aus verschiedenen Studien
eingeschlossen. Die Aufklärung enthielt die
typischen Sicherheitsaspekte des MRT. Die
Probanden wurden über die Möglichkeit von
Zufallsbefunden und deren Konsequenzen
aufgeklärt. Alle Bilder wurden im Konsensus
von zwei Neuroradiologen ausgewertet.
Wenn IF gefunden wurden, wurde der Principal Investigator informiert, der die Probanden
in die neurologische Poliklinik überwies, in der
über weitere Schritte entschieden wurde. Keiner der Probanden lehnte die Studienteilnahme ab. IF mit möglicher klinischer Relevanz
fanden sich bei 9%. Eine unmittelbare Therapie war nicht notwendig, allerdings werden
einzelne Probanden immer noch betreut. Mit
unserem Vorgehen erfüllen wir alle ethischen
Prinzipien mit Respekt vor der Autonomie,
Wohlergehen, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit gegenüber dem Probanden durch
ausgedehntes Aufklären, fachärztliche Beurteilung mit höherer Wahrscheinlichkeit IF zu
entdecken und der Abdeckung möglicher Konsequenzen.
The frequency of incidental findings (IF) has
been reported to be between 2 and 19% in
neuroimaging research. These findings may
have an immediate impact on the volunteers’
life including further diagnostics, therapy, insurance and social aspects. 250 subjects have
been enrolled in various neuroimaging
studies. Informed consent included the typical
safety issues for MRI. Furthermore, the subjects were informed about the possibility of IF
and consequences that may result. All images
were reviewed by two board certified neuroradiologists in consensus. If IF were found the
PI was informed, who referred the subjects to
the neurologic outpatient clinic to decide on
further proceedings. None of our volunteers
refused to participate in our study. 9%
showed IF with possible clinical relevance.
None of these findings required immediate
therapy, however, some volunteers are still
being followed upon. With our management
we fulfill all criteria of ethical principles being
respect for autonomy, beneficence, non-maleficence and justice including extensive
informed consent, board-certified reading of
the images and thus a high likelihood to
discover any IF and coverage of possible therapy needs.
Korrespondenzadresse
Priv.-Doz. Dr. Stephan Ulmer
Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie
Petersgraben 4, CH-4031 Basel
Tel.: 0041/613287371, Fax: 0041/612654354
[email protected]
Incidence and responsible management of
incidental findings in neuroimaging research
Nervenheilkunde 2012; 31: 246–249
Eingegangen am: 13. Oktober 2011;
angenommen am: 7. November 2011
Zufallsbefunde (engl.: incidental findings,
IF) werden definiert als zufällig neu entdeckte Abnormalitäten mit möglicher klinischer Relevanz, die zuvor nicht bekannt
waren und nicht im Fokus der Untersuchung stehen (1). In der bildgebenden
Forschung am Gehirn wird die Häufigkeit
der IF je nach Quelle zwischen 2 und 19%
angegeben (2–15), unter Einbezug des ganzen Körpers sogar mit 42% (16). Obwohl in
eingeschlossenen Kollektiven mit höherem
Durchschnittsalter die Inzidenz der IF
steigt (7, 8), wurde gezeigt, dass Zufallsbefunde auch bei jungen Probanden
(Durchschnittsalter: 26 Jahre) sehr häufig
sind (15). Die klinische Relevanz der Befunde war in dieser Studie beim Großteil
der Probanden gering, allerdings fanden
sich unter den knapp 200 Probanden immerhin zwei arteriovenöse Malformationen (0,9%), die das weitere Leben der Personen massiv beeinflussen können. In einer
kürzlich veröffentlichen Metaanalyse (9),
in die 19 599 Personen eingeschlossen wurden, wurde die Anzahl von IF mit nur 2,7%
angegeben. In dieser Studie wurden einerseits Patienten mit Komorbiditäten oder
gar neurologischen Beschwerden (0,1%)
eingeschlossen, andererseits wurden Daten
mit niedriger Bildauflösung verwendet und
Befunde wie Marklagerläsionen, alte Infarkte oder Hämosiderinablagerungen
nicht gewertet, sodass die tatsächliche Häufigkeit sicher unterschätzt wurde. Ein zentrales Problem dabei stellt zum einen die
individuelle Definition eines Zufallsbefundes oder einer Normvariante dar, zum anderen muss gewährleistet sein, dass ein trainierter Beurteiler die Bilder befundet und
die Bildqualität dafür ausreicht. Da in der
bildgebenden Hirnforschung die Magnetresonanztomografie (MRT) verwendet
wird, die ausschließlich dem Medizinproduktegesetz unterliegt, ist allen nicht radio-
Nervenheilkunde 4/2012
Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2012-06-12 | ID: 1000491814 | IP: 217.110.19.91
For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.
S. Ulmer et al.: Neuroimaging-Studien
logischen Disziplinen (z. B. Neurologen,
Psychologen, Physikern) die Möglichkeit
gegeben, nach einer relativ kurzen Einführung, die Sicherheitsaspekte beinhaltet, eigenständig Daten zu erheben. Dies wird in
den einzelnen Zentren sehr unterschiedlich
gehandhabt (17). Im deutschsprachigen
Raum gibt es dazu keine Daten. In manchen Zentren werden Probanden explizit
darüber aufgeklärt, dass weder die erhobenen Daten befundet werden, noch die Bildqualität dafür ausreicht. Die Frage, ob ergänzende Sequenzen durchgeführt werden
sollten, wird sehr unterschiedlich gesehen,
da die Suche nach Zufallsbefunden nicht
Ziel der durchgeführten Studien ist. Darüber hinaus muss ein verantwortungsvolles
Management gewährleistet werden, falls
Zufallsbefunde entdeckt werden.
Ziel unserer Studie ist die vertiefte Analyse der Häufigkeit von Zufallsbefunden in
unserem gemischten Kollektiv von 250
Probanden aus verschiedenen Bildgebenden Studien und die Präsentation unseres
proaktiven lokales Managements, das wir
hiermit zur Diskussion stellen.
Material und Methoden
Die Studie wurde von der lokalen Ethikkommission genehmigt. 250 Probanden
(20 bis 50 Jahre, Durchschnittsalter 26 Jahre, 118 Frauen), die an verschiedenen Bildgebenden Studien (funktionelle MRT
(fMRT), Diffusionstensorstudien (DTI)
oder volumetrischen Studien (VBM)) teilnahmen, wurden prospektiv in die Analyse
eingeschlossen. Im Einzelnen handelte es
sich bei den fMRI-Studien vorwiegend um
neurokognitive Studien, bei den DTI-Untersuchungen wurde die Frage der Konnektivität verschiedener kortikaler Areale untersucht, während die VBM-Messungen für
neurodegenerative Fragestellungen verwendet wurden. Gemäß unserem Protokoll
für bildgebende Studien werden alle Probanden über die Untersuchung und Kontraindikationen der MRT und zusätzlich
über die Möglichkeit von bestehenden Zufallsbefunden wie Tumoren oder Gefäßanomalien aufgeklärt. Wir besprechen mit
den Probanden, dass alle Bilddaten systematisch fachärztlich durchgesehen werden
und Zufallsbefunde schriftlich dokumen-
tiert werden. Wir weisen die Teilnehmer im
Aufklärungsgespräch außerdem explizit
darauf hin, dass diese MRT-Untersuchungen eventuell nicht für das Stellen einer
exakten Diagnose ausreichen, sodass deshalb unter Umständen eine weitere Diagnostik notwendig werden könnte. Manche
Befunde könnten zudem eine unmittelbare
Therapie erforderlich machen; in jedem
Fall könnten Zufallsbefunde ihr weiteres
Leben (Versicherung, Beruf, Privatleben)
massiv beeinflussen und wären dann auch
aktenkundig. Die Teilnahme an jeder Studie ist freiwillig und setzt die Einwilligung
und die oben skizzierte Kenntnisnahme
unseres Managements voraus.
Ergänzend zu den Studiensequenzen,
die an einem 3 Tesla Scanner (Philips, Best,
The Netherlands) mit einer 8-Kanal-Spule
erhoben wurden, untersuchten wir eine
3-dimensionale T1-gewichtete Sequenz
(magnetization-prepared rapid acquisition
of gradient echo (MPR) mit eine in-plane
Auflösung von 1mm, TE/TR = 3.78/8.35
ms) und eine axiale fluid-attenuated inversion recovery (FLAIR; TE/TR = 120/12 000
ms, 5 mm Schichtdicke) Sequenz. Diese
Bilder wurden von zwei Neuroradiologen
beurteilt, die einen Bericht erstellten. Es
wurde ergänzend vermerkt, dass diese beiden Sequenzen eine vollständige Diagnostik nicht ersetzen können. Zufallsbefunde
werden in dem Bericht erwähnt und bzgl.
klinischer Relevanz graduiert in nicht klinisch relevant bzw. möglicherweise oder sicher klinisch relevant. Wenn Zufallsbefunde mit vermeintlicher klinischer Relevanz
erhoben wurden, wurde der Studienleiter
unmittelbar telefonisch informiert und der
Proband in die neurologische Poliklinik
einbestellt. Hier wurde entschieden, ob ei-
Tab.
Zufallsbefunde;
∗ radiological isolated syndrome
ne weitere Diagnostik oder Therapie notwendig ist.
Ergebnisse
Keiner der Probanden lehnte nach eingehender Aufklärung die Teilnahme an der
Studie ab. Von den 250 Probanden zeigten
18% Zufallsbefunde (n = 45; 씰Tab.).
Knapp die Hälfte davon wurden als (möglicherweise) klinisch relevant erachtet. Der
häufigste Befund in der klinisch nicht relevanten Gruppe waren vereinzelte punktuelle Marklagerläsionen, gefolgt von kleinen nicht raumfordernden Pinealiszysten.
In der Gruppe der (möglicherweise) klinisch relevanten Befunde zeigten sich am
häufigsten intraselläre Auffälligkeiten (fehlendes Signal der Neurohypophyse, Zysten,
oder relative empty sella), gefolgt von
grenzwertig raumfordernden oder komplizierten Pinealiszysten (씰Abb. 1). Seltenere
Befunde waren periventrikuläre Marklagerläsionen, die von der Anzahl und/oder
vom morphologischem Aspekt her an eine
multiple Sklerose denken ließen (n = 3),
und vaskuläre Pathologien (Cavernome,
arteriovenöse Malformationen; n = 2).
Alle 22 Probanden wurden entsprechend der Verdachtsdiagnose weiter abgeklärt. Die hormonelle Diagnostik war bei
allen Probanden unauffällig. Alle Pinealiszysten wurden unmittelbar und/oder im
Follow-up (ca. 1 Jahr nach Entdeckung)
mit ergänzenden Sequenzen erneut untersucht. Eine Größenprogredienz konnte
nicht dokumentiert werden, ein Fall wird
jedoch weiterhin kontrolliert, um die
Wahrscheinlichkeit eines Pineozytoms
auszuschließen. Ein Hydrozephalus ent-
Typ
Anzahl %
gesamt
45
18
klinisch (möglicherweise) relevante Befunde
● intraselläre Auffälligkeiten
● komplexe oder vergrößerte Pinealiszysten (> 1 cm)
● periventrikuläre Marklagerläsionen (V. a. RIS∗)
● vaskuläre Pathologien
22
12
5
3
2
9
klinisch nicht relevante Befunde
● punktuelle Marklagerläsionen
● kleine (< 1 cm) nicht raumfordernde Pinealiszysten
● andere
23
12
9
2
9
© Schattauer 2012
Nervenheilkunde 4/2012
Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2012-06-12 | ID: 1000491814 | IP: 217.110.19.91
For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.
247
248
S. Ulmer et al.: Neuroimaging-Studien
Abb. 1 Axiale FLAIR-gewichtete (A), sagittale
T2-gewichtete (B) sowie T1-gewichtete sagittale
MR-Aufnahmen nativ (C) und nach Kontrastmittelgabe (D). In der Pinealisloge Nachweis einer
zystischen Formation ohne markant raumfordernde Wirkung. In den T2-gewichteten Aufnahmen
(A, B) lässt sich ein Flüssigkeits-Flüssigkeitsspiegel erkennen, der möglicherweise einer Einblutung in eine komplexe Zyste entspricht. Es findet
sich eine moderate randständige und am dorsobasalen Anteil noduläre Kontrastmittelaufnahme,
wie dies bei einem Pineozytom vorkommen kann.
wickelte sich bei keinem der Probanden.
Bei zwei der drei Probanden mit suspekten
periventrikulären Marklagerläsionen bestätigte sich der Verdacht auf eine demyelinisierende Erkrankung (radiologically isolated syndrome; RIS). Die vaskulären Pathologien waren im Follow-up unverändert, eine Blutung war nicht aufgetreten.
Zusammenfassend zeigten sich damit im
Rahmen der weiteren Diagnostik in fünf
Fällen (23% der Gruppe der möglicherweise klinisch relevanten Befunde; 2% des Gesamtkollektivs) klinisch relevante Befunde
(2 Fälle mit demyelinisierender Erkrankung, 1 Cavernom, 1 AVM und 1 V. a. Pineozytom).
Diskussion
Wie in Studien nachgewiesen wurde, sind
Zufallsbefunde im Neuroimaging häufig.
Entgegen den Daten der Metaanalyse waren sie in unserem Probandenkollektiv
deutlich häufiger als 2,7%. Die Definition
von Zufallsbefunden mag variieren: In jedem radiologischen Bericht würde eine
kleine punktuelle Läsion im Marklager er-
wähnt, auch wenn ihre klinische Bedeutung eher gering sein dürfte. Da in der
Metaanalyse (9) derartige Befunde ausgeschlossen wurden, dürfte sie die tatsächliche Inzidenz der Zufallsbefunde unterschätzen. Um Zufallsbefunde sicher erkennen zu können, sind zum einen eine Beurteilung der Bilder durch ein fachlich geschultes Auge unbedingt erforderlich, zum
anderen bedarf es einer adäquaten Technik
bzw. geeigneter Sequenzen, die eine solche
Beurteilung auch ermöglichen. Ob und wie
geeignete Sequenzen zur Entdeckung von
Zufallsbefunden ergänzend durchgeführt
werden sollten, ist Thema einer lebhaften
Diskussion. Das Management bei bildgebenden Studien variiert zwischen den
einzelnen Zentren stark (17). Ethische
Standards für die Forschung am Menschen
wurden in der Schlussakte von Helsinki
1975 sowie im Belmont Report 1979 (18)
formuliert. Grundlegend sind dabei die
Rechte der Untersuchungspersonen und
deren Wohlergehen sowie Gerechtigkeit.
Mit unserem proaktiven Vorgehen, das von
allen unseren Studienteilnehmern akzeptiert wurde, soll dieser Zielsetzung entsprochen werden; zudem werden wir dadurch
auch den Probanden am ehesten gerecht,
die explizit erwarten, dass ein fachlich geschultes Auge ihre Bilder beurteilt, unabhängig davon, worüber sie im Detail aufgeklärt wurden (19). Aus medizinethischer
Sicht wird damit auch allen vier zentralen
Prinzipien entsprochen; dem Respekt vor
der Autonomie des Patienten/Probanden
durch angemessene Aufklärung und informierte Zustimmung, der Vermeidung von
Schaden durch erhöhte Kontrolle der Befunde, der Pflicht zur Hilfeleistung bzw.
Prävention sowie der Forderung nach Gerechtigkeit und Fairness für alle Betroffenen (20, 21). In der Genetik existieren für
den Umgang mit möglicherweise relevanten Befunden bereits Empfehlungen
(22–24). Durch unser Management wird
die Wahrscheinlichkeit von Fehlern, insbesondere das Übersehen von Zufallsbefunden reduziert. Allen Probanden wird
unmittelbar nach Entdecken von Zufallsbefunden eine weitere Abklärung bzw.
Therapie über die Poliklinik angeboten.
Insbesondere bei den Pinealiszysten, den
vaskulären Anomalien und den für eine
Multiple Sklerose suspekten Marklagerlä-
sionen ist eine frühzeitige Diagnostik hilfreich, um mögliche Konsequenzen frühzeitig abschätzen und ggf. therapieren zu können, aber auch, um nicht begründete Ängste zu nehmen. Probanden können ihre Autonomie allerdings unterschiedlich ausüben. Es steht jedem frei, das Angebot der
weiteren Abklärung zu nutzen oder darauf
zu verzichten. Sie leisten allerdings eine
Unterschrift, dass sie mit unserem Management einverstanden sind. In unserem Kollektiv wurde die Option der weiteren Abklärung von allen Betroffenen auch wahrgenommen. Das Recht, nicht wissen bzw.
erfahren zu wollen, ob sich eine Pathologie
in ihrem Gehirn befindet (Recht auf Nichtwissen), wird durch die Teilnahme an unseren Studien nicht vollständig gewährleistet,
weil sie im Fall eines Zufallsbefundes darüber unterrichtet werden. Diese Einschränkung der Option „Nichtwissen“ ist aus unserer Sicht gerechtfertigt, da die Teilnehmer
gegenüber unserer Forschung unabhängig
sind (nicht etwa von damit verbundenen
Angeboten abhängen) und ihnen die Teilnahme an den Studien frei steht. Ein weiteres Problem – ähnlich wie in Studien in der
Genetik (25, 26) – stellt eine mögliche Gefährdung anderer dar. Für die Studienleiter
besteht das Dilemma, einerseits den
Wunsch bzw. das Recht auf Nichtwissen eines Probanden zu respektieren, andererseits seiner Verpflichtung nachzukommen,
andere vor Schaden (z. B. durch krankheitsbedingtes Fehlverhalten des Probanden/Patienten im Straßenverkehr) zu
schützen. Aus rechtlicher Sicht werden die
Interessen aller Beteiligten gewahrt, Befunde sind aktenkundig und die Autonomie
des Probanden wird respektiert; der Proband hat die volle Kontrolle über sein weiteres Handeln, wobei ihm unmittelbar professionelle Hilfe angeboten wird. Das im
Rahmen dieser Diskussion immer wieder
(z. B. von Nichtneuroradiologen) vorgebrachte Argument einer unnötigen
Beunruhigung der Probanden (27), spiegelt sich in unserer Erfahrung einer durchweg positiven Resonanz unserer Probanden durch die komplette ärztliche Beratung
mit entsprechender Aufklärung, Führung
und das Angebot einer weiteren Abklärung
und ggf. Therapie nicht wider. Potenzielle
Nachteile beim Abschluss von Versicherungen oder Einschränkungen in der Berufs-
Nervenheilkunde 4/2012
© Schattauer 2012
Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2012-06-12 | ID: 1000491814 | IP: 217.110.19.91
For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.
S. Ulmer et al.: Neuroimaging-Studien
wahl oder bei zukünftigen Arbeitgebern
stellen ein mögliches Problem dar, allerdings überwiegt der Benefit einer frühzeitigen Diagnostik und Therapieoption deutlich. Alle Probanden werden explizit vor
Studienteilnahme über diese möglichen
Konsequenzen aufgeklärt. Die Studienteilnahme ist freiwillig und kann jederzeit zurückgenommen werden, sodass es den Probanden freisteht, nicht teilzunehmen und
damit auch nicht zu erfahren, ob sich eine
Pathologie in ihrem Gehirn befindet. Ein
weiteres Argument, das gegen die fachärztliche Diagnostik vorgebracht wird, sind
entstehende Kosten durch die Befundung.
Dass Probanden für ihre Studienteilnahme
oft finanziell entschädigt werden, steht dabei außerhalb jeder Diskussion und wird in
den Anträgen auf finanzielle Unterstützung mit beantragt. Weitere entstehende
Kosten können aber ebenso über Kooperationen geregelt werden und sollten nicht
als Vorwand gegen eine fachärztliche Begutachtung vorgebracht werden. Entstehende Folgekosten durch Diagnostik und
ggf. Therapie stellen ein sozioökonomisches Problem dar, welches über den Rahmen dieser Arbeit hinausgeht. Präventive
Behandlungen sind weniger kostenintensiv
als zeitintensive Langzeitfolgekosten z. B.
durch intensive Rehabilitation nach eingetretener Symptomatik (wie einer Hirnblutung).
Der Forscher steht nicht in einem ArztPatienten-Verhältnis (27). Er ist aber gemäß ethischer Richtlinien den vier zentralen Prinzipien verpflichtet: Respekt vor der
Autonomie des Patienten/Probanden
durch angemessene Aufklärung, Vermeidung von Schaden durch fachlich kompetente Beurteilung der Bilder, Pflicht zur
Hilfeleistung bzw. Prävention sowie Forderung nach Gerechtigkeit und Fairness für
alle Betroffenen (20, 21). Damit ist er verpflichtet, seine Studienteilnehmer vor
möglichen zukünftigen Schäden zu bewahren (in unserem jungen Kollektiv immer-
Fazit für die Praxis
Eine verantwortungsbewusste und ethisch
vertretbare bildgebende Forschung am Hirn
setzt die Aufklärung der Probanden über die
Möglichkeit, Zufallsbefunde zu entdecken,
und ihrer möglichen Konsequenzen voraus.
Um Zufallsbefunde erkennen zu können, ist
ein fachlich geschultes Auge für die Bewertung der Bilder essenziell, darüber hinaus
muss die Technik bzw. die Auflösung der Bilder adäquat für die Beurteilung der Bilder
sein. Nach Entdecken von Zufallsbefunden
ist dann aber ein weiteres Management notwendig, um die Probanden, die nun zu Patienten geworden sind, verantwortungsvoll
weiter zu betreuen. Ferner können klinisch
nicht relevante Befunde die Anatomie so verändern, dass damit z. B. die Daten für eine
Normalisierung nicht mehr verwendet werden können. Mit unserem Vorgehen werden
wir allen vier zentralen Prinzipien der Medizinethik und damit den Probanden gerecht,
einschließlich dem Respekt vor der Autonomie des Patienten/Probanden durch angemessene Aufklärung, der Vermeidung von
Schaden durch erhöhte Kontrolle der Befunde, der Pflicht zur Hilfeleistung bzw. Prävention sowie der Forderung nach Gerechtigkeit
und Fairness für alle Betroffenen.
hin 2% der Gesamtstudienpopulation)
und ihnen das bestmögliche Management
anzubieten (was eine fachärztliche Beurteilung und weitere Behandlung im Fall von
IF mit einschließt), zumal die Probanden
freiwillig an der Studie teilnehmen, um
dem Forscher eine Datenerhebung zu ermöglichen. Wir schätzen die vorgebrachten
weiteren Argumente (27) gegen eine regelhafte neuroradiologische Diagnostik zur
Wahrung der Autonomie der Probanden
durch sein Recht auf Nichtwissen und den
resultierenden moralischen Druck durch
Kenntnis einer Pathologie, z. B. in Hinblick
auf versicherungsrechtliche Aspekte als we-
niger bedeutend ein, als den Benefit einer
frühzeitigen Diagnostik, weil Probanden
freiwillig teilnehmen und entsprechend
durch ihre Teilnahme signalisieren, dass sie
damit auf ihr Recht auf Nichtwissens trotz
Kenntnis der daraus möglichen Konsequenzen verzichten. Zudem entbinden
wir den Forscher, der die Tragweite einer
Pathologie unter Umständen nicht abzuschätzen vermag, vom Konflikt der Wahrung der Autonomie des Probanden durch
sein Recht auf Nichtwissen einerseits und
seiner Sorgfaltspflicht zum Abwenden von
Schaden andererseits.
Das vorgestellte Management wird allen
formulierten Anforderungen an ein verantwortungsvolles Vorgehen aus Sicht der
Probanden gerecht: Alle Bilder werden
fachkundig analysiert, die Studienleiter
werden vom Dilemma zwischen widerstreitenden Verpflichtungen befreit, sie
können ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen und zugleich die Autonomie der Probanden im gesetzten Rahmen respektieren.
Eine frühzeitige Diagnostik ermöglicht es,
Krankheiten abzuklären und Therapien
einzuleiten, bevor Symptome entstehen,
wie wir am Beispiel des RIS aufgezeigt haben. Darüber hinaus stellt unser Management sicher, dass die Studienleiter über Befunde informiert werden, die ggf. Einfluss
auf die Studienergebnisse nehmen können.
So können z. B. Teilaplasien des Gehirns
mit und ohne Arachnoidalzyten asymptomatisch bleiben, jedoch im funktionellen
MRT zu irritierenden Ergebnissen führen.
Dieses Management von Zufallsbefunden
in der bildbasierten Gehirnforschung ist
geprägt von Verantwortung gegenüber den
Probanden sowie gegenüber der Forschung
selber: Diese wäre ethisch nicht vertretbar,
wenn sie nicht alle Faktoren kontrollierte,
die auf die Beobachtungen und Messergebnisse einwirken.
Die Literatur zu diesem Artikel finden Sie
unter 씰www.nervenheilkunde-online.de.
© Schattauer 2012
Nervenheilkunde 4/2012
Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2012-06-12 | ID: 1000491814 | IP: 217.110.19.91
For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.
249

Documentos relacionados