Kindesunterhalt und Kosten des Umgangs

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Kindesunterhalt und Kosten des Umgangs
Kindesunterhalt und Kosten des Umgangs
Kind Prax 4/2005, S. 136ff
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Kindesunterhalt und Kosten des Umgangs
Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs
vom 23. Februar 2005 - XII ZR 56/02
Martin Menne1
1. Einleitung
Mit der vorliegenden Entscheidung hat der BGH zwei für die Unterhaltspraxis sehr
wichtige Punkte klargestellt: Der erste Punkt ist die für das Verständnis von § 1612b
Abs. 5 BGB höchst bedeutsame Erläuterung von Zweck und Zielrichtung der Vorschrift. Der zweite Punkt betrifft die in der beratenden und forensischen Praxis immer
wichtiger werdende Frage, ob und ggf. inwieweit die Kosten, die dem Unterhaltspflichtigen bei der Ausübung des Umgangs mit dem unterhaltsberechtigten Kind entstehen, zu berücksichtigen sind.
2. Zweck und Zielrichtung von § 1612b Abs. 5 BGB
a) Kindergeld und Unterhaltsrecht
Die Kindergeldanrechnung, die in § 1612b BGB geregelt wird, ist eine beständige
Quelle von Streit und Unsicherheit. Das Kindergeld ist als vorweggenommene Steuervergütung eine staatliche Leistung im Rahmen des Familienleistungsausgleichs,
mit dem die Unterhaltslast der Eltern gemindert werden und die unmittelbar dem Kind
zugute kommen soll2. Durch die seit dem 1. Januar 2001 geltende Fassung von
§ 1612b Abs. 5 BGB3 hat der Gesetzgeber noch einmal deutlich herausgestrichen,
dass das Kindergeld in erster Linie der Sicherstellung des sächlichen Existenzminimums (Barexistenzminimums) des Kindes dient. Deshalb unterbleibt seither die Anrechnung des Kindergeldanteils auf den Barunterhalt, soweit der Unterhaltspflichtige
außerstande ist, Unterhalt in Höhe von (mindestens) 135% des Regelbetrages zu
leisten (§ 1612b Abs. 5 BGB).4
Die Aussage der recht kompliziert gefassten Regelung ist im Grunde sehr einfach:
Der Unterhaltspflichtige, der aufgrund seiner unzureichenden Leistungsfähigkeit nicht
in der Lage ist, Kindesunterhalt in Höhe des Existenzminimums zu zahlen, ist verpflichtet, seinen Kindergeldanteil so lange zur „Aufbesserung“ des Unterhalts einzu1
Dr. jur., Richter am Amtsgericht und Referent für Unterhaltsrecht im Bundesministerium der Justiz,
Berlin. Der Verfasser gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder.
2
Vgl. nur Luthin-Kamm, Handbuch des Unterhaltsrechts (10. Auflage 2004), RN 9055 ff;
Wendl/Staudigl-Scholz, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis (6. Auflage 2004), § 2
RN 486 ff.; Palandt/Diederichsen, BGB (64. Auflage 2005), Vor § 1601 RN 45 ff.; AnwK-BGB/Heimann
(2005), Anh. § 1612b RN 1, 12 ff, 29; Bamberger/Roth-Reineken, BGB (2003), § 1612b RN 4 sowie
ausf. Schürmann, FamRZ 2002, 1440 ff.
3
idF des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhalts
vom 2. November 2000 (BGBl I, S. 1479).
4
Vgl. BT-Drs 14/3781, 7f.
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setzen, bis das kindliche Existenzminimum erreicht ist5. Das Existenzminimum wird
nach der derzeitigen Gesetzesfassung erreicht, sobald Unterhalt in Höhe von (mindestens) 135% des Regelbetrages bzw. nach Gruppe 6 der Düsseldorfer Tabelle
geleistet wird.6 Wenn dieser Punkt erreicht ist, darf der Unterhaltsverpflichtete den
ihm zustehenden hälftigen Anteil des Kindergeldes, das nach den einschlägigen einkommensteuerrechtlichen Bestimmungen regelmäßig dem betreuenden Elternteil
ausgezahlt wird,7 vom geschuldeten Tabellenunterhaltsbetrag absetzen.
b) Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Mit dem vorliegenden Urteil hat der BGH den soeben beschriebenen Zweck und die
Zielrichtung von § 1612b BGB noch einmal klargestellt8 und Stimmen, die Bedenken
gegen dieses Verständnis der Vorschrift geäußert haben, eine eindeutige Absage
erteilt. Im Anschluss an die vor kurzem ergangene, in dem hier interessierenden
Punkt gleich lautende Entscheidung des BVerfG zu § 1612b BGB9 haben die Richter
weiter betont, dass gegen die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift keine Bedenken
bestünden.10
Der BGH weist jedoch völlig zu Recht auf die „schwache Stelle“ in der komplizierten
Konstruktion von § 1612b Abs. 5 BGB hin: Systembedingt kann mit dem vom Gesetzgeber gewählten Regelungsmechanismus nicht auf Dauer sichergestellt werden,
dass das Kindergeld tatsächlich zur „Aufbesserung“ eines unzureichenden Kindesunterhalts herangezogen wird. Es ist, wie die Richter andeuten, durchaus denkbar,
dass das Kindergeld durch die 135%-Regelung ab einem bestimmten Moment in einem zu weitgehenden Ausmaß zur Unterhaltsaufbesserung herangezogen wird und
dem Unterhaltsschuldner dadurch sein Anspruch auf Teilhabe an einer staatlichen
Transferleistung - dem Kindergeld - teilweise zu Unrecht vorenthalten wird. Die Koppelung des Existenzminimums an 135% des Regelbetrages vermag auch nicht zu
verhindern, dass irgendwann der halbe Kindergeldanteil des Unterhaltspflichtigen
nicht mehr ausreicht, um zusammen mit dem Tabellenunterhalt das kindliche Existenzminimum abzudecken.
Der Grund hierfür ist einfach: Existenzminimum und Regelbetrag knüpfen an völlig
unterschiedliche Bezugsgrößen an. Der Regelbetrag ist an die durchschnittliche Entwicklung der Nettoarbeitsentgelte in Deutschland gekoppelt (vgl. § 1612a Abs. 4, 5
BGB). Die Höhe der Tarifabschlüsse, die Entwicklung der Sozialabgaben oder Son5
Vgl. BVerfG, FamRZ 2003, 1370 (1374) sowie ausf. Heger, FamRZ 2001, 1409 (1413); Göppinger/Wax-Häußermann, Unterhaltsrecht (8. Auflage 2003), RN 794.
6
Nach der neuen seit 1. Juli 2005 geltenden Regelbetrags-VO (4. Verordnung zur Änderung der Regelbetrag-VO v. 8. April 2005, BGBl I, S. 1055) betragen die Regelbeträge in Westdeutschland 204,
247, 291 Euro bzw. in Ostdeutschland 188, 228, 269 Euro. Die Werte der Gruppe 6 der neuen, seit
dem 1. Juli 2005 geltenden Düsseldorfer Tabelle betragen demnach 276, 334, 393 Euro.
7
Vgl. § 64 Abs. 2 EstG und für Sonderfälle § 3 BKGG.
8
Vgl. zuvor bereits BGH, FamRZ 2003, 445 ff.
9
Beschl. V. 9. April 2003, FamRZ 2003, 1370 ff. m. zust. Anm. Luthin.
10
Im Zusammenhang mit der Kindergeldanrechnung ist derzeit noch streitig, inwieweit die korrespondierenden steuerrechtlichen Regelungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. Aufgrund entsprechender Zweifel hat der BFG (FamRZ 2005, 451 [Ls]) die Frage dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt.
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derfaktoren wie beispielsweise in der Vergangenheit das In-Kraft-Treten weiterer Stufen der Steuerreform wirken sich unmittelbar aus und sorgen dafür, dass der alle
zwei Jahre anzupassende Regelbetrag schneller oder weniger schnell steigt. Demgegenüber wird das Existenzminimum eines Kindes mit statistischen Methoden wissenschaftlich exakt erhoben. Es beruht auf den Daten des im zweijährigen Turnus
erhobenen Existenzminimumberichts der Bundesregierung.11 Mit Hilfe der durchschnittlichen Sozialhilferegelsätze, der statistisch belegten Unterkunfts- und Heizkosten wird hierbei das tatsächliche (sächliche) Existenzminimum eines Kindes festgestellt, welches sodann als Grundlage für die Festsetzung des steuerfrei zu stellenden
sächlichen Existenzminimums (Kinderfreibetrag)12 dient.
Es liegt klar auf der Hand, dass diese beiden Bezugsgrößen sich nicht immer gleichförmig entwickeln müssen, sondern das ohne weiteres auch gegenläufige Ausschläge denkbar sind.13 Nach den Feststellungen des BGH ist dieser Punkt freilich noch
nicht erreicht; der Bezugsmechanismus nach § 1612b Abs. 5 BGB hält, auch nach
Ansicht des BVerfG,14 derzeit verfassungsrechtlichen Anforderungen noch stand.
Allerdings ist der Gesetzgeber mit Rücksicht auf diese Unsicherheit gehalten, in regelmäßigen Abständen zu prüfen, ob die Bezugsgröße nach der Regelbetrag-VO
(135%) das Existenzminimum eines Kindes, so, wie es vom Einkommensteuerrecht
bzw. dem Existenzminimumbericht definiert wird, noch zuverlässig abbildet.
c) Ausblick
Die dargestellte Unwägbarkeit, aber auch die Kritik des BVerfG, dass Sinn und
Zweck der Kindergeldanrechnung aus dem Gesetz in seiner heutigen Fassung nicht
hinreichend deutlich hervorgehe und dass die Ausgestaltung des Familienleistungsausgleichs immer weniger den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Normenklarheit genüge, haben das Bundesministerium der Justiz veranlasst, eine Neufassung
der Bestimmung im Rahmen der anstehenden Unterhaltsrechtsreform vorzuschlagen. Durch die Änderung soll gewährleistet werden, dass das Kindergeld auf Dauer
nur in dem Ausmaß zur „Unterhaltsaufbesserung“ herangezogen wird, wie es zur Sicherung des kindlichen Existenzminimums tatsächlich benötigt wird. Um dies zu erreichen, wird als Bezugsgröße für den zu gewährleistenden Mindestbedarf des Kindes nicht mehr auf die Regelbetrag-VO abgestellt, sondern unmittelbar auf den einkommensteuerrechtlichen Kinderfreibetrag. Maßgröße soll künftig unmittelbar das
sächliche Existenzminimum eines Kindes nach § 32 Abs. 6 EStG sein. Damit wird für
den Unterhaltsberechtigten, der nicht den „vollen“ Kindesunterhalt leisten kann, in
Zukunft sehr viel besser deutlich werden, weshalb ihm sein Kindergeldanteil „vorenthalten“ wird und bis zu welchen Punkt er ihn für den Kindesunterhalt einzusetzen hat.
Gleichzeitig kommt der Gesetzgeber damit der Forderung entgegen, Unterhalts- und
Steuerrecht zu harmonisieren und aufeinander abzustimmen.
11
Zuletzt fünfter Existenzminimumbericht v. 5. Februar 2004, BT-Drs. 15/2462.
Vgl. § 32 Abs. 6 EstG. Das sächliche Existenzminimum des Kindes nach dem Existenzminimumbericht beträgt 3648 Euro; nach § 32 Abs. 6 EstG steht dem einzelnen Steuerpflichtigen für jedes Kind
ein Freibetrag von 1824 Euro zu und damit beiden Elternteilen der Gesamtbetrag von 3648 Euro.
13
Vgl. Schürmann, FF 2003, 210 (212).
14
Beschl. V. 9. April 2003, FamRZ 2003, 1370 ff.
12
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3. Die Berücksichtigung von Umgangskosten beim Kindesunterhalt
a) Die bisherige Rechtslage
Bislang sind Rechtsprechung15 und Literatur16 im Regelfall davon ausgegangen, dass
die Kosten des Umgangs - das sind insbesondere die Fahrtkosten, Übernachtungskosten und ein eventueller Verpflegungsmehraufwand, aber auch Kosten für Unternehmungen mit dem Kind - vom Umgangsberechtigten selbst zu tragen sind. Der
Umgangsberechtigte, zumeist der barunterhaltspflichtige Elternteil, kann hierfür weder eine unmittelbare Kostenerstattung verlangen noch mindern diese Aufwendungen sein unterhaltspflichtiges Einkommen; sie führen bei ihm auch nicht zu einem
erhöhten Selbstbehalt. Vielmehr bestand bislang Konsens, dass diese Kosten vom
umgangsberechtigten, unterhaltspflichtigen Elternteil zu tragen sind; der Unterhaltspflichtige wurde bislang regelmäßig darauf verwiesen, derartige Kosten unter Zuhilfenahme seines Kindergeldanteils zu bestreiten. Nur in Ausnahmefällen, etwa bei
einem Wegzug des betreuenden Elternteils mit dem Kind in das Ausland, wurde von
dieser Grundlinie abgewichen. So wurde es beispielsweise in Erwägung gezogen,
den Unterhalt des betreuenden Elternteils aus Billigkeitsgründen zu kürzen, damit
dem unterhaltspflichtigen Umgangsberechtigten diejenigen Mittel verbleiben, die ihm
eine angemessene Ausübung des Umgangs mit dem Kind ermöglichen.17
15
Vgl. BGH, FamRZ 1995, 215 ff. m abl. Anm. Weychardt, FamRZ 1995, 539 f.; BGH, FamRZ 1984,
470 (472 f.)(keine Kürzung des Kindesunterhalts, wenn das berechtigte Kind die Ferien beim Unterhaltspflichtigen verbringt); OLG Hamm, FamRB 2004, 324 f. (auch bei engen finanziellen Verhältnissen kann der Umgangsberechtigte vom betreuenden Elternteil nicht verlangen, dass dieser sich an
den Kosten des Umgangs beteiligt); OLG Karlsruhe, FÜR 2003, 28; OLG Bamberg, FamRZ 1987,
1295; OLG Frankfurt/Main, FamRZ 1987, 1033 f.
16
Vgl. MüKo-Finger, BGB (4. Auflage 2002), § 1684 RN 41; Erman/Michalski, BGB (11. Auflage
2004), § 1684, RN. 30; AnwK-BGB/Peschel-Gutzeit (2005), § 1684 RN 23, 42; Johannsen/HenrichBüttner, Jaeger, Eherecht (4. Auflage 2003), § 1361 RN 85, § 1684 RN 30; Staudinger/Rauscher,
BGB (13. Auflage 2000), § 1684 RN 139; Oelkers, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis (2. Auflage
2004), § 2 RN 140 ff.; Gerhardt ua/Oelkers, Handbuch Fachanwalt Familienrecht (5. Auflage 2005),
RN 4-616 ff.; Hoppenz, Familiensachen (7. Auflage 2001), § 1603 RN 18, § 1581 RN 61;
Wendl/Staudigl-Scholz, Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis (6. Auflage 2004), § 2 RN
168, 170 (anders aber für den Mangelfall: § 2 RN 169); Schwab-Motzer, Handbuch des Scheidungsrechts (5. Auflage 2004), 152 (154 ff); Küfner, JAmt 2003, 460 (462). s. aber auch die differenzierenden Lösungen bei Luthin-Margraf, Handbuch des Unterhaltsrechts (10. Auflage 2004), RN 1341a;
Baberger/Roth-Veit, BGB (2003), § 1684 RN 17; Palandt/Diederichsen, BGB (64. Auflage 2005), §
1684 RN 35 ff; Theurer, FamRZ 2004, 1619 ff. (Umgangskosten als Mehrbedarf des Kindes). Zur Frage inwieweit der Unterhaltspflichtige zur Finanzierung des Umgangs Anspruch auf öffentliche Leistungen hat s. ausführlich Chr. Müller, Kind-Prax 2005, 3 ff.; Miesen, FS Groß (2004), 152 ( 162 ff).
17
OLG Karlsruhe, FamRZ 1992, 58 (59). Vgl. weiter OLG Frankfurt/Main, FamRZ 1984, 178; AG
Brühl, FamRZ 1995, 936 f s. auch OLG Dresden, FamRZ 2005, 927 (Verpflichtung des betreuenden
Elternteils, bei einem Wegzug das Kind nach erfolgtem Umgang auf eigene Kosten beim Umgangsberechtigen wieder abzuholen.).
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b) Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs
An dieser rigiden Linie kann heute nicht mehr unbesehen festgehalten werden.18
Denn einerseits ist der Umgang mittlerweile als ein Recht des Kindes ausgestaltet,
zu dessen Wahrnehmung jeder Elternteil verpflichtet ist (§ 1684 Abs. 1 BGB) und das
der Förderung des kindlichen Wohls dient (§ 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB). Andererseits
bringt die zunehmende gesellschaftliche Mobilität auch steigende Umgangskosten
mit sich: Nicht selten entfernen sich die Eltern mit der Trennung räumlich voneinander und leben aus beruflichen oder persönlichen Gründen weit weg voneinander.
Insbesondere dann, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien beengt sind
und die Einkünfte des Unterhaltspflichtigen bist auf den Selbstbehalt für Unterhaltszwecke herangezogen werden, können die mit dem Umgang notwendigerweise verbundenen Fahrtkosten und sonstigen Aufwendungen den Unterhaltspflichtigen davon
abhalten, den Umgang wahrzunehmen.
In dieser Konstellation - dem Unterhaltspflichtigen verbleibt nur der notwendige
Selbstbehalt - führt die vorliegende Entscheidung zu einer Änderung der Rechtsprechung: In Fällen, in denen der Unterhaltspflichtige den ihm zustehenden Kindergeldanteil bereits zur „Ausbesserung“ eines unzureichenden Kindesunterhalts einzusetzen hat, ihm also aufgrund von § 1612b Abs. 5 BGB der Kindergeldanteil ganz oder
teilweise vorenthalten bleibt, ist der Selbstbehalt angemessen zu erhöhen, um den
umgangsberechtigten Unterhaltspflichtigen in die Lage zu versetzen, die Kosten des
Umgangs zu bestreiten.19 Was bedeutet das für die Praxis?
c) Praktische Konsequenzen
Es ist offensichtlich, dass diese Entscheidung ganz erhebliche Auswirkungen auf die
Praxis haben wird.
Dabei geht es zunächst einmal um Grundsätzliches: Die Entscheidung des BGH,
konsequent zu Ende gedacht, bedeutet, dass der Umgang letztlich über den Unterhalt des Kindes mitfinanziert wird.20 Denn die Erhöhung des Selbstbehalts des Unterhaltspflichtigen führt nicht nur dazu, dass diesem im Mangelfall mehr verbleibt,
sondern führt, da der Pflichtige dadurch weniger leistungsfähig ist, auch zu einer echten Kürzung des Kindesunterhalts. Diese Vorstellung schockiert. Das gilt allerdings
nur auf den ersten Blick: Durch zahlreiche rechtstatsächliche Untersuchungen ist
nämlich mittlerweile gut belegt, dass der Unterhalt umso eher und umso regelmäßiger gezahlt wird, je verlässlicher und kontinuierlicher der Umgang ausgeübt wird.
18
Vgl. BVerfG, FamRZ 2003, 1370 (1377); BVerfG, FamRZ 2002, 809 f sowie die ersten Hinweise auf
die Notwendigkeit einer Neubewertung bei BGH, FamRZ 2003, 445 (449). S. auch Schürmann, FF
2003, 210 (212).
19
A.A. Miesen, FS Groß (2004), 152 (156 f. 158): Seiner Ansicht nach bleibt für eine Berücksichtigung
von Umgangskosten kein Raum mehr, sobald der Kindesunterhalt 135% des Regelbetrages unterschreitet. Die Kosten des Umgangs sollen seiner Meinung nach nur bei der Frage einer eventuellen
Höhergruppierung gemäß Anm. 1 der Düsseldorfer Tabelle Berücksichtigung finden; bei hohen Umgangskosten habe dies ggf. zu unterbleiben.
20
Im Ergebnis siehe auch Miesen, FS Groß (2004), 152 (156).
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Fehlender oder unregelmäßiger Umgang führt demgegenüber vielfach früher oder
später auch zu Unterhaltsausfällen.21 Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet erweist
sich die Unterhaltskürzung. zu der es nach der Entscheidung des BGH im Einzelfall
kommen kann, mittel- bis langfristig als eine für das Kind nicht nur in Bezug auf den
Umgang förderliche, sondern auch hinsichtlich seines Unterhalts stabilisierende
Maßnahme. Der Umgangskontakt zwischen Unterhaltspflichtigem und Kind stärkt
erfahrungsgemäß regelmäßig auch dessen Zahlungswilligkeit.
Die nächste - spannende - Frage ist die Umsetzung der Entscheidung im Einzelfall:
Offensichtlich ist, dass Umgangskosten nur dann Berücksichtigung finden können,
wenn ein gerichtlich angeordneter oder ein zwischen den Eltern vereinbarter Umgang
auch tatsächlich stattfindet bzw. dies im Einzelfall aufgrund einer Prognose mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist. Für den Ansatz von „fiktiven Umgangskosten“
sollte kein Raum sein. Weitaus schwieriger ist demgegenüber zu beurteilen, welche
Kosten Berücksichtigung finden können: Einen ersten Hinweis gibt bereits der BGH
in der Entscheidung selbst; eventuelle Mehrkosten für die Vorhaltung von Wohnraum
beim Unterhaltspflichtigen für das Kind sollen nicht anerkennungsfähig sein. Vielmehr
geht es im Wesentlichen um Fahrtkosten und eventuell auch um einen Verpflegungsmehraufwand für das Kind. Hier ist die Praxis gefordert, geeignete Maßstäbe
zu entwickeln, anhand derer geklärt werden kann, in welchem Umfang und unter
welchen Voraussetzungen diese Kosten Anerkennung finden können. Dabei wird
auch darüber zu entscheiden sein, ob die zu berücksichtigenden Kosten nach oben
hin durch den maximalen Kindergeldanteil, derzeit also 77 Euro, begrenzt sind - hierfür spricht manches22 - oder nicht. Schließlich ist - unter Berücksichtigung der beengten wirtschaftlichen Verhältnisse des Unterhaltspflichtigen einerseits und der negativen Auswirkungen eines unterbleibenden Umgangs auf das kindliche Wohl andererseits - zu klären, in welchem Umfang die Ausübung des Umgangs angemessen ist.
Fazit ist: Auf die weitere Entwicklung und die nähere Ausformung dieser wichtigen
Thematik durch die beratende und die forensische Praxis darf man gespannt sein.
21
Vgl. Proksch, Rechtstatsächliche Untersuchung zur Reform des Kindschaftsrechts (2002), S. 172 ff;
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg), Unterhaltszahlungen für minderjährige Kinder in Deutschland (2002), S. 60 f. 100 ff.; Andreß/Borgloh/Güllner/Wilking, Wenn aus Liebe
rote Zahlen werden – Über die wirtschaftlichen Folgen von Trennung und Scheidung (2003), S. 173 ff.,
309f.
22
So auch Luthin, FamRZ 2005, 708 (709), Miesen FS Groß (2004) 152 (158 f.) und wohl auch OLG
Frankfurt/Main, Urt. v. 29. Januar 2004 (Entscheidung Nr. 2 im Rechtsprechungsteil dieses Heftes =
FÜR 2004, 398). Anders dagegen OLG Düsseldorf, Urt. v. 26. Januar 2005 (unveröffentlicht Az. II-8
UF 180/04; die aufgrund des Umzugs des betreuenden Elterteils mit dem Kind von NordrheinWestfalen nach Sachsen entstehenden Umgangskosten werden beim Unterhaltspflichtigen zur Hälfte
[105 Euro] als einkommensmindernd bewertet.).

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