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WAS MENSCHEN BEWEGT _IVAR NIEDERBERGER
Der Getriebene
Ivar Niederberger leidet am Tourette-Syndrom, kann schlecht lesen und schreiben.
Das hat ihn nicht daran gehindert, ein erfolgreicher Unternehmer zu werden.
Sein Geheimnis:
Einfach tun, was man kann.
Text: Bastian Henrichs Foto: Andreas Mader
•
Jetzt bloß nicht nachdenken. Tun. Den Stift raus, den neuen
Skizzenblock und los. Einfach tun, nicht nachdenken. Die Hand
zuckt, der Arm, der ganze Körper. Das macht es schwer, gerade
Linien zu zeichnen. Doch wenn er sich konzentriert, geht es. Der
Schweizer Ivar Niederberger sitzt im Flugzeug von Paris nach
Basel. Er hat sich etwas in den Kopf gesetzt, eine neue Idee, eine
neue Aufgabe. Und er kann nicht warten, bis er zu Hause ist. Das
hätte ihn nur blockiert. Er muss es tun. Jetzt. Ivar Niederberger,
Legastheniker und seit seiner Kindheit am Tourette-Syndrom
erkrankt, entwirft im Flugzeug seine erste Bluse. Er weiß, wie
eine Bluse aussieht, hat aber noch nie eine gezeichnet. Sein fertiges Modell gefällt ihm gut, nein, er ist von ihm überzeugt. Das
ist wichtig. Überzeugung, Mut, Fleiß. Diese drei bringen ihn
seinem Lebensziel näher. Der Entwurf im Flugzeug macht Ivar
Niederberger zum Millionär.
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Schon als kleiner Junge hatte er sich vorgenommen, später einmal viel Geld zu verdienen. Trotz seiner Rechtschreib- und Leseschwäche, trotz Tourette-Syndroms. Er wurde belächelt, aber das
kümmerte ihn nicht. Er gibt bis heute nicht viel auf die Meinung
anderer. Täte er das, wäre er nicht Millionär. Er hätte sich nicht
hochgearbeitet, hätte nicht unzählige Jobs angefangen und wieder
aufgegeben, weil er mehr wollte. Er wäre nicht Geschäftsführer
der Niederberger Betriebs GmbH, hätte nicht 150 Mitarbeiter, die
in seinen 23 Kleidi-Läden in der Schweiz, in Deutschland und den
Niederlanden Mode für Frauen ab 40 verkaufen. Er wäre kein
Immobilienhändler geworden, besäße keine 500 Quadratmeter
große Wohnung, keine sechs Autos, keine Pferde und keine Visitenkarte, auf die er gleich drei verschiedene Berufsbezeichnungen
hat drucken lassen. Hätte er auf andere gehört, wäre er heute
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vielleicht Kfz-Mechaniker.
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Zwölf Jahre nach dem Flug von Paris nach Basel
fährt Niederberger in einem silbernen Bentley durch
die Stadt. Seine Stadt: Basel. Hier fühlt er sich wohl,
hier hat er sich ein Netz gesponnen, hier wird er auf
der Straße erkannt, nur hier möchte er leben. Der
39-Jährige ist leger gekleidet, trägt Khaki-Hosen und
ein blau-weiß kariertes Lacoste-Hemd. Er ist ein
Markenfreak, der gern zeigt, was er hat. An beiden
Handgelenken blitzt eine Rolex, auch die ausgetretenen Lederschuhe mit den unübersehbaren goldenen
Initialen von Louis Vuitton geben einen Hinweis auf
sein Vermögen.
Aber er wirkt tapsig. Dem Körper fehlt die selbstbewusste Spannung, dem Gesicht fehlen die souveränen Züge, die man von einem Millionär erwarten
würde. Während er redet, gibt er Laute von sich, die
wie ein unterdrückter Schluckauf klingen, dann wie
das kurze Jaulen eines Hundes oder wie ein Aufstöhnen nach einem Schlag in den Magen. Kaum ein Satz,
der nicht durch ein solches Geräusch unterbrochen
wird. Diejenigen, die ihn kennen, wissen darum und
auch, dass er immer wieder unkontrolliert zuckt.
Mal ist es nur eine Bewegung mit dem Kopf, mal ist
es der ganze Körper, der plötzlich aus dem Stuhl
hochschreckt und Sekundenbruchteile später wieder
zurücksinkt. Manche Leute schauen verlegen zur
Seite, andere tun unbeteiligt.
Niederberger ist den ganzen Tag unterwegs. Mit
der Damenbluse, die er damals im Flugzeug zeichnete, gelang ihm der Durchbruch. Inzwischen läuft
das Kleidergeschäft fast von allein. Er hat Angestellte,
die sich um alles kümmern. Er selbst kontrolliert nur Immer unterwegs, immer unter Strom: Ivar Niederberger
noch und entscheidet, wann die Sommermode reduziert werden soll, wann die Herbstkollektion geliefert
werden soll und wie sie auszusehen hat. Manchmal zeichnet er bekommt einen Vertrag zugeschoben. Er faltet das Papier ausnoch Entwürfe, die seine Lebensgefährtin Petra Woiton, eine ge- einander, wirft einen Blick darauf, blättert die drei Seiten durch,
lernte Modedesignerin, dann ausarbeitet. Aber die meiste Zeit legt sie zurück in den Umschlag. Er macht einen professionellen
Eindruck. In diesem Moment weiß nur er: Lesen würde viel zu
verkauft Niederberger nicht mehr Kleider, sondern Immobilien.
An diesem Morgen trifft er einen Profi-Fußballer, der ein Haus lange dauern, das muss jemand anders für ihn erledigen. „Ich
erwerben möchte. Danach einen Kunden, der ein Ladengeschäft kann lesen und schreiben, aber nur sehr schwach“, sagt er. Als er
verkaufen will. Am Mittag hat er ein Geschäftsessen in der Stadt, einmal die Worte „Dienstag“ und „liefern“ in sein Notizbuch
im Anschluss daran ein Beratungsgespräch, am frühen Abend kritzelt, schreibt er beides ohne e.
Zwischen den Terminen schaut er noch in einem Kleidi-Laden
eine Vertragsunterzeichnung. Ein Termin jagt den nächsten, sein
in der Innenstadt nach dem Rechten. Die Verkäuferin, eine grauHandy bleibt selten ruhig.
Das Telefon ist sein Kommunikationsmittel. Für einen Com- haarige Mittfünfzigerin, trägt die Sachen, die es im Laden zu
puter ist er zu ungeduldig. „Ich tippe nach dem RAF-Prinzip“, sagt kaufen gibt. Sie ist gelernte Schneiderin und liebt die weit geschniter. „Jede Stunde ein Anschlag.“ Beim Telefonieren zuckt sein Kopf tenen Blusen und Hosen. Das begeistert Niederberger. Sie ist eine
seiner besten Verkäuferinnen. „Mir gefallen die Kleider an den
immer wieder zur Seite, als beiße ihn das Telefon ins Ohr.
Er muss noch einen weiteren Termin unterbringen. Das nächs- Frauen“, sagt er über seine eigene Mode. Ihm ist egal, dass es
te Café, der fünfte Espresso, das dritte Wasser. Niederberger keine sexy Klamotten für junge Frauen sind. Schnell geht er durch
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die engen Reihen und sortiert die Kleider nach Farben. Unordnung macht ihn nervös. Nach zehn Minuten ist er zufrieden und
verabschiedet sich wieder.
Trotz der vielen Termine und den oft gleichen Abläufen ist
Niederberger immer freundlich und locker, macht Witze, unterhält sich auf der Straße mit Leuten, die er zufällig trifft. Dann
spricht er mit lauter, selbstbewusster Stimme, häufig benutzt er
plakative Formeln, die er sich zurechtgelegt hat. Sätze wie: „Nach
dem Geschäft ist vor dem Geschäft.“ Oder: „Erfolg kommt vom
Tun, nicht vom Lassen.“ Je wichtiger das Gespräch, desto konzentrierter ist er. Über seine Handicaps spricht er nur ungern, er hat
sie eben. „Es hat meinen Charakter geprägt“, sagt Niederberger,
„und mich stark gemacht.“
Als er sechs Jahre alt war, bemerkte Niederberger, dass er
manchmal Geräusche von sich gab, von denen er nicht wusste,
woher sie kamen, und dass sein Körper immerzu unkontrollierbar zuckte. Seine Mutter ging mit ihm zum Arzt. Der sagte, dass
sich die Zuckungen mit der Pubertät wieder legen würden. Zwar
wurde das Tourette-Syndrom bereits 1885 von Georges Gilles de
la Tourette entdeckt. Aber im Jahr 1975, als Niederberger beim
Arzt war, war diese neuropsychiatrische Erkrankung noch weitgehend unbekannt. Entsprechend ungenau waren die damaligen
Diagnosen.
Auch in der Pubertät verschwanden Niederbergers Tics nicht.
Doch er litt nicht an den typischen Folgen der Krankheit. Weder
war er depressiv, noch versteckte er sich. Wenn seine Mitschüler
ihn aufzogen, verteidigte er sich. „Die haben schnell gemerkt,
dass sie mich nicht ärgern können.“ Seine Strategie: die anderen
lächerlich machen. So wurde er selbstbewusst. Als Schüler hatte
er viele Freunde. Hemmungen, auf Leute zuzugehen, kannte er
nicht. Das ist bis heute so.
Als Niederberger zehn Jahre alt war, machten sich die Eltern
große Sorgen. In der Schule war ihr Sohn schlecht. Lern- und
Konzentrationsstörungen können ebenfalls eine Folge des TouretteSyndroms sein. Doch es kam schlimmer: Ivar war Legastheniker
und wurde auf eine Sonderschule geschickt. „Die unterste Liga“,
sagt er heute. „Die Schule hat mich angekackt, ich habe mich für
nichts interessiert.“
Schon früh kreisten seine Gedanken darum, womit er Geld
verdienen könne. Die ersten Geschäfte machte er gemeinsam mit
seinem Vater, einem Gemüsehändler. In dessen Garten hatte der
Sohn ein eigenes Beet und verkaufte seinen Salat. Dann schrubbte
er mit einem Freund Grabsteine. Damit sie mit der Arbeit schneller
fertig wurden, benutzten sie Bleichmittel. Sie erledigten in zehn
Minuten, was sonst einen halben Tag gedauert hätte, und kassierten nach zwei Steinen schon den Tagessatz.
Neun Jahre ging Niederberger widerwillig zur Schule. Danach
begann er eine Lehre als Karosseriebauer, das mochte er, doch er
fiel durch die Prüfung. Das Lernen fiel ihm unglaublich schwer.
„Ich musste lernen, vom Leben zu lernen“, sagt er. Nach der
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Lehre schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch: als Chauffeur,
als Reifenmonteur, als Dachdecker, als Laden- und Bühnenbauer.
„Alle zwei Monate habe ich etwas Neues ausprobiert.“ Niederberger war rastlos. Er war auf der Suche nach seiner Leidenschaft,
nach etwas, das er konnte, das ihn auszeichnete.
Manchmal nahmen ihn Geschäftspartner nicht
ernst, weil sein Körper zuckte. Das spornte ihn an
In einem Verlag bekam er einen Job als Anzeigenverkäufer und
merkte: Verkaufen könnte seine Berufung sein. Er wusste, was die
Kunden hören wollten, und er hatte immer das richtige Argument
parat. In einem Team von zehn Leuten machte er fast die Hälfte
des Umsatzes. Schließlich warb ihn ein anderer Verlag ab und bot
ihm an, auf eigene Rechnung zu arbeiten und Provisionen zu kassieren. Niederberger nutzte die Chance und machte sich selbstständig. Endlich konnte er so viel arbeiten, wie er wollte. Neben
den Anzeigen verkaufte er bald auch Rechtsschutzversicherungen.
Die Arbeit befriedigte ihn und gab ihm das Gefühl, dass er es zu
etwas bringen konnte. Im Alter von 20 belohnte er sich für seine
Leistungen mit einem Mercedes 500.
Doch einfach war das alles nicht. Niederberger kann bis heute
nicht besonders gut lesen und schreiben. Bürokratie ist für ihn ein
Albtraum. Verträge schließt er per Handschlag. Die Leute vertrauen ihm, er vertraut den Leuten – nach dem Geschäft ist vor
dem Geschäft. Sorgfältig suchte er die richtigen Partner. Das ging
nicht immer gut. „Jedes zehnte Geschäft muss in die Hose gehen“,
sagt er. „Wenn das nicht so wäre, macht man etwas falsch.“ Es
kam vor, dass Leute ihn nicht ernst nahmen, weil er noch jung
war oder weil sein Körper zuckte. Doch das weckte nur seinen
Ehrgeiz.
Die Zeit nach der Schule, die abgebrochene Ausbildung, die
zahlreichen Jobs, die Rückschläge haben aus ihm den Geschäftsmann gemacht, der er heute ist. Seine Krankheit belastet ihn,
aber er kennt es nicht anders. Er muss damit leben. „Ich habe
Dreck gefressen“, sagt er. „Und ich fand es geil. So habe ich meine
Firma aufgebaut.“
Niederberger glaubt nicht an Zufälle. Er glaubt an harte
Arbeit. Es ist eine Mischung aus beidem, die es ihm schließlich
ermöglichte, sein eigenes Unternehmen aufzubauen. Eines Tages
fragte ihn sein ehemaliger Chef, bei dem er die Anzeigen verkauft
hatte, ob er sich vorstellen könne, in einem Restpostenlager Textilien zu verkaufen. Er mache ihn zum Filialleiter, er allein wäre
für den Laden verantwortlich. Niederberger wollte. „Handel, das
hat mir einen Kick gegeben. Ich hatte Top-Umsätze“, sagt er.
Doch sein Chef forderte mehr, behauptete, dass andere Filialen höhere Umsätze machten, und verdächtigte Niederberger
sogar, die Zahlen zu fälschen und Geld zu veruntreuen. Das war
zu viel. Niederberger schmiss hin. Sofort. Einen solch schweren
Vorwurf wollte er sich nicht bieten lassen. „Ich habe einen 3
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absolut seriösen Namen. Der ist für die Leute wie eine Bankgarantie. Das habe ich mir in 20 Jahren aufgebaut“, sagt er heute.
Da es ihm gefallen hatte, Kleidung zu verkaufen, beschloss er
auf eigene Faust weiterzumachen: Er mietete ein kleines Ladenlokal und eröffnete seine eigene Reste-Rampe. In derselben Straße,
in der auch der Laden seines alten Chefs war. Wenn man ihn
beleidigt, schlägt er zurück. So wie in der Schule.
Arbeit, Arbeit, Arbeit –
sonst wird ihm schnell langweilig
Als Erstes bestellte Niederberger Restposten von Damenbekleidung. Denn Frauen kaufen bekanntlich mehr Kleider als Männer.
Ein Handicap wurde ungewollt zu einem Vorteil: Er war ein Anfänger und kannte die Einkaufspreise für überschüssige Ware
nicht. Deshalb bezahlte er viel zu viel. Seine Marge war gering,
dafür sprach sich aber schnell herum, dass mit dem jungen Mann
aus Basel gute Geschäfte zu machen waren. Bevor wieder ein
Posten abgegeben wurde, riefen die Verkäufer bei Niederberger
an, um ihm ihre Hosen und Blusen anzubieten. So kam er an die
beste Ware – und konnte sie entsprechend teuer verkaufen. Sein
Laden florierte. Er nannte ihn Kleidi.
Eines Tages brauchte Niederberger Ware für den Sommer. Da
keiner seiner Lieferanten etwas auf Lager hatte, hätte er warten
müssen. Doch Warten gehört nicht zu seinen Stärken. „Wenn ich
zusammen mit meiner Lebensgefährtin eine Verabredung habe
und sie ist nicht rechtzeitig fertig, weil sie sich noch hübsch
machen muss, bin ich imstande, ohne sie loszufahren“, sagt er.
Innere Unruhe und notorische Pünktlichkeit sind Begleiterscheinungen des Tourette-Syndroms.
Da er auf die Sommerware ebenso wenig warten wollte wie
auf seine Freundin, erkundigte er sich, wo er Mode bekommen
könne, und flog nach Paris. Es war seine innere Unruhe, die ihn
dazu zwang. Er sprach kein Wort Französisch, doch er fand einen
Hersteller, bei dem eine junge Französin mit ihm auf Deutsch
verhandeln konnte. Das Problem: Die Firma verkaufte ausschließlich Damenblusen in XXL und in nur einem einzigen Schnitt.
Niederberger entschied kurz entschlossen, es zu versuchen. Das
Risiko war gering, denn in Paris bemerkte er, warum er sich bei
den Lieferanten zu Hause einen so guten Namen hatte machen
können. Er hatte die ganze Zeit für seine Restposten den gleichen
Preis bezahlt wie die Händler für Neuware. Statt sich über seine
Naivität zu ärgern, freute er sich über seine Entdeckung. Denn in
diesem Moment wusste er, dass er nie wieder Ladenhüter verkaufen würde, sondern Neuware. Blusen in XXL.
Zurück in Basel, hängte er sein neues Modell ins Schaufenster. Zu seinem Erstaunen rannten ihm die Kundinnen den Laden
ein. Schon bald musste er nachbestellen, und so flog er abermals
nach Paris, um mehr Blusen zu ordern. Er wollte auch andere
Schnitte und passende Hosen. Doch seine Partner hatten keine
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anderen Modelle. Wenn er aber Skizzen liefere, dann könne man
alles schneidern lassen, sagte ihm seine Ansprechpartnerin. Noch
bevor er ins Flugzeug stieg, kaufte sich Niederberger einen
Skizzenblock. Und damit begann die eigentliche Unternehmensgeschichte.
Inzwischen hat er sein Ziel erreicht. Er ist Millionär. Innerhalb
weniger Jahre hat er 20 Läden in der Schweiz eröffnet. Auch in
Deutschland, in Dresden und Jena, gibt es zwei Kleidis, außerdem
einen in Amsterdam. Es sind Franchise-Nehmer, die auf eigene
Verantwortung, aber unter Niederbergers Label arbeiten und
ausschließlich seine Ware verkaufen. „Der deutsche Markt ist
schwer“, hat er inzwischen festgestellt. „Die Mehrwertsteuer ist
viel zu hoch, und es gibt zu viel Bürokratie.“
So wie er seine eigene Kleidermarke entwickelt hat, so wie
er früher alle zwei Monate den Job gewechselt hat, so arbeitet
Niederberger auch heute noch. Er folgt seinen Instinkten und
geht Impulsen nach. Wenn jemand auf ihn zukommt und ihm ein
Geschäft vorschlägt, entscheidet er meist schnell und direkt. Auf
diese Weise schlitterte er auch ins Immobiliengeschäft. Als er ein
Lager suchte, erwarb er für 2,15 Millionen Franken ein geeignetes
Objekt. Eine Million Franken hatte er, den Rest lieh er sich von
der Bank. Die ließ den Wert des Gebäudes von einem unabhängigen Gutachter schätzen und bestimmte den Wert mit rund
sieben Millionen Franken.
Daraufhin fragte die Bank Niederberger, ob er sich vorstellen
könne, künftig auch Immobilien zu verkaufen, er habe dafür ja
anscheinend ein Händchen. Er sagte Ja, und heute weiß er nie
genau, wie viele Häuser er gerade zum Verkauf anbietet, meist
laufen mehrere Geschäfte parallel. 1,5 Prozent fallen bei jedem
Verkauf für ihn ab. In den vier Jahren, die er nun in dieser Branche
ist, habe er Objekte im Wert von rund 300 Millionen Schweizer
Franken verkauft. Macht einen Gewinn von 4,5 Millionen.
Niederbergers Leben bestand immer nur aus Arbeit. Das ist
mit wenigen Ausnahmen auch heute noch so, trotz der Millionen
auf seinem Konto. „Ich arbeite nicht mehr des Geldes wegen, es
geht um das Spiel.“ Er fährt nie in Urlaub, selten, dass er mal zu
Hause auf dem Sofa sitzt, ohne darüber nachzudenken, was als
Nächstes zu tun wäre. Stress kennt er nicht. „Ich stresse andere“,
sagt er. Sonntage hat er früher gehasst, weil dann außer ihm niemand arbeitete.
Darum hat er sich für das Wochenende eine Beschäftigung
gesucht: Seit vier Jahren fährt er Trabrennen. Seine Lebensgefährtin hat seine Leidenschaft für Pferde geweckt. Im gemeinsamen
Wohnzimmer hängen Bilder von Niederberger auf einem Sulky.
Petra Woiton, eine sportliche Frohnatur, hat er bei der Arbeit kennengelernt. Sie bewohnen zusammen das Dachgeschoss seiner
Lagerhalle. Draußen eine riesige Terrasse mit Swimmingpool und
einem Blick auf die hinter dem Industriegebiet aufragenden Hügel,
drinnen ein mit Kuhfell überzogenes Sofa, eine offene Küche,
viel Licht und jede Menge Platz. Nur heiraten will er nicht. Das
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hat ihm schon einmal kein Glück gebracht. Vier Monate lang
hielt seine erste Ehe, bevor sie in die Brüche ging.
Auch Kinder will Niederberger nicht. Er hat Angst, dass das
Tourette-Syndrom sich vererben könnte. Und wenn sein Kind
diese Behinderung ebenfalls hätte, könnte er es nicht mit ihm
aushalten. Er kann nicht mit Menschen zusammen sein, die unter
dem Syndrom leiden. Es überkommt ihn dann eine schlimme
Nervosität, und die Zuckungen werden stärker als sonst. Sein
Zwillingsbruder, der auch in Basel wohnt, hat kein Handicap,
und er führe ein ganz anderes Leben, sagt Niederberger: Er lebe
für seine Tochter und arbeite im Schichtdienst. Die beiden sehen
sich viermal im Jahr.
Seinen besten Freund André Kunz kennt Niederberger schon
seit mehr als zehn Jahren. Sie haben miteinander Geschäfte
gemacht und sind sich näher gekommen. „Seine Krankheit hat
mich nie gestört“, sagt Kunz, „aber manche denken, er habe einen
Knall.“ Dass es Leute gibt, die nicht mit seinem Tic umgehen
können, dafür hat Niederberger Verständnis. Er ist froh, dass das
Tourette-Syndrom bei ihm nicht so stark ausgeprägt ist. Er muss
nicht schreien, und wenn er sich die gleichen Sätze im Kopf
immer wieder vorbetet, kann er die Zuckungen eine Zeit lang
sogar kontrollieren. Insgesamt, so erzählt Kunz, komme Nieder-
Am Sonntag ausnahmsweise nur von einer Pferdestärke angetrieben
berger gut bei den Leuten an, weil er sehr direkt sei. „Und man
kann sich hundertprozentig auf Ivar verlassen.“
Niederberger ist ein gefragter Mann. Ihm eilt der Ruf voraus,
dass das, was er anpackt, auch funktionieren wird. Sein neuestes
Projekt: Outdoor-Kleidung. Zwei junge Gründer, Mitte 20, haben
ihn um Unterstützung gebeten. Er gibt die Hälfte des Geldes und
bringt seine Ideen ein, die anderen arbeiten. Aktuell sind seine
Partner in China und Vietnam, um geeignete Produktionsstätten
zu suchen. Niederberger ist streng. Wenn sie anrufen und nörgeln,
kann er sehr barsch werden. Er verlangt von seinen Mitarbeitern
dasselbe, was er sich selbst abverlangt. „Ich bin nicht lieb, aber
die Jungs merken, dass ich es gut mit ihnen meine“, sagt er. Die
Sorge, dass das Projekt scheitern könnte, treibt ihn nicht um.
„Das ist doch eine schöne Herausforderung.“ Er denkt auch nicht
darüber nach, ob er viel Geld verpulvert, er wisse nicht mal, wie
reich er sei. Eines aber weiß er: „Selbst wenn ich alles verlieren
würde, ich hätte schnell wieder neues Geld.“ Denn irgendein
Projekt gibt es immer. Bald erscheint das Buch, in dem er seine
Geschichte erzählt. Darauf ist der Legastheniker stolz. Er hat es
selbst geschrieben. Mehr als drei Jahre hat er dafür gebraucht,
seine Sekretärin tippte es ab. Den Titel kannte er von Anfang an:
„Glück hat drei Buchstaben – Tun.“
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