Die neue Welt der ncRNAs und ihre medizinische Relevanz

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Die neue Welt der ncRNAs und ihre medizinische Relevanz
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Biomarker
Die neue Welt der ncRNAs und ihre
medizinische Relevanz
JÖRG HACKERMÜLLER 1 , FRIEDEMANN HORN 1, 2 , PETER F. STADLER 1, 3 ,
BARBARA BULLER 4
1 FRAUNHOFER-INSTITUT FÜR ZELLTHERAPIE UND IMMUNOLOGIE (IZI), LEIPZIG
2 INSTITUT FÜR KLINISCHE IMMUNOLOGIE, UNIVERSITÄT LEIPZIG
3 INSTITUT FÜR INFORMATIK, UNIVERSITÄT LEIPZIG
4 WISS + PA, POTSDAM-GOLM
Nicht-codierende RNAs (ncRNAs) werden mit hoher Zell-Spezifität
gebildet. Damit steht ein bislang kaum ausgeschöpftes Reservoir für
potente und hochspezifische Biomarker zur Verfügung, und neue therapeutische Möglichkeiten zeichnen sich ab.
Non-coding RNAs (ncRNAs) are formed with high cell specificity. This
makes them a pool for powerful and highly specific biomarkers which has
scarcely been exploited until today. Indications of their novel therapeutic
potential are also emerging.
ó „Wir sind fertig“, mit dieser Schlagzeile
kündigte SPIEGEL ONLINE die vollständige
Entschlüsselung des menschlichen Genoms
im Rahmen des HUGO-Projekts (Human
Genome Organization) im Jahr 2003 an. Bei
aller Euphorie war man damals fast enttäuscht, dass für den Bau des menschlichen
Organismus nur wenig mehr Gene notwen-
dig sind als z. B. für den Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Nur 1,5 Prozent der DNA
werden für die Proteincodierung genutzt, der
scheinbar überflüssige Rest wurde kurzerhand als „Junk – genetischer Müll“ abgetan.
Aber gerade in der Menge dieser scheinbar
nicht genutzten DNA unterscheidet sich der
Mensch vom Fadenwurm (Abb. 1).
Meilensteine der Genomforschung:
ENCODE und das „small RNA Maps
Project“
Die Identifizierung aller funktionellen Elemente des menschlichen Genoms war
das gemeinsame Ziel von ca. 30 internationalen Arbeitsgruppen, darunter auch das Team
der Leipziger Autoren dieses Artikels. Im
ENCODE-Projekt (Encyclopedia of DNA Elements, [1]) sollte die experimentelle und bioinformatische Untersuchung von insgesamt
ein Prozent des menschlichen Genoms die
Basis für die weitere Analyse mit anderen
Methoden schaffen. Zur Überraschung der
Beteiligten zeigte ENCODE, dass die DNA fast
vollständig transkribiert wird. Aber nur ganz
allmählich setzt sich auch die Erkenntnis
durch, dass genau den Transkripten, die nicht
für ein Protein codieren, eventuell eine Schlüsselfunktion für die Steuerungsvorgänge der
Zelle zukommt. Doch John S. Mattick [2, 3],
einer der Pioniere der ncRNA-Forschung, sieht
darin den Anfang eines neuen Kapitels in der
Molekularbiologie.
Eine weitere Dimension eröffnete das
„small RNA Maps Project“ [4]: Genomweit
wird demnach eine Unzahl von Primärtranskripten gebildet. Diese werden zellspezifisch
in eine Vielzahl kleinerer RNAs prozessiert.
In jedem Zelltyp oder Stadium entstehen so
unzählige, zum größten Teil bisher nicht
beschriebene ncRNAs, die als molekulare
Marker dienen könnten (Abb. 2). Es ist absehbar, dass mit zunehmendem Verständnis der
ncRNA-gesteuerten funktionellen Abläufe
ncRNAs auch als hochwirksame Mittel in die
Therapie Eingang finden werden.
Die Methoden der Genomstudien
˚ Abb. 1: Nicht-codierende DNA-Sequenzen bei unterschiedlich komplexen Organismen.
BIOspektrum | 05.09 | 15. Jahrgang
Ein großer Teil der bioinformatischen Untersuchungen für die oben genannten genomweiten Projekte wurde in Leipzig an der Universität und am Fraunhofer-IZI durchgeführt.
Die in ENCODE verwendeten experimentellen und bioinformatischen Methoden wurden
hier weiterentwickelt, um krankheitsrelevante ncRNAs zu studieren. Da der Großteil
der ncRNAs bisher nicht charakterisiert wur-
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˘ Abb. 2: Das gesamte Genom wird transkribiert; ncRNATranskripte (orange) kommen intergenisch, aber auch
überlappend mit mRNA-Genen (lila) oder intronisch vor.
de, müssen die dafür eingesetzten Methoden
neue wie bekannte ncRNAs unabhängig von
Typ oder Lokus im Genom detektieren können. Man erreicht dies durch Tiling-ArrayUntersuchungen und Transkriptomsequenzierung.
Genomweite Tiling-Arrays (GTAs) sind Mikroarrays, die das gesamte Genom, mit Ausnahme repetitiver Bereiche, mit Sonden in regelmäßigen Abständen abrastern. Am Fraunhofer-IZI werden dafür üblicherweise Arrays verwendet, die alle 35 Nukleotide eine Sonde tragen. Mit dieser Auflösung lässt sich das
menschliche Genom mit ca. 80 Millionen Sonden auf 14 Arrays abbilden. Transkripte ab ca.
120 Nukleotiden sind so verlässlich detektierbar. Bei dieser Technik werden RNAs mehrfach
umgeschrieben. Mit einem Fluoreszenzfarbstoff
markiert binden sie an die zu ihnen komplementäre Sonde und können so einem Bereich
im Genom zugeordnet werden (Abb. 3). Zur
Auswertung der großen, komplexen Datensätze wurden im Fraunhofer-IZI eigene bioinformatische Verfahren entwickelt. Diese Technologie hat in zahlreichen Experimenten bereits
zur Detektion neuer ncRNAs geführt.
Transkriptomsequenzierung: Ultra-Hochdurchsatz-Sequenzierung (UHTS) ermöglicht
es, Transkripte durch Sequenzieren und
Abzählen zu erfassen. Derzeit ist die Technik
vor allem für Ausschnitte aus dem Transkriptom, beispielsweise für kleine RNAs
geeignet. UHTS und GTAs werden am Fraunhofer-IZI gekoppelt eingesetzt, um Transkriptome möglichst vollständig zu erfassen.
Typischerweise werden bei einem UHTSExperiment mehrere Millionen Sequenzen
pro Probe generiert. Die Algorithmen für die
fehlertolerante Zuordnung zu ihrem Herkunftsort im Genom wurden gemeinsam mit
der Universität Leipzig entwickelt.
Per Chip zu neuen ncRNAs
Die Erfahrungen aus den genomweiten Transkriptomprojekten führten am Fraunhofer-IZI
zur Entwicklung eines speziell für die Biomarkerforschung in der Onkologie geeigneten Mikroarrays, dem nONCOchip™. Gemeinsam mit Kollegen der Universität Leipzig wurden mithilfe von Tiling-Arrays bekannte, onkologisch bedeutsame Signalwege in Tumorzellen untersucht. So konnten genomweit
etwa 30.000 transkriptionell aktive Bereiche
identifiziert werden, die von solchen Signalwegen reguliert werden. Der nONCOchip
repräsentiert alle diese Transkripte sowie weitere, bioinformatisch vorhergesagte ncRNAKandidaten. Bei zwei Krebsarten, dem Prostatakarzinom und dem Multiplen Myelom,
wurden auf diesem Weg bereits neue Biomarker-Kandidaten gefunden.
Auch bei der Abklärung der Krankheitsrelevanz bereits identifizierter Transkripte führte der nONCOchip zu vielversprechenden
Ergebnissen. Transkripte, die nach Induktion
bekannter onkologischer Signalwege gewonnen wurden, wurden mit dem nONCOchip
untersucht. Diese wurden dabei in einer
Sammlung von Astrozytom- und Glioblastomproben unterschiedlicher Stadien verglichen. Es konnte gezeigt werden, dass die
Expressionsprofile eines Teils dieser ncRNAs
in der Lage sind, zwischen diesen Stadien zu
unterscheiden. Dies belegt das große Potenzial der ncRNAs als Biomarker, z. B. für die
Frühdiagnose von Krankheiten oder als prädiktiver Marker für das Ansprechen auf ein
bestimmtes Therapeutikum. Derartige BioBIOspektrum | 05.09 | 15. Jahrgang
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petenzen von sechs Fraunhofer-Instituten
bündelt; die Entwicklung aussagekräftiger
Testmodelle gehört ebenso dazu wie die Herstellung und Dotierung geeigneter Arrays,
Entwicklung geeigneter Mess- und Analyseverfahren, die Einrichtung von Zellbanken
und schließlich die gezielte Suche nach relevanten Biomarkern.
ó
˚ Abb. 3: Genomweite Tiling-Arrays, ein Weg zur Entdeckung neuer ncRNAs. Identifizierung einer
durch das Zytokin Interleukin-6 (IL-6) regulierten ncRNA in Zellen des Multiplen Myeloms. Gezeigt
sind Tiling-Array-Signale von Zellen, die 13 Stunden lang ohne IL-6 kultiviert wurden (w/o IL-6);
eine Stunde, nachdem diese Zellen mit IL-6 restimuliert wurden (1h IL-6); und von Zellen, die permanent mit IL-6 kultiviert wurden (permanent IL-6). Die Signale sind auf der x-Achse entsprechend der chromosomalen Position der jeweiligen Sonde angeordnet. Die y-Achse entspricht
einem normalisierten Fluoreszenzsignal, das mit steigender RNA-Konzentration zunimmt. Gut zu
erkennen ist die Bildung eines langen Transkripts, das nach einer Stunde mit ca. 170 kb in etwa
die Länge erreicht hat, die eine RNA-Polymerase in einer Stunde zurücklegen kann. Das vollständige Transkript mit einer Länge von ca. 230 kb ist in permanent mit IL-6 kultivierten Zellen
erkennbar.
marker sind essenzielle Bestandteile der personalisierten Medizin, um für ein Individuum aus einer Reihe von Therapieoptionen
nach rationalen Kriterien die optimale auszuwählen.
ncRNAs – klinische Bedeutung und
Ansätze für die Therapie
Unabhängig von der derzeit fieberhaften
Suche nach neuen ncRNA-Biomarkern wurden einige dieser Marker eher zufällig im Rahmen von mRNA-Studien gefunden. So wurde
die ncRNA hcn als Marker für das hepatozelluläre Karzinom entdeckt [5], MIAT signalisiert erhöhtes Myokardinfarktrisiko. Die Aussagekraft des bisher üblichen PSA-Tests für
Prostatakarzinom konnte durch PCA3 [6], eine
ncRNA, gesteigert werden. Seit 2006 ist PCA3
für die Diagnostik zugelassen.
Die Anzahl von ncRNAs, die mit Tumorerkrankungen, wie z. B. B-Zell-Lymphomen
und Lungenkarzinomen, verknüpft sind,
steigt ständig. Auch neurologische Erkrankungen wie das Prader-Willi-, das Angelmannund das Tourette-Syndrom werden im Zusammenhang mit Fehlern in der Signalübermittlung durch ncRNAs diskutiert.
Für Therapien, die wie die Tumortherapie
den gesamten Organismus betreffen, sind
noch grundlegende Fragen zu klären. Eine
besondere Herausforderung ist dabei die Entschlüsselung der zellulären Signalwege, die
zur Transkription bestimmter RNAs führen.
So ist z. B. bekannt, dass die microRNA-21
kanzerogen wirkt, indem sie bei Tumorzellen die Apoptose hemmt. Diesen Zusammenhang konnten wir in Leipzig auch für das MulBIOspektrum | 05.09 | 15. Jahrgang
tiple Myelom beweisen. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass der Signalübermittler
Stat3, der durch das Zytokin Interleukin-6
aktiviert wird, die Expression dieser microRNA steuert [7].
Zur Realisierung einer personalisierten
Medizin bedarf es intensiver fachübergreifender Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Das Fraunhofer-IZI nutzt diese Möglichkeit im Rahmen des Fraunhofer-Verbunds Life
Sciences (VLS), der die breit gefächerten Kom-
Literatur
[1] ENCODE Project Consortium (2007) Identification and
analysis of functional elements in 1 % of the human genome
by the ENCODE pilot project. Nature 447:799–816
[2] Amaral PP, Mattick JS (2008) Noncoding RNA in development. Mamm Genome 19:454–492
[3] Mattick JS (2003) Challenging the dogma: The hidden layer of noncoding RNAs in complex organisms. BioEssays
25:930
[4] Kapranov P, Cheng J, Sujit D. et al. (2007) RNA maps reveal new RNA classes and a possible function for pervasive
transcription. Science 316:1484–1484
[5] Lin R, Maeda S, Liu C et al. (2007) A large noncoding RNA
is a marker for murine hepatocellular carcinomas and a spectrum of human carcinomas. Oncogene 26:851–858
[6] De Kok JB, Verhaegh GW, Roelofs RW et al. (2002)
DD3PCA3, a very sensitive and specific marker to detect prostate tumors. Cancer Res 62:2695–2698
[7] Löffler D, Brocke-Heidrich K, Pfeifer G et al. (2007)
Interleukin-6-dependent survival of multiple myeloma cells
involves the Stat3-mediated induction of microRNA-21
through a highly conserved enhancer. Blood 110:1330–1332
Korrespondenzadresse:
Dr. Jörg Hackermüller
Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und
Immunologie (IZI)
Perlickstraße 1
D-04103 Leipzig
Tel.: 0341-35536-5205
[email protected]
AUTOREN
Jörg Hackermüller
Barbara Buller
Jahrgang 1976. 1994–2001 Biochemiestudium an der Universität Wien. 2004 Promotion.
2005 Postdoc an den Novartis
Institutes for Biomedical Research, Wien. 2005–2007 Postdoc
am Fraunhofer-IZI, Leipzig. Seit
2007 dort Leiter der Arbeitsgruppe RNomics.
Jahrgang 1949. Dipl.-Chem.,
Inhaberin der Fachagentur für
PR und Marketing in Chemie
und Life Sciences wiss+pa –
wissenschaftliche pressearbeit.
Peter F. Stadler
Friedemann Horn
Jahrgang 1965. 1984–1990
Chemiestudium an der Universität Wien, dort 1990 Promotion. 1994 Habilitation (Theoretische Chemie). Seit 1994 Mitglied der External Faculty des
Santa Fe Institute, New Mexico,
USA. 1997–2002 Außerordentlicher Universitätsprofessor an
der Universität Wien. Seit 2002
Professor für Bioinformatik an
der Universität Leipzig. Seit
2009 Auswärtiges Mitglied der
Max-Planck-Gesellschaft am MPI
für Mathematik in den Naturwissenschaften, Leipzig.
Jahrgang 1955. 1975–1980
Biochemiestudium an der Universität Tübingen. 1985 Promotion am DKFZ und der Universität Heidelberg. 1995 Habilitation (Biochemie) an der
RWTH Aachen. 1996–1997
Ernst- and Lilly-Schilling-Stiftungsprofessur. Seit 1997 Professor für Molekulare Immunologie an der Universität
Leipzig.

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