978-3-476-02352-0 Marx (Hrsg.), Hamlet-Handbuch © 2014

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978-3-476-02352-0 Marx (Hrsg.), Hamlet-Handbuch © 2014
978-3-476-02352-0 Marx (Hrsg.), Hamlet-Handbuch
© 2014 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)
5. Musik in Hamlet
5.
Musik in Hamlet
Während man heutzutage vor allem ins Theater
geht, um ein Stück zu sehen – ein deutlicher Akzent
also auf dem visuellen Kommunikationskanal der
Theateraufführung liegt –, beschrieb man das Theatererlebnis in der englischen frühen Neuzeit vor
allem in akustischen Begriffen, so wie Hamlet dies
tut, wenn er sagt: »We ’ ll hear a play tomorrow«
(II.2.521). Die frühneuzeitliche Dominanz des
Akustischen ist den vergleichsweise beschränkten
Möglichkeiten hinsichtlich des Bühnenbildes, der
Ausstattung und Beleuchtung des elisabethanischen
Theaters geschuldet und führte zu der Praxis, fehlende visuelle Impulse durch Worte, die sogenannte
Wortkulisse, zu ersetzen. Die materielle Dimension
von Sprache – das Klingen oder gar Verstummen –
spielt eine wichtige Rolle im Hamlet, denn neben
vielen anderen Themen befasst sich das Drama auch
mit den Grenzen der Sprache. Dies wird gleich zu
Anfang deutlich, wenn die ersten Auftritte des Geistes zunächst ohne akustische Verlautbarungen vonstatten gehen. Horatios Aufforderung »If thou hast
any sound or use of voice, / Speak to me« (I.1.128 f.)
kommt er nicht nach. Der Zuschauer – und Horatio – werden dazu genötigt, Sinn jenseits des gesprochenen Wortes aufzuspüren und die Bedeutung des
Erlebten vermittels alternativer Kommunikationskanäle zu konstruieren. Ähnlich exponiertes Schweigen begegnet dem Publikum am Ende des Dramas,
als Hamlet seine berühmten letzten Worte spricht:
»The rest is silence« (V.2.347). Mit diesen Worten
schließt sich ein Kreis, der durch Schweigen markiert ist: Das anfängliche und das beschließende
Schweigen sind auf der thematischen Ebene Ausdruck von Sprachzweifel im Sinne eines Wissens um
die Grenzen der Sprache; auf der Ebene der Publikumslenkung dient es dazu, die Wahrnehmung zu
sensibilisieren für alle akustischen Ausdrucksweisen, denen auch Schweigen zuzurechnen ist.
Wie in jedem Drama spielt in Hamlet die soundscape (darunter ist jede Form von akustischem Ereignis im Text und in der Aufführung zu verstehen)
eine wichtige Rolle. Neben der Wortkulisse, dem gesprochenen Wort, ist es vor allem die Musik, die in
diesem Zusammenhang erwähnt werden muss. Literatur- und Theaterwissenschaftler sowie Theaterpraktiker sind sich darin einig, dass der Musik im
Theater Shakespeares eine Schlüsselfunktion zukommt, denn sie vermag es ebenso wie die gespro-
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chene Sprache, das fehlende oder nur angedeutete
Bühnenbild zu ersetzen oder akustisch zu evozieren
und Informationen über Räume oder Figuren zu
transportieren. Ein Blick in das Shakespearesche
Œuvre zeigt jedoch, dass die Rolle der Musik in den
verschiedenen dramatischen Genera unterschiedlich gewichtet ist. Auf diesen Umstand hat bereits
Frederick W. Sternfeld in seiner Studie zu Music in
Shakespearean Tragedy (1963) hingewiesen: Während in Shakespeares Komödien in der Regel extensiver Gebrauch von Musik – in der Regel Vokalmusik – gemacht wird, ist diese Praxis in den Tragödien
deutlich seltener anzutreffen. Für die unterschiedliche Prominenz von Vokalmusik in den Tragödien
und Komödien gibt es vielfältige Gründe, wobei
Sternfeld die Differenz vor allem theaterhistorisch
begründet. Die englische Dramatik stand unter
starkem Einfluss von Senecas Tragödien, in denen
weder Vokal- noch Instrumentalmusik vorgesehen
waren. Shakespeare folgte dieser Tradition jedoch
nicht uneingeschränkt. In seinen Tragödien spielen
musikalische Einlagen durchaus eine Rolle. Während
vor allem Instrumentalmusik regelmäßig eingesetzt
wird, um eine ›akustische Kulisse‹ zu schaffen, sind
reine Gesangsnummern jedoch selten anzutreffen.
Vor diesem Hintergrund erweist sich Hamlet als ein
besonderes Drama. Denn in diesem spielt Vokalmusik
tatsächlich eine vergleichsweise exponierte Rolle. In
Hamlet gibt es siebzehn Bühnenanweisungen die Musik betreffend und sechs Lieder, von denen Ophelia
die ersten fünf singt und der Totengräber das sechste:
1. »How should I your true-love know« (IV.5.23–26,
29–32, 36, 38 ff.),
2. »Tomorrow is Saint Valentine ’ s Day« (IV.5.48–55,
58–66),
3. »They bore him barefaced on the bier« (IV.5.164–
167),
4. »For bonny sweet Robin is all my joy« (IV.5.185),
5. »And will ’ a not come again« (IV.5.188–197-91),
6. »In youth when I did love« (V.1.58–61, 67–70, 87–
90, 112 f.).
Damit kann Hamlet – neben Othello – mit einer Rarität im Shakespeareschen Tragödien-Œuvre aufwarten: einer singenden Heldin. Hinsichtlich der
Überlieferung der Lieder ist allerdings festzuhalten,
dass nur die Texte derselben überliefert sind. In jüngerer Zeit wurden darum von Ross W. Duffin Versuche unternommen, die Musik zu rekonstruieren
und für eine Aufführung verfügbar zu machen (vgl.
Duffin 2004).
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Im Folgenden soll die Funktion von sowohl instrumentaler als auch vokaler Musik in Hamlet dargestellt und die dramatische Qualität und Funktion
der musikalischen Beiträge näher bestimmt werden.
Die Darstellung geht von der Prämisse aus, dass Musik nicht nur ein ›Extra‹ ist und wie ein Ornament
hinzugefügt wird, sondern integraler Bestandteil des
Dramas und dessen Aufführung und somit untrennbar mit dessen Substanz, Struktur und dramatischem Gehalt verbunden ist. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, zwischen zwei Formen musikalischer Beiträge zu unterscheiden: die der Präsentation
sowie die der Repräsentation. Mit musikalischer Präsentation ist die in der Aufführung tatsächlich erklingende Musik gemeint, wie der Gesang oder die
Bühnenmusik, die in den dramatischen Ablauf integriert und mimetisch vermittelt ist. Zu unterscheiden wäre hiervon extra-dramatische Musik, die beispielsweise vor oder nach den Aufführungen erklang.
Auf der Ebene der diegetisch repräsentierten Musik ist jede Form sprachlich vermittelter Musik zu
berücksichtigen. Damit ist Musik gemeint, die nicht
materiell erklingt, sondern erzählt oder durch Rede
evoziert wird, zum Beispiel durch Tropen, die dem
musikalischen Diskurs entlehnt sind. Die repräsentierte Musik ist ebenso wie die präsentierte auf ihre
Einbindung in das Drama und deren Funktion hin
zu untersuchen. Jenseits der dramatisch gestalteten
und eingesetzten Musik spielt Musik auch auf der
Metaebene der Shakespeare-Forschung eine Rolle.
Hier wären vor allem die Arbeiten Wolfgang Clemens zu nennen, dessen literaturwissenschaftliche
Terminologie Anleihen an musikalischen Parametern (z. B. Rhythmus) macht (vgl. Clemen 1951,
1966; Barry, 1963).
Es können in Hamlet also musikalische Konstellationen auf zwei Ebenen identifiziert werden: die der
real erklingenden präsentierten Musik sowie die der
sprachlich repräsentierten und nicht real erklingenden Musik. Auf der Ebene der real erklingenden
Musik soll zwischen Instrumental- und Vokalmusik
unterschieden werden. Während die instrumentale
Bühnenmusik häufig dazu benutzt wird, um Orte als
soziale Räume zu markieren oder eine bestimmte
Atmosphäre zu verdichten, fungiert die Vokalmusik
in der Regel als Mittel der Figurencharakterisierung.
Diesen unterschiedlichen Konstellationen soll in der
folgenden Darstellung systematisch Rechnung getragen werden.
I. Stoffgeschichte und Ausgaben
Bühnenmusik I:
Mit Pauken und Trompeten
Die Funktion der im Hamlet eingesetzten Bühnenmusik kann mit dem Begriff der soundscape (vgl.
Schafer 1977; Smith 1999) zutreffend beschrieben
werden. Sie ist beteiligt an der Herstellung von sozialen Räumen und entlastet damit das gesprochene
Wort. Die Ankündigung sozial hochrangiger Figuren wird regelhaft ganz konventionell mit Pauken
und Trompeten angekündigt (z. B. III.2.86 ff., Regieanweisung: »Enter trumpets and Kettledrums, King,
Queen, Polonius, Ophelia«). Aber auch die Theateraufführung im Stück erfährt eine musikalische Rahmung, wodurch deren repräsentativer Charakter im
Kontext höfischer Unterhaltung hervorgehoben
wird. Allerdings machen verschiedene Fassungen
des Hamlet unterschiedliche Angaben, was die verwendeten Instrumente, Oboe (vgl. Sternfeld 1964,
218) oder Trompete (Hamlet Studienausgabe III.2,
Regieanweisung vor V. 130) anbelangt.
Darüber hinaus geht die Bühnenmusik mit einer
der Figuren eine besonders enge Bindung ein: Claudius wird nicht nur standesgemäß von Trompeten
angekündigt, sondern generell mit lauter Musik in
Verbindung gebracht, nämlich mit lärmender Festmusik (I.4.11 f.). Diese Musik erklingt offstage und
wird von Hamlet kommentiert. Dadurch wird eine
tatsächliche Darstellung von Claudius ’ ausschweifender Hofhaltung etwa durch die Inszenierung eines Gelages überflüssig gemacht. Neben diesem
bühnenökonomischen Vorteil ergibt sich noch eine
weitere Funktion dieser Szene: Dadurch, dass Claudius ’ Treiben durch Hamlet fokalisiert wiedergegeben und bewertet wird, wird die Aufmerksamkeit
des Zuschauers auf die grundsätzliche und unüberwindbare Differenz zwischen den beiden Figuren
gelenkt. Während Claudius von hedonistischem
Lärm umgeben ist und sich sogar dazu versteigt,
volkstümliche Tänze (»swaggering upspring reels«;
I.4.9) zu tanzen, ist Hamlet eher den leisen Tönen
zugetan und zeigt für derlei akustische Ausschweifungen und die durch sie repräsentierte moralische
Haltung kein Verständnis.
Trompeten kündigen jedoch nicht nur Claudius
oder dessen Lustbarkeiten an, sondern werden metaphorisch auch in Bezug zum Geist von Hamlets
Vater gesetzt. Der Geist tritt unangekündigt aus dem
Nichts auf, sein Abgang wird jedoch akustisch eingeleitet: Er verschwindet, nachdem der Hahn, »the
trumpet to the morn« (I.1.150), gekräht hat. Die
5. Musik in Hamlet
Darstellungen beider Herrscher – des gegenwärtigen
und des ermordeten – bedienen sich akustischer Unterstützung bei der Repräsentation ihrer Macht.
Während die Trompeten Claudius ’ weltliche Macht
symbolisieren, verfügt der Geist nicht mehr über
diese spezifische akustische Signatur der Macht. Sein
Machtbereich wird durch den Hahnenschrei als jenseits des Tages befindlich markiert, denn der Geist
gehört einer Sphäre an, die vom Tag und der Welt
geschieden ist. Auf der akustischen Ebene manifestiert sich die Alterität des Geistes in der Art und
Weise, wie seine Auftritte akustisch untermalt werden: Sie vollziehen sich zunächst stumm, erst später
wird er zu sprechen anheben. Ursupator und legitimer Herrscher werden auf der akustischen Ebene
über eine strukturell inversive Analogie zueinander
in Beziehung gesetzt und damit zugleich einander
konstrastierend gegenübergestellt: Während die
Trompeten die Präsenz des illegitimen Königs ankündigen, kündigt die metaphorische Trompete, der
Hahn, vom Verschwinden des Geistes des legitimen
Herrschers.
Trompetenklänge spielen auch am Ende des Dramas eine zentrale Rolle, wenn das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Klangqualitäten genutzt
wird, um die bestehende Dissonanz, das verweigerte
dénouement akustisch zu versinnbildlichen. Das
Szenario wird wie folgt gestaltet: Als das Duell zwischen Hamlet und Laertes beginnt, ruft der König
nach Trompeten, die seine Unterstützung für Hamlet in angemessener Art und Weise kundtun sollen.
Die Hybris des Königs wird sprachlich vermittels der
Figur der gradatio gestaltet: »Give me the cups / And
let the kettle to the trumpet speak, / The trumpet to
the cannoneer without, / The cannons to the heavens, the heaven to earth, / ›Now the king drinks to
Hamlet‹ […]« (V.2.263–267). Das profane Handeln
des Königs soll erhöht werden, indem es durch
Pauken, Trompeten und Kanonen dem Himmel
kommuniziert wird, welcher nun seinerseits vom
Ansinnen des Monarchen kündet. Ein letztes Mal
vermerkt eine Regieanweisung den Einsatz von
Trompeten und Trommeln, als Hamlet einen Treffer
im Duell landet. Kurz danach greift seine Mutter
zum vergifteten Trank und die Ereignisse überschlagen sich. Als Hamlet stirbt, versucht Horatio dieses
einschneidende Erlebnis dadurch zu würdigen, dass
er in seinen Abschiedsworten eine völlig andere
Klangwelt evoziert: »And flights of angels sing thee
to thy rest!« (V.2.349). Doch die erhoffte Jenseitigkeit und himmlische Harmonie kann sich nicht ent-
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falten, denn die Trauer wird abrupt unterbrochen
von der Ankunft des Fortinbras und seines Gefolges,
die von Trommeln begleitet werden. Fortinbras ordnet ein Staatsbegräbnis mit militärischen Ehren für
Hamlet an, und das Drama wird beschlossen von der
Aufforderung, den Leichenzug mit »soldiers ’ music,
and the rites of war« (V.2.388) zu begleiten. Diese
Musik bleibt im Stück jedoch ungespielt, denn
Fortinbras ’ Aufforderung beschließt die Aufführung. Der Zuhörer muss die evozierten Klänge imaginieren und das Drama selbst zu einem glorreichen
Ende führen. Durch diese Verschiebung des Staatsbegräbnisses in die Vorstellungskraft der Zuschauer
wird zugleich der visuell vermittelte Eindruck der
Desolatheit – die Bühne ist übersät mit Leichen –
verstärkt.
Bühnenmusik II: Die singende Ophelia
Noch enger als im Fall der Bühnenmusik ist die Vokalmusik mit einzelnen Figuren und deren dramatischem Standort verbunden. Wie bereits eingangs bemerkt, zählt Hamlet neben Othello zu den wenigen
Tragödien, in denen die weibliche Hauptfigur singt.
Ophelias Lieder erklingen allesamt in der fünften
Szene des 4. Aktes. Die Musik zu den einzelnen Liedern ist nicht überliefert und auch die textliche Gestalt bleibt fragmentarisch und bedarf einer kenntnisreichen Ergänzung durch das Publikum (oder der
Gelehrten). Die einzelnen Gesangsbeiträge sind
nicht als geschlossene Nummern gestaltet, sondern
werden immer wieder von Versuchen der Kommunikation mit Vertretern des Hofes oder Handlungen
(beispielsweise dem Verteilen von Blumen) unterbrochen.
Die fünfte Szene beginnt mit dem Auftritt der Königin, Horatios und eines weiteren Herrn. Die Anwesenden unterhalten sich über Ophelias prekäre
geistige und emotionale Verfassung. Man beschließt,
das Gespräch mit ihr zu suchen, um zu verhindern,
dass ihr Verhalten und ihre Äußerungen Andere zu
subversivem Verhalten animieren. Ophelia wird gebracht, und bereits ihre erste Äußerung zeichnet sich
durch eine für den weiteren Verlauf der Szene charakteristische Ambivalenz aus, denn die Frage
»Where is the beauteous majesty of Denmark?«
(IV.5.21) erscheint aufgrund der Tatsache, dass die
Königin zugegen ist, eigentlich als überflüssig. Auf
die Frage der Königin – »How now, Ophelia?«
(IV.5.22) –, beginnt Ophelia überraschenderweise
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zu singen (»How should I your true-love know«;
IV.5.23–26, 29–32, 36, 38 ff.). Zunächst singt sie über
die Liebe, wechselt dann aber den Gegenstand: Es ist
von einem Toten die Rede. Diese Verse beziehen die
umstehenden Vertreter des Hofes auf den Verlust
des Vaters – für das Publikum lassen sich die Verse
ebenfalls auf die gescheiterte Beziehung zu Hamlet
beziehen. Diese Form von Ambivalenz prägt alle gesanglichen Äußerungen Ophelias in dieser Szene,
denn die von ihr angestimmten Lieder lassen sich je
nach Perspektive des Beobachters sowohl auf den
getöteten Vater als auch auf das beendete Verhältnis
mit Hamlet beziehen. Dies gilt insbesondere für das
dritte Lied, das zunächst den Konventionen eines
Klagegesangs folgt (»They bore him barefaced on
the bier«; IV.5.164–167), letztlich aber offen lässt,
wer genau das Objekt dieser Klage ist (»dove« kann
sowohl auf den verlorenen Geliebten als auch den
Vater bezogen werden).
Die Uneindeutigkeit beschränkt sich jedoch nicht
nur auf die Frage nach dem Objekt der Lieder, sondern spielt darüber hinaus auf einer weiteren Ebene
eine Rolle: So geht es im zweiten Lied um den Valentinstag (»Tomorrow is Saint Valentine ’ s Day«;
IV.5.48–55, 58–66), aber das Lied erschöpft sich
nicht in unschuldigen Liebeserklärungen, sondern
nimmt eine deutliche Wendung ins Anzügliche. Der
König reagiert auf diese Wendung mit dem Versuch,
Ophelia auf das konventionelle Frauenbild einzuschwören: »Pretty Ophelia« (IV.5.56). Ophelia geht
auf diese Aufforderung zur Konformität jedoch
nicht ein. Dies wird besonders deutlich im vierten
Lied, von dem Ophelia nur einen Vers intoniert:
»For bonny sweet Robin is all my joy« (IV.5.185).
Auch dieses Lied ist nicht überliefert, aber es gibt
Quellen, in denen es Erwähnung findet und die nahelegen, dass es sich um ein populäres frivoles Lied
handelt. Es spielt mit einem Innuendo und überlässt
das Ausbuchstabieren des Intendierten letztlich den
Zuschauern bzw. Zuhörern. Am Ende der Szene verstummt Ophelias Gesang, und die Verse ihres letzten
Liedes (»And will ’ a not come again«; IV.5.188–197)
lösen sich schließlich in Prosa auf.
In Q1 ist im Unterschied zu anderen frühen Ausgaben die Rede davon, dass Ophelia die Bühne mit
einer Laute in der Hand betritt (Kommentare dazu
in der Arden-Ausgabe, 375). Einige Herausgeber haben argumentiert, dass die Laute in dieser Szene ein
denkbar unangemessenes Instrument und darum zu
streichen sei. Dies wiederum wird von anderen Kritikern aufgegriffen: Gerade die Unangemessenheit
I. Stoffgeschichte und Ausgaben
der Laute in dieser Szene versinnbildlicht ohne großen rhetorischen Aufwand Ophelias Wahnsinn besonders gut.
Wie diese summarische Darstellung auf der
Ebene der Handlung nahelegt, lässt sich für die Figur der Ophelia besonders gut aufzeigen, dass Gesang als integraler Bestandteil einer Bühnenhandlung und zur Charakterisierung einer Figur eingesetzt werden kann. Dieser Sachverhalt ist in der
Forschung gut bekannt, und es kann in diesem Zusammenhang vor allem auf die sozialhistorisch ausgerichtete Studie von Frederick W. Sternfeld (1963)
und neueren Datums auf die den gender studies verpflichtete Arbeit von Leslie C. Dunn (1994) verwiesen werden. Die Argumentation beider Beiträge soll
in deren wesentlichen Aspekten nachgezeichnet
werden.
Sternfeld hat bereits früh auf die Bedeutung des
Gesangs für die Figur der Ophelia im Sinne eines
dramatischen Mehrwerts hingewiesen. Bei seinen
Analysen hatte er vor allem die soziale Bedeutung
des Gesangs im Blick. Als die verstörte Ophelia im 4.
Akt vor den dänischen Hof tritt und eine Reihe von
Liedern zum Besten gibt, überschreitet sie, so Sternfeld, die Grenzen dessen, was zur Entstehungszeit
der Tragödie als schickliches Verhalten einer Dame
von Stand galt. Zum einen singt sie in der höfischen
Öffentlichkeit – ein Verhalten, das in zeitgenössischen Traktaten zum höfischen Verhaltenskodex,
vor allem für Frauen, als inakzeptabel galt. Zum anderen können ihre Gesangsbeiträge nicht dem aristokratischen Liedrepertoire zugerechnet werden,
sondern entstammen dem volkstümlichen Repertoire, das Damen des gehobenen Standes über ihre
Ammen oder Dienerinnen vertraut gewesen sein
durfte. Das öffentliche Singen populärer Lieder akzentuiert die zunehmende soziale Entfremdung
Ophelias von ihrer Umwelt auf performative Weise
und kennzeichnet ihr Verhalten als transgressiv.
Doch Ophelia missachtet in ihrem musikalischen
Handeln nicht nur die Regeln des Musizierens als social practice. Ihr spezifischer Umgang mit dem musikalischen Material ist nach Sternfeld auch zugleich
Symptom eines desolaten Geisteszustands und ihre
Lieder können somit dem in der frühen Neuzeit beliebten Genre der mad songs zugerechnet werden.
Ophelias Lieder sind Collagen, in denen tradiertes
Liedgut zerlegt und neu kombiniert wird (vgl. Sternfeld 1963, 57). Der fragmentarische Charakter der
vorgetragenen Lieder, die Ambivalenz der Texte und
der beständige Wechsel zwischen Prosa und Lied-
5. Musik in Hamlet
vers tragen dazu bei, Ophelias mentale Verfassung
und zunehmende Inkohärenz sinnfällig zu gestalten.
Ophelias Kontrollverlust und langsames Entschwinden aus der Welt wurde von Shakespeare somit unter
Einbeziehung des musikalischen Mediums sinnfällig
zum Ausdruck gebracht.
Sternfelds Befunde haben auch in der aktuellen
einschlägigen Forschung nichts an Gültigkeit eingebüßt. Allerdings wurden sie in jüngerer Zeit von
Leslie C. Dunn um eine dezidiert gender-kritische
Perspektive ergänzt. Wie für Sternfeld steht auch für
Dunn das Singen der Ophelia für deren soziale und
mentale Entfremdung. Allerdings belässt es Dunn
nicht bei dieser Beobachtung, sondern stellt Ophelias Verhalten in einen größeren kulturellen Zusammenhang. Der Gesang Ophelias repräsentiert für sie
das »discursive other« des Dramas, das, was in der
patriarchalisch organisierten Gesellschaft ausgeschlossen wird: Weiblichkeit und weibliches Begehren, Kritik an Logozentrik, Wahnsinn (Dunn 1994,
55). Die Musik – insbesondere der Gesang – eignet
sich zur Repräsentation dieser Aspekte in besonderem Maße, da auch die Musik bis zu einem gewissen
Grade dieser Form der Alterität verbunden ist. Der
gemeinsame Nenner findet sich in den gender-Konstruktionen, welche sowohl Ophelias zunehmender
Isolierung als auch dem musikalischen Diskurs zugrunde liegen. Der frühneuzeitliche musikalische
Diskurs machte von hierarchisierten gender-Modellen, in denen Maskulinität der Vorzug gegeben
wurde, extensiven Gebrauch. Der Musik konnten
beide Seiten der gender-Opposition zugeordnet werden, sowohl die männliche als auch die weibliche.
Einerseits galt Musik in ihrer berechenbaren Bezogenheit auf die harmonische Ordnung der gesamten
Welt als rational und maskulin, andererseits verfügte
sie aber auch über eine schwer kontrollierbare affektive Kraft, die negativ konnotiert war und als spezifisch weibliches Moment angesehen wurde. Der ambivalente Charakter der Musik wurde häufig in der
Gegenüberstellung von der Musik der Engel und der
der Sirenen gefasst, und der frühneuzeitliche Diskurs über die Musik war darum bemüht, Kontrolle
über die affektive Macht der Musik zu erreichen. Im
Hamlet wird von dieser Doppelrolle der Musik Gebrauch gemacht, um die Alterität der singenden Protagonistin herauszustellen. In ihrer Person werden
Musik, Exzess und Weiblichkeit zusammengebracht
und ihr Gesang steht nicht nur für soziale Grenzüberschreitung, sondern für die »discursive dissonance within the play« insgesamt (Dunn 1994, 58).
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Ophelia entzieht sich durch den Gesang den Anforderungen der Kommunikation und der Rede – besonders deutlich wird dies, wenn sie auf Fragen der
Umstehenden mit einem Lied antwortet –, und diese
Weigerung, sich auf die Regeln der Kommunikation
einzulassen, beschreibt Dunn als »inversion of patriarchal speech« (Dunn 1994, 62). Ophelias Gesang
bricht alle Regeln der Kommunikation am Hofe: Sie
singt nicht nur die falschen Lieder am falschen Ort,
verstößt also gegen das soziale Protokoll, sondern sie
entzieht sich darüber hinaus durch ihren Gesang
und die Wiedergabe von bekannten Liedern der Zuschreibung einer klaren Subjektposition durch die
patriarchalische Gesellschaft. Ophelia tritt hinter die
gesungenen Texte zurück, verbirgt sich in den unterschiedlichen Sprecherrollen der Lieder und entzieht
sich dadurch dem Zugriff durch ihre Umwelt. Wo
die Person verschwindet, tritt das Medium des Gesangs, die Stimme, umso deutlicher in Erscheinung
und in den Vordergrund der Wahrnehmung. Die im
Gesang erklingende Stimme verfügt über ein »surplus of meaning«, das schwer kontrollierbar ist
(Dunn 1994, 59). Im Falle der Ophelia repräsentiert
der Gesang nicht nur deren mentale Verfassung und
die zunehmende Schwierigkeit der höfischen Gesellschaft, sie einzuordnen und auf eine Rolle festzulegen, sondern auch »feminine excess«, der vor allem
in den anzüglichen Liedern sein ganzes provozierendes Potential entfaltet.
Neben den frivolen Liedern singt Ophelia jedoch
auch Klagelieder (ein Umstand, der von Sternfeld
nur ansatzweise gewürdigt wurde). Dunn hat darauf
hingewiesen, dass dies keine Klagen im eigentlichen
Sinne seien, sondern dass sie ihre Bedeutung erst auf
einer Metaebene entfalten: Es sind Gesänge über das
Klagen, »ghostly echoes of rituals that never took
place, griefs that never were articulated« (Dunn
1994, 61). Damit wird Ophelias Trauer- und Klagegesang zu einem Vorwurf an die Gesellschaft, die ihr
die Möglichkeit adäquater Artikulation und Trauerarbeit verweigert. Das Schicksal der Ophelia folgt
hierin – so Dunn – dem Opernmuster (W Kap. 43),
indem ihrem Moment des Selbstausdrucks (in der
Oper sind dies regelhaft die Sterbe- oder Wahnsinnsszenen der Heldinnen) die Zerstörung auf den
Fuß folgt. Im Unterschied zum öffentlichen Sterben
der Opernheldinnen wird der Tod Ophelias jedoch
nicht gezeigt. Es ist Gertrud, die »in one of the play ’ s
most lyrical speeches« von Ophelias Tod und deren
Sterbegesängen als »old lauds« berichtet (Dunn
1994, 62). Hatte sich Ophelia zuvor des weltlichen
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Liedrepertoires bedient, so wird sie nun von Gertrud
als Hymnen-singend erinnert, damit als keusche
und delikate Jungfrau restituiert und ihre zuvor als
schockierend erfahrene und empfundene Alterität
nivelliert.
Doch nicht nur Ophelias letzte Stunden sind von
Liedern begleitet, sondern auch die Vorbereitungen
ihrer Bestattung (ein Aspekt, der bei Dunn nicht berücksichtigt wird). Als der Totengräber das Grab für
Ophelia aushebt, singt er – eine komische Figur – ein
Lied über die Vergänglichkeit der Liebe und das
Sterben, »In youth when I did love« (V.1.58–61, 67–
70, 87–90, 112 f.). Der hinzutretende Hamlet macht
seinen Begleiter Horatio auf die Inkongruenz von
Singen und der Tätigkeit des Totengräbers aufmerksam (V.1.62). Während sich für den Totengräber der
tägliche Umgang mit dem Tod in einer Gelassenheit
niederschlägt, die wiederum ihren Ausdruck im Singen von populären Liedern und damit einhergehend
dem Einnehmen einer depersonalisierten und distanzierten Perspektive findet, ist der Tod für Hamlet
in diesem Fall eine zutiefst individuelle und existenzielle Erfahrung. Der abgeklärte Umgang des Totengräbers mit dem Tod wird im Singen anschaulich
umgesetzt und dient als dramatischer Kontrast zu
Hamlets Reflexionen über den Tod, die sich im Verlauf der Szene steigern: Zunächst stimmt ihn der
ausgegrabene Schädel des Yorick nachdenklich, und
schließlich kulminiert die Szene darin, dass Hamlet
von Ophelias Tod erfährt. Während das Singen des
Totengräbers Sinnbild einer Alltäglichkeitserfahrung ist, sind Hamlets Monologe Reaktionen auf
eine als existenziell erfahrene Verunsicherung.
Betrachtet man die zentrale Funktion des Singens
für die Figur der Ophelia, stellt sich die Frage, welche Bedeutung Musik und Gesang für Hamlet, der ja
auch in zunehmendem Widerspruch zur Gesellschaft steht, haben. Eigentlich wäre bei Hamlets
Symptomatik – der Melancholie (W Kap. 19) – weltvergessenes Musizieren zu erwarten, wie dies Shakespeare etwa in Twelfth Night einsetzte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Hamlet erweist sich als seltsam
unmusikalisch. Sein Leiden an der Welt findet einen
anderen Ausdruck: Es entlädt sich in einer beeindruckenden Sprachgewalt, die immer wieder die
Grenzen des Sagbaren auslotet und damit auch die
Geduld und das Verständnis seiner Gesprächspartner strapaziert. Hierin ähnelt Hamlets Verhalten
dem der Ophelia: Beide überschreiten die Grenzen
der Alltagssprache: Ophelia im Gesang, Hamlet im
Zerdehnen der Sprache in delirierenden Monolo-
I. Stoffgeschichte und Ausgaben
gen, im Wortspiel oder in spitzfindigen Repliken.
Sinnfällig wird der mit unterschiedlichen Mitteln erzielte vergleichbare Effekt, wenn man sich Hamlets
Zitatpraxis vor Augen führt: Im 2. Akt zitiert er ein
paar Verse aus einem bekannten Lied (II.2.409,
Hamlet: »The first row of the pious chanson will
show you more […]«) – er singt diese jedoch nicht,
wie dies Ophelia wohl getan hätte, sondern spricht
sie. Die Wirkung ist – so Sternfeld – dennoch durchaus vergleichbar, denn Hamlets Zitat wird dazu eingesetzt, den Eindruck von Wahnsinn zu vermitteln:
»[…] he speaks rather than sings these lines […] the
lyrics are as much a token of his assumed madness as
are those of Ophelia in her famous scene« (Sternfeld
1963, 129).
Musikalische Bilder: Das Flötenspiel
Auf der Ebene der Bildersprache ist die Musik ein in
der frühen Neuzeit beliebter und konventioneller
Bildspender. Neben der einmaligen Erwähnung des
Topos der musica humana (III.4.143) sind es vor allem die Blasinstrumente (die Begriffe »pipe«, »recorder«, »organ« werden häufig synonym verwendet),
allen voran die Flöte, welche im Hamlet als Tropen
benutzt werden. Das Bild vom Flötenspiel wird von
Hamlet selbst eingeführt: In seinem Monolog in
III.2.65 ff. benutzt er dieses Bild, um die Willkür des
Schicksals zu versinnbildlichen: »[…] and blest are
those / Whose blood and judgment are so well commeddled / That they are not a pipe for Fortune ’ s finger / To sound what stop she please«. Die Menschen
sind das Medium des Schicksals, dessen Instrument,
und können von sich aus keinen Klang erzeugen.
Das Flötenspiel der Fortuna wird im Drama zum
Inbegriff willkürlicher Machtausübung. Später in
dieser Szene erfährt dieses Bild eine materielle
Transposition, das heißt, die Flöten werden tatsächlich sichtbar auf der Bühne. Nach dem Eklat der
Theateraufführung, welche von den Angehörigen
des Hofes entrüstet verlassen wird, bleiben Horatio
und Hamlet auf der Bühne zurück. Wenig später treten Rosencrantz und Guildenstern hinzu. Hamlet
ruft nach Blockflöten: »Aha! Come, some music!
Come, the recorders!« (III.2.281). Als die Musiker
kommen, verlangt Hamlet, die Instrumente zu sehen: »O, the recorders. Let me see one« (III.2.332).
Das von Hamlet zu Beginn der Szene aufgerufene
Bild – das der flötespielenden Fortuna – wird im Folgenden zum Leitmotiv der Bühnenhandlung. Ham-
5. Musik in Hamlet
let, der sich bewusst ist, dass Rosencrantz und Guildenstern den Auftrag haben, ihn zu kontrollieren,
fordert Guildenstern dazu auf, die Flöte zu spielen:
»Will you play upon this pipe?« Drei Mal beteuert
der Gefragte, dass er dies nicht könne, worauf Hamlet anhebt, Ausführungen zum Flötenspiel zu machen. Er beschreibt dabei die Technik des Flötenspiels und stellt eine Analogie zum Lügen – dessen
er die beiden bezichtigt – her: »It is as easy as lying«
(III.2.343). Das Abdecken der Löcher wird mit dem
Verdecken der Wahrheit verglichen. Alles, was die
Gegner vermögen, ist, ihn – im übertragenen
Sinne – zu benutzen, aber nicht zu beherrschen oder
zu manipulieren (»… though you can fret me, you
cannot play upon me«; III.2.357 f.). Shakespeare gelingt hier eine auf der motivischen Ebene besonders
dicht gearbeitete Szene, indem er die Flöte zugleich
symbolisch und real auf der Bühne präsent sein lässt.
Ausblick
Vor dem Hintergrund der angestellten Überlegungen zur Funktion der Musik im Hamlet stellt sich die
Frage, wie diese Funktion zu bewerten ist und welche Konsequenzen sich für eine Inszenierung des
Dramas daraus ergeben.
Zunächst kann festgehalten werden, wie die Musik – sowohl die präsentierte als auch die repräsentierte – als symbolische Instanz jenseits des gesprochenen Wortes figuriert und von Shakespeare dazu
genutzt wird, Räume, soziale Gruppen oder individuelle Figuren mit vergleichsweise ökonomischen
Mitteln darzustellen und vertiefend auszugestalten.
Darüber hinaus trägt die Musik dazu bei, zentrale
Themen des Dramas – etwa das Thema der Inkongruenz von Gesellschaft und Individuum, oder die
Grenzen der Sprache – zu markieren und die unterschiedlichen Kommunikationskanäle und Ausdrucksmittel des Theaters in die thematische Arbeit
mit einzubeziehen. In der Forschung besteht Konsens darüber, dass die Musik im Hamlet aufgrund
ihrer engen strukturellen und thematischen Verzahnung mit dem Drama über eine reine Unterhaltungsfunktion deutlich hinausgeht. Diese Position
stützt sich im Wesentlichen auf werkimmanente
Überlegungen, denn sie fragt vor allem nach der
dramatischen Technik Shakespeares und dessen
kunstvoller Integration von Musik in das Bühnengeschehen. Ein Versuch, die Rolle der Musik im Hamlet in einem breiteren kulturgeschichtlichen Kontext
19
zu diskutieren, wurde von Bruce Johnson (vgl. Johnson 2005) vorgelegt. Er argumentiert, dass in Hamlet
die epistemologische Krise der frühen Neuzeit mit
den Mitteln der dramatischen Kunst ausagiert wird.
Im Drama wird – so Johnson – der Versuch unternommen, das Verhältnis von »sound« und »sight«
als Instrumente des Erkenntnisprozesses auszuhandeln, wodurch es zur Chiffre eines frühneuzeitlichen
Paradigmenwechsels, von der Oralität hin zur Visualität, wird. So attraktiv die These zunächst anmuten
mag, so problematisch ist sie vor dem Hintergrund
historischer epistemologischer Vielfalt. Ein ganzes
Zeitalter unter einen ›Leitsinn‹ zu stellen und als primär ›akustisch‹ oder ›visuell‹ geprägt zu beschreiben, ist der vielschichtigen historischen Überlieferung und der unterschiedlichen Bewertung von Sinnesleistungen in veschiedenen Diskursen (wie zum
Beispiel in der Kunst oder der Theologie) nicht angemessen. Hier ist historische Differenzierung vonnöten, bevor die Ergebnisse in einer Dramenanalyse
fruchtbar gemacht werden können.
Die Frage nach der historischen Dimension spielt
auch für eine Inszenierung von Hamlet eine wichtige
Rolle, denn der/die Regisseur/in ist vor das Problem
gestellt, die Musik praktisch umsetzen zu müssen.
Musik gilt in der populären Vorstellung häufig als
überzeitliche Weltsprache: Sie überschreitet demnach mühelos topographische und historische Grenzen. Aber tut sie dies wirklich? Musik – wie alle kulturellen Ausdrucksformen – altert, wird unverständlich und bedarf der Vermittlung durch einen
historisierenden Zugang. Die in Hamlet erklingende
und zitierte populäre Musik ist in besonders großem
Maße unverständlich geworden. Die Zusammenhänge und Kontexte sind verloren gegangen, die zitierten Fragmente können von einem modernen Publikum nicht mehr als semantisch aufgeladene Zitate
eingeordnet werden. Nimmt man Ophelias Singen
ernst, müsste man den Versuch unternehmen, die
Inkongruenz ihres Handelns und ihres Vortrags
auch auf der musikalischen Ebene zu versinnbildlichen. Dazu muß man die Lieder zunächst einmal
rekonstruieren (vgl. Duffin 2004), das semantische
Potential der zitierten und montierten Lieder entbergen (vgl. Sternfeld 1963) und entweder historisierend kontextualisieren oder in die Musiksprache des
20. und 21. Jh.s und deren populäre Genres übersetzen (W Kap. 47).
20
Literatur
Barry, Jackson G.: Shakespeare ’ s ›Deceptive Cadence‹:
A Study in the Structure of Hamlet. In: Shakespeare
Quarterly 24.2 (1973), 117–127.
Clemen, Wolfgang: Shakespeare und die Musik. In:
ShJb [West] (1966), 303–348.
Duffin, Ross W.: Shakespeare ’ s Songbook. New York/
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Madness, and the Feminine«. In: Dunn, Leslie C./
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Female Vocality in Western Culture. Cambridge 1994,
50–64.
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Gooch, Bryan N. S./Thatcher, David/Long, Odean
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I. Stoffgeschichte und Ausgaben
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Quarterly 59.1 (2008), 36–59.
Smith, Bruce R.: The Acoustic World of Early Modern
England: Attending to the O-Factor. Chicago 1999.
Schafer, R. Murray: The Tuning of the World. New York
1977.
Sternfeld, Frederick W.: Music in Shakespearean Tragedy. London 1963.
Sternfeld, Frederick W.: Songs from Shakespeare ’ s Tragedies. Oxford 1964.
Zapf, Hubert: »›To sing and speak in many sorts of
music‹: Musik und kommunikatives Handeln in
Shakespeares Twelfth Night«. In: Poetica 22 (1990),
21–45.
Susanne Rupp
21
II. Deutschsprachige Übersetzungen
und Bearbeitungen
6.
Der Bestrafte Brudermord
Die Tragoedia. Der Bestrafte Brudermord; oder: Prinz
Hamlet aus Dännemark wurde erstmals 1781 in der
von H. A. O. Reichard herausgegebenen Zeitschrift
Olla Potrida gedruckt. Dieser Text basiert wiederum
auf einem nicht erhaltenen Manuskript aus dem
Nachlass des 1778 gestorbenen Schauspielers Conrad Ekhof, das die Datierung »Pretz den 27. October
1710« trug (vgl. Creizenach 1889, 127 f.). Es handelt
sich beim Bestraften Brudermord folglich um einen
Spieltext der deutschen Wanderbühne des 18. Jh.s,
der keinen unmittelbaren textlichen Bezug mehr zu
Shakespeares Hamlet besitzt. Es ist davon auszugehen, dass das Stück von den Englischen Komödianten nach Deutschland importiert und daraufhin
Teil des Repertoires der deutschen Wanderbühne
wurde.
Der einzige Beleg für die Aufführung eines
deutschsprachigen Hamlet im 17. Jh. stammt aus
Dresden. Am 24. Juni 1626 führte der Englische Komödiant John Green, der neben den Werken Shakespeares auch Stücke von Thomas Kyd und Christopher Marlowe im Repertoire hatte, die Tragoedia von
Hamlet einem printzen in Dennemark am Dresdner
Hof auf (vgl. Haekel 2004, 113). Es ist also wahrscheinlich, dass es sich um eine späte Fassung eines
Spieltextes der Englischen Komödianten handelt,
wie auch Harold Jenkins schlussfolgert:
BB [Der Bestrafte Brudermord] turns out to be a version of
Hamlet in a very degenerate form. It is assumed to descend
from one taken to Germany, perhaps already much corrupted, by one of the bands of English actors who are
known to have toured there from Elizabethan times. (Jenkins 1982, 112)
Die sehr negative Bewertung, die Der Bestrafte Brudermord über die Jahre erfahren hat, geht auf eine
Tradition zurück, in der die literarische Qualität des
Hamlet gegen die Bühnenpraxis ausgespielt wird.
Diese theaterfeindliche Position findet auch Ausdruck in der Beschreibung G. R. Hibbards, der in
seiner Verurteilung des Dramas noch weiter geht als
Jenkins:
Der Bestrafte Brudermord or Fratricide Punished, as it came
to be called in English, is a badly debased version of Shakespeare ’ s tragedy, bearing eloquent witness to the damage a
dramatic text could suffer from accretion as well as degeneration during the course of a century or more of playing.
(Hibbard 1987, 373)
Tatsächlich ist der Hamlet Shakespeares nicht mit
dem Bestraften Brudermord unmittelbar vergleichbar, da es sich bei Letzterem um eine Haupt- und
Staatsaktion handelt und damit um ein Genre, das
ganz eigenen und anderen Gesetzen folgt als die elisabethanische Tragödie (vgl. Niefanger 2009).
Das große Interesse, das der Bestrafte Brudermord
vor allem im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jh.s
hervorgerufen hat, geht auf die fälschliche Annahme
zurück, es handle sich bei dem Stück um eine späte
Fassung des Ur-Hamlet (W Kap. 3). Die These, das
Wanderbühnendrama gehe auf eine Quelle Shakespeares zurück, wurde schon früh von Wilhelm
Creizenach, endgültig von George Ian Duthie und in
Deutschland von Reinhold Freudenstein widerlegt,
hat sich aber dennoch lange und hartnäckig gehalten
(vgl. Duthie 1941; Freudenstein 1958). Überschneidungen des deutschen Stücks mit der ersten,
»schlechten« Quartausgabe Q1 des Hamlet aus dem
Jahr 1603 haben zu der Interpretation geführt, dass
beide auf das verlorene Drama zurückgehen. So
etwa heißt Polonius in Q1 Corambis und im Bestraften Brudermord Corambus. Darüber hinaus gibt es
weitere Parallelen zwischen Q1 und dem Wanderbühnenstück, die Reinhold Freudenstein minutiös
untersucht und einander gegenübergestellt hat (vgl.
Freudenstein 1958, 38–83). Gegen die Ur-HamletThese hingegen spricht, dass es auch Überschneidungen mit Q2 gibt, wenn auch deutlich wenigere.
In seinem Fazit kommt Freudenstein zu dem
Schluss,
daß der Bestrafte Brudermord und die Hamlet-Tragödie
Shakespeares inhaltlich übereinstimmen. Alle Abweichungen in einzelnen Zügen gegenüber dem englischen Text
konnten als Veränderungen bestimmt werden, die charakteristische Merkmale der Wanderbühnenproduktion im
17. Jahrhundert tragen. Wörtliche Anklänge des deutschen
Textes an den Quarto 1-Text des Shakespeareschen Hamlet
finden sich in großer Zahl in allen fünf Akten […]. Darüberhinaus mußten an einigen wenigen Stellen Parallelen
22
II. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen
zum englischen Quarto 2-Text festgestellt werden, die nur
von dort übernommen sein können […]. (Freudenstein
1958, 82)
Irrig ist jedoch die Annahme Freudensteins und anderer, es handele sich beim Bestraften Brudermord
um eine Übersetzung der ersten Quartausgabe, in
die wiederum Elemente der zweiten eingeflochten
wurden. Dies entspricht ganz und gar nicht der Praxis der englischen Komödianten, die das Stück nach
Deutschland importierten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Schauspieler einen englischen
Spieltext im Repertoire hatten, der recht bald in eine
deutsche Prosaversion übertragen wurde. Beim Bestraften Brudermord handelt es sich folglich nicht
um eine literarische Übersetzung, sondern um die
Aufzeichnung eines durch die theatrale Praxis veränderten Spieltextes.
Die Handlung des Bestraften Brudermords ist in
den wesentlichen Elementen identisch mit Shakespeares Tragödie. Einzelne Unterschiede, die auf distinkte Merkmale der Bühnenpraxis der Wanderbühne zurückzuführen sind, sind dennoch gravierend. In der Haupt- und Staatsaktion sind nahezu
alle Monologe Hamlets getilgt, und der Schwerpunkt liegt auf effektreichen Bühnenaktionen. Damit ist das gesamte Stück, das wie die Dramen der
Wanderbühne in Prosa verfasst ist, weniger als halb
so lang wie Q1. Ein Beispiel für die Prägung durch
die Englischen Komödianten ist der Hofnarr Phantasmo, eine lustige Person, die dem Narren der englischen Wanderschauspieler entspricht und die weitaus mehr Raum einnimmt als Shakespeares Osric,
aus dem sie sich entwickelt hat.
Es finden sich im Wanderbühnendrama noch
einzelne Versatzstücke des Shakespeareschen Hamlet, allerdings sind diese nur noch verbale Elemente,
die ansonsten aus ihren Sinnzusammenhängen herausgelöst sind. Ein Beispiel hierfür ist die Eröffnungsszene. »For this relieve much thanks. ’ Tis bitter cold, / And I am sick at heart« (I.1.8 f.) lauten die
Worte Franciscos, womit beiläufig und durch eine
Nebenfigur die Melancholie als ein Hauptthema des
Dramas eingeführt wird. Die Melancholie besitzt im
Wanderbühnendrama allerdings eine nur noch nebensächliche Rolle, weswegen der Verweis Franciscos auf die Kälte – eine Eigenschaft der Melancholie – zwar immer noch vorkommt, im neuen Zusammenhang aber seine ursprüngliche Bedeutung
verloren hat. Im Bestraften Brudermord wird daraus
folgender Dialog:
1. Schildwache.
Oho, Camerad, kommst du, mich abzulösen, ich wünsche,
daß dir die Stunde nicht möge so lange werden, als mir.
2. Schildwache.
Ey, Camerad, es ist ja nun so kalt nicht. (BB, I.i, 150)
Dementsprechend liegt ein Hauptunterschied zwischen Shakespeares Hamlet und dem Wanderbühnenstück auch in der Konzeption der Melancholie
des Protagonisten. Während bei Shakespeare die
Melancholie und die »antic disposition« Hamlets
Hauptprobleme der Deutung des Charakters darstellen, sind Schwermut und Wahnsinn des Protagonisten im Bestraften Brudermord eindeutig zu bestimmen – ganz wie in den Quellen Saxo (W Kap. 1) und
Belleforest (W Kap. 2) handelt es sich um eine Rolle,
die es Hamlet ermöglicht, die Rache für den Tod seines Vaters ausüben zu können:
von dieser Stunde an will ich anfangen eine simulierte Tollheit, und in derselben Simulation will ich meine Rolle so
artig spielen, bis ich Gelegenheit finde, meines Herrn Vaters Tod zu rächen. (BB, I.vi, 157)
Hamlet ist im Bestraften Brudermord ein unproblematischer Charakter, der seine Rache nicht hinauszögert, sondern nur durch widrige Umstände am
Handeln gehindert wird.
Der Tradition der Wanderbühne entsprechend,
ist der Bestrafte Brudermord auch kein Drama der
Innerlichkeit und auch keines, das die politische
Umbruchs- und Übergangszeit zwischen Mittelalter
und Neuzeit thematisiert, sondern es ist ein moralisierendes Lehrstück. Ein zentrales Mittel der Didaktik der Wanderbühnendramen ist die Darstellung
von Sünden und sündhaften Affekten zum Ziel der
Warnung des Publikums. Deutlich wird die moralische und politische Funktionalisierung der Wanderbühne in Hamlets Beschreibung des Zwecks der
Schauspielkunst:
Diese Comödianten kommen mir itzo sehr wohl zu Passe.
Horatio, gieb wohl acht auf den König: wo er sich verfärbt
oder alterirt, so hat er gewiß die That verrichtet, denn die
Comödianten treffen oft mit ihren erdichteten Dingen den
Zweck der Wahrheit. Höre, ich will dir eine artige Historie
erzählen: In Teutschland hat sich zu Straßburg ein artiger
Casus zugetragen, indem ein Weib ihren Mann mit einem
Schuhpfriemen durchs Herze ermordet. Hernach hat sie
mit ihrem Hurenbuhler den Mann unter die Thürschwelle
begraben, solches ist neun ganzer Jahr verborgen geblieben, bis endlich Comödianten allda zukamen und von dergleichen Dingen eine Tragödie agirten; das Weib, welches
mit ihrem Mann auch in dem Spiel war, fängt überlaut
(weil ihr das Gewissen gerühret wurde) an zu rufen, und
schreyt: o weh, das trift mich, denn also hab ich auch meinen unschuldigen Ehemann ums Leben gebracht. Sie raufte
6. Der Bestrafte Brudermord
ihre Haare, lief aus dem Schauspiel nach dem Richter, bekannte freywillig ihren Mord, und als solches wahrhaft befunden, wurde sie in großer Reue ihrer Sünden von denen
Geistlichen getröstet, und in wahrer Buße übergab sie ihren Leib dem Scharfrichter, den [sic] Himmel aber befahl
sie ihre Seele. (BB, II.vii, 164 f.)
Im Mittelpunkt stehen daher die Todsünden Stolz
und Wollust, und das Drama verwendet beide Sünden, um die moralische Verwerflichkeit des Königs
plakativ auszustellen.
Dem Stück vorangestellt ist ein Prolog, der im Gegensatz zum Rest des Dramas zum Teil in Versform
und nicht in Prosa verfasst ist, was auf die Unabhängigkeit dieses Vorspiels von der Bühnenpraxis hinweist. Die Figuren des Prologs, die Allegorie der
Nacht und die drei Furien Alecto, Mägera und Thisiphone, sind ein unmittelbarer Verweis auf die Eumeniden des Aischylos, und damit auf den dritten Teil
der Orestie, die wiederum als ein Prätext zum Hamlet angesehen werden kann, da sie ebenfalls von Vatermord, Ehebruch und Rache handelt. Dass dabei
die auch hier moralisch-didaktische Komponente
im Vordergrund steht, macht der Text deutlich:
Diese Nacht und künftigen Tag müßt ihr mir beystehn,
denn es ist der König dieses Reichs in Liebe gegen seines
Bruders Weib entbrannt, welchen er um ihrenthalben ermordet, um sie und das Königreich zu bekommen. (BB,
Prologus, 150)
Die Todsünden Stolz und Wollust betreffen das gesamte Staatsgebilde und jeden einzelnen Untertan.
Durch den Ehebruch versündigt sich nicht allein der
König, sondern der ganze Makrokosmos des Staates.
Die Sünde ist gemäß der Gattung der Haupt- und
Staatsaktion zugleich eine individuelle und gesellschaftliche Kategorie und dient demnach der moralischen Belehrung des Publikums. Der Unterschied
zwischen dieser Dramengattung und Shakespeares
Hamlet könnte größer nicht sein.
Literatur
Erstabdruck des Textes: Olla Potrida 4.2 (1781), 18–
68.
Anon.: Der Bestrafte Brudermord oder Prinz Hamlet aus
Dänemark. In: Creizenach, Wilhelm (Hg.), Die
Schauspiele der englischen Komödianten. Berlin/
Stuttgart 1889, 147–186.
Duthie, George Ian: The »Bad« Quarto of Hamlet. A
Critical Study. Cambridge 1941, 238–270.
Freudenstein, Reinhold: »Der bestrafte Brudermord«.
Shakespeares »Hamlet« auf der Wanderbühne des
17. Jh.s. Hamburg 1958.
23
Haekel, Ralf: Die Englischen Komödianten in Deutschland. Eine Einführung. Heidelberg 2004.
Jenkins, Harold: »Introduction«. In: William Shakespeare: Hamlet, hg. v. Harold Jenkins. London/New
York 1982 (The Arden Shakespeare, Second Series),
1–159.
Hibbard, G. R.: »Der Bestrafte Brudermord«. In: William
Shakespeare: Hamlet. Hg. v. G. R. Hibbard. Oxford
1987, 373–378.
Niefanger, Dirk: »Erzähltes und erzählendes Theater im
17. Jh.«. In: Simonis, Annette (Hg.): Intermedialität
und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien. Bielefeld 2009, 115–
132.
Ralf Haekel
24
7.
II. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen
Die deutschsprachigen
Hamlet-Bearbeitungen
Heufelds und Schröders
»Shakespear«, so Lessing und Mylius in ihrer Theaterzeitschrift Beyträge zur Historie und Aufnahme
des Theaters (1750), zähle zu den Dichtern, »die man
fast bei uns nur dem Namen nach kennet« (Lessing
1985 ff., Bd. 1, 728 f.). Erst im Zuge der allmählichen Emanzipation vom französisch-klassizistischen
Dramenideal lässt sich ab Mitte des 18. Jh.s ein für
Theatertexte atypischer Rezeptionsprozess beobachten: Nicht Aufführungen geben Impulse für die weitere literarische und wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern die theoretischen ShakespeareDiskussionen, die ab den 1770er Jahren einen ersten
Höhepunkt im Sturm und Drang erleben (vgl.
Häublein 2005; Paulin 2007), regen die Aufnahme
der Stücke ins Repertoire an. Die Grundlage dafür
liefert Wielands Übersetzung von 22 ShakespeareDramen (1762–1766; Hamlet erscheint 1766), die
überdies eine wesentliche Voraussetzung für den allmählichen Beginn einer Bühnenrezeption darstellt.
Die Urteile der Zeitgenossen über seine Prosaübersetzung fallen zum Teil sehr harsch aus. Am nachhaltigsten prägt Gerstenbergs negatives Urteil die
Einschätzung von Wielands Übersetzungstätigkeit,
auch wenn sich Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie (15. Stück) durchaus wertschätzend über
diese äußert.
Selbst die Forschung fokussiert lange Zeit vornehmlich die Fehler, Missverständnisse und Eingriffe Wielands (vgl. Stadler 1910; Gundolf 1959). In
neuerer Literatur werden dagegen der Eigenwert der
übersetzerischen Pionierleistung und deren weitreichende Folgen für die deutsche Sprach- und Literaturgeschichte sowie die Umstände, unter denen die
Shakespeare-Übersetzung verfertigt worden ist, hervorgehoben (vgl. Kob 2000). Auch wenn Wieland
kein Theater-, sondern ein Lesepublikum vor Augen
hat, bieten seine Übertragungen bis ins 19. Jh. die
bevorzugten Grundlagen für Bühnenadaptionen, so
auch für die beiden frühesten Hamlet-Bearbeitungen.
Franz von Heufeld
Der Wiener Hamlet-Bearbeitung des Dramatikers
Franz von Heufeld kommt insofern Bedeutung zu,
als es sich bei dieser erstmals nicht um eine Nachdichtung, sondern nach Kriterien der ›Werktreue‹
um eine als »Shakespeare-nah« (Guthke 1967, 49)
eingeschätzte Bühnenadaption handelt. Die Premiere
von Heufelds Fassung findet am 16. Januar 1773 mit
Joseph Lange in der Titelrolle am Wiener Kärntnerthortheater statt, wird als Novität in der Folge auf
zahlreichen Bühnen nachgespielt und dient somit
der Verbreitung des ersten deutschen Bühnen-Hamlets (vgl. Genée 1870; Weilen 1908; Widmann 1931).
Der Hamburger Schauspieler, Theaterleiter und
Dramatiker Friedrich Ludwig Schröder lernt die
Wiener Fassung anlässlich einer Aufführung in Prag
1776 kennen und entschließt sich daraufhin zu einer
eigenen Hamlet-Bearbeitung (vgl. Schröder 1778,
Bd. 3, IVf.). Insofern wird die Wiener Version »indirekt zum Auslöser der gewaltigen Hamlet-Rezeption
in Deutschland« (Häublein 2005, 70). Dass Shakespeares Dramen auf deutschsprachigen Bühnen nur
in bearbeiteter Form aufgeführt werden könnten,
darüber herrscht im 18. Jh. allgemeiner Konsens.
Von Heufelds Adaption Hamlet. Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen nach dem
Schakespear existieren im Druck zwei Versionen aus
den Jahren 1772 und 1773 (vgl. anonym 1773; Weilen 1908). Die textlichen Kürzungen der Zweitfassung, die nach der Wiener Aufführung erschienen
ist, werden teils als weitere Herausarbeitung der aktiven Komponenten in Hamlets Charakter, teils als
Zensureingriffe interpretiert. Einige szenische Zusätze, wie z. B. die Beschreibung des Kabinetts der
Königin, liest Weilen als Hinweise auf die Bühnenrealisation (vgl. Weilen 1914, XIIff.). Im Vorwort zur
zweiten Fassung wird Heufeld dafür gedankt, dass er
»sich die Mühe [habe] geben wollen, ein für England
gutes Stück in ein brauchbares für Deutschland zu
verwandeln« (anonym 1773, Bd. 7, 2).
Ein zentrales Problem der Bühnenbearbeitungen
von Shakespeares Dramen betrifft im 18. Jh. die
»Umsetzung der für das elisabethanische Theater
geschriebenen Stücke auf der Kulissenbühne, welche
anstelle der Wortkulisse über die Dekoration eine
konkrete visuelle Illusion herzustellen anstrebte«
(Häublein 2005, 8), also die Realisierung der Spieltexte auf einer Bühnenform, für die sie nicht geschrieben sind. Aus Heufelds Fassung gehen sowohl
das Bemühen um die Anpassung an die konkreten
theaterpraktischen Gegebenheiten (Reduktion der
Figurenanzahl, der Schauplatzwechsel und der Aufführungsdauer) als auch die formale Orientierung
am geschlossenen französisch-klassizistischen Dra-
7. Die deutschsprachigen Hamlet-Bearbeitungen Heufelds und Schröders
menideal hervor, wodurch sich zwangsläufig massive inhaltliche Veränderungen ergeben. Shakespeares Drama wird den Prinzipien der drei Einheiten so weit als möglich angenähert. Heufeld
konkretisiert dafür die Ortsangabe und lässt das
Stück ausschließlich auf einer »Terasse vor dem Pallaste« (Weilen 1914, 3) bzw. in den Räumlichkeiten
desselben spielen. Die Dauer der Handlung wird auf
knapp zwei Tage verkürzt. Voraussetzung dafür ist
die Reduktion auf eine einzige Haupthandlung.
Durch den weitgehenden Fortfall der politischen Dimension – Fortinbras, Voltemand, Cornelius sind
gestrichen, Rosencrantz und Guildenstern zu einer
Figur zusammengefasst – wird Hamlets Rache zu einer ›Familienangelegenheit‹. Alle Handlungskomponenten, die nach den klassizistischen Regeln als
episodisch oder als unzulässige Vermischung von
Tragischem und Komischem einzustufen sind, wie
z. B. die Begebenheiten um Laertes, Ophelias Wahnsinnsszenen, ihr Begräbnis, die Totengräber-Szene,
die Figur des Narren, fehlen in Heufelds Bearbeitung. Dadurch sind grundlegende dramatische Verfahrensweisen Shakespeares, wie die Kontrastierung
der Hauptfigur durch Laertes und Fortinbras, die
enge Verwobenheit von Politischem und ›Privatem‹
oder die ›Vermischung‹ der Stilebenen, getilgt. Die
Figurennamen werden von Heufeld ›danisiert‹ – aus
Horatio wird Gustav, aus Polonius Oldenholm –
oder fallen bei Königin und König ganz weg. Polonius/Oldenholm wird in der ersten Fassung vom
Ober-Kämmerer zu einem Vertrauten, in der 2. Fassung zu einem Minister des Königs.
Heufeld folgt, abgesehen von Kürzungen und Bearbeitungen zur Verbesserung der Sprechbarkeit,
Wielands Übersetzung. Nur den Text des Schauspiels, dessen Reime im Original laut Wieland »von
unübersezlicher Schlechtigkeit abgefaßt« (Shakespeare/Wieland 1993–1995, Bd. 20, 108) seien, gibt
Heufeld in Alexandrinern wieder. Die gänzliche Abänderung des Dramenschlusses ist durch den Wegfall der Figuren Laertes und Fortinbras bedingt und
darüber hinaus einer an Gottsched geschulten Tragödiendefinition verpflichtet, wonach diese eine
lehrreiche Moral mit daraus resultierendem pädagogischen Nutzen vorzustellen habe. Der letzte Auftritt
des 5. Aktes setzt ein mit der Verabschiedung Hamlets kurz vor seiner Englandreise. Die Königin trinkt
aus dem für Hamlet bestimmten vergifteten Becher,
der den ihm geltenden Mordanschlag bemerkt und
daraufhin den König ersticht. Den Angriff der Hofbediensteten auf Hamlet kann die sterbende Mutter
25
abwehren, indem sie den Mord an Hamlets Vater
und ihre Mitschuld gesteht. Die Ermordung ist gesühnt, Hamlet bleibt im Sinne der ›poetischen Gerechtigkeit‹ am Leben. Heufelds Hamlet-Bearbeitung wird in der Forschung hauptsächlich als »Familientragödie, in der ein reiner Jüngling über Tücke
und Hinterlist seiner Umgebung glorreich siegt«
(Weilen 1914, VII), interpretiert, Hamlet erscheint,
u. a. durch die Kürzung der reflexiven Passagen, als
»an uncomplicated young man of action« (Williams
1990, 72). Im geänderten Schluss manifestiere sich
der »Sieg des Guten«, wodurch gemäß aufklärerischer »Nutzanwendung« ein »Ansporn zur Tugend
gegeben« (Schweinshaupt 1938, 53) werde. Häublein
weist darauf hin, dass Heufelds Fassung »innerhalb
des historischen Kontexts eine Pionierleistung im
bearbeitungstechnischen Umgang mit Shakespeares
Werken« darstelle, da er anders als viele seiner Vorgänger »aus dem Stoff seiner Quelle kein neues deutsches Stück« macht, sondern das Stück durch »Isolierung der Haupthandlung« (Häublein 2005, 71)
dramaturgisch umformt.
Friedrich Ludwig Schröder
Schröder hat die Hamlet-Tragödie basierend auf der
Heufeldschen Fassung und in Kenntnis des englischen Originals mehrfach für die Bühne bearbeitet.
Das fünfaktige Bühnenmanuskript der Hamburger
Erstaufführung von 1776 ist verschollen, die erste
gedruckte Fassung erscheint 1777 ohne Autorenoder Bearbeiternamen unter dem Titel Hamlet,
Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel in 6 Aufzügen.
Zum Behuf des Hamburgischen Theaters, die unter
Hinzufügung der Totengräber-Szene ab November
1776 in Hamburg gespielt worden ist (vgl. Weilen
1914). 1778 veranlasst Schröder selbst die Publikation einer dritten Version Hamlet, Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Nach Shakespear (vgl. Schröder 1778, Bd. 3; Weilen 1914), für
die er auch die in der Zwischenzeit erschienene
Übersetzung Eschenburgs herangezogen hat (vgl.
dazu die Fassungsvergleiche in Winds 1909, 145 ff.).
Bereits in Schützes Hamburgischer Theater-Geschichte wird Schröders Verdienst um die Etablierung von Shakespeares Dramen auf den deutschen
Bühnen hervorgehoben, die mit der erfolgreichen
Hamlet-Aufführung am 20. September 1776 im Comödienhaus einsetzt und Johann Franz Brockmann
als Darsteller der Titelrolle berühmt macht (vgl.
26
II. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen
Schütze 1794, 451 ff.; Marx 2011). Der außergewöhnliche Erfolg der Hamlet-Aufführungen wird
auf den als ›realistisch-psychologisch‹ etikettierten
Schauspielstil des Hamburger Ensembles zurückgeführt, da sich dieser in besonderer Weise für die
Darstellung von Shakespeare-Stücken geeignet habe.
Die weitreichende Durchsetzung dieses seit der
Jahrhundertmitte präferierten Spielstils ist in der
Folge eng mit der Durchsetzung der Shakespeareschen Dramatik im deutschsprachigen Raum verbunden (vgl. Hoffmeier 1964; Guthke 1967; Häublein 2005; Birkner 2007).
Im Gegensatz zur Wiener Fassung, von der Schröder sowohl die Namensänderungen, die teilweise
Reduktion der dramatis personae, den Fortfall der
politischen Komponente als auch in allen Versionen
den positiven Schluss übernimmt, nähern sich seine
Bearbeitungen der Mehrsträngigkeit des Originals
an, vornehmlich um »Kausalzusammenhänge sichtbar zu machen und das Handeln der einzelnen Figuren klar zu motivieren« (Häublein 2005, 75): z. B.
durch die Wiedereinführung der Laertes-Figur und
die Ausgestaltung der Ophelia-Handlung mit den
bei Heufeld gestrichenen Wahnsinns-Szenen oder
durch die in der zweiten Version hinzugefügte Totengräber-Szene. Obwohl sich Schröder nicht der
strikten Einhaltung der drei Einheiten verpflichtet
fühlt, werden auch bei ihm aus aufführungspraktischen und illusionssteigernden Gründen die im Original zahlreichen Szenenwechsel reduziert, wodurch
sich wie schon bei Heufeld abweichende Akt- und
Szeneneinteilungen ergeben. Die Dauer der Handlung ist auf wenige Tage beschränkt, so wird z. B.
Laertes ’ neuerliche Ankunft bei Hof durch die ungünstige Witterung, die ihn an der Abreise nach
Frankreich gehindert habe, erklärt. Trotz des komprimierten und simplifizierten Handlungsverlaufs
sind Schröders temporeiche Bearbeitungen Shakespeares Vorlage vor allem in der Gestaltung der Charaktere grundsätzlich verpflichtet, da er viele der bei
Heufeld gestrichenen reflexiven und satirisch-zynischen Passagen wieder einfügt, alle derben oder anzüglichen Stellen bleiben jedoch gestrichen. Wie bei
Heufeld erscheint die Hamlet-Figur auch in Schröders differenzierteren Bearbeitungen als zielgerichteter jugendlicher Rächer. Dazu tragen u. a. die Kürzung der selbstkritischen, melancholischen Passagen
im Hekuba-Monolog sowie die markante Umstellung der Gebetsszene des Königs wesentlich bei, die
bei Schröder vor dem entlarvenden Schauspiel, für
das er wieder Wielands Prosafassung wählt, gesetzt
ist. Während in älteren Forschungen darin vor allem
ein unverständlicher Fehler gesehen wurde, weist
Häublein in ihrer Studie den dramaturgischen
Zweck dieses Eingriffs nach: »Schröders Hamlet
zaudert an dieser Stelle nicht allein aus moralischreligiösen Bedenken, sondern auch aus dem konkreten Grund, daß Claudius ’ Schuld für ihn hier noch
nicht bewiesen ist«, Hamlets Zögern wird dadurch
»rational erklärlich« (Häublein 2005, 75) gemacht.
Schröder wählt in allen Fassungen den positiven
Wiener Schluss von 1773. Obwohl Laertes im letzten
Akt des Dramas anwesend ist, kommt es nicht zum
entscheidenden Fechtkampf, sondern zur Versöhnung. Das Beibehalten des glücklichen Ausgangs
wird in der Forschung seit jeher als eindeutige Publikumskonzession interpretiert. So sei die »Umstilisierung Shakespeares zum Familienstück-Autor im
Sinne der Zeit eine der am häufigsten zu beobachtenden Eigenarten der deutschen Inszenierungen«
(Guthke 1967, 51). Häublein differenziert dahingehend, dass im 18. Jh. »der auf einer Reihe von Verhängnissen basierende Tod Hamlets von vielen Kritikern als ein dramaturgischer Fehler Shakespeares
gewertet wurde« (Häublein 2005, 76; Hervorh. im
Orig.). Schröder habe in seinen Adaptionen vor allem die »polymorphen Charaktere und die emotive
Wirkung des Geschehens auf den Rezipienten«
(ebd., 77) herausgearbeitet, also diejenigen Aspekte,
die von den Zeitgenossen an Shakespeares Dramen
besonders geschätzt wurden.
Die deutschsprachigen Shakespeare-Aufführungen ab den 1770er Jahren sind im Zusammenhang
mit den strukturellen Veränderungen des Theaterbetriebs zu sehen. Gefordert sind Novitäten, welche
sowohl den Bedürfnissen der Bühnen als auch denen des Publikums nach Unterhaltung entsprechen
müssen, um dieses langfristig an die stehenden
Theater zu binden. Die Bewertungen der vorromantischen Bearbeitungen sind lange Zeit durch
Gundolfs 1911 erstmals erschienene und mehrfach
wieder aufgelegte Arbeit Shakespeare und der deutsche Geist nachhaltig negativ geprägt, da diesen als
Einlösung von niveaulosen Publikumserwartungen
und aus rein erwerbsmäßigem Interesse »Shakespeares Entmannung« (Gundolf 1959, 248) vorgeworfen wird. Erst Stahls umfangreiche Studie Shakespeare und das deutsche Theater betont den »Einsatz
der deutschen Bühne für Shakespeare« und zählt
diesen zu den »großen Leistungen der deutschen
Kultur- und Geistesgeschichte« (Stahl 1947, 8). In
den jüngeren Forschungen, die zu einer – weniger
7. Die deutschsprachigen Hamlet-Bearbeitungen Heufelds und Schröders
›national‹ geprägten – Neubewertung der Anfänge
von Shakespeares deutschsprachiger Bühnenrezeption beitragen wollen, wird das Augenmerk verstärkt
auf die dramaturgischen, bühnentechnischen und
theatergeschichtlichen Kontexte gelegt, da die Bearbeitungen vornehmlich als »Produkte der Theaterpraxis« (Häublein 2005, 7) zu verstehen seien.
Schröders Hamlet-Bearbeitungen werden keineswegs mehr als ›typische Sturm- und Drang-Fassungen‹ interpretiert, die den ›regellosen‹ Stücken der
Genieästhetik vergleichbar seien, sondern analog
zur Wiener Fassung »als Tragödie der Aufklärung«
(Birkner 2007, 20).
Schröders bühnenwirksame Fassungen, die in der
Folge von zahlreichen Theatern und Truppen nachgespielt wurden, und seine erfolgreichen Hamburger Inszenierungen haben maßgeblichen Anteil an der Einführung des Dramas auf den Bühnen, initiieren die
weitere Shakespeare-Rezeption und ermöglichen damit einem deutschsprachigen Theaterpublikum Zugang zum Werk des elisabethanischen Dramatikers.
Literatur
Quellen
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Theatern zu Wien. Preßburg/Leipzig 1773.
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Theater. Bd. 3. Hamburg 1778.
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hg. nach der ersten Zürcher Ausgabe von 1762–1766
von Hans und Johanna Radspieler. Zürich 1993–
1995.
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für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 31.1
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Shakespeare-Bearbeitungen im 18. Jh.«. In: Kuhn,
Ortwin (Hg.): Großbritannien und Deutschland.
Europäische Aspekte der politisch-kulturellen Beziehungen beider Länder in Geschichte und Gegenwart.
27
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Gegenwart. Berlin 1909.
Beate Hochholdinger-Reiterer
28
8.
II. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen
Die großen Übersetzungen
(Schlegel, Bodenstedt,
Hauptmann, Rothe, Fried)
Bereits in den ersten Teilübersetzungen, die Voltaire
vom Hamlet anfertigte, sowie in den sich daran anschließenden poetologischen Debatten bildete sich
der Bezugsrahmen für die Shakespeare-Übersetzungen des 18. Jh.s heraus. Die Bewunderung für ein aus
einem Naturgenie heraus geschaffenes neues dramatisches Modell wurde eingeschränkt durch die Bemängelung jener sprachlichen und dramaturgischen
Züge des Werkes, die dem Zeitgeschmack allzu sehr
widersprachen. So mäkelte auch Christoph Martin
Wieland, der sich als 29-Jähriger an eine Gesamtübersetzung Shakespeares machte und zwischen
1762 und 1766 immerhin 22 Dramen in acht Bänden
als Prosafassung veröffentlichte, in Anmerkungen
an manch einer Textstelle herum oder ließ sie gar
unübersetzt. Gleichwohl ermöglichte seine Übersetzung des Hamlet einer ganzen Generation ein Lektüreerlebnis, das gemessen an seinen Folgen für das
deutsche Theater beispiellos blieb. Sie wurde zur
Grundlage der ersten deutschen Bühnenbearbeitungen des Hamlet (vgl. Helmendsdorfer 1965, 63–66;
Greiner 1993; vgl. W Kap. 7). Johann Joachim
Eschenburg legte 1775–77 eine weitere Prosaübersetzung vor, die auch die von Wieland unübersetzten
Dramen beinhaltete und insgesamt unvoreingenommener arbeitete. Eschenburgs Übersetzung darf, gemessen an den Möglichkeiten ihrer Zeit, als philologisch korrekt bezeichnet werden. Es gilt als sicher,
dass Schlegels Übersetzung ohne die Vorarbeit
Eschenburgs kaum möglich gewesen wäre (vgl.
Greiner 2001; Suerbaum 1969).
A. W. Schlegel und Dorothea Tieck
Als August Wilhelm Schlegel im Jahr 1797 sein großes Übersetzungswerk in Angriff nahm, das später
von Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin unter
der redaktionellen Leitung von Ludwig Tieck ergänzt wurde (er selbst übersetzte zwischen 1797 und
1801 16 Dramen, darunter 1789 den Hamlet, 1810
folgte noch Richard III; die Gesamtausgabe erschien
1825–1833 in Berlin), war Shakespeare also längst
zum neuen Bezugspunkt der deutschen Dramatik
geworden (vgl. Paulin 2003, 146 ff.). In den Zentren
des deutschsprachigen Theaters waren Inszenierun-
gen von Shakespeares Dramen längst keine Seltenheit mehr (vgl. Häublein 2005). Dennoch fiel der Beginn von Schlegels Übersetzungsabenteuer in eine
ungünstige Zeit. Die deutsche Bühne war seit Jahren
beherrscht gewesen von den populären Rührstücken
Kotzebues. Erst jetzt ließ sich Goethe von Schiller
zur Wiederaufnahme der Arbeit am Faust drängen;
zeitgleich begann Schiller, ebenfalls nach fast zehnjähriger Pause und seinerseits ermuntert durch Goethe, die Arbeit am Wallenstein; und Schlegel beginnt
die Übersetzung von Romeo und Julia – ein annus
mirabilis für die deutsche Bühne.
Schlegels Übersetzungsinteressen reichen zurück
in die Göttinger Studienzeit, wo sich unter dem Einfluss Gottfried August Bürgers das Interesse für
Theorie und Praxis des Übersetzens herausbildete.
Statt als Nachahmer wird der Übersetzer als Schöpfer eines Kunstwerkes verstanden, das die Illusion eines Originalwerks vermittelt. Damit rücken die formalen Aspekte, insbesondere die Notwendigkeit
und ästhetische Problematik der Versübersetzung,
in den Blick. Schlegel beginnt damit die Arbeit an einer »deutschen poetischen Grammatik« (Gebhardt
1970, 25).
Neben Detailüberlegungen zur Poetik des Verses
entwickelt sich unter dem Eindruck der Lektüre
Herders die Überzeugung von der Individualität
und Originalität eines als organische Struktur begriffenen Werkes, dessen formale Elemente als Ausdrucksträger semantische Funktionen erfüllen. Diese
Überzeugung verbietet einen Eingriff in die Faktur
des Originals und gebietet die möglichst detailtreue
formale Übertragung des Originals. In mehreren
Beiträgen zu Schillers Zeitschrift Die Horen in den
1790er Jahren sowie später in den Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst und den Wiener
Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur
entwickelte Schlegel sowohl sein Shakespeare-Bild
als auch seine theoretischen Vorstellungen vom
Übersetzen.
Entscheidend wurde die Frage, was es heißt, ›formal treu‹, ›poetisch‹ bzw. ›treu und poetisch‹ zugleich zu sein. Formale Nachbildung hieß zuallererst: genaue metrische Nachbildung. Eine wesentliche Aufgabe bestand darin, die unterschiedlichen
materialen Qualitäten der englischen und deutschen
Sprache zu berücksichtigen und den englischen
Blankvers in die Strukturen der deutschen Sprache
zu übertragen, deren formale Eigenschaften in manchem zwar durchaus ähnlich, in Vielem aber ganz
anders ausfallen. Lexikalische Vielfalt und Wortlän-
8. Die großen Übersetzungen (Schlegel, Bodenstedt, Hauptmann, Rothe, Fried)
gen, Wortakzente und Kadenzen, syntaktische
Strukturen und Rhythmen, Nominalstile und Verbalstile galt es zu beachten. Als besonderes Problem
erwies sich auch das doppelte Lexikon des Englischen, das sich aus den germanisch-angelsächsischen Dialekten und dem Französisch-Normannischen des 11. Jh.s, mit entsprechend erweiterten
prosodischen Möglichkeiten, zusammensetzte. In
der praktischen Auseinandersetzung mit diesen Fragen wurden erstmals die Elisionen, Ellipsen, die vielfältigen Formen der Verkürzung als poetische Übersetzungsmittel durchdekliniert, die Enjambements
als Mittel der rhythmischen Glättung ausprobiert,
die Partizipialkonstruktionen syntaktisch neubewertet, vor allem aber im Wortbildungsbereich, in
gewagten Wortzusammensetzungen, immer wieder
Neues ausprobiert, verfeinert, der deutschen Sprache hinzugefügt. Neben metrischen Fragen erkannte
Schlegel die Bedeutung von Tonfall und Klangfarbe,
die sinnlich-konkrete Bildlichkeit der Sprache
Shakespeares und vor allem – in deutlichem Gegensatz zur Bewertung des 18. Jh.s – die Wortspiele als
Sinnkonstituenten.
Die kongeniale schöpferische Leistung setzt aber
auch eine kongeniale hermeneutische Auseinandersetzung mit dem zu übersetzenden Text voraus. Dieses Doppelspiel von Auslegung und Neuschöpfung
macht aus der Übersetzung immer etwas anderes
und schon deshalb ein Kunstwerk eigenen Rechts.
Das wiederum verleiht einem übersetzten sprachlichen Kunstwerk sein eigenes, zeitbedingtes Gepräge,
das gerade wegen dieser seiner Qualität, nicht wegen
seiner Unzulänglichkeit, eine jede Zeit zu einer
neuen Übersetzung herausfordert. Insofern trägt
Schlegels Hamlet-Übersetzung den Stempel ihrer
Zeit und ihres Übersetzers und macht sie zum Beleg
eines deutsch-romantischen Kunstbegriffs, vielleicht
sogar zu einem seiner Paradebeispiele.
Schlegel rechtfertigt die notwendigen Änderungen als »höhere Erfordernisse einer poetischen
Nachbildung« (Schlegel 1800, 111); zugleich schafft
er sich damit aber den benötigten Freiraum. Denn
so sehr ihn Shakespeares dramatische Sprache zu
großen und folgenreichen Experimenten mit der
deutschen Sprache veranlasste, so wenig ließ er sich
von Änderungen abhalten, wenn der Text seinen
Vorstellungen nicht entsprach. Das Weglassen von
unverständlichen Ausdrücken oder als anstößig
empfundenen Äußerungen erschien ihm selbstverständlich und wurde systematisch betrieben. Wo ein
Wortspiel nicht zu übersetzen ist, darf ein anderes
29
gewählt werden. Gleiches gilt für die (im Hamlet
eher seltenen) Reime. Grundsätzlich neigt er dazu,
die Mischung verschiedener Stile anzugleichen und
die Stillage anzuheben (vgl. Daly 1965, 90 f.). Hamlet
spricht durchgängig höfischer als im Original. Schlegels eigenes Stilideal der Erlesenheit und Varietät des
Ausdruck genießt höchste Priorität: Gemeinsprache
wird nicht selten durch Erlesenes ersetzt, Wortwiederholungen, damit auch die dramaturgisch so
wichtigen Wortechos, werden bei ihm gern durch
Synonyme oder ähnliche Bedeutungen variiert (vgl.
Stamm 1964a, 70). In besonderem Maße wirken sich
diese ›poetisierenden‹ Eingriffe in der Totengräberszene aus, die zwar ungekürzt übersetzt wird, deren
derb-witzige Dimension aber abgeschwächt wurde.
Leichtigkeit, Mäßigkeit und Geschmeidigkeit sind
die Stilmerkmale der Schlegelschen Hamlet-Übersetzung (vgl. Gebhardt 1970, 233). Poetizität und
Mäßigkeit aber machen aus seinem Hamlet einen
›romantischen‹ Hamlet.
Seine übersetzungs- und literaturtheoretischen
Überlegungen revidieren das damalige ShakespeareBild: Schlegel denkt und analysiert das Kunstwerk
nicht mehr vom Schaffensprozess, sondern von dessen Totalität her, die nur durch intellektuelles Kalkül
und Kunstwollen in jedem Detail zu erreichen ist.
Der Vorstellung vom Naturgenie setzt er, mit nachdrücklicher Unterstützung durch den Bruder Friedrich, seine Auffassung vom Kunstgenie entgegen.
Die organische Naturform wird zur organischen
Kunstform; das intuitiv-unbewusste Schaffen wird
zum reflektierenden Schöpfungsprozess; die Regellosigkeit der ungebändigten Dramenform weicht der
Einsicht in die poetisch kalkulierte Funktion des formalen Details.
Nicht weniger folgenreich erwies sich die Übersetzung für das Hamlet-Bild ihrer Zeit, indem sie die
Hamlet-Schwärmerei Wilhelm Meisters (W Kap. 67)
nicht nur stärker akzentuierte, sondern ihr in der
Schlegelschen Textfassung auch ein objektives Korrelat bot. Der aus der Schlegelschen Übersetzung geborene deutsche Hamlet ist ein edler Jüngling, der
sich durch sittliche Maximen leiten lässt, auf die er
wiederholt reflektiert (vgl. Gebhardt 1970, 239).
Edelmut des Prinzen und hohe moralisch-ethische
Prinzipien sind die ihn leitenden Grundsätze. Kleine
und kleinste Übersetzerentscheidungen gestalten
dieses Gemälde des sensiblen, zur politischen Tat
unbefähigten Herzens aus. Während Shakespeare
auf der Bühne mit dem sich zu seiner Zeit abzeichnenden neuen Menschen experimentierte, der kon-
30
II. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen
templative Weltbetrachtung und aktive Selbstverantwortung in eine neue Vorstellung von Souveränität
zu überführen versuchte, hat Schlegel seinen Hamlet
für seine Zeit, die des deutschen Idealismus, verfasst.
So wird Shakespeares Hamlet in der Fassung Schlegels zu einer Tragödie der Reflexion (vgl. Gebhardt
1970, 247), in der sich ganze Generationen wiederfanden, hin und wieder aber auch einzelne Stimmen
zum Widerspruch herausgefordert fühlten.
Denen, die sich mit dem Rückzug aus der öffentlich-politischen Verantwortung nicht abfinden wollten, wurde gerade diese ›deutsche‹ Identifikation mit
einem in die Innerlichkeit drängenden Hamlet zuwider. In seinem Gedicht »Hamlet« wird für Freiligrath die Feststellung »Deutschland ist Hamlet!« zum
Kampf- und Schmähruf gerade gegen diese vereinnahmende (Um-)Deutung. Die Gegenstimmen waren nicht zahlreich, aber hörbar, und sie fanden im
Text nicht nur einen anderen Hamlet, sondern gerade auch eine über das bürgerliche Theater hinausweisende Dramaturgie des Volkstheaters (vgl. Greiner 2005).
Friedrich von Bodenstedt
Die ambitionierteste und in mancherlei Hinsicht gelungenste Gesamtübersetzung Shakespeares, die auf
Schlegel folgte und gegen Schlegel gerichtet war, geht
auf Friedrich von Bodenstedt (1819–1892) als Gesamtredakteur zurück (Bodenstedt 1867–72). Bodenstedt war eine facettenreiche, weltläufige Persönlichkeit und mit vielen Talenten begabt. Nach einem
Studium der Philosophie und Philologie bereiste
und durchwanderte er große Teile Europas und
Kleinasiens und erlernte die slawischen und orientalischen Sprachen. Neben zahlreichen Redakteursposten betätigte er sich erfolgreich als Übersetzer
von Puschkin, Lermontov und ukrainischen Volksliedern. 1854 folgte er einem Ruf auf eine Professur
für slawische Sprachen nach München, vier Jahre
später übernahm er dort die Professur für altenglische Literatur. In diese Zeit fallen eine dreibändige
Studie über Shakespeares Zeitgenossen und ihre
Werke (Berlin 1858–60) und die viel beachtete Übersetzung der Sonette Shakespeares (Berlin 1862). Seit
1866 leitete er das Meininger Hoftheater und gab
1866–67 die beiden ersten Bände des ShakespeareJahrbuchs heraus. Seit dieser Zeit verfolgte er den
Plan einer neuen Shakespeare-Übersetzung unter
der Mithilfe von Nicolaus Delius. In diesem Projekt
übernahm er selbst die Übersetzung des Hamlet,
freilich dabei nur der Not nachgebend. Vergeblich
hatte er sich um den im Londoner Exil lebenden
Jungdeutschen Ferdinand Freiligrath als Übersetzer bemüht. Allein dieses Bemühen um jenen deutschen Freiheitsdichter, der seine am Hamlet festgemachte politische Botschaft für die damaligen
deutschen Verhältnisse laut genug verkündet hatte,
lässt einen anderen Hamlet, einen ›politischen‹
Hamlet erwarten. Die Übersetzung erschien 1870 als
25. Band. Der neue Blick wird bereits in der Einleitung dargelegt, wenn Bodenstedt König Claudius
nicht mehr nur nach moralischen, sondern auch
nach politischen Kriterien beurteilt, ein »schlechter
Mensch« zwar, »aber ein Monarch, der das Regiment
versteht, und an praktischer Klugheit, That- und
Willenskraft Hamlet weit überlegen« ist (Bodenstedt
1867–72, Bd. 25, viii). Der Übersetzer beweist ein
Gespür für die Doppelnatur des Machiavellisten, der
die bei Shakespeare zeittypischen Züge des Schurken
hinter sich gelassen hat. Auch die Hofleute werden
als soziales Umfeld der Tragödie in ihrer zwangsläufig parasitären Rolle nachsichtig-kritisch gewürdigt.
Ausgiebig widmet sich Bodenstedt der Totengräberszene, deren Notwendigkeit er betont. Die Tragödie
wird unter diesen Gesichtspunkten nicht mehr nur
zu einer Tragödie des idealisierten, zur Tat unfähigen Intellektuellen, sondern zu einer Tragödie, die
die Facetten von Tat, Abwägung, Aufschub und jähzornigem Affekt durchspielt und die vielen wehrlosen Opfer der Schuldbilanz Hamlets zurechnet.
Wenngleich Bodenstedt Schlegels Übersetzung in
vielem verpflichtet bleibt, lassen zahlreiche Änderungen die Konturen eines eigenen Profils erkennen,
die die angestrebte Umdeutung in Figurenrede umsetzen. Ein Vergleich des Reflexionsmonologs allein
zeigt, dass Bodenstedt um stärkere Klarheit von
dunklen oder mehrdeutigen Stellen bemüht ist, den
Text damit verständlicher und glatter, im Idiom zeitgemäßer, aber auch eindeutiger macht als das Original (vgl. Reichert 1965, 100–101). Hamlet wird zum
Zeitgenossen Bodenstedts und zum Zeitzeugen Freiligraths, wenn Bodenstedt Schlegels »wütende[s]
Geschick« (outrageous fortune) in ein »schmähliches
Geschick« wandelt und auf ein menschliches – und
damit machbares – Maß beschränkt, wenn er den
»Übermuth der Ämter« zu einem preußischen
»Beamtenübermuth« präzisiert, die »Lebensmüh«
mit dem »harten Joch des Lebens« von der existentiellen zur sozialen Lebenserfahrung umdeutet. Während Schlegels Hamlet dem Schicksal »Widerstand«

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