Wir haben so viel Glück gehabt«

Transcrição

Wir haben so viel Glück gehabt«
holen, klingelte Sonia beim Friseur im Erdgeschoss. Doch Herr
Walczak, der sie im Januar 1940 mitfühlend getröstet hatte, als
sie von der deutschen Mieterin bespuckt worden war, riss nun
erschrocken die Augen auf: »Fräulein Piasecka, Sie leben? Wir
dachten, Sie seien tot!«
Auf der Anrichte von Familie Walczak thronte eine Suppenschüssel des Rosenthaler Porzellans, das Bruder Józef und Cousin
Florian im Keller vergraben hatten, und in der Wohnung der Familie Piasecki lebte Herrn Walczaks Tochter mit Ehemann und
zwei kleinen Kindern. Am ersten Tag trieb Herr Walczaks Schwiegersohn Sonia mit Beschimpfungen hinaus; am zweiten Tag wur-
»Wir haben
so viel Glück gehabt«
Die Umsiedlung der Liselotte von Stackelberg
aus dem Baltikum
de er handgreiflich; am dritten Tag kam Sonia mit der Polizei,
setzte sich, geschützt durch die Ordnungsmacht, in einen Sessel
ihrer schwarzen Ledergarnitur, wartete, bis die Polizisten die Familie Walczak hinausgedrängt hatten, und ließ sofort alle Schlösser wechseln. Nun konnte die Familie nachkommen.
Doch wovon sollten sie leben?
Sonia eilte zum Friedhof und sah schon von Weitem, dass
die Grabplatte genau an der Stelle zerbrochen war, wo sie ihren
Schatz vergraben hatte. Tränen schossen ihr in die Augen: »Du
hast nicht aufgepasst, Vater!« Doch beim Nähertreten erkannte
sie, dass keine Plünderer am Werk gewesen waren, sondern nur
ein umgestürzter Nachbarstein eine Ecke aus der Platte geschlagen hatte. Als sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, begann sie hastig mit den Händen zu graben. »Und ich
fand alles wieder! Alles!« Die Goldrollen zu einem Pfund und zu
einem halben Pfund, den Schmuck von ihren Eltern. »Ich danke
dir, geliebtes Väterchen«, hat sie immer wieder überwältigt geflüstert. »Ich danke dir, geliebtes Väterchen!«
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Das Zeitgeschehen
Auslandsdeutsche – »Heim ins Reich«
Parallel zur Zwangsaussiedlung von Polen und Juden aus den
zunächst »germanisiert« werden sollten (ca. 220 000). Der größ-
eingegliederten Gebieten erfolgte die Einquartierung von Deut-
te Teil der Umsiedler kam in den Warthegau (85 Prozent) – die
schen. Sie stammten aus Siedlungsgebieten, die nach dem
Zahl der Volksdeutschen stieg hier von 325 000 im Jahre 1939 auf
»Grenz- und Freundschaftsver trag« zwischen Berlin und Moskau
1,2 Millionen bis Kriegsende –, nur 7,9 Prozent wurden Danzig-
am 28. September 1939 außerhalb der Einflusszone des Deut-
Westpreußen und nur 5,8 Prozent Schlesien zugewiesen. Jede
schen Reiches verblieben waren. Im Oktober 1939 und im Januar
umgesiedelte Familie sollte in etwa ein Äquivalent zum aufgege-
1941 kamen 127 000 Deutschbalten beziehungsweise Litauen-
benen Besitz erhalten – oft zwei, gar drei polnische Bauernhöfe
deutsche aus Estland, Lettland und Litauen, Anfang November
anstelle des zurückgelassenen –, für zurückgelassene bewegliche
1939 166 000 Volksdeutsche aus Wolhynien und Ostgalizien,
Habe wurde sie nicht entschädigt.
im September 1940 212 000 Menschen aus Bessarabien und der
Bukowina und Ende 1943 240 000 Schwarzmeerdeutsche aus der
Ukraine.
Anders als in der Propaganda beschworen, führte die Ansiedlung
weder zur Herausbildung einer Gemeinschaft »germanischer
Siedler« – dazu waren die einzelnen Gruppen der Volksdeutschen
Insgesamt dürften durch die sogenannte »Heim ins Reich«-Politik
zu heterogen – noch zur Steigerung der landwirtschaftlichen Pro-
zwischen 1939 und 1944 etwa 910 000 Auslandsdeutsche um-
duktion, da viele Höfe allein von Frauen und polnischen Zwangs-
gesiedelt worden sein.
arbeitern bewirtschaftet werden mussten. Schlechtere Böden,
Vor ihrer Ansiedlung stand die »Schleusung« in verschiedenen
Durchgangslagern des Reiches: Nach entsprechenden Kontrol-
Kontingentablieferungen und der Wunsch zurückzukehren beeinträchtigten außerdem den Arbeitswillen.
len des Körperbaus, der politischen Gesinnung und des Gesund-
Bei Kriegsende teilten die deutschen Kolonisten das Schicksal
heitszustands erhielten diejenigen Menschen den Stempel »O«,
der übrigen Deutschen der Ostgebiete. Sie flohen vor der heran-
die als »rassisch hochwertig« eingestuft worden waren und zur
rückenden Roten Armee oder wurden, wenn sie überrollt worden
Siedlung in den eingegliederten Gebieten zugelassen wurden (ca.
waren, später aus Polen ausgewiesen.
650 000). Den Stempel »A« erhielten Menschen, die im Altreich
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»Wir haben so viel Glück gehabt«
Die Umsiedlung der Liselotte von Stackelberg
aus dem Baltikum
Am 8. Oktober 1939 stand es in allen lettischen Zeitungen: Die
Deutschbalten würden das Baltikum verlassen. Denn der ganze
Osten und Südosten Europas – so Adolf Hitler in einer Rede am
6. Oktober – sei mit »nicht haltbaren Splittern des deutschen
Volkstums« gefüllt, die es umzusiedeln gelte, damit sich »im Abschluss der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es
heute der Fall ist«.
Als Gertrud von Aderkas die Nachricht von der Umsiedlung
der Deutschbalten ihrem Mann Gehrt im Krankenhaus von Riga
überbrachte, »zog er das Laken über das Gesicht, und sein Schluchzen schüttelte das ganze Bett. Dann aber«, so steht es in ihren
privaten Erinnerungen, »schlug er das Laken zurück und sagte
mit fester Stimme: Jetzt müssen wir uns ausdenken, was wir in
Deutschland unternehmen werden.«
Vielleicht hatte Gehrt von Aderkas insgeheim bereits Zweifel
gehegt, ob sich die Deutschen im Baltikum würden halten können. Schon im Winter 1918 / 19 hatte die Familie vor den einrückenden Bolschewiken nach Riga und weiter nach Libau fliehen
müssen, mit Pferd und Schlitten, am Meer entlang nach Süden.
Gehrts junge Frau hatte die Zügel geführt, er selbst mit dem Ge-
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wehr im Anschlag auf dem Gefährt gesessen. Seine Familie war
unternehmen werden«? Oder hatte er im Krankenhaus von Riga
damals der Soldateska entkommen, denn mit vereinten Kräften
gar nicht die große Politik im Sinn, wollte seiner Familie vielmehr
hatten Letten und Deutsche die Sowjetarmee zurückgedrängt.
zu verstehen geben, dass er sie nicht im Stich lassen würde? Dass
Pastor Scheinpflug hingegen, den sie nicht zur Flucht hatten über-
die lang verschleppte Rippenfellentzündung ihn nicht besiegen,
reden können, weil er seine Gemeinde nicht hatte verlassen wol-
dass er gesunden und gemeinsam mit Frau und Kindern die neue
len, war von den Bolschewiken ermordet worden.
Herausforderung meistern würde?
Durch den zunehmenden Druck auf die deutsche Minderheit
Es dürfte ihm nicht leichtgefallen sein, sie bei den Vorberei-
seitens der lettischen Nationalisten hatte Gehrt von Aderkas 1920
tungen zur Aussiedlung allein lassen zu müssen. Aber sein Zu-
wie alle anderen deutschen Gutsbesitzer seinen Besitz verloren –
stand verschlechterte sich zusehends. Getrennt von der Familie
eine große Fläche von 9000 Hektar, seine Existenzgrundlage.
wurde er auf einem Krankenschiff ins Reich transportiert, nach
»Nicht einmal ein Adventsbäumchen«, sagt seine Tochter Liselot-
Swinemünde, wo er, da es noch kein Penicillin und keine Anti-
te, »konnten wir uns mehr schlagen.« Und die 50 Hektar wenig
biotika gab, wenige Tage nach der Ankunft an Streptokokkenver-
fruchtbaren Bodens, die der Familie als »Restgut« überlassen wur-
giftung starb. Als seine Frau Gertrud, Sohn Claus und die beiden
den, reichten als Lebensgrundlage nicht aus.
Töchter Liselotte und Ulrike, aufgeschreckt von der Nachricht
Gegenüber anderen deutschbaltischen Familien hatte die Fa-
über seinen schlechten Gesundheitszustand, nach Swinemünde
milie von Aderkas zwar noch Glück im Unglück. Denn sie durf-
eilten, war er bereits tot. Allein Sohn Heinz hat am Sterbebett des
te die Wirtschaftsgebäude und selbst das Herrenhaus von Gut
Vaters gesessen.
Kürbis behalten, das sich seit fünfhundert Jahren im Besitz der
Gehrt von Aderkas wurde auf der Insel Wollin an der Ostsee-
Familie befand. Und Gehrt, ein studierter Forstmann, wurde
küste beigesetzt, gemeinsam mit acht weiteren Deutschbalten
mangels lettischer Fachleute zur Verwaltung seines enteigneten
in einem Reihengrab. Als Tochter Liselotte 1998 nach dem Grab
Waldbestandes eingesetzt – was ihn, wie er sagte, nicht kränke:
suchte, konnte ihr niemand Auskunft geben. Der Friedhof war ein-
Er kenne sich eben am besten in »seinem« Wald aus. Aber es war
geebnet worden, die neuen polnischen Bewohner hatten zur alten
durchaus fraglich, ob seine Söhne Claus und Heinz als Deutsche
deutschen Tradition keinen Bezug. »Es stört mich aber nicht«, sagt
in Zukunft auch noch staatliche Anstellungen erhalten würden.
seine Tochter, »dass der Friedhof verschwunden ist. Ich brauche
Und niemand vermochte vorauszusagen, wie lange sich die jun-
keine Gräber. Die, die mir wichtig sind, trage ich im Herzen.«
gen Deutschbalten noch an das Ehrenwort halten würden, mit
dem sie sich verpflichteten, nach ihrer Ausbildung im Deutschen
Liselotte von Stackelberg, geborene von Aderkas, ist eine große,
Reich nach Lettland zurückzukehren.
schlanke Frau mit schmalem Gesicht und einem für 83 Jahre
Bedeutete Hitlers Ruf ›Heim ins Reich‹ jetzt das unabwendbare
auffällig aufrechten und sicheren Gang. Eine Frau ohne jede Lar-
Ende der Deutschen im Baltikum? Richtete Gehrt von Aderkas
moyanz – darin ähnelt sie ihrem Vater –, für die, mögen Besitz
deswegen so schnell seinen Blick auf das, »was wir in Deutschland
und gesellschaftliche Stellung auch unwiederbringlich verloren
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sein, die Haltung zählt, die Disziplin, die Verpflichtung gegenüber
Gegenwart und Zukunft, so wie sie es von den Eltern lernte.
Immer wieder taucht ein »Aber« in Illos Erinnerungen auf,
weil das Leben dann doch nicht ungetrübt und frei von Wider-
In ihrem Wohnzimmer im württembergischen Ludwigsburg
sprüchen und Spannungen war. Die Interessen kollidierten zwi-
hängen eine historische Landkarte vom Baltikum und ein Foto
schen den einen, die die jüngst eroberte staatliche Unabhängig-
vom Familiengut. Aber Kürbis, benannt nach dem livländischen
keit festigen und sozial aufsteigen wollten, und den anderen, die
»Körbs«, der Einöde, ist bei ihr kein Gegenstand des Kults, der sen-
ihre Deklassierung hatten hinnehmen müssen und die weitere
timentalen Erinnerung, sondern Teil ihres gegenwärtigen Lebens,
Beschneidung ihrer Minderheitenrechte fürchteten. Zwischen je-
Ziel einer seit 1996 regelmäßig jedes Jahr wiederholten Reise mit
nen, die über Generationen hinweg die sozial Schwächeren ge-
den Geschwistern oder mit den Söhnen und Schwiegertöchtern,
wesen waren und nun politisch das Sagen hatten, und den einsti-
auch mit Enkeln und Freunden.
gen Herren, die immer noch Tradition und Etikette hochhielten,
Ihre Heimat, sagt Liselotte, genannt Illo, sei lange schon Lud-
aber politisch weitgehend machtlos geworden waren. »Letten und
wigsburg in Deutschlands Südwesten, wo sie seit fünf Jahrzehnten
Deutsche«, sagt Illo von Stackelberg, »lebten zwar zusammen,
wohne. Doch Kürbis bleibe bis ans Lebensende eine beglücken-
aber jeder für sich.«
de Erinnerung, die sich mehr und mehr mit der Gegenwart ver-
Draußen sprachen Illo und ihre Geschwister selbstverständlich
mische. Wer habe schon das Glück, eine verloren gegangene
Lettisch, zuhause aber war der Gebrauch der lettischen Sprache
Sprache wiederbeleben zu können – sie spreche, sagt Illo, Lettisch
verpönt. Von ihrem religiösen Bekenntnis her waren die Letten
flott und falsch wie ehedem –, und wer könne schon an alte Kon-
genauso evangelisch wie die Deutschbalten – doch in die lettische
takte anknüpfen wie sie mit ihrer ehemaligen Nachbarin, die sie
Kirche »ging man nicht«, auch wenn das bedeutete, dass Familie
bei ihrem ersten Besuch in Lettland 1971 gleich wiederfand?
von Aderkas nur selten den Gottesdienst besuchte, da die deut-
Die lettische Familie Weinbergs hatte vor dem Krieg zwei Kilo-
sche Kirche weit entfernt lag. Einen Letten, das wusste Illo, hätte
meter vom Gut Kürbis entfernt einen kleinen Laden betrieben, den
sie auch nicht heiraten dürfen, außer sie wäre bereit gewesen, von
»Krug«, der enteignet wurde, als die Sowjets die Familie im Zwei-
der deutschen Gemeinschaft verstoßen zu werden. Der Erhalt der
ten Weltkrieg nach Sibirien deportierten, und der in den Besitz
Gemeinschaft war im Wertekanon der Deutschbalten wichtiger
der Weinbergs zurückkehrte, als das Sowjetreich zerfiel. Wie oft
als die Liebe. Denn nur wenn sie der deutschen Sprache und der
hat Illo dort als Kind und Jugendliche Salz, Zucker oder Petroleum
deutschen Tradition treu blieben, konnte die Identität der Gruppe
geholt und anschreiben lassen, wenn der verarmten Familie von
in der Fremde erhalten werden:
Aderkas wieder einmal das Geld fehlte! Wie oft hat umgekehrt Illos enteigneter Großvater aber auch die lettischen Neubauern be-
Wir aber, wir wollen nicht wandern gehen,
raten, die wenig oder keinerlei Erfahrung in der Landwirtschaft
solange der Heimat zwei Bäume noch stehen
besaßen! Vor dem Krieg, sagt Illo von Stackelberg, seien Letten
und noch Blüten blüh’n in den Hecken,
und Deutsche gut miteinander ausgekommen. Aber …
solang unser Lied in den Winden treibt
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und noch ein Fußbreit Landes uns bleibt.
nur im Sommer Verwandte oder Bekannte aus dem Reich ein-
Und es bleibt uns, wenn wir nur bei ihm bleiben.
kehrten, erlebte Illo den Nationalsozialismus in erster Linie als
(Gertrud von Brincken)
Stärkung für die deutschbaltische Minderheit, als eine Stütze für
das Deutschtum. Ohne die Hilfe aus dem Reich hätten die deut-
Viele Landsleute waren nach dem Ersten Weltkrieg ins Deutsche
schen Schulen sicher geschlossen werden müssen. Ohne die Hilfe
Reich abgewandert. Familie von Aderkas aber wollte auf keinen Fall
aus dem Reich hätte die Bibliothek in Riga kein Geld gehabt, um
untreu werden – weder der Heimat noch dem Deutschtum. Wenn
deutsche Literatur per Post in entfernte Winkel Lettlands auszu-
sich im neuen lettischen Nationalstaat mit dem bescheidenen Sa-
leihen. Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war zwar wie alle na-
lär des Gehrt von Aderkas und kleinen zusätzlichen Einkünften
tionalsozialistischen Organisationen im lettischen Staat verboten.
aus der Vermietung des Dachgeschosses an Feriengäste nicht alle
Aber Illo registrierte mit geheimer Genugtuung, dass ihre Schul-
Ausgaben begleichen ließen, dann musste man eben – Standes-
uniform mit der weißen Bluse und dem blauen Rock der Jung-
ehre hin oder her – vom Lebensstandard Abstriche machen und
mädeltracht sehr nahekam – Tuch und Knoten konnte sie sich
beim Ladenbesitzer anschreiben lassen, um den deutschen Haus-
dazudenken. Dem Nationalsozialismus, der deutsche Kultur, Lite-
lehrer bezahlen zu können. Niemals hätte das Ehepaar von Ader-
ratur und Sprache im Ausland zu bewahren half, stand sie positiv
kas seine Kinder in eine lettische Schule geschickt und dadurch
gegenüber. Später im Reich brauchte sie allerdings keinen Natio-
einer Aufweichung der deutschen Tradition auch noch Vorschub
nalsozialismus und keinen BDM mehr. Da musste niemand für
geleistet. Selbstverständlich wurden alle vier Kinder auch, nach-
das Deutschtum kämpfen, denn es war Alltagskultur.
dem ihnen der staatlich vorgeschriebene Wissensstoff der Grund-
Als die Pläne zur Umsiedlung bekannt wurden, war Illo ge-
schule von Hauslehrern vermittelt worden war, im Staatlichen
rade erst in das Gymnasium von Mitau zurückgekehrt. Um eine
Deutschen Gymnasium in Mitau angemeldet, etwa 150 Kilometer
Verbreitung von Kinderlähmung zu verhindern, hatte die Schule
vom Heimatgut Kürbis entfernt – auch wenn die Aderkas-Eltern
nach den Sommerferien mit Verspätung angefangen. Doch an Un-
nur mit Mühe und Not die Pensionskosten aufbringen konnten
terricht war nicht mehr zu denken. Alle wollten so schnell wie
und beim Schulgeld auf Stipendien des »Deutschen Vereins« und
möglich nach Hause. Auch Bruder Claus, der bei einem deutschen
des »Vereins der Deutschen im Ausland« (VDA) angewiesen waren.
Gutsbesitzer ein landwirtschaftliches Praktikum begonnen hat-
Doch das war keine Schande. Alle Gutsbesitzer waren ähnlich ver-
te, kehrte umgehend auf das Gut zurück. Er hatte den Vater zu
armt, fast alle Schüler in Mitau erhielten Unterstützung aus dem
ersetzen.
Reich. »Und es war Ehrensache«, sagt Illo, »nicht sitzen zu bleiben,
wenn man ein Stipendium hatte.«
Aber die Heimat auflösen – wie macht man das? Illo, obwohl
schon sechzehn, hatte als Mädchen im Familienrat keine gewichtige Stimme, ihre zwei Jahre jüngere Schwester Ulrike erst recht
In der Abgeschiedenheit von Kürbis, wo kein deutscher Sender
nicht. Und da sich Bruder Heinz, wie Claus in einer Mischung aus
empfangen werden konnte, keine Vereine existierten und meist
Wut und Ironie anmerkte, »aus dem Staub« gemacht und sich als
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Begleiter für Viehtransporte »der Allgemeinheit« zur Verfügung
abgebrannt.« Nicht, weil sie den neuen Besitzern missgönnt hät-
gestellt hatte, musste hauptsächlich Claus der Mutter beistehen.
te, was sie zurücklassen mussten. Viel Wertvolles befand sich eh
Was ihm zahllose schlaflose Nächte bereitete.
nicht mehr darunter, denn Porzellan und Silber waren bereits
Das Vieh, das Korn, die Klee- und Heuernten und die landwirt-
gestohlen worden, als die Familie 1918 / 19 nach Libau hatte flüch-
schaftlichen Maschinen wurden regelrecht verschleudert, da die
ten müssen. Andere sollten jedoch nicht benutzen, was mit der
Preise wegen des Überangebots plötzlich in den Keller purzelten.
Geschichte und dem Geist ihrer, und nur ihrer, Familie verwoben
Eine Kuh kostete umgerechnet noch dreißig Reichsmark. Aber
war. Niemand sollte geringschätzig Fotos von Familienmitglie-
Mutter Gertrud brauchte selbst die kleinen Summen, um die
dern in den Abfall werfen, niemand alte Familienmöbel als hin-
Schulden bei den Ladenbesitzern Weinbergs zu begleichen – sich
derliches Inventar beiseiteschieben oder gar verheizen, niemand
einfach abzusetzen, verbot ihr das Gewissen –, und sie brauchte
sollte ihr Herrenhaus verunstalten, indem er Ofenrohre aus den
Geld für die laufenden Kosten.
Fenstern hinausleitete. Lieber, so dachte Illo, solle die Familien-
Was sollten sie mitnehmen? Was zurücklassen? Zunächst hieß
es, nur Handgepäck sei erlaubt. Dann hieß es, auch Möbel und
tradition zerstört, als von fremden, unsensiblen Menschen entweiht werden.
Vieh könnten mitgeführt werden. So nahmen sie eine Kuh und
Und so haben sie Stunde um Stunde nachgelegt. Briefe, Bilder,
einen Zuchteber mit, die sie nach der Umsiedlung allerdings nie
Bücher, auch Trauer und Enttäuschung gingen in Flammen auf.
wiedersahen. Sie nahmen drei Pferde mit, die Illo später in Gnesen
Als die Familie nach zermürbendem Warten schließlich den Be-
abholen konnte und auf der Flucht im Januar 1945 vor ihre Wagen
fehl bekam, am 20. November 1939 in aller Frühe aufzubrechen,
spannte. Und sie nahmen, eher sentimental als rational, neben
um den Sonderzug nach Riga zu erreichen, loderte das Feuer im-
einigen Gebrauchsmöbeln zwei schöne Kommoden mit, ferner
mer noch und tauchte das Gutshaus in der Dunkelheit des frü-
den großen Spiegel, in dem sich jedes Jahr der Weihnachtsbaum
hen Herbstmorgens in einen rötlichen Schein. »Das sehen wir nie
gespiegelt hatte, und den Blüthner-Flügel, den ein Schreiner so
wieder«, sagte Bruder Claus, als er den Blick ein letztes Mal zu-
fest in einen riesigen Holzkasten einkeilte, dass er tatsächlich un-
rückwandte, und steckte sich, einer ungewohnten sentimentalen
beschädigt im Warthegau ankam. Mehrere Einspänner – die Kuh
Regung folgend, ein kleines Birkenblatt unter eine Folie in seine
trottete nebenher – brachten die Ladung nach Riga, wo sie in den
Konfirmationsbibel.
Speicherhäusern des Hafens zwischengelagert und auf spezielle
Viehtransporte verladen wurde.
»Doch dann«, sagt Illo von Stackelberg triumphierend, »sahen wir
Dann entfachten sie ein Feuer auf dem Rasenstück an der Vor-
es doch wieder.« 1971, bei ihrem ersten Besuch im inzwischen
derseite des Gutshauses, das alles fressen sollte, was ihnen be-
sowjetischen Lettland, fand sich ein Taxifahrer aus Mitgefühl
sonders ans Herz gewachsen war und was sie nicht mitnehmen
bereit, sie trotz Verbot von Riga in die Provinz zu fahren. Und
konnten: Puppen, Puppenhäuser, Teddybären, die Familienwiege.
im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends schien es Illo,
»Am liebsten«, sagt Illo von Stackelberg, »hätte ich das ganze Haus
als seien nur wenige Wochen oder Monate seit ihrer Abreise ver-
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gangen. Dieselben Bäume umrahmten die Vorderfront des Guts-
mig zusammengeschlagene Holzkisten in die Bäuche von mäch-
hauses, immer noch schmückte die säulengestützte Veranda den
tigen Passagierschiffen, die – meist gestellt von »Kraft durch Freu-
Eingang, und im linken Flügel des Herrenhauses, in dem früher
de« – nun Umsiedler auf Decks transportieren sollten, auf denen
Vater Gehrts Büro war, strahlte Licht aus einem Fenster, als warte
sich zuvor Arbeiter auf ihren Erholungsfahrten nach Norwegen,
jemand auf sie.
Italien oder Madeira amüsiert hatten. Da hockten Großfamilien,
Illo von Stackelberg hat die Szene auf einem Foto festgehalten,
Kleinfamilien und Insassen ganzer Kinderheime auf dem Kai mit
das nun in ihrem Wohnzimmer hängt. Seit diesem Besuch hat sie
all den Koffern, Körben, Paketen und Säcken, die sie mit an Bord
ihren Frieden mit Kürbis geschlossen.
zu nehmen gedachten, während Gehbehinderte und Alte geduldig abseits warteten, bis Freiwillige sie die Gangway hinauftrugen
Ein paar Tage lang waren die Deutschbalten ein Niemand – keine
oder ihnen mit kräftigem Griff unter die Arme halfen.
lettischen Staatsbürger mehr, aber noch keine deutschen. Doch
Und alles ohne Geschrei, alles ohne Panik. Für jeden fand sich
weit mehr als die Prozedur der Ausbürgerung im prunkvollen
nach längerem Warten Platz, auch wenn es eng wurde in den Ka-
Festsaal des Schwarzhäupterhauses bewegte Illo in Riga der Gang
binen und auf den Decks. Letztlich, meint Illo noch heute voller
durch die vielen jüdischen Geschäfte in der Elisabethstraße. Die
Bewunderung, sei die logistische Herausforderung, 60 000 Men-
Mutter gab aus, was sie an lettischer Währung noch besaßen, das
schen innerhalb weniger Tage zu verschiffen, erstaunlich gut be-
ganze Geld, was vom Verkauf von Vieh und Getreide übrig geblie-
wältigt worden.
ben war. Illo erhielt einen Wintermantel, ein Kostüm und den ers-
Und hin und her gerissen zwischen der alten und neuen Hei-
ten und einzigen Hut ihres Lebens, grün mit breiter Krempe, den
mat nahmen sie Abschied: Am Bug flatterte die Fahne mit dem
sie, wie ein Foto verrät, wenige Tage später bei der Einschiffung
Hakenkreuz, und auf den Decks sangen sie dicht aneinanderge-
im Rigaer Hafen keck ins Gesicht gezogen hatte. Da war sie nicht
drängt: »Dievs svéti Latviju« – Gott segne Lettland – die lettische
mehr das Schulmädchen aus der Provinz, sondern eine hoch auf-
Nationalhymne.
geschossene junge Frau, die ihre Mutter und Schwester um einen
halben Kopf überragte.
Zwei Tage später legten die Schiffe im Hafen von Gdingen an,
das nun Gotenhafen hieß. Im Seewind blähten sich Hakenkreuz-
Sie wollte den Blick nach vorn richten. Seit Bruder Claus 1936
fahnen, Partei- und SS-Funktionäre hießen sie »heim im Reich«
vom Gut Kürbis aus mit dem Fahrrad zu den Olympischen Spielen
willkommen, fast alle Umsiedler hoben, manche noch etwas un-
nach Berlin gefahren und begeistert zurückgekehrt war, erschien
sicher mit gespreizten oder leicht gebogenen Händen, den Arm
ihr das Reich als interessant und verlockend. Was bot diese pulsie-
zum Hitlergruß, der fortan zu ihrem Alltag gehören würde.
rende Stadt Berlin für Möglichkeiten! »Ich witterte Morgenluft.«
Sie waren willkommen, auch wenn sie erst offiziell in die
Und so erfüllte sie die Einschiffung mehr mit Neugier als mit
»arische Volksgemeinschaft« aufgenommen werden mussten. Die
Trauer, mehr mit Erwartung als mit Schmerz.
Männer nackt, die Frauen in Unterwäsche, so wurden sie ange-
Da hievten riesige Kräne unzählige geschlossene oder gitterför-
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leuchtet, ausgemessen und begutachtet: Schädelmaße? Schulter-
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breite? Körpergewicht? Größe? Augenfarbe? Mit der Aushändi-
bis zum Ersten Weltkrieg zum Deutschen Reich gehört, und alle
gung des provisorischen Ausweises waren sie Anwärter auf die
älteren Bewohner sprachen Deutsch. »Deshalb«, sagt Illo voller Be-
deutsche Staatsbürgerschaft, etwa zwei Monate später wurden sie
dauern, »habe ich nicht Polnisch gelernt.«
als Reichsdeutsche endgültig eingebürgert. Da die Polen jedoch
Eine eigenartige Situation. Die Familie von Aderkas war reicher
nicht so schnell aus dem Warthegau ausgesiedelt werden konnten,
als in Kürbis, obwohl sie nichts mehr besaß, denn erst nach dem
wie die Deutschen aus dem Baltikum angesiedelt werden sollten,
Endsieg sollte das Gut in ihr Eigentum übergehen. Sie zog in das
mussten die Umsiedler für einige Monate in Pommern »zwischen-
Herrenhaus, das allerdings weder über eine Toilette noch über
gelagert« werden – Familie von Aderkas kam nach Greifswald zu
ein Badezimmer verfügte, und musste das eigentliche Sagen dem
einem alten Pastor und seiner Haushälterin.
Nachbarn Otto Hoffmann überlassen, einem ausgezeichneten
Anfang 1940 wurden sie dann in die Parkstraße nach Posen
Landwirt, der als Deutscher in Polen gelebt hatte, mit der Aufsicht
beordert, eine Wartestation, wo sie nur äußerst provisorisch auf
über neun Güter beauftragt war und die rechtzeitige Ablieferung
Strohsäcken in einer Schule lagerten. Doch hier erfolgte endlich
der Kontingente zu überwachen hatte. Familie von Aderkas war
die Zuteilung: Der Friseur erhielt einen Friseurladen, der Schuster
es nur recht, denn selbst Bruder Claus verstand zu wenig von der
eine Werkstatt, der Bauer einen Hof. Bruder Claus konnte unter
Landwirtschaft, um ein so großes Gut zu führen.
mehreren Angeboten wählen und entschied sich schließlich für
Nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass sie Eindringlinge
den Weidenhof, Czachory, ein einzeln gelegenes Gut wie das ver-
waren. Sie lagen in Betten, in denen bis vor kurzem noch andere
lassene Kürbis, zwischen den Städten Ostrowo und Kalisch auf der
geschlafen hatten; sie aßen von Tischen, die andere gerade erst
Strecke Warschau – Breslau. Der nächste größere Ort hieß Skal-
geräumt hatten; sie lebten mit Bildern, Möbeln und Geschirr, die
merschütz, bis 1918 ein preußisch-russischer Grenzübergang, auf
aus einer anderen Familientradition stammten; sie verkehrten
dessen östlicher Seite auch 1940 noch kleine russische Zweispän-
mit Landarbeitern, die sie misstrauisch und ablehnend beobach-
ner und auf dessen westlicher Seite breite preußische Vierspän-
teten. »Man konnte ja verstehen«, schrieb Mutter Gertrud in ihren
ner in der Landwirtschaft eingesetzt wurden.
Erinnerungen, »dass uns die Polen mit Hass empfingen. Aber ich
habe in diesen Zeiten erfahren, dass das einzig Richtige und Wah-
Der Weidenhof war ein Gut mit 400 Hektar, 45 Pferden, 15 Foh-
re ist, dass man den Menschen nicht ihre Würde nimmt.«
len, 120 Kühen, 80 polnischen Arbeitern mit ihren Familienange-
Schon nach kurzer Zeit erwarb sich Mutter Gertrud das Ver-
hörigen, einem Hofvogt namens Tyrakowski, einem Feldvogt na-
trauen von Frau von Zakrzewska, der ehemaligen Besitzerin. »Sie
mens Michalik, dem Schweizer (Melker) Walczak, dem Kutscher
war«, sagt Illo von Stackelberg, »eine hochgebildete, glühende
Pawlaczyk, einem Schmied, einem Stellmacher, einem Schweine-
polnische Patriotin ohne jeden Fanatismus und eine glühende Ka-
jungen, einer Köchin, einem Zimmermädchen und einem Diener,
tholikin ohne jeden Fanatismus.« Ihr ältester Sohn war im Ersten
der im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz II. Klasse für seinen
Weltkrieg auf deutscher Seite gefallen, ihren zweiten Sohn hatte
Einsatz in Frankreich erhalten hatte. Denn der Weidenhof hatte
sie aus familiären Gründen enterbt. Da sie im fortgeschrittenen
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Stadium an Leberkrebs litt, war sie nicht ins Generalgouverne-
Arbeiten für das Gut, als sie die große Buchführung übernahm.
ment, sondern mit ihrer Gesellschafterin und ihrem Zimmermäd-
Tag für Tag notierte sie aufgrund der Meldungen der Inspektoren,
chen in die beiden Zimmer im ersten Stock ihres eigenen Hauses
was verkauft und was angeschafft wurde, wie viele Ferkel gebo-
»umgesiedelt« worden. So lebten die polnische Nicht-mehr-Besit-
ren, wie viele Schweine geschlachtet, wie viele Stuten gedeckt
zerin und die deutsche Noch-nicht-Besitzerin unter einem Dach.
oder welche Löhne den Arbeitern ausgezahlt wurden.
Und da für Frau von Zakrzewska wie für Gertrud von Aderkas
Die Kinder waren fortgezogen. Sohn Claus hatte sich, um der
Bildung, Herkunft, Charakter und Haltung wichtiger waren als
Einberufung zur SS zuvorzukommen, freiwillig zur später um-
die nationale Zugehörigkeit, entspann sich zwischen der Polin
strittenen Division Brandenburg gemeldet, einer Spezialtruppe
und der Deutschen ein respektvolles Verhältnis, später sogar eine
der Wehrmacht, die im Feindgebiet bei der Partisanenbekämp-
Freundschaft – mit Französisch als Umgangssprache, da Frau von
fung eingesetzt wurde und in der bekanntermaßen viele Deutsch-
Zakrzewska die Benutzung der deutschen Sprache verweigerte,
balten dienten.
obwohl sie sie fließend beherrschte.
Illo und Heinz besuchten eine Schule in Gnesen, Ulrike eine
»Die beiden«, sagt Tochter Illo, »haben sich sehr gut verstanden.«
Schule in Wreschen. Nach dem Schulabschluss absolvierte Illo
Wenn Mutter Gertrud wieder einmal Edelmetalle oder Textilien
den Arbeitsdienst, was ihr Spaß machte, da sie engeren Kontakt
für das Reich aus Beständen spenden sollte, die ihr doch gar nicht
zu Menschen aus Köln, Hamburg und Braunschweig knüpfen
gehörten, redete Frau von Zakrzewska ihr gut zu: »Warum sehen
konnte, sodass »das Reich«, bisher eher eine fiktive Größe aus dem
Sie wieder aus wie ein geprügelter Hund? Geben Sie’s doch! Das
Bereich der Fantasie, konkrete Gestalt annahm. Danach begann
ist etwas, was Motten und Rost fressen! Das ist doch nichts wert!«
sie im Roten-Kreuz-Krankenhaus von Berlin-Weißensee eine Aus-
Und wenn Mutter Gertrud wieder einmal auf das Misstrauen der
bildung als Schwester. Bereits nach drei Monaten erreichte sie je-
Arbeiter stieß, legte Frau von Zakrzewska ein gutes Wort für sie
doch ein ärztliches Attest, wonach die Mutter innerhalb von vier
ein, sodass sich langsam ein Vertrauensverhältnis entwickelte.
Wochen erblinden würde. Illo musste zurück auf den Weiden-
Frau von Zakrzewska war großzügig und souverän. »Da fiel es uns
hof und die Funktion als Gutssekretärin übernehmen. Seitdem
nicht so schwer«, sagt Illo von Stackelberg, »dass wir in ihren Mö-
lag, auch wenn die Mutter glücklicherweise nicht erblindete, die
beln lebten.« Schließlich ist Frau von Zakrzewska in den Armen
Hauptlast der Arbeiten auf Illo. Da war sie gerade zwanzig Jahre
von Gertrud von Aderkas gestorben. »Ist das nicht tröstlich?«
alt.
Die Trauerfeier, die sich der Beerdigung anschloss, hat die Fa-
Den Zustand des Gutes entnahm Illo der Buchführung. Sie sah,
milie von Aderkas allerdings trotz Einladung nicht besucht. »Mei-
was gedieh und was verdorrte, wie viel an Kontingenten abgelie-
ne Mutter sagte: Wenn das rauskommt, sind wir dran. Umgang
fert und welcher Gewinn gemacht wurde. Sie sah, dass das Gut
mit Polen war ja strengstens verboten. Man durfte sie schlagen,
florierte, obwohl immer mehr Pferde eingezogen wurden. »Wie
aber nicht mit ihnen essen.«
sollen wir die Kontingente schaffen?«, fragte Mutter Gertrud bei
Mutter Gertrud trug innerhalb der Familie die Hauptlast der
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jeder neuen Anforderung entrüstet. »Ein Pferd kann nur arbeiten,
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bis es umfällt.« Zum Schluss mussten Ochsen statt Pferden einge-
meine Männer vor Schanzarbeiten oder vor der Zwangsarbeit im
spannt werden. »Aber das waren tolle Ochsen«, erinnert sich Illo
Reich retten?« Wenn es sich gar nicht verhindern ließ, schickte
von Stackelberg. »Die hatten einen so schnellen Schritt, dass sie
Mutter Gertrud jene, die noch keine Familien hatten.
mit den Pferden beim Pflügen gleichauf waren.«
Der Weidenhof hatte gute Verwalter und gute Arbeiter. Sie
Da waren die Evakuierten aus dem Reich: Einmal kam ein älteres Ehepaar aus Berlin, das nur kurze Zeit blieb, da der schwer
bauten Rüben an, Roggen, Hafer, Weizen und waren die Kartof-
kranke Mann bald verstarb, ein anderes Mal kam eine manns-
felkönige im Kreis. Zum Ernteeinsatz kamen zusätzlich polnische
tolle Frau mit fünf Kindern aus Köln, die sich an alle polnischen
Schulklassen aus Ostrowo, auch polnische Häftlinge, meist ein-
Arbeiter heranmachte und Gegenstand vieler gehässiger Kom-
fache Bauersfrauen, die wegen Diebstahl oder Schwarzhandel
mentare wurde.
bestraft worden waren und von zwei reichsdeutschen Gefängnis-
Da war die krebskranke Frau Walczakowa, die Frau des Schwei-
wärterinnen beaufsichtigt wurden, die oft und gern von ihren
zers, der Illo Schmerzmittel spritzte, da sie als Polin nicht ins
Gummiknüppeln Gebrauch machten.
Krankenhaus eingeliefert oder ärztlich behandelt werden durfte.
Auf dem Gut experimentierte man auch mit der sagenumwo-
Die Rezepte besorgte sich Illo illegalerweise bei Doktor Wilhelm
benen neuen Pflanze Kok-Saghys, einer Art Löwenzahn, deren
Kahl, der trotz seines Namens, der eine deutsche Nationalität na-
Wurzeln den schwer zugänglichen Kautschuk ersetzen und dem
helegte, ein Pole war. Und sie ließ sie einlösen in einer deutsch-
Reich Gummi liefern sollten – eine der vielen angeblich Wun-
baltischen Apotheke, deren Besitzer so taten, als sei ihnen die pol-
der wirkenden Erfindungen, die sich als Fehlschlag erwiesen.
nische Nationalität von Doktor Kahl nicht bekannt.
Das Experiment rief ein großes Echo auf dem Hof hervor, war
Da waren schließlich die Treffen mit den Deutschen aus den
doch bereits die Saatgewinnung ein aufwendiges Unternehmen.
umliegenden Gütern, die – vom Betriebsleiter Otto Hoffmann ab-
Denn Blüte für Blüte musste nach dem Verblühen mit der Hand
gesehen – alle aus dem Baltikum stammten. Sie besuchten sich
eingesammelt werden, da die Saat im weißen Haar verborgen
regelmäßig mit Pferdewagen im Umkreis von zehn bis fünfzehn
war.
Kilometern. Sie gingen gemeinsam auf Jagd, und sie sprachen im-
Der Weidenhof war ein Mikrokosmos in sich, voller Span-
mer mehr über den Krieg. »Jeder hatte ja jemanden an der Front.
nungen, voller Gerüchte, voller Gehässigkeiten, aber auch voller
Und jeder sah, dass von einem Endsieg keine Rede sein konnte.«
Zuwendung, Wärme und menschlicher Nachsicht.
Würden sie überleben, die Männer, die Söhne, die Brüder? Illos
Da war die Kriegshochzeit von Bruder Claus im Kreise von
Klassenkameradin Rosemarie von Schilling verlor fünf von sechs
deutschen Nachbarn und Verwandten, auf der die polnischen
Brüdern, drei davon in einem Jahr. Illos Bruder Claus wurde erst
Gutsarbeiter mit Musik aufspielten und die Braut Helga im wei-
an der Ostfront, dann in Jugoslawien verwundet. Er verlor einen
ßen Kleid mit dem bärtigen alten Hofvogt Tyrakowski tanzte.
Arm, wurde auf einem Ohr für immer taub und kann seitdem nur
Da war der polnische Verwalter, der in regelmäßigen Abstän-
mit Spezialschuhen gehen. Der jüngere Bruder von Mutter Ger-
den bei Frau von Aderkas vorsprach: »Pani [Herrin], können Sie
trud fiel bei der Zitadelle in Posen, und der ältere Bruder ist, sagt
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Illo, »irgendwo vor die Hunde gegangen, als er zum Volkssturm
den Weidenhof zu räumen, da die Familie von Aderkas nicht den
eingezogen wurde«.
erforderlichen Ariernachweis erbracht hätte.
Illo von Stackelberg erzählt es ohne jede Regung. Mit welchem
Nur wenige Wochen zuvor war der große Spiegel, in dem sich
Recht könnte sie sich beschweren? Hätte es für die Familie nicht
auf Gut Kürbis immer der Weihnachtsbaum gespiegelt hatte, un-
viel schlimmer kommen können? Waren sie nicht verwöhnt im
ter großem Getöse in Tausende von Splittern zerborsten, und die
Warthegau, wo sie keinen einzigen Bombenangriff erlebten? Im
abergläubische Gesellschafterin von Frau von Zakrzewska hatte
Vergleich mit anderen, ist Illo von Stackelberg überzeugt, hätten
prophezeit: »Das bedeutet, dass Sie den Weidenhof bald verlassen
sie keinen hohen Preis im Krieg gezahlt. Nicht einmal den Ver-
werden.«
lust des Weidenhofes im Herbst 1944 empfand sie als schweren
Sie mussten in das sechs Kilometer weiter westlich gelegene
Schlag. Gut vier Jahre war er zwar ihr Zuhause gewesen – aber er
Gut Benden umziehen, ein Anwesen mit nur 800 Morgen und
hatte ihnen doch nicht gehört.
einem kärglichen Viehbestand. Hier verbrachten sie ihre letzten
Schuld an ihrem erneuten Umzug noch knapp drei Monate vor
Monate im Warthegau, dunkle Monate im Winter, in denen die
der Flucht war der zuständige Kreisbauernführer Schottke aus
Arbeit in der Landwirtschaft weitgehend ruhte, Illo mit der Buch-
der Kreisstadt Ostrowo. Ein Deutscher aus Deutsch-Ostafrika, der
führung wenig ausgelastet war und die Front immer näher rück-
ein Auge auf den Weidenhof geworfen hatte, weil er viel abwarf
te, ohne dass sie sich dessen bewusst werden wollten.
und gut geführt war. Unglücklicherweise war Herrn Schottke zu
»Das kam sehr plötzlich über uns«, gestand Mutter Gertrud
Ohren gekommen, dass die Familie von Aderkas zwar ein altes
noch im Alter, »denn irgendwie hatten wir uns durch die Pro-
Adelsgeschlecht sei – in dem sich aber leider jüdisches Blut ein-
pagandareden von der Wunderwaffe einlullen lassen.« Als dann
geschlichen habe.
aber die ersten Trecks von Deutschen aus den weiter östlich gele-
Der Ahnenpass legte keinerlei Verdacht nahe. Im Genealo-
genen Teilen des Warthegaus vorbeizogen, begannen auch Mutter
gischen Handbuch des Adels allerdings war der Urgroßvater müt-
und Tochter von Aderkas mit Hilfe des polnischen Verwalters zu
terlicherseits, ein Militärarzt am Zarenhof namens Blumenthal,
packen. Heimlich in der Scheune, damit niemand sie wegen De-
als Bruder des Rabbiners Jakobsen verzeichnet. Das Rassenamt
fätismus anzeigen konnte.
sah Klärungsbedarf. Mehrfach wurde Mutter Gertrud nach Berlin
Sie ließen noch ein Schwein schlachten und das Fleisch räu-
zitiert. Aber was sollte sie nachweisen? Dass dieser Urgroßvater
chern, sie ließen die Pferde noch mit Stollen beschlagen, damit
konvertiert, also Christ gewesen sein muss, da Juden mit großer
sie auf den vereisten Straßen nicht ausrutschen würden. Und ein
Wahrscheinlichkeit nicht am Zarenhof angestellt worden wären?
ganzes Gespann ließen sie mit Hafersäcken beladen, einer Ration,
Der Beamte auf dem Rassenamt war bereit, die Sache bis »nach
so hatte Illo von Stackelberg berechnet, die vier Wochen lang für
dem Endsieg« auf sich beruhen zu lassen – doch Kreisbauernfüh-
sechs Pferde ausreichen würde – denn mit zwei Gespannen mit je
rer Schottke bestand auf einer Entscheidung. Und so erhielten Illo
drei Pferden wollten sie fahren. Zum Schluss blieb ihnen nichts
und ihre Mutter im Oktober 1944 vom SS-Stab die Aufforderung,
anderes übrig, als sehnlichst auf den Anruf zu warten, der ihnen
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den Aufbruch gestatten würde. Am Mittag des 20. Januar 1945
Mitgefühl waren die Ausnahme. Wer die Pferde füttern musste,
war es so weit. Der Anruf kam. In der Ferne war schon Geschütz-
scherte aus, um den Zug nicht aufzuhalten. Wer nicht ausscher-
donner zu hören.
te und den ganzen Zug zum Halten zwang, steckte Flüche und
Da tauchten völlig unerwartet Schwierigkeiten auf. Kein pol-
manchmal auch Faustschläge ein.
nischer Arbeiter wollte sie freiwillig kutschieren, jemanden zu
Auf der linken Fahrspur hatten Wehrmachtsfahrzeuge abso-
zwingen hielt Illo indes für unklug. »Wer nur aufgrund eines Be-
lutes Vorfahrtsrecht. Einmal hatte Illo, um bei einem plötzlichen
fehls fährt, wird die erste Nacht nutzen, um sich davonzusteh-
Halt nicht auf den Vordermann aufzufahren, die Pferde zur Stra-
len.« Spätere Erfahrungen bestätigten diesen Verdacht. Was blieb
ßenmitte hin gelenkt, als ihr eine Militärkolonne entgegenkam,
ihnen also anderes übrig, als den eigenen Kräften zu vertrauen,
ein Soldat ihre Pferde wütend zurückstieß und Illo mit dem
obwohl diese nur begrenzt Vertrauen verdienten? Allein Illo hatte
schweren Wagen und den drei Pferden rückwärts einen vereisten,
Erfahrung im Umgang mit Pferden und Gespannen; sie fuhr als
drei Meter hohen Abhang hinunterrutschte. Pferde und Riemen-
Erste. Das zweite Fuhrwerk lenkte Schwester Ulrike, ihre Mutter
zeug verhedderten sich zu einem einzigen großen Knäuel. Mit
und den Schäferhund Rudi zur moralischen Unterstützung neben
großer Anstrengung kamen zwei Pferde auf die Beine, doch das
sich.
dritte hing wie tot in seiner Halskoppel. »Bella erstickt!«, schrie
»Für Angst«, sagt Illo von Stackelberg, »blieb keine Zeit.« Und
die Fahrt verlangte volle Konzentration.
Illo ihrer Mutter zu. »Ein Messer, werft mir ein Messer herunter!«
Doch niemand hatte ein Messer zur Hand, um die Riemen der
Als Erstes stellte sich heraus, dass die großen Wagen wegen
Anspannung loszuschneiden. Da warf Bella in ihrer Agonie noch
ihrer Eisenbereifungen auf den vereisten Straßen gefährlich hin
einmal den Kopf hoch, stemmte sich mit den Beinen gegen den
und her schlitterten. Als Zweites stellte sich heraus, dass bei der
Boden, zerriss die Kette, die die Lederkoppel mit der Deichsel ver-
breiten Bespannung mit drei Pferden das dritte Pferd ständig in
band – und war frei. »Es war wie ein Wunder.«
die Gräben hinabzurutschen drohte.
»Beim nächsten Mal müssen wir das anders machen«, empfahl
die Mutter der Tochter in etwas gereiztem Ton.
»Ist gut«, gab Illo in ruhigem Ton zurück. »Aber ein zweites Mal
wird es nicht geben!«
Illo war unverletzt geblieben, die Pferde waren mit dem Schrecken davongekommen, am Wagen war nichts gebrochen. Ein
freundlicher Pole führte Illo zurück auf die Straße.
Erst waren Illo und ihre Schwester mit den beiden Gespannen
hintereinander hergefahren. Doch an einer Gabelung diktierte
Sie fuhren nach Westen. Auf einer Höhe Kalisch – Guben. Ein-
ein braun Uniformierter, eine Zigarre lässig im Mund, eine Pistole
geklemmt in einen endlosen Treck fast ausschließlich aus Pfer-
gebieterisch in der Hand, die einen nach rechts, die anderen nach
degespannen, die sich auf schnee- und eisbedeckten Straßen im
links. Mutter Gertrud gab ihm zwar mit ihrer lauten Stimme zu
Schneckentempo vorwärtsquälten. Kinder weinten, Fahrzeugfüh-
verstehen, dass die Gespanne zusammengehörten, doch er zwang
rer schrien sich gegenseitig an, manche schlugen sich gereizt
sie – »Halt’s Maul, ich kann dich standrechtlich erschießen!« – auf
mit Peitschen. Der Ton unter den Flüchtlingen war rau, Hilfe und
die linke Spur, während Illo bereits rechts abgebogen war. Das
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Fuhrwerk mit den Lebensmitteln blieb bei Illo, das Fuhrwerk mit
oder den Ziehscheit, an dem das Pferd angespannt werden musste.
dem Futter für die Tiere bei Schwester Ulrike.
Sie mussten keinen Toten beklagen, brauchten nicht zu hungern,
»Beim nächsten Mal nehmen wir nicht mehr zwei Gespanne«,
sagte Mutter Gertrud, sobald sie sich wiedergefunden hatten.
wurden nicht vergewaltigt und waren mit 51, 21 und 19 Jahren
alle drei in einem Alter, in dem sie Frost aushalten und Nächte
»Ganz sicher nicht«, entgegnete Illo, spannte die Pferde vor dem
durchfahren konnten. Illos Freundin Erika hingegen quälte sich
zweiten Gespann aus, übergab zwei von ihnen Soldaten mit einem
auf dem Treck mit einem Onkel, dem beide Beine amputiert wor-
Schlitten, deren Pferde bereits völlig erschöpft waren, und band
den waren. Ihre Freundin Sabine wurde von Soldaten der Roten
das dritte hinter ihren Wagen. Da sie die schweren Hafersäcke
Armee überrollt, die ihren Vater sofort erschossen und sie selbst,
nicht vom zweiten Fuhrwerk umladen konnte, schlitzte sie die Sä-
ihre Mutter und Großmutter an den sowjetischen Geheimdienst
cke auf und verteilte den größten Teil an Bauern im Treck, die in
NKWD überstellten, der sie nach Sibirien deportierte, wo Mutter
der Eile des Aufbruchs gar nichts hatten mitnehmen können. Spä-
und Großmutter im ersten halben Jahr aufgrund von Erschöpfung
ter, an einem kleinen Berg, den die Pferde nur mit viel Geschrei
starben. Sabine selbst kam erst nach zwölf Jahren aus Kasachstan
und Peitschenknallen gegen die gepflügte Furche hinaufgetrieben
zurück.
werden konnten, verschenkte Illo auch das dritte Pferd. An einen
Nach drei Wochen kamen Illo, ihre Mutter und Schwester im
alten weißhaarigen Mann aus dem östlichen Wartheland, der sei-
sächsischen Buttstedt bei Weimar an, ihrer einzigen Anlaufstelle
ne Tochter und vier kleine Enkel transportierte. Ein Tier war ihm
im Reich. Hier hatten Frau und Kind von Bruder Claus bei einem
bereits verendet, das zweite stand nur noch auf zitternden Bei-
Bauern Unterschlupf gefunden, nachdem sie in Frankfurt am
nen. »Nehmen Sie meines, und fahren Sie mit Gott«, sagte sie dem
Main ausgebombt worden waren.
Mann und war sogar erleichtert, ihr Pferd mit Anstand losgeworden zu sein. Nun würde es nicht mehr jener SS-Mann requirieren
Erst hier, am Ende des Krieges, erfuhren sie, was der Krieg bedeu-
können, der es bereits mehrfach beansprucht hatte.
tet hatte. Da begegnete ihnen erstmals der massenhafte Tod von
»Viel Trauriges war zu sehen«, berichtete Mutter Gertrud später
Zivilisten.
einem Enkel. »Erst fragte ich mich, was in den vielen kleinen Päck-
Zwar hatte ein Offiziersanwärter Illo noch im Warthegau vom
chen sein könnte, die besonders auf den Kirchentreppen und an
Warschauer Aufstand berichtet, mit dem sich die polnische Haupt-
Kapellen abgelegt worden waren. Dann wusste ich, es waren die
stadt im Spätsommer 1944 zwei Monate lang gegen die deutsche
Leichen kleiner Kinder, die den Treck nicht überstanden hatten.
Besatzungsmacht aufgelehnt hatte. Die Kämpfe schienen zwar
Die Menschen hatten sie eingepackt in das Letzte, was sie noch
sehr viele Tote gekostet zu haben, aber – so dachte Illo damals –
besaßen, um sie der Kirche, dem lieben Gott zu übergeben.«
immerhin hätten Soldaten gegeneinander gekämpft. Dass auch
Und wieder: Hatten sie nicht großes Glück?
Zehntausende Frauen, Kinder und Männer umgekommen waren,
Sie wurden nicht wie andere Flüchtlinge von ihren eigenen
dass sie als lebende Schutzschilde vor den deutschen Panzern
Landsleuten bestohlen, niemand entwendete ihnen die Pferde
eingesetzt oder einfach massenhaft exekutiert worden waren,
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ihre Verwundungen nicht versorgt und ihr Hunger nicht gestillt
worden waren oder dass sie vor Schwäche zusammengebrochen
und ertrunken waren, wenn sie sich in den Abwasserkanälen in
sichere Stadtteile zu retten versucht hatten – über all das hat Illo
erst Jahrzehnte später gelesen.
Von Buchenwald hörten die Frauen von Aderkas allerdings sofort, als sie in die Nähe getreckt waren. Das könne nicht wahr
sein, sagten die Menschen in der Umgebung, dass Zehntausende
dort umgebracht worden seien. Daraufhin wurde ein Trecker vor
einen Ackerwagen gespannt, und neben den Kriegsgefangenen
und Zwangsarbeitern, die Verwandte oder Bekannte identifizie-
»Wir waren Besatzer
in einem fremden Land«
Warum Artur Singer sein Dorf in Bessarabien
verlassen musste
ren sollten, hockte sich trotz Schneematsch und eisigem Wind
auch Mutter Gertrud auf den Wagen. »Sie wollte mit eigenen Augen sehen, ob die Gerüchte wahr sind – denn«, sagt Illo noch heute mit Nachdruck, »ich kann mit bestem Gewissen sagen, dass wir
auf dem Weidenhof mit niemandem Kontakt hatten, der uns von
den Konzentrationslagern hätte berichten können.«
Gertrud von Aderkas sah, überschüttet mit Chlor, Hunderte
von Toten, ausgemergelte Gestalten, Menschen nur mit Haut und
Knochen: »Sie kam so erschüttert zurück, wie ich sie nie gesehen
hatte. Sie war vollkommen außer sich.«
Später las Illo von Stackelberg über Auschwitz, die Gettos, über
die Einsatzgruppen im Osten und ist immer mehr überzeugt: »Wie
kann ich Groll empfinden wegen der Dinge, die uns zugestoßen
sind? Ich denke umgekehrt: Womit habe ich, womit haben wir
verdient, dass wir im Unterschied zu anderen so viel Glück gehabt
haben?«
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