Wir haben so viel Glück gehabt«
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Wir haben so viel Glück gehabt«
holen, klingelte Sonia beim Friseur im Erdgeschoss. Doch Herr Walczak, der sie im Januar 1940 mitfühlend getröstet hatte, als sie von der deutschen Mieterin bespuckt worden war, riss nun erschrocken die Augen auf: »Fräulein Piasecka, Sie leben? Wir dachten, Sie seien tot!« Auf der Anrichte von Familie Walczak thronte eine Suppenschüssel des Rosenthaler Porzellans, das Bruder Józef und Cousin Florian im Keller vergraben hatten, und in der Wohnung der Familie Piasecki lebte Herrn Walczaks Tochter mit Ehemann und zwei kleinen Kindern. Am ersten Tag trieb Herr Walczaks Schwiegersohn Sonia mit Beschimpfungen hinaus; am zweiten Tag wur- »Wir haben so viel Glück gehabt« Die Umsiedlung der Liselotte von Stackelberg aus dem Baltikum de er handgreiflich; am dritten Tag kam Sonia mit der Polizei, setzte sich, geschützt durch die Ordnungsmacht, in einen Sessel ihrer schwarzen Ledergarnitur, wartete, bis die Polizisten die Familie Walczak hinausgedrängt hatten, und ließ sofort alle Schlösser wechseln. Nun konnte die Familie nachkommen. Doch wovon sollten sie leben? Sonia eilte zum Friedhof und sah schon von Weitem, dass die Grabplatte genau an der Stelle zerbrochen war, wo sie ihren Schatz vergraben hatte. Tränen schossen ihr in die Augen: »Du hast nicht aufgepasst, Vater!« Doch beim Nähertreten erkannte sie, dass keine Plünderer am Werk gewesen waren, sondern nur ein umgestürzter Nachbarstein eine Ecke aus der Platte geschlagen hatte. Als sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, begann sie hastig mit den Händen zu graben. »Und ich fand alles wieder! Alles!« Die Goldrollen zu einem Pfund und zu einem halben Pfund, den Schmuck von ihren Eltern. »Ich danke dir, geliebtes Väterchen«, hat sie immer wieder überwältigt geflüstert. »Ich danke dir, geliebtes Väterchen!« 64 65 Das Zeitgeschehen Auslandsdeutsche – »Heim ins Reich« Parallel zur Zwangsaussiedlung von Polen und Juden aus den zunächst »germanisiert« werden sollten (ca. 220 000). Der größ- eingegliederten Gebieten erfolgte die Einquartierung von Deut- te Teil der Umsiedler kam in den Warthegau (85 Prozent) – die schen. Sie stammten aus Siedlungsgebieten, die nach dem Zahl der Volksdeutschen stieg hier von 325 000 im Jahre 1939 auf »Grenz- und Freundschaftsver trag« zwischen Berlin und Moskau 1,2 Millionen bis Kriegsende –, nur 7,9 Prozent wurden Danzig- am 28. September 1939 außerhalb der Einflusszone des Deut- Westpreußen und nur 5,8 Prozent Schlesien zugewiesen. Jede schen Reiches verblieben waren. Im Oktober 1939 und im Januar umgesiedelte Familie sollte in etwa ein Äquivalent zum aufgege- 1941 kamen 127 000 Deutschbalten beziehungsweise Litauen- benen Besitz erhalten – oft zwei, gar drei polnische Bauernhöfe deutsche aus Estland, Lettland und Litauen, Anfang November anstelle des zurückgelassenen –, für zurückgelassene bewegliche 1939 166 000 Volksdeutsche aus Wolhynien und Ostgalizien, Habe wurde sie nicht entschädigt. im September 1940 212 000 Menschen aus Bessarabien und der Bukowina und Ende 1943 240 000 Schwarzmeerdeutsche aus der Ukraine. Anders als in der Propaganda beschworen, führte die Ansiedlung weder zur Herausbildung einer Gemeinschaft »germanischer Siedler« – dazu waren die einzelnen Gruppen der Volksdeutschen Insgesamt dürften durch die sogenannte »Heim ins Reich«-Politik zu heterogen – noch zur Steigerung der landwirtschaftlichen Pro- zwischen 1939 und 1944 etwa 910 000 Auslandsdeutsche um- duktion, da viele Höfe allein von Frauen und polnischen Zwangs- gesiedelt worden sein. arbeitern bewirtschaftet werden mussten. Schlechtere Böden, Vor ihrer Ansiedlung stand die »Schleusung« in verschiedenen Durchgangslagern des Reiches: Nach entsprechenden Kontrol- Kontingentablieferungen und der Wunsch zurückzukehren beeinträchtigten außerdem den Arbeitswillen. len des Körperbaus, der politischen Gesinnung und des Gesund- Bei Kriegsende teilten die deutschen Kolonisten das Schicksal heitszustands erhielten diejenigen Menschen den Stempel »O«, der übrigen Deutschen der Ostgebiete. Sie flohen vor der heran- die als »rassisch hochwertig« eingestuft worden waren und zur rückenden Roten Armee oder wurden, wenn sie überrollt worden Siedlung in den eingegliederten Gebieten zugelassen wurden (ca. waren, später aus Polen ausgewiesen. 650 000). Den Stempel »A« erhielten Menschen, die im Altreich 66 67 »Wir haben so viel Glück gehabt« Die Umsiedlung der Liselotte von Stackelberg aus dem Baltikum Am 8. Oktober 1939 stand es in allen lettischen Zeitungen: Die Deutschbalten würden das Baltikum verlassen. Denn der ganze Osten und Südosten Europas – so Adolf Hitler in einer Rede am 6. Oktober – sei mit »nicht haltbaren Splittern des deutschen Volkstums« gefüllt, die es umzusiedeln gelte, damit sich »im Abschluss der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist«. Als Gertrud von Aderkas die Nachricht von der Umsiedlung der Deutschbalten ihrem Mann Gehrt im Krankenhaus von Riga überbrachte, »zog er das Laken über das Gesicht, und sein Schluchzen schüttelte das ganze Bett. Dann aber«, so steht es in ihren privaten Erinnerungen, »schlug er das Laken zurück und sagte mit fester Stimme: Jetzt müssen wir uns ausdenken, was wir in Deutschland unternehmen werden.« Vielleicht hatte Gehrt von Aderkas insgeheim bereits Zweifel gehegt, ob sich die Deutschen im Baltikum würden halten können. Schon im Winter 1918 / 19 hatte die Familie vor den einrückenden Bolschewiken nach Riga und weiter nach Libau fliehen müssen, mit Pferd und Schlitten, am Meer entlang nach Süden. Gehrts junge Frau hatte die Zügel geführt, er selbst mit dem Ge- 68 69 wehr im Anschlag auf dem Gefährt gesessen. Seine Familie war unternehmen werden«? Oder hatte er im Krankenhaus von Riga damals der Soldateska entkommen, denn mit vereinten Kräften gar nicht die große Politik im Sinn, wollte seiner Familie vielmehr hatten Letten und Deutsche die Sowjetarmee zurückgedrängt. zu verstehen geben, dass er sie nicht im Stich lassen würde? Dass Pastor Scheinpflug hingegen, den sie nicht zur Flucht hatten über- die lang verschleppte Rippenfellentzündung ihn nicht besiegen, reden können, weil er seine Gemeinde nicht hatte verlassen wol- dass er gesunden und gemeinsam mit Frau und Kindern die neue len, war von den Bolschewiken ermordet worden. Herausforderung meistern würde? Durch den zunehmenden Druck auf die deutsche Minderheit Es dürfte ihm nicht leichtgefallen sein, sie bei den Vorberei- seitens der lettischen Nationalisten hatte Gehrt von Aderkas 1920 tungen zur Aussiedlung allein lassen zu müssen. Aber sein Zu- wie alle anderen deutschen Gutsbesitzer seinen Besitz verloren – stand verschlechterte sich zusehends. Getrennt von der Familie eine große Fläche von 9000 Hektar, seine Existenzgrundlage. wurde er auf einem Krankenschiff ins Reich transportiert, nach »Nicht einmal ein Adventsbäumchen«, sagt seine Tochter Liselot- Swinemünde, wo er, da es noch kein Penicillin und keine Anti- te, »konnten wir uns mehr schlagen.« Und die 50 Hektar wenig biotika gab, wenige Tage nach der Ankunft an Streptokokkenver- fruchtbaren Bodens, die der Familie als »Restgut« überlassen wur- giftung starb. Als seine Frau Gertrud, Sohn Claus und die beiden den, reichten als Lebensgrundlage nicht aus. Töchter Liselotte und Ulrike, aufgeschreckt von der Nachricht Gegenüber anderen deutschbaltischen Familien hatte die Fa- über seinen schlechten Gesundheitszustand, nach Swinemünde milie von Aderkas zwar noch Glück im Unglück. Denn sie durf- eilten, war er bereits tot. Allein Sohn Heinz hat am Sterbebett des te die Wirtschaftsgebäude und selbst das Herrenhaus von Gut Vaters gesessen. Kürbis behalten, das sich seit fünfhundert Jahren im Besitz der Gehrt von Aderkas wurde auf der Insel Wollin an der Ostsee- Familie befand. Und Gehrt, ein studierter Forstmann, wurde küste beigesetzt, gemeinsam mit acht weiteren Deutschbalten mangels lettischer Fachleute zur Verwaltung seines enteigneten in einem Reihengrab. Als Tochter Liselotte 1998 nach dem Grab Waldbestandes eingesetzt – was ihn, wie er sagte, nicht kränke: suchte, konnte ihr niemand Auskunft geben. Der Friedhof war ein- Er kenne sich eben am besten in »seinem« Wald aus. Aber es war geebnet worden, die neuen polnischen Bewohner hatten zur alten durchaus fraglich, ob seine Söhne Claus und Heinz als Deutsche deutschen Tradition keinen Bezug. »Es stört mich aber nicht«, sagt in Zukunft auch noch staatliche Anstellungen erhalten würden. seine Tochter, »dass der Friedhof verschwunden ist. Ich brauche Und niemand vermochte vorauszusagen, wie lange sich die jun- keine Gräber. Die, die mir wichtig sind, trage ich im Herzen.« gen Deutschbalten noch an das Ehrenwort halten würden, mit dem sie sich verpflichteten, nach ihrer Ausbildung im Deutschen Liselotte von Stackelberg, geborene von Aderkas, ist eine große, Reich nach Lettland zurückzukehren. schlanke Frau mit schmalem Gesicht und einem für 83 Jahre Bedeutete Hitlers Ruf ›Heim ins Reich‹ jetzt das unabwendbare auffällig aufrechten und sicheren Gang. Eine Frau ohne jede Lar- Ende der Deutschen im Baltikum? Richtete Gehrt von Aderkas moyanz – darin ähnelt sie ihrem Vater –, für die, mögen Besitz deswegen so schnell seinen Blick auf das, »was wir in Deutschland und gesellschaftliche Stellung auch unwiederbringlich verloren 70 71 sein, die Haltung zählt, die Disziplin, die Verpflichtung gegenüber Gegenwart und Zukunft, so wie sie es von den Eltern lernte. Immer wieder taucht ein »Aber« in Illos Erinnerungen auf, weil das Leben dann doch nicht ungetrübt und frei von Wider- In ihrem Wohnzimmer im württembergischen Ludwigsburg sprüchen und Spannungen war. Die Interessen kollidierten zwi- hängen eine historische Landkarte vom Baltikum und ein Foto schen den einen, die die jüngst eroberte staatliche Unabhängig- vom Familiengut. Aber Kürbis, benannt nach dem livländischen keit festigen und sozial aufsteigen wollten, und den anderen, die »Körbs«, der Einöde, ist bei ihr kein Gegenstand des Kults, der sen- ihre Deklassierung hatten hinnehmen müssen und die weitere timentalen Erinnerung, sondern Teil ihres gegenwärtigen Lebens, Beschneidung ihrer Minderheitenrechte fürchteten. Zwischen je- Ziel einer seit 1996 regelmäßig jedes Jahr wiederholten Reise mit nen, die über Generationen hinweg die sozial Schwächeren ge- den Geschwistern oder mit den Söhnen und Schwiegertöchtern, wesen waren und nun politisch das Sagen hatten, und den einsti- auch mit Enkeln und Freunden. gen Herren, die immer noch Tradition und Etikette hochhielten, Ihre Heimat, sagt Liselotte, genannt Illo, sei lange schon Lud- aber politisch weitgehend machtlos geworden waren. »Letten und wigsburg in Deutschlands Südwesten, wo sie seit fünf Jahrzehnten Deutsche«, sagt Illo von Stackelberg, »lebten zwar zusammen, wohne. Doch Kürbis bleibe bis ans Lebensende eine beglücken- aber jeder für sich.« de Erinnerung, die sich mehr und mehr mit der Gegenwart ver- Draußen sprachen Illo und ihre Geschwister selbstverständlich mische. Wer habe schon das Glück, eine verloren gegangene Lettisch, zuhause aber war der Gebrauch der lettischen Sprache Sprache wiederbeleben zu können – sie spreche, sagt Illo, Lettisch verpönt. Von ihrem religiösen Bekenntnis her waren die Letten flott und falsch wie ehedem –, und wer könne schon an alte Kon- genauso evangelisch wie die Deutschbalten – doch in die lettische takte anknüpfen wie sie mit ihrer ehemaligen Nachbarin, die sie Kirche »ging man nicht«, auch wenn das bedeutete, dass Familie bei ihrem ersten Besuch in Lettland 1971 gleich wiederfand? von Aderkas nur selten den Gottesdienst besuchte, da die deut- Die lettische Familie Weinbergs hatte vor dem Krieg zwei Kilo- sche Kirche weit entfernt lag. Einen Letten, das wusste Illo, hätte meter vom Gut Kürbis entfernt einen kleinen Laden betrieben, den sie auch nicht heiraten dürfen, außer sie wäre bereit gewesen, von »Krug«, der enteignet wurde, als die Sowjets die Familie im Zwei- der deutschen Gemeinschaft verstoßen zu werden. Der Erhalt der ten Weltkrieg nach Sibirien deportierten, und der in den Besitz Gemeinschaft war im Wertekanon der Deutschbalten wichtiger der Weinbergs zurückkehrte, als das Sowjetreich zerfiel. Wie oft als die Liebe. Denn nur wenn sie der deutschen Sprache und der hat Illo dort als Kind und Jugendliche Salz, Zucker oder Petroleum deutschen Tradition treu blieben, konnte die Identität der Gruppe geholt und anschreiben lassen, wenn der verarmten Familie von in der Fremde erhalten werden: Aderkas wieder einmal das Geld fehlte! Wie oft hat umgekehrt Illos enteigneter Großvater aber auch die lettischen Neubauern be- Wir aber, wir wollen nicht wandern gehen, raten, die wenig oder keinerlei Erfahrung in der Landwirtschaft solange der Heimat zwei Bäume noch stehen besaßen! Vor dem Krieg, sagt Illo von Stackelberg, seien Letten und noch Blüten blüh’n in den Hecken, und Deutsche gut miteinander ausgekommen. Aber … solang unser Lied in den Winden treibt 72 73 und noch ein Fußbreit Landes uns bleibt. nur im Sommer Verwandte oder Bekannte aus dem Reich ein- Und es bleibt uns, wenn wir nur bei ihm bleiben. kehrten, erlebte Illo den Nationalsozialismus in erster Linie als (Gertrud von Brincken) Stärkung für die deutschbaltische Minderheit, als eine Stütze für das Deutschtum. Ohne die Hilfe aus dem Reich hätten die deut- Viele Landsleute waren nach dem Ersten Weltkrieg ins Deutsche schen Schulen sicher geschlossen werden müssen. Ohne die Hilfe Reich abgewandert. Familie von Aderkas aber wollte auf keinen Fall aus dem Reich hätte die Bibliothek in Riga kein Geld gehabt, um untreu werden – weder der Heimat noch dem Deutschtum. Wenn deutsche Literatur per Post in entfernte Winkel Lettlands auszu- sich im neuen lettischen Nationalstaat mit dem bescheidenen Sa- leihen. Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war zwar wie alle na- lär des Gehrt von Aderkas und kleinen zusätzlichen Einkünften tionalsozialistischen Organisationen im lettischen Staat verboten. aus der Vermietung des Dachgeschosses an Feriengäste nicht alle Aber Illo registrierte mit geheimer Genugtuung, dass ihre Schul- Ausgaben begleichen ließen, dann musste man eben – Standes- uniform mit der weißen Bluse und dem blauen Rock der Jung- ehre hin oder her – vom Lebensstandard Abstriche machen und mädeltracht sehr nahekam – Tuch und Knoten konnte sie sich beim Ladenbesitzer anschreiben lassen, um den deutschen Haus- dazudenken. Dem Nationalsozialismus, der deutsche Kultur, Lite- lehrer bezahlen zu können. Niemals hätte das Ehepaar von Ader- ratur und Sprache im Ausland zu bewahren half, stand sie positiv kas seine Kinder in eine lettische Schule geschickt und dadurch gegenüber. Später im Reich brauchte sie allerdings keinen Natio- einer Aufweichung der deutschen Tradition auch noch Vorschub nalsozialismus und keinen BDM mehr. Da musste niemand für geleistet. Selbstverständlich wurden alle vier Kinder auch, nach- das Deutschtum kämpfen, denn es war Alltagskultur. dem ihnen der staatlich vorgeschriebene Wissensstoff der Grund- Als die Pläne zur Umsiedlung bekannt wurden, war Illo ge- schule von Hauslehrern vermittelt worden war, im Staatlichen rade erst in das Gymnasium von Mitau zurückgekehrt. Um eine Deutschen Gymnasium in Mitau angemeldet, etwa 150 Kilometer Verbreitung von Kinderlähmung zu verhindern, hatte die Schule vom Heimatgut Kürbis entfernt – auch wenn die Aderkas-Eltern nach den Sommerferien mit Verspätung angefangen. Doch an Un- nur mit Mühe und Not die Pensionskosten aufbringen konnten terricht war nicht mehr zu denken. Alle wollten so schnell wie und beim Schulgeld auf Stipendien des »Deutschen Vereins« und möglich nach Hause. Auch Bruder Claus, der bei einem deutschen des »Vereins der Deutschen im Ausland« (VDA) angewiesen waren. Gutsbesitzer ein landwirtschaftliches Praktikum begonnen hat- Doch das war keine Schande. Alle Gutsbesitzer waren ähnlich ver- te, kehrte umgehend auf das Gut zurück. Er hatte den Vater zu armt, fast alle Schüler in Mitau erhielten Unterstützung aus dem ersetzen. Reich. »Und es war Ehrensache«, sagt Illo, »nicht sitzen zu bleiben, wenn man ein Stipendium hatte.« Aber die Heimat auflösen – wie macht man das? Illo, obwohl schon sechzehn, hatte als Mädchen im Familienrat keine gewichtige Stimme, ihre zwei Jahre jüngere Schwester Ulrike erst recht In der Abgeschiedenheit von Kürbis, wo kein deutscher Sender nicht. Und da sich Bruder Heinz, wie Claus in einer Mischung aus empfangen werden konnte, keine Vereine existierten und meist Wut und Ironie anmerkte, »aus dem Staub« gemacht und sich als 74 75 Begleiter für Viehtransporte »der Allgemeinheit« zur Verfügung abgebrannt.« Nicht, weil sie den neuen Besitzern missgönnt hät- gestellt hatte, musste hauptsächlich Claus der Mutter beistehen. te, was sie zurücklassen mussten. Viel Wertvolles befand sich eh Was ihm zahllose schlaflose Nächte bereitete. nicht mehr darunter, denn Porzellan und Silber waren bereits Das Vieh, das Korn, die Klee- und Heuernten und die landwirt- gestohlen worden, als die Familie 1918 / 19 nach Libau hatte flüch- schaftlichen Maschinen wurden regelrecht verschleudert, da die ten müssen. Andere sollten jedoch nicht benutzen, was mit der Preise wegen des Überangebots plötzlich in den Keller purzelten. Geschichte und dem Geist ihrer, und nur ihrer, Familie verwoben Eine Kuh kostete umgerechnet noch dreißig Reichsmark. Aber war. Niemand sollte geringschätzig Fotos von Familienmitglie- Mutter Gertrud brauchte selbst die kleinen Summen, um die dern in den Abfall werfen, niemand alte Familienmöbel als hin- Schulden bei den Ladenbesitzern Weinbergs zu begleichen – sich derliches Inventar beiseiteschieben oder gar verheizen, niemand einfach abzusetzen, verbot ihr das Gewissen –, und sie brauchte sollte ihr Herrenhaus verunstalten, indem er Ofenrohre aus den Geld für die laufenden Kosten. Fenstern hinausleitete. Lieber, so dachte Illo, solle die Familien- Was sollten sie mitnehmen? Was zurücklassen? Zunächst hieß es, nur Handgepäck sei erlaubt. Dann hieß es, auch Möbel und tradition zerstört, als von fremden, unsensiblen Menschen entweiht werden. Vieh könnten mitgeführt werden. So nahmen sie eine Kuh und Und so haben sie Stunde um Stunde nachgelegt. Briefe, Bilder, einen Zuchteber mit, die sie nach der Umsiedlung allerdings nie Bücher, auch Trauer und Enttäuschung gingen in Flammen auf. wiedersahen. Sie nahmen drei Pferde mit, die Illo später in Gnesen Als die Familie nach zermürbendem Warten schließlich den Be- abholen konnte und auf der Flucht im Januar 1945 vor ihre Wagen fehl bekam, am 20. November 1939 in aller Frühe aufzubrechen, spannte. Und sie nahmen, eher sentimental als rational, neben um den Sonderzug nach Riga zu erreichen, loderte das Feuer im- einigen Gebrauchsmöbeln zwei schöne Kommoden mit, ferner mer noch und tauchte das Gutshaus in der Dunkelheit des frü- den großen Spiegel, in dem sich jedes Jahr der Weihnachtsbaum hen Herbstmorgens in einen rötlichen Schein. »Das sehen wir nie gespiegelt hatte, und den Blüthner-Flügel, den ein Schreiner so wieder«, sagte Bruder Claus, als er den Blick ein letztes Mal zu- fest in einen riesigen Holzkasten einkeilte, dass er tatsächlich un- rückwandte, und steckte sich, einer ungewohnten sentimentalen beschädigt im Warthegau ankam. Mehrere Einspänner – die Kuh Regung folgend, ein kleines Birkenblatt unter eine Folie in seine trottete nebenher – brachten die Ladung nach Riga, wo sie in den Konfirmationsbibel. Speicherhäusern des Hafens zwischengelagert und auf spezielle Viehtransporte verladen wurde. »Doch dann«, sagt Illo von Stackelberg triumphierend, »sahen wir Dann entfachten sie ein Feuer auf dem Rasenstück an der Vor- es doch wieder.« 1971, bei ihrem ersten Besuch im inzwischen derseite des Gutshauses, das alles fressen sollte, was ihnen be- sowjetischen Lettland, fand sich ein Taxifahrer aus Mitgefühl sonders ans Herz gewachsen war und was sie nicht mitnehmen bereit, sie trotz Verbot von Riga in die Provinz zu fahren. Und konnten: Puppen, Puppenhäuser, Teddybären, die Familienwiege. im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends schien es Illo, »Am liebsten«, sagt Illo von Stackelberg, »hätte ich das ganze Haus als seien nur wenige Wochen oder Monate seit ihrer Abreise ver- 76 77 gangen. Dieselben Bäume umrahmten die Vorderfront des Guts- mig zusammengeschlagene Holzkisten in die Bäuche von mäch- hauses, immer noch schmückte die säulengestützte Veranda den tigen Passagierschiffen, die – meist gestellt von »Kraft durch Freu- Eingang, und im linken Flügel des Herrenhauses, in dem früher de« – nun Umsiedler auf Decks transportieren sollten, auf denen Vater Gehrts Büro war, strahlte Licht aus einem Fenster, als warte sich zuvor Arbeiter auf ihren Erholungsfahrten nach Norwegen, jemand auf sie. Italien oder Madeira amüsiert hatten. Da hockten Großfamilien, Illo von Stackelberg hat die Szene auf einem Foto festgehalten, Kleinfamilien und Insassen ganzer Kinderheime auf dem Kai mit das nun in ihrem Wohnzimmer hängt. Seit diesem Besuch hat sie all den Koffern, Körben, Paketen und Säcken, die sie mit an Bord ihren Frieden mit Kürbis geschlossen. zu nehmen gedachten, während Gehbehinderte und Alte geduldig abseits warteten, bis Freiwillige sie die Gangway hinauftrugen Ein paar Tage lang waren die Deutschbalten ein Niemand – keine oder ihnen mit kräftigem Griff unter die Arme halfen. lettischen Staatsbürger mehr, aber noch keine deutschen. Doch Und alles ohne Geschrei, alles ohne Panik. Für jeden fand sich weit mehr als die Prozedur der Ausbürgerung im prunkvollen nach längerem Warten Platz, auch wenn es eng wurde in den Ka- Festsaal des Schwarzhäupterhauses bewegte Illo in Riga der Gang binen und auf den Decks. Letztlich, meint Illo noch heute voller durch die vielen jüdischen Geschäfte in der Elisabethstraße. Die Bewunderung, sei die logistische Herausforderung, 60 000 Men- Mutter gab aus, was sie an lettischer Währung noch besaßen, das schen innerhalb weniger Tage zu verschiffen, erstaunlich gut be- ganze Geld, was vom Verkauf von Vieh und Getreide übrig geblie- wältigt worden. ben war. Illo erhielt einen Wintermantel, ein Kostüm und den ers- Und hin und her gerissen zwischen der alten und neuen Hei- ten und einzigen Hut ihres Lebens, grün mit breiter Krempe, den mat nahmen sie Abschied: Am Bug flatterte die Fahne mit dem sie, wie ein Foto verrät, wenige Tage später bei der Einschiffung Hakenkreuz, und auf den Decks sangen sie dicht aneinanderge- im Rigaer Hafen keck ins Gesicht gezogen hatte. Da war sie nicht drängt: »Dievs svéti Latviju« – Gott segne Lettland – die lettische mehr das Schulmädchen aus der Provinz, sondern eine hoch auf- Nationalhymne. geschossene junge Frau, die ihre Mutter und Schwester um einen halben Kopf überragte. Zwei Tage später legten die Schiffe im Hafen von Gdingen an, das nun Gotenhafen hieß. Im Seewind blähten sich Hakenkreuz- Sie wollte den Blick nach vorn richten. Seit Bruder Claus 1936 fahnen, Partei- und SS-Funktionäre hießen sie »heim im Reich« vom Gut Kürbis aus mit dem Fahrrad zu den Olympischen Spielen willkommen, fast alle Umsiedler hoben, manche noch etwas un- nach Berlin gefahren und begeistert zurückgekehrt war, erschien sicher mit gespreizten oder leicht gebogenen Händen, den Arm ihr das Reich als interessant und verlockend. Was bot diese pulsie- zum Hitlergruß, der fortan zu ihrem Alltag gehören würde. rende Stadt Berlin für Möglichkeiten! »Ich witterte Morgenluft.« Sie waren willkommen, auch wenn sie erst offiziell in die Und so erfüllte sie die Einschiffung mehr mit Neugier als mit »arische Volksgemeinschaft« aufgenommen werden mussten. Die Trauer, mehr mit Erwartung als mit Schmerz. Männer nackt, die Frauen in Unterwäsche, so wurden sie ange- Da hievten riesige Kräne unzählige geschlossene oder gitterför- 78 leuchtet, ausgemessen und begutachtet: Schädelmaße? Schulter- 79 breite? Körpergewicht? Größe? Augenfarbe? Mit der Aushändi- bis zum Ersten Weltkrieg zum Deutschen Reich gehört, und alle gung des provisorischen Ausweises waren sie Anwärter auf die älteren Bewohner sprachen Deutsch. »Deshalb«, sagt Illo voller Be- deutsche Staatsbürgerschaft, etwa zwei Monate später wurden sie dauern, »habe ich nicht Polnisch gelernt.« als Reichsdeutsche endgültig eingebürgert. Da die Polen jedoch Eine eigenartige Situation. Die Familie von Aderkas war reicher nicht so schnell aus dem Warthegau ausgesiedelt werden konnten, als in Kürbis, obwohl sie nichts mehr besaß, denn erst nach dem wie die Deutschen aus dem Baltikum angesiedelt werden sollten, Endsieg sollte das Gut in ihr Eigentum übergehen. Sie zog in das mussten die Umsiedler für einige Monate in Pommern »zwischen- Herrenhaus, das allerdings weder über eine Toilette noch über gelagert« werden – Familie von Aderkas kam nach Greifswald zu ein Badezimmer verfügte, und musste das eigentliche Sagen dem einem alten Pastor und seiner Haushälterin. Nachbarn Otto Hoffmann überlassen, einem ausgezeichneten Anfang 1940 wurden sie dann in die Parkstraße nach Posen Landwirt, der als Deutscher in Polen gelebt hatte, mit der Aufsicht beordert, eine Wartestation, wo sie nur äußerst provisorisch auf über neun Güter beauftragt war und die rechtzeitige Ablieferung Strohsäcken in einer Schule lagerten. Doch hier erfolgte endlich der Kontingente zu überwachen hatte. Familie von Aderkas war die Zuteilung: Der Friseur erhielt einen Friseurladen, der Schuster es nur recht, denn selbst Bruder Claus verstand zu wenig von der eine Werkstatt, der Bauer einen Hof. Bruder Claus konnte unter Landwirtschaft, um ein so großes Gut zu führen. mehreren Angeboten wählen und entschied sich schließlich für Nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass sie Eindringlinge den Weidenhof, Czachory, ein einzeln gelegenes Gut wie das ver- waren. Sie lagen in Betten, in denen bis vor kurzem noch andere lassene Kürbis, zwischen den Städten Ostrowo und Kalisch auf der geschlafen hatten; sie aßen von Tischen, die andere gerade erst Strecke Warschau – Breslau. Der nächste größere Ort hieß Skal- geräumt hatten; sie lebten mit Bildern, Möbeln und Geschirr, die merschütz, bis 1918 ein preußisch-russischer Grenzübergang, auf aus einer anderen Familientradition stammten; sie verkehrten dessen östlicher Seite auch 1940 noch kleine russische Zweispän- mit Landarbeitern, die sie misstrauisch und ablehnend beobach- ner und auf dessen westlicher Seite breite preußische Vierspän- teten. »Man konnte ja verstehen«, schrieb Mutter Gertrud in ihren ner in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Erinnerungen, »dass uns die Polen mit Hass empfingen. Aber ich habe in diesen Zeiten erfahren, dass das einzig Richtige und Wah- Der Weidenhof war ein Gut mit 400 Hektar, 45 Pferden, 15 Foh- re ist, dass man den Menschen nicht ihre Würde nimmt.« len, 120 Kühen, 80 polnischen Arbeitern mit ihren Familienange- Schon nach kurzer Zeit erwarb sich Mutter Gertrud das Ver- hörigen, einem Hofvogt namens Tyrakowski, einem Feldvogt na- trauen von Frau von Zakrzewska, der ehemaligen Besitzerin. »Sie mens Michalik, dem Schweizer (Melker) Walczak, dem Kutscher war«, sagt Illo von Stackelberg, »eine hochgebildete, glühende Pawlaczyk, einem Schmied, einem Stellmacher, einem Schweine- polnische Patriotin ohne jeden Fanatismus und eine glühende Ka- jungen, einer Köchin, einem Zimmermädchen und einem Diener, tholikin ohne jeden Fanatismus.« Ihr ältester Sohn war im Ersten der im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz II. Klasse für seinen Weltkrieg auf deutscher Seite gefallen, ihren zweiten Sohn hatte Einsatz in Frankreich erhalten hatte. Denn der Weidenhof hatte sie aus familiären Gründen enterbt. Da sie im fortgeschrittenen 80 81 Stadium an Leberkrebs litt, war sie nicht ins Generalgouverne- Arbeiten für das Gut, als sie die große Buchführung übernahm. ment, sondern mit ihrer Gesellschafterin und ihrem Zimmermäd- Tag für Tag notierte sie aufgrund der Meldungen der Inspektoren, chen in die beiden Zimmer im ersten Stock ihres eigenen Hauses was verkauft und was angeschafft wurde, wie viele Ferkel gebo- »umgesiedelt« worden. So lebten die polnische Nicht-mehr-Besit- ren, wie viele Schweine geschlachtet, wie viele Stuten gedeckt zerin und die deutsche Noch-nicht-Besitzerin unter einem Dach. oder welche Löhne den Arbeitern ausgezahlt wurden. Und da für Frau von Zakrzewska wie für Gertrud von Aderkas Die Kinder waren fortgezogen. Sohn Claus hatte sich, um der Bildung, Herkunft, Charakter und Haltung wichtiger waren als Einberufung zur SS zuvorzukommen, freiwillig zur später um- die nationale Zugehörigkeit, entspann sich zwischen der Polin strittenen Division Brandenburg gemeldet, einer Spezialtruppe und der Deutschen ein respektvolles Verhältnis, später sogar eine der Wehrmacht, die im Feindgebiet bei der Partisanenbekämp- Freundschaft – mit Französisch als Umgangssprache, da Frau von fung eingesetzt wurde und in der bekanntermaßen viele Deutsch- Zakrzewska die Benutzung der deutschen Sprache verweigerte, balten dienten. obwohl sie sie fließend beherrschte. Illo und Heinz besuchten eine Schule in Gnesen, Ulrike eine »Die beiden«, sagt Tochter Illo, »haben sich sehr gut verstanden.« Schule in Wreschen. Nach dem Schulabschluss absolvierte Illo Wenn Mutter Gertrud wieder einmal Edelmetalle oder Textilien den Arbeitsdienst, was ihr Spaß machte, da sie engeren Kontakt für das Reich aus Beständen spenden sollte, die ihr doch gar nicht zu Menschen aus Köln, Hamburg und Braunschweig knüpfen gehörten, redete Frau von Zakrzewska ihr gut zu: »Warum sehen konnte, sodass »das Reich«, bisher eher eine fiktive Größe aus dem Sie wieder aus wie ein geprügelter Hund? Geben Sie’s doch! Das Bereich der Fantasie, konkrete Gestalt annahm. Danach begann ist etwas, was Motten und Rost fressen! Das ist doch nichts wert!« sie im Roten-Kreuz-Krankenhaus von Berlin-Weißensee eine Aus- Und wenn Mutter Gertrud wieder einmal auf das Misstrauen der bildung als Schwester. Bereits nach drei Monaten erreichte sie je- Arbeiter stieß, legte Frau von Zakrzewska ein gutes Wort für sie doch ein ärztliches Attest, wonach die Mutter innerhalb von vier ein, sodass sich langsam ein Vertrauensverhältnis entwickelte. Wochen erblinden würde. Illo musste zurück auf den Weiden- Frau von Zakrzewska war großzügig und souverän. »Da fiel es uns hof und die Funktion als Gutssekretärin übernehmen. Seitdem nicht so schwer«, sagt Illo von Stackelberg, »dass wir in ihren Mö- lag, auch wenn die Mutter glücklicherweise nicht erblindete, die beln lebten.« Schließlich ist Frau von Zakrzewska in den Armen Hauptlast der Arbeiten auf Illo. Da war sie gerade zwanzig Jahre von Gertrud von Aderkas gestorben. »Ist das nicht tröstlich?« alt. Die Trauerfeier, die sich der Beerdigung anschloss, hat die Fa- Den Zustand des Gutes entnahm Illo der Buchführung. Sie sah, milie von Aderkas allerdings trotz Einladung nicht besucht. »Mei- was gedieh und was verdorrte, wie viel an Kontingenten abgelie- ne Mutter sagte: Wenn das rauskommt, sind wir dran. Umgang fert und welcher Gewinn gemacht wurde. Sie sah, dass das Gut mit Polen war ja strengstens verboten. Man durfte sie schlagen, florierte, obwohl immer mehr Pferde eingezogen wurden. »Wie aber nicht mit ihnen essen.« sollen wir die Kontingente schaffen?«, fragte Mutter Gertrud bei Mutter Gertrud trug innerhalb der Familie die Hauptlast der 82 jeder neuen Anforderung entrüstet. »Ein Pferd kann nur arbeiten, 83 bis es umfällt.« Zum Schluss mussten Ochsen statt Pferden einge- meine Männer vor Schanzarbeiten oder vor der Zwangsarbeit im spannt werden. »Aber das waren tolle Ochsen«, erinnert sich Illo Reich retten?« Wenn es sich gar nicht verhindern ließ, schickte von Stackelberg. »Die hatten einen so schnellen Schritt, dass sie Mutter Gertrud jene, die noch keine Familien hatten. mit den Pferden beim Pflügen gleichauf waren.« Der Weidenhof hatte gute Verwalter und gute Arbeiter. Sie Da waren die Evakuierten aus dem Reich: Einmal kam ein älteres Ehepaar aus Berlin, das nur kurze Zeit blieb, da der schwer bauten Rüben an, Roggen, Hafer, Weizen und waren die Kartof- kranke Mann bald verstarb, ein anderes Mal kam eine manns- felkönige im Kreis. Zum Ernteeinsatz kamen zusätzlich polnische tolle Frau mit fünf Kindern aus Köln, die sich an alle polnischen Schulklassen aus Ostrowo, auch polnische Häftlinge, meist ein- Arbeiter heranmachte und Gegenstand vieler gehässiger Kom- fache Bauersfrauen, die wegen Diebstahl oder Schwarzhandel mentare wurde. bestraft worden waren und von zwei reichsdeutschen Gefängnis- Da war die krebskranke Frau Walczakowa, die Frau des Schwei- wärterinnen beaufsichtigt wurden, die oft und gern von ihren zers, der Illo Schmerzmittel spritzte, da sie als Polin nicht ins Gummiknüppeln Gebrauch machten. Krankenhaus eingeliefert oder ärztlich behandelt werden durfte. Auf dem Gut experimentierte man auch mit der sagenumwo- Die Rezepte besorgte sich Illo illegalerweise bei Doktor Wilhelm benen neuen Pflanze Kok-Saghys, einer Art Löwenzahn, deren Kahl, der trotz seines Namens, der eine deutsche Nationalität na- Wurzeln den schwer zugänglichen Kautschuk ersetzen und dem helegte, ein Pole war. Und sie ließ sie einlösen in einer deutsch- Reich Gummi liefern sollten – eine der vielen angeblich Wun- baltischen Apotheke, deren Besitzer so taten, als sei ihnen die pol- der wirkenden Erfindungen, die sich als Fehlschlag erwiesen. nische Nationalität von Doktor Kahl nicht bekannt. Das Experiment rief ein großes Echo auf dem Hof hervor, war Da waren schließlich die Treffen mit den Deutschen aus den doch bereits die Saatgewinnung ein aufwendiges Unternehmen. umliegenden Gütern, die – vom Betriebsleiter Otto Hoffmann ab- Denn Blüte für Blüte musste nach dem Verblühen mit der Hand gesehen – alle aus dem Baltikum stammten. Sie besuchten sich eingesammelt werden, da die Saat im weißen Haar verborgen regelmäßig mit Pferdewagen im Umkreis von zehn bis fünfzehn war. Kilometern. Sie gingen gemeinsam auf Jagd, und sie sprachen im- Der Weidenhof war ein Mikrokosmos in sich, voller Span- mer mehr über den Krieg. »Jeder hatte ja jemanden an der Front. nungen, voller Gerüchte, voller Gehässigkeiten, aber auch voller Und jeder sah, dass von einem Endsieg keine Rede sein konnte.« Zuwendung, Wärme und menschlicher Nachsicht. Würden sie überleben, die Männer, die Söhne, die Brüder? Illos Da war die Kriegshochzeit von Bruder Claus im Kreise von Klassenkameradin Rosemarie von Schilling verlor fünf von sechs deutschen Nachbarn und Verwandten, auf der die polnischen Brüdern, drei davon in einem Jahr. Illos Bruder Claus wurde erst Gutsarbeiter mit Musik aufspielten und die Braut Helga im wei- an der Ostfront, dann in Jugoslawien verwundet. Er verlor einen ßen Kleid mit dem bärtigen alten Hofvogt Tyrakowski tanzte. Arm, wurde auf einem Ohr für immer taub und kann seitdem nur Da war der polnische Verwalter, der in regelmäßigen Abstän- mit Spezialschuhen gehen. Der jüngere Bruder von Mutter Ger- den bei Frau von Aderkas vorsprach: »Pani [Herrin], können Sie trud fiel bei der Zitadelle in Posen, und der ältere Bruder ist, sagt 84 85 Illo, »irgendwo vor die Hunde gegangen, als er zum Volkssturm den Weidenhof zu räumen, da die Familie von Aderkas nicht den eingezogen wurde«. erforderlichen Ariernachweis erbracht hätte. Illo von Stackelberg erzählt es ohne jede Regung. Mit welchem Nur wenige Wochen zuvor war der große Spiegel, in dem sich Recht könnte sie sich beschweren? Hätte es für die Familie nicht auf Gut Kürbis immer der Weihnachtsbaum gespiegelt hatte, un- viel schlimmer kommen können? Waren sie nicht verwöhnt im ter großem Getöse in Tausende von Splittern zerborsten, und die Warthegau, wo sie keinen einzigen Bombenangriff erlebten? Im abergläubische Gesellschafterin von Frau von Zakrzewska hatte Vergleich mit anderen, ist Illo von Stackelberg überzeugt, hätten prophezeit: »Das bedeutet, dass Sie den Weidenhof bald verlassen sie keinen hohen Preis im Krieg gezahlt. Nicht einmal den Ver- werden.« lust des Weidenhofes im Herbst 1944 empfand sie als schweren Sie mussten in das sechs Kilometer weiter westlich gelegene Schlag. Gut vier Jahre war er zwar ihr Zuhause gewesen – aber er Gut Benden umziehen, ein Anwesen mit nur 800 Morgen und hatte ihnen doch nicht gehört. einem kärglichen Viehbestand. Hier verbrachten sie ihre letzten Schuld an ihrem erneuten Umzug noch knapp drei Monate vor Monate im Warthegau, dunkle Monate im Winter, in denen die der Flucht war der zuständige Kreisbauernführer Schottke aus Arbeit in der Landwirtschaft weitgehend ruhte, Illo mit der Buch- der Kreisstadt Ostrowo. Ein Deutscher aus Deutsch-Ostafrika, der führung wenig ausgelastet war und die Front immer näher rück- ein Auge auf den Weidenhof geworfen hatte, weil er viel abwarf te, ohne dass sie sich dessen bewusst werden wollten. und gut geführt war. Unglücklicherweise war Herrn Schottke zu »Das kam sehr plötzlich über uns«, gestand Mutter Gertrud Ohren gekommen, dass die Familie von Aderkas zwar ein altes noch im Alter, »denn irgendwie hatten wir uns durch die Pro- Adelsgeschlecht sei – in dem sich aber leider jüdisches Blut ein- pagandareden von der Wunderwaffe einlullen lassen.« Als dann geschlichen habe. aber die ersten Trecks von Deutschen aus den weiter östlich gele- Der Ahnenpass legte keinerlei Verdacht nahe. Im Genealo- genen Teilen des Warthegaus vorbeizogen, begannen auch Mutter gischen Handbuch des Adels allerdings war der Urgroßvater müt- und Tochter von Aderkas mit Hilfe des polnischen Verwalters zu terlicherseits, ein Militärarzt am Zarenhof namens Blumenthal, packen. Heimlich in der Scheune, damit niemand sie wegen De- als Bruder des Rabbiners Jakobsen verzeichnet. Das Rassenamt fätismus anzeigen konnte. sah Klärungsbedarf. Mehrfach wurde Mutter Gertrud nach Berlin Sie ließen noch ein Schwein schlachten und das Fleisch räu- zitiert. Aber was sollte sie nachweisen? Dass dieser Urgroßvater chern, sie ließen die Pferde noch mit Stollen beschlagen, damit konvertiert, also Christ gewesen sein muss, da Juden mit großer sie auf den vereisten Straßen nicht ausrutschen würden. Und ein Wahrscheinlichkeit nicht am Zarenhof angestellt worden wären? ganzes Gespann ließen sie mit Hafersäcken beladen, einer Ration, Der Beamte auf dem Rassenamt war bereit, die Sache bis »nach so hatte Illo von Stackelberg berechnet, die vier Wochen lang für dem Endsieg« auf sich beruhen zu lassen – doch Kreisbauernfüh- sechs Pferde ausreichen würde – denn mit zwei Gespannen mit je rer Schottke bestand auf einer Entscheidung. Und so erhielten Illo drei Pferden wollten sie fahren. Zum Schluss blieb ihnen nichts und ihre Mutter im Oktober 1944 vom SS-Stab die Aufforderung, anderes übrig, als sehnlichst auf den Anruf zu warten, der ihnen 86 87 den Aufbruch gestatten würde. Am Mittag des 20. Januar 1945 Mitgefühl waren die Ausnahme. Wer die Pferde füttern musste, war es so weit. Der Anruf kam. In der Ferne war schon Geschütz- scherte aus, um den Zug nicht aufzuhalten. Wer nicht ausscher- donner zu hören. te und den ganzen Zug zum Halten zwang, steckte Flüche und Da tauchten völlig unerwartet Schwierigkeiten auf. Kein pol- manchmal auch Faustschläge ein. nischer Arbeiter wollte sie freiwillig kutschieren, jemanden zu Auf der linken Fahrspur hatten Wehrmachtsfahrzeuge abso- zwingen hielt Illo indes für unklug. »Wer nur aufgrund eines Be- lutes Vorfahrtsrecht. Einmal hatte Illo, um bei einem plötzlichen fehls fährt, wird die erste Nacht nutzen, um sich davonzusteh- Halt nicht auf den Vordermann aufzufahren, die Pferde zur Stra- len.« Spätere Erfahrungen bestätigten diesen Verdacht. Was blieb ßenmitte hin gelenkt, als ihr eine Militärkolonne entgegenkam, ihnen also anderes übrig, als den eigenen Kräften zu vertrauen, ein Soldat ihre Pferde wütend zurückstieß und Illo mit dem obwohl diese nur begrenzt Vertrauen verdienten? Allein Illo hatte schweren Wagen und den drei Pferden rückwärts einen vereisten, Erfahrung im Umgang mit Pferden und Gespannen; sie fuhr als drei Meter hohen Abhang hinunterrutschte. Pferde und Riemen- Erste. Das zweite Fuhrwerk lenkte Schwester Ulrike, ihre Mutter zeug verhedderten sich zu einem einzigen großen Knäuel. Mit und den Schäferhund Rudi zur moralischen Unterstützung neben großer Anstrengung kamen zwei Pferde auf die Beine, doch das sich. dritte hing wie tot in seiner Halskoppel. »Bella erstickt!«, schrie »Für Angst«, sagt Illo von Stackelberg, »blieb keine Zeit.« Und die Fahrt verlangte volle Konzentration. Illo ihrer Mutter zu. »Ein Messer, werft mir ein Messer herunter!« Doch niemand hatte ein Messer zur Hand, um die Riemen der Als Erstes stellte sich heraus, dass die großen Wagen wegen Anspannung loszuschneiden. Da warf Bella in ihrer Agonie noch ihrer Eisenbereifungen auf den vereisten Straßen gefährlich hin einmal den Kopf hoch, stemmte sich mit den Beinen gegen den und her schlitterten. Als Zweites stellte sich heraus, dass bei der Boden, zerriss die Kette, die die Lederkoppel mit der Deichsel ver- breiten Bespannung mit drei Pferden das dritte Pferd ständig in band – und war frei. »Es war wie ein Wunder.« die Gräben hinabzurutschen drohte. »Beim nächsten Mal müssen wir das anders machen«, empfahl die Mutter der Tochter in etwas gereiztem Ton. »Ist gut«, gab Illo in ruhigem Ton zurück. »Aber ein zweites Mal wird es nicht geben!« Illo war unverletzt geblieben, die Pferde waren mit dem Schrecken davongekommen, am Wagen war nichts gebrochen. Ein freundlicher Pole führte Illo zurück auf die Straße. Erst waren Illo und ihre Schwester mit den beiden Gespannen hintereinander hergefahren. Doch an einer Gabelung diktierte Sie fuhren nach Westen. Auf einer Höhe Kalisch – Guben. Ein- ein braun Uniformierter, eine Zigarre lässig im Mund, eine Pistole geklemmt in einen endlosen Treck fast ausschließlich aus Pfer- gebieterisch in der Hand, die einen nach rechts, die anderen nach degespannen, die sich auf schnee- und eisbedeckten Straßen im links. Mutter Gertrud gab ihm zwar mit ihrer lauten Stimme zu Schneckentempo vorwärtsquälten. Kinder weinten, Fahrzeugfüh- verstehen, dass die Gespanne zusammengehörten, doch er zwang rer schrien sich gegenseitig an, manche schlugen sich gereizt sie – »Halt’s Maul, ich kann dich standrechtlich erschießen!« – auf mit Peitschen. Der Ton unter den Flüchtlingen war rau, Hilfe und die linke Spur, während Illo bereits rechts abgebogen war. Das 88 89 Fuhrwerk mit den Lebensmitteln blieb bei Illo, das Fuhrwerk mit oder den Ziehscheit, an dem das Pferd angespannt werden musste. dem Futter für die Tiere bei Schwester Ulrike. Sie mussten keinen Toten beklagen, brauchten nicht zu hungern, »Beim nächsten Mal nehmen wir nicht mehr zwei Gespanne«, sagte Mutter Gertrud, sobald sie sich wiedergefunden hatten. wurden nicht vergewaltigt und waren mit 51, 21 und 19 Jahren alle drei in einem Alter, in dem sie Frost aushalten und Nächte »Ganz sicher nicht«, entgegnete Illo, spannte die Pferde vor dem durchfahren konnten. Illos Freundin Erika hingegen quälte sich zweiten Gespann aus, übergab zwei von ihnen Soldaten mit einem auf dem Treck mit einem Onkel, dem beide Beine amputiert wor- Schlitten, deren Pferde bereits völlig erschöpft waren, und band den waren. Ihre Freundin Sabine wurde von Soldaten der Roten das dritte hinter ihren Wagen. Da sie die schweren Hafersäcke Armee überrollt, die ihren Vater sofort erschossen und sie selbst, nicht vom zweiten Fuhrwerk umladen konnte, schlitzte sie die Sä- ihre Mutter und Großmutter an den sowjetischen Geheimdienst cke auf und verteilte den größten Teil an Bauern im Treck, die in NKWD überstellten, der sie nach Sibirien deportierte, wo Mutter der Eile des Aufbruchs gar nichts hatten mitnehmen können. Spä- und Großmutter im ersten halben Jahr aufgrund von Erschöpfung ter, an einem kleinen Berg, den die Pferde nur mit viel Geschrei starben. Sabine selbst kam erst nach zwölf Jahren aus Kasachstan und Peitschenknallen gegen die gepflügte Furche hinaufgetrieben zurück. werden konnten, verschenkte Illo auch das dritte Pferd. An einen Nach drei Wochen kamen Illo, ihre Mutter und Schwester im alten weißhaarigen Mann aus dem östlichen Wartheland, der sei- sächsischen Buttstedt bei Weimar an, ihrer einzigen Anlaufstelle ne Tochter und vier kleine Enkel transportierte. Ein Tier war ihm im Reich. Hier hatten Frau und Kind von Bruder Claus bei einem bereits verendet, das zweite stand nur noch auf zitternden Bei- Bauern Unterschlupf gefunden, nachdem sie in Frankfurt am nen. »Nehmen Sie meines, und fahren Sie mit Gott«, sagte sie dem Main ausgebombt worden waren. Mann und war sogar erleichtert, ihr Pferd mit Anstand losgeworden zu sein. Nun würde es nicht mehr jener SS-Mann requirieren Erst hier, am Ende des Krieges, erfuhren sie, was der Krieg bedeu- können, der es bereits mehrfach beansprucht hatte. tet hatte. Da begegnete ihnen erstmals der massenhafte Tod von »Viel Trauriges war zu sehen«, berichtete Mutter Gertrud später Zivilisten. einem Enkel. »Erst fragte ich mich, was in den vielen kleinen Päck- Zwar hatte ein Offiziersanwärter Illo noch im Warthegau vom chen sein könnte, die besonders auf den Kirchentreppen und an Warschauer Aufstand berichtet, mit dem sich die polnische Haupt- Kapellen abgelegt worden waren. Dann wusste ich, es waren die stadt im Spätsommer 1944 zwei Monate lang gegen die deutsche Leichen kleiner Kinder, die den Treck nicht überstanden hatten. Besatzungsmacht aufgelehnt hatte. Die Kämpfe schienen zwar Die Menschen hatten sie eingepackt in das Letzte, was sie noch sehr viele Tote gekostet zu haben, aber – so dachte Illo damals – besaßen, um sie der Kirche, dem lieben Gott zu übergeben.« immerhin hätten Soldaten gegeneinander gekämpft. Dass auch Und wieder: Hatten sie nicht großes Glück? Zehntausende Frauen, Kinder und Männer umgekommen waren, Sie wurden nicht wie andere Flüchtlinge von ihren eigenen dass sie als lebende Schutzschilde vor den deutschen Panzern Landsleuten bestohlen, niemand entwendete ihnen die Pferde eingesetzt oder einfach massenhaft exekutiert worden waren, 90 91 ihre Verwundungen nicht versorgt und ihr Hunger nicht gestillt worden waren oder dass sie vor Schwäche zusammengebrochen und ertrunken waren, wenn sie sich in den Abwasserkanälen in sichere Stadtteile zu retten versucht hatten – über all das hat Illo erst Jahrzehnte später gelesen. Von Buchenwald hörten die Frauen von Aderkas allerdings sofort, als sie in die Nähe getreckt waren. Das könne nicht wahr sein, sagten die Menschen in der Umgebung, dass Zehntausende dort umgebracht worden seien. Daraufhin wurde ein Trecker vor einen Ackerwagen gespannt, und neben den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die Verwandte oder Bekannte identifizie- »Wir waren Besatzer in einem fremden Land« Warum Artur Singer sein Dorf in Bessarabien verlassen musste ren sollten, hockte sich trotz Schneematsch und eisigem Wind auch Mutter Gertrud auf den Wagen. »Sie wollte mit eigenen Augen sehen, ob die Gerüchte wahr sind – denn«, sagt Illo noch heute mit Nachdruck, »ich kann mit bestem Gewissen sagen, dass wir auf dem Weidenhof mit niemandem Kontakt hatten, der uns von den Konzentrationslagern hätte berichten können.« Gertrud von Aderkas sah, überschüttet mit Chlor, Hunderte von Toten, ausgemergelte Gestalten, Menschen nur mit Haut und Knochen: »Sie kam so erschüttert zurück, wie ich sie nie gesehen hatte. Sie war vollkommen außer sich.« Später las Illo von Stackelberg über Auschwitz, die Gettos, über die Einsatzgruppen im Osten und ist immer mehr überzeugt: »Wie kann ich Groll empfinden wegen der Dinge, die uns zugestoßen sind? Ich denke umgekehrt: Womit habe ich, womit haben wir verdient, dass wir im Unterschied zu anderen so viel Glück gehabt haben?« 92 93