Billig muss nicht böse sein
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Billig muss nicht böse sein
Diese Woche in der Wirtschaft WIRTSCHAFT W E LT A M S O N N TAG , 6 . M A I 2 01 2 Flexibler Italien kann die Kurve noch kriegen, sagt Renzo Rosso, der Erfinder der Jeans-Marke Diesel SEITE 27 Seite 32 Mobiler Das Geschäft mit Rollatoren boomt – auch dank immer neuer Extras Billig muss nicht böse sein Effizienter Aldi steht in der Kritik, weil der Discounter seine Mitarbeiter angeblich schlecht behandelt. Tatsächlich ist es wohl eher so, dass Aldi konsequent Leistung verlangt und auch belohnt. Und das ist etwas, was Verbraucher sogar begrüßen Skandale schaden Unternehmen erfahrungsgemäß nur dann, wenn sie vorhandene Vorurteile der Kunden zu bestätigen scheinen T CARSTEN DIERIG, STEFFEN FRÜNDT UND HAGEN SEIDEL tatements von Aldi sind üblicherweise vor allem eins: kurz. Egal, ob Journalisten nach Geschäftszahlen, Lebensmittelstandards oder Frühjahrstrends fragen: Stets bittet der Discounter kühl um Verständnis, dass man sich „aus grundsätzlichen Erwägungen zu strategischen und unternehmenspolitischen Fragestellungen nicht äußern möchte“. Deutschlands größter Discounter, so lautet die Botschaft zwischen den Zeilen, hat kein Interesse an irgendeiner Art von Presse. Ganz anders in dieser Woche. Statt der üblichen Standardformel schickt das Unternehmen plötzlich seitenlange Dementis in die Welt. Unbezahlte Mehrarbeit und heimliche Filmaufnahmen gehörten nicht zur Geschäftspolitik der Billigkette. „Im Unternehmen herrscht weder ein System von Einschüchterung, Kontrolle und Misstrauen, noch werden langjährige Mitarbeiter entlassen und durch günstigere ersetzt“, behauptet da eine Sprecherin von Aldi Süd. Sie wehrt sich gegen entsprechende Vorwürfe, die im „Spiegel“ und bei „Günther Jauch“ erhoben wurden. Die Kommunikationsoffensive lässt nur einen Schluss zu: Offenbar hat Aldi Angst, von seinen Kunden abgestraft zu werden. Experten glauben indes, dass der Lebensmitteldiscounter diese Sorge gar nicht zu haben bräuchte. Tatsächlich ist es dem Branchenführer bisher immer gelungen, in der knallharten Discounterlandschaft als der Gute dazustehen. „Das Image von Aldi ist in vielen Aspekten positiv“, sagt Mirko Warschun, Handelsexperte der Beratungsgesellschaft A.T. Kearney. Jedem Verbraucher sei heutzutage längst klar, dass in der Branche mit harten Bandagen gekämpft wird. Aldi gelte dabei aber als generell fair gegenüber Lieferanten und Mitarbeitern. Warschun rechnet nicht mit einem Kaufboykott: „Dafür müssten sich Verfehlungen schon über Jahre hinweg häufen.“ Dass es zu systematischen Verfehlungen gekommen ist, bestreitet Aldi energisch. Tatsächlich spricht die lange Betriebszugehörigkeit der Beschäftigten gegen eine Kultur der Angst. 40 Prozent der 32.000 Mitarbeiter seien bereits länger als zehn Jahre im Unternehmen, meldet Aldi. Vier von fünf, ergab eine von Aldi selbst in Auftrag gegebene Umfrage, würden den Discounter sogar ihren Freunden und Bekannten als Arbeitgeber empfehlen. Üblich seien solche Werte im deutschen Einzelhandel nicht gerade, heißt es dazu beim Handelsverband Deutschland. S Dabei verlangt der Discounter seiner Belegschaft unbestritten viel ab. Das zeigt der Besuch in einer beliebigen Filiale. Gerade noch saßen die wenigen Mitarbeiter an der Kasse, schon räumen sie Regale ein oder putzen. „Dieser DauerDienst gehört zum Geschäftsmodell“, sagt Björn Weber, Leiter der Deutschland-Niederlassung des Handelsforschungsunternehmens Planet Retail. Das System sei auf Produktivität und Effizienz getrimmt. Einer Untersuchung von Planet Retail zufolge sind Aldi-Kassiererinnen die schnellsten im deutschen Lebensmitteleinzelhandel. Für dieses Leistungsplus werden sie auch entsprechend bezahlt. Die Rede ist von bis zu 30 Prozent mehr Gehalt gegenüber vergleichbaren Positionen in anderen Handelsunternehmen. „Wer zu Aldi geht, weiß, was ihn erwartet“, sagt Experte Weber. Die Mitarbeiter wirkten nicht unglücklich, „da gibt es ganz andere Beispiele in der deutschen Handelslandschaft.“ Wenn es um Qualität geht, scheinen viele Kunden diese Sicht zu teilen. Aldi werde von Verbrauchern als eine Art „Verkaufsstelle der Stiftung Warentest“ wahrgenommen, argumentieren die Forscher des Kölner Rheingold-Instituts. DISCOUNTKÖNIG Hohes Niveau, nachlassende Dominanz Zusammen erzielten Aldi Nord und Aldi Süd 2011 in Deutschland dem Marktforschungsunternehmen Planet Retail zufolge einen Umsatz von fast 25 Milliarden Euro. Verfolger Lidl kam auf knapp 14 Milliarden Euro. Allerdings verliert Aldi langsam Boden. Seit 2006 ist der kombinierte Marktanteil im Discountgeschäft von 40 auf 37 Prozent gesunken. Lidl kommt inzwischen auf 25 Prozent. Die Marke Aldi ist den Marktforschern von Interbrand zufolge 3,2 Milliarden Dollar wert – mehr als jedes andere deutsche Einzelhandelsunternehmen: Die Verfolger Edeka, Lidl und Media Markt kommen jeweils auf einen Markenwert von 1,3 bis 1,4 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Der weltgrößte Einzelhändler, Wal-Mart, wird von Interbrand auf 139,2 Milliarden Dollar taxiert. Umsätze der größten Discounter in Deutschland, 2011 in Mrd. Euro Lidl 16,7 Aldi (Süd) 13,7 Netto 12,1 Aldi (Nord) 11,1 Penny 7,6 Norma Netto 2,5 1,6 QUELLE: PLANET RETAIL Dem Discounter werde ein hoher Qualitätsstandard, aber wenig Sex-Appeal attestiert. Ein Image, das in diesen Tagen helfen könnte, die Krise unbeschadet zu überstehen. „Schwer wiegende Skandale mit Umsatzeinbrüchen entstehen zumeist dann, wenn ein einzelner Vorfall für ein Image oder für ein latent vorhandenes Vorurteil zu stehen scheint. Dann sagen die Konsumenten: ‚Ich habe es ja gleich gewusst‘ – und bleiben der Kette zumindest für ein paar Wochen fern“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Mitgründer von Rheingold. Wenn der „Spiegel“ berichtet, dass Kundinnen in kurzen Röcken in hessischen Aldi-Filialen heimlich gefilmt und die Videos weitergegeben worden seien, dann wird dies nicht nur innerhalb der Branche eher als skurrile Entgleisung Einzelner wahrgenommen: „Aldi gilt als puritanisches, asketisches Unternehmen, nicht als sinnliches oder gar sexistisches. Deshalb wird das an Aldi abperlen“, sagt Grünewald. Das Unternehmen selbst schließt „ein Fehlverhalten Einzelner“ nicht aus. Sollten sich die Vorwürfe als wahr herausstellen, werde dagegen vorgegangen. Die Gewerkschaft Ver.di freilich hält Aldi nicht für den Besser-Discounter. Die Negativpresse treffe die Kette keinesfalls zu Unrecht, sagt Ulrich Dalibor, Einzelhandelsexperte von Ver.di. „Aldi hat es geschafft, sich nach außen hin ein positives Image aufzubauen. Doch nach innen wird enormer Druck auf die Mitarbeiter ausgeübt.“ Zwar zahle Aldi vergleichsweise gut. Dafür müsse das Personal aber unbezahlte Mehrarbeit leisten, und Urlaubs- und Krankheitstage würden falsch berechnet. Das weist der Discounter zurück. „Eine über die offizielle Arbeitszeit hinausgehende, nicht vergütete Mehrarbeit wird weder erwartet noch geduldet“, heißt es. Dies werde durch die Vorgesetzten streng kontrolliert. Auch hier steht letzlich Aussage gegen Aussage. Dass sich Kunden aufgrund der Vorwürfe abwenden könnten, glaubt Dalibor dennoch nicht. „Verbraucher haben ein kurzes Gedächtnis. Wenn überhaupt, stellen sie ihr Einkaufsverhalten in der Regel nur für einen begrenzten Zeitraum um.“ Das zeigt auch das Beispiel Lidl. Der Aldi-Konkurrent stand vor vier Jahren ebenfalls nach Skandalen beim Umgang mit Mitarbeitern am Pranger. Die anfangs große Empörung hat sich dann allerdings schnell gelegt. Umsatzeinbußen gab es lediglich über einen Zeitraum von wenigen Wochen, stellte Planet Retail später fest. Auf Jahressicht waren keine Auswirkungen zu erkennen. „Für die meisten Verbraucher in Deutschland ist das Verhältnis von Preis zu Warenqualität entscheidend und sonst nichts“, erklärt Konsumforscher Weber. Genau das beklagt Gewerkschafter Dalibor. Kaum einer mache sich Gedanken über die Situation des Personals. „Bio-Lebensmittel und Fair-Trade-Produkte boomen. Doch während skandalöse Produktionsbedingungen in Bangladesch für einen großen Aufschrei sorgen, kümmern die Arbeitsbedingungen im + deutschen Einzelhandel kaum jemanden.“ So gesehen könnte sich der Discounter seinen Kurswechsel in der Öffentlichkeitsarbeit auch sparen. Dennoch lobt Grünewald Aldis Krisen-PR – VW, ROLAND MAGUNIA Mit Aldi-Tüte am Times Square in New York: Die Albrechts haben das Discountprinzip auch exportiert CHARLY KURZ/LAIF Seite 33 auch im Vergleich zur Konkurrenz. „Schlecker hat geschwiegen und beging damit den größten möglichen Fehler.“ Die Folgen sind bekannt. Für SPD-Politikerin Andrea Nahles beginnt der Feierabend im Supermarkt. Ein Gespräch über Stress Seite 38 Schlecker versus Verdi: S. 28 ANZEIGE