Marlene Schachinger: Unzeit Am 10. 3. 2016 um 18.00 Uhr hatten

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Marlene Schachinger: Unzeit Am 10. 3. 2016 um 18.00 Uhr hatten
Marlene Schachinger: Unzeit
Am 10. 3. 2016 um 18.00 Uhr hatten die Besucher des Österreichischen
Kulturforums Bratislava eine seltsame Gelegenheit einen wertvollen Abend
zusammen zu verbringen, weil wir unter uns die Autorin Marlen Schachinger
begrüßen dürften, die ihr Werk Unzeit (Otto Müller Vrelag 2016), frisch
gedruckt, noch warm, hier zum ersten mal vorstellte.
Es ist kein leichtes Buch zum Lesen, doch fasszinierned aus der künstlerischen
sowie aus der literaturwissenschaftlichen Sicht.
Die Struktur jeder von elf Geschichten beginnt in medias res und aus der
literarischen Situation hier und da, d. h. aus der Präsenz, entwickelt sich die
Geschichte in Retrospektiven, oder aber auch in die Zukunft.
Die
Retrospektiven sind im Text mit Ähnlichkeiten aus der Vergangenheit bedingt,
oder sie sind `transparent´ in dem man an sie direkt hinweist mit dem wort
`Zurück` und das Sujet läuft nachher in einer anderen Zeitdimension. Die
Vergangenheit wird erläutert, es wird nach der Genese verschiedener Motive
gesucht und die Zukunft wird begründet. Diese anspruchsvolle Komposition hält
den Leser im Wachen.
Die Unzeit lässt sich also in der Struktur als kompositorischer Grundstein
beweisen. Was diese Dimension der Unbestimmtheit der Zeit unterstützt, ist die
minuziöse Charakteristik von Details, die in der Schilderung der einzelnen
Zeiten – Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft – derselben Intensität ist. In der
Unzeit fehlt dann ganz und gar die klassische Chronologie des Inhalts, der Leser
wird durch die ganze Lesezeit wach gehalten, weil zwischen dem gelegentlichen
Chaos sind gerade die wichtigsten Informationen in einem Satz, einem Wort,
einer erläuternden Bedeutung. Außer der auf diese Weise gebauten Struktur, die
durch die sog. moderne/postmoderner Form die nötige Spannung im Leser
entwickelt, kommt die Spannung auch noch aus dem Geheimnis, das wesentlich
zu einer guten Qualität des künstlerischen Werkes beiträgt. Zum Dritten kommt
die Spannung in dem Band Unzeit aus dem Fokusieren der Lebensproblematik
in den Geschichten (und zwar in allen Zeiten) auf Schwerpunkte, die die
moderne Zeit im Kern betreffen. Es sind: Mehrschichtigkeit der Beziehungen,
Mehrdeutigkeit, das Leben an der Grenze oder im Grenzgebiet, heute so aktuelle
Migration, Emigration usw.
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Diese Themenkomponente werden außer Phantasiezüge des Textes von den
Fakten der realen Geschichte unterstützt (eine weitere Spannung der
Komposition und Struktur der Geschichten). Das Poetische des Textes wird
hier auch visuell unterstrichen durch Zahlen und den bestimmten Wörtern und
Notizen mit genauen Angaben im Anhang des Buches, die aus verschiedenen
Quellen stammen und die Faktizität der Erzählungen betönen. Dazu gehören
auch Passagen aus Weltliteratur (Anspielungen an Tolstoj, Gogol usw.). Im
Anhang befindet sich auch Dank für einige, von denen die Autorin ihre
Inspriration schöpfte.
Die Erzählungen sind also Mosaik aus pregnant geäußerten und poetisch
komponierten Einheiten. Oft assoziative Ströme der Gedanken, mit Refrain und
oft mit genauen Zahlen, deren Wiederholung, die die Realität stützen. Deshalb
verzichten wir an Inhalte. Wichtig ist hier die Sprache – ein selbstständiger Teil
der Komposition. Doch wir gliedern sie schon in die Analyse ein, weil gerade
die Sprache ein äußeres und stark auch inneres Zeichen der verschiedenen schon
genannten Haupt – und Grundmotive des Buches ist. Man ist der Identität nach
mehrsprachig. Man spricht deutsch, englisch, französisch, spanisch, oder sog.
`dritte Sprache`– gemischte wegen dem Partner. Diese ist oft am Anfang
spontan verständlich, nachher erzeugt sie aber oft Missverständnisse...
`Drittsprachen lagern zu weit vom Herzen` (s. 84)`. Oder: `...denn was zu sagen
gewesen wäre, wurde nicht gesprochen, nicht gehört.` (s. 86)
Die Szene der einzelnen Erzählungen ist sozusagen die ganze Welt, wie wir sie
aus eigener Erfahrung aus Topographie einzelner Gebiete identiffizieren können
(Grenzgebiete Österreich – Tschechoslovakei, kleine Städte im Süden der
Tschechischen Republik, Paris, Venedig, Oslo, Europa allgemein usw.), oder
aber Staaten und Orte an denen wir uns nie befanden, oder nicht jeder von uns,
oder nur selten (Kuba, Havana, Rumänien, hier „Osten nach Osten“ genannt,
Mexiko, New York, usw.).
Es gibt in diesen Erzählungen unheimlich viel Liebe oder Sehensucht nach ihr,
nach einem Zusammensein. Oft ist es virtuelle Liebe durch Internet, Chatt, mit
seltenen, zeitlich begräntzten Treffen. Es gibt tabuisierte Themen, wie z. B.
lesbische Beziehung, die man auf folgende Weise komentiert: `Man verliebt sich
in den Menschen, nicht in das Geschlecht.` In den Texten kann man mehrere
Grundmotive feststellen: unter anderem Tod bzw. das Sterben; Mauer bzw. die
Grenze, eiserner Vorhang, Gedächtnis, Genderproblematik...
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Die alte Welt ist weg, immer wieder kommt die Vorstellung des Hauses
irgendwo, des Hauses `das dich umarmt, wenn du zurück kommst.`(s. 100)
Ohne Zuhause leidet man unter Angst, Beägstigungen, Unruhe und Zweifel, von
Schlaflosigkeit als Syptom begleitet.
Das Sterben ist durch das ganze Buch zerstreut, vom Sterbebett der
Urgrossmutter Theresia – eigentlich ihre Erinnerungen während des Erwartens
auf den Tod, der jeden Tag kommen muss – diese bauen und bilden die ganze
Retrospektive, weiter durch die Geschichten, in denen die Liebe ständig zu ende
geht und stirbt, bis zum Sterben als Verrücktwerden – in einem absurden Bild,
das an Kafkas Umwandlung erinnert: nämlich es handelt sich um Umwandlung
einer Frau in ein Staubkern, das die Putzfrau in einem Hotelzimmer aussaugt. Im
Vergleich zu Kafka, zu dem makabren Dialog der ganzen Familie über dem Bett
des betroffenen Sohnes, der als Insekt eines Morgens erwäckt, ist bei
Schachinger die innere Siuation der Frau, der Grund ihres Zustandes, die sie
zum Verrücktwerden bringt, genau geschildert. Es ist Verlassenheit und Leere,
die sie nicht mehr verkraftet, nachher die Zuflucht in die Kindheit und zu
Nichts...
Zum Zustand der Frauen in den Erzählungen kommt noch die Herrkunft dazu,
eine der gefärhlichsten, die es im grausamen 20. Jahrhundert gab: nämlich die
jüdische Herkunft. Diese Schicksaale pertraktiert Marlen Schachinger an den
ausgeprägten Beispielen aus der wissenschaftlichen Geschichte, z. B. die
Physikerin Mariette Blau, die Emigrantin und nach dem Krieg in ihrer Heimat
wieder nur die Ungewünschte, weil man die Resultate ihrer Forschung
inzwischen geklaut hat. Es waren gerade die politischen Heuchler und
Verbrecher, eigentlich ihre Kollegen, die man nachher entschuldigt hat... Nach
dem Rückkehr in die ersehnte Heimat, kann und will Mariette nicht mehr
leben...
Die Emigration in mehreren Modalitäten heißt Tod. Mauer heißt Begrenzung
und Tod, obwohl das Bild des Mauers – von einer Seite ständig von Theresia
zerstört und von den Papierchen mit Wünschen gefüllt, ist ein berührendes Bild
und Anspielung an die heiligste Stelle der Juden – Klagemauer. (Die
zweitwichtigste heilige Stelle ist die Gruft von Chatam Sofer in Bratislava).
Das Kenntnis der mehreren Sprachen heißt auf einer Seite grosse Freiheit der
Bewegung, Möglichkeit der Verständigung in allgemeinen Sachen, sowie im
Anfangsstadium der Liebe zwischen zwei Fremden. Da erinnern wir uns an den
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grossen Europäer aus Kaschau Sandor Márai, der gesagt hat, „in den intimsten
Momenten sprechen wir am liebsten die Muttersprache“ und endete in
Deutschland im Kreis der ungarischen Boheme... Dann aber, in allen nächsten
Stadien der Liebe, wo auch Muttersprache versagt und die Wörter täuschen nur,
da nützt auch die sog. „dritte Sprache“ nichts.
Die Liebe, besser gesagt die Sehensucht nach ihr zieht sich durch das ganze
Buch hindurch. Liebe eines Paares, Liebe zur Heimat oder einer Stadt (sei es
Wien) oder Havana, an die ein Scriftsteller – Exulant einen langen Liebesbrief
schreibt und dann hastig, erinnernd an Stefan Zweigs Amoklaufer, den ruhigen
Exil- Ort Paris verläst, um in Havana festzustellen, dass er für diese Stadt (d.h.
seine Kultur, vertretten von seinem Politik und Kariere - strebenden Kollegen)
gar nichts bedeutet und läßt die Liebe in den Papierblättern vom Balkon mit dem
Wind verwähen.
So poetisch und skeptisch enden fasst alle Beziehungen, man glaubt kaum an
etwas... Man sucht nach dem Zuhause, es könnte z. B. auch die gegenseitige
Akzeptanz das Zuhause sein, oder das gegenseitige sich auf sich Verlassen zu
können, gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Vergangenheit und auf diese
Weise auch gemeinsame Zukunft.
Mária Bátorová
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