Städtische Automobilität im Wandel / Urban - H-Soz-Kult

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Städtische Automobilität im Wandel / Urban - H-Soz-Kult
Städtische Automobilität im Wandel / Urban automobility in transition
Städtische Automobilität im Wandel /
Urban automobility in transition
Veranstalter: Christoph Bernhardt, Historische Forschungsstelle, Leibniz-Institut für
Regionalentwicklung und Strukturplanung
(IRS) Erkner; Simon Gunn, Center for Urban
History (CUH), University of Leicester
Datum, Ort: 16.09.2015–18.09.2015, Berlin
Bericht von: Lisa Kreft, Historische Forschungsstelle, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS)
Der automobile Verkehr in den Städten bestimmte im 20. Jahrhundert ganz wesentlich die Muster der Urbanisierung, Lebensund Arbeitsformen sowie die Ausbildung
der Siedlungsstrukturen. Die raumkulturellen
Auswirkungen dieser Entwicklung diskutierten Fachleute verschiedener Disziplinen aus
Europa und den USA in einem vom LeibnizInstitut für Raumbezogene Sozialforschung
(IRS) zusammen mit dem Centre for Urban
History der Universität Leicester (GB) durchgeführten Symposium „Städtische Automobilität im Wandel / Urban automobility in
transition“, das die Volkswagen-Stiftung förderte. Stadt- und Planungshistoriker, Geographen, Verkehrswissenschaftlern, Städtebauer
und Ingenieurswissenschaftler führten in Berlin über zwei Tage hinweg eine technik- und
kulturhistorische Debatte über das Phänomen „Automobilität“ und seine Auswirkungen auf die bauliche und sozialräumlichen
Strukturen der Städte in Europa, Nordamerika und Asien.
CHRISTOPH BERNHARDT (Erkner) und
SIMON GUNN (Leicester) führten in die Fragestellungen der zweitägigen Konferenz ein,
die in sechs Sektionen mit Vorträgen und
Kommentaren von etablierten Forschern und
Nachwuchswissenschaftlern gegliedert war.
Im Fokus standen unter anderem die verschiedenen Perspektiven auf die ‚autogerechte Stadt‘ in der DDR und der Bundesrepublik als auch die internationalen Ansätze
der Verkehrsplanung und deren Einflüsse auf
den Städtebau. Wie zirkulierte Fachwissen
zum Verkehrsmanagement und stadtbezogenes Wissen auf transnationaler Ebene und
welche Debatten führte die städtische Gesellschaft zu Automobilität und Verkehrspla-
nung? Diesen und verwandten Fragestellungen widmeten sich abschließend auch Zeitzeugen aus West- und Ostdeutschland in einer Podiumsdiskussion.
Das System Automobilität selbst befindet
sich im Umbruch und mit ihm werden sich
auch die städtischen Lebensformen in den
nächsten Jahren erheblich ändern. Diesem
Thema widmete sich zum Auftakt in einem
öffentlichen Abendvortrag ANDREAS KNIE
(Berlin) mit einen Impulsvortrag zur Mobilität der Zukunft unter den Aspekten des
technologischen Wandels, von Umweltfragen, der demographischen Entwicklung und
den vielfältigen Auswirkungen auf den städtischen Raum. Am folgenden Morgen eröffnete BRIAN LADD (Albany) das Symposium mit einer Keynote zur „Amerikanisierung
der europäischen Verkehrsplanung? Transfer
und Rezeption der amerikanischen Expertise“. Er zeigte Verflechtungen durch internationale Konferenzen sowie Institutionen auf,
die am transnationalen Wissensaustausch seit
Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligt waren. Ladd arbeitete heraus, wie sich die Verkehrswissenschaft als eigenständiges Fachgebiet mit exklusivem technischen Expertenwissen etablierte, das Bewegungsströme und Unfallzonen analysierte und zum Teil rein nach
funktionsbezogenen Faktoren in den Städtebau eingriff. Aber die sogenannte Amerikanisierung des Verkehrs, so Ladd, wurde
selbst in den USA nicht ungehindert umgesetzt, vielmehr ließ die Planungseuphorie gerade beim Symbol der automobilen Freiheit
– dem Freeway – bereits Anfang der 1960erJahre nach. Die Übertragbarkeit der Verkehrsplanung auf die europäischen Städte war nur
bedingt möglich und gewollt, denn dem amerikanischen Planungsvorbild von „Abriss und
Neubau“ stand häufig eine historische Stadt
im Wege, die in die Planung integriert wurde,
auch wenn die Ergebnisse von Stadt zu Stadt
stark variierten.
Die erste Sektion „Automobilität zwischen
Stadtplanung und Verkehrsplanung“ eröffnete CHRISTOPHER KOPPER (Bielefeld) mit
seinem Vortrag zur Stadt- und Verkehrsplanung in der BRD zwischen 1950 und 1960.
Er verneinte die These von der „Los Angelization“ deutsche Städte und Stadtlandschaften nach dem Krieg. Am Fall der Reichow-
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Planung für Wolfsburg und Sennestadt (Bielefeld) als Beispiel für die Planung einer aufgelockerten „organischen“ Stadtlandschaft zeigte Kopper, dass vorhandene historische Schichten einer Stadt und auch gemischte Stadtzentren ein wichtiger Bestandteil der Verkehrs-und Stadtplanung waren.
PER LUNDINs (Göteborg) Vortrag zur Rolle der Sicherheitsnormierung in der Verkehrsplanung untersuchte die Umsetzung der ‚autogerechten Stadt‘-Planung in Schweden nach
dem Zweiten Weltkrieg. Durch die erhöhte Unfallzahl im Zuge der Massenmobilisierung in den 1950er-Jahren, die zunächst
dem menschlichen Versagen zugeschrieben
wurde, kam es zur Einführung von neuen Sicherheitsstandards und der Propagierung einer sicherheitsbewussten Automobilitätsgesellschaft. Die Verkehrssicherheit wurde in die schwedische Planungskultur integriert und gesellschaftlich verortet. Die positive Besetzung des sicheren Verkehrs wirkte
sich auch auf die Stadtplanung im Sinne der
‚autogerechten Stadt‘ in Schweden aus.
In der zweiten Sektion „Mobilitätsplanung
für die Städte“ untersuchte RICHARD HARRISON (Leicester) die rasante Entwicklung
des Individualverkehrs und der Entwicklung der Autokultur in den 1960er- und
1970er-Jahren in Großbritannien am Beispiel
der Städte Leicester und Milton Keynes
und deren Lösungsansätze zur Bewältigung
des Verkehrsaufkommens unter Berücksichtigung der Umweltbelastung der Städte. Der
Vortrag von MATHIEU FLONNEAU (Paris)
gab einen Einblick in den Wandel historischer Stadträume in Paris im Zeichen der
automobilen Stadtgesellschaft zwischen 1895
und 2015. Er zeigte, wie das Paris der Moderne sich nicht nur auf den städtischen Verkehr einstellte, sondern zum Pionier einer
verkehrsgerechten Stadtplanung wurde. Die
Politik machte es sich zur Aufgabe, Paris als
eine moderne mobile Hauptstadt zu inszenieren und innerstädtische Arbeitsplätze in der
Automobilindustrie zu schaffen.
ACHIM SAUPE (Potsdam) eröffnete die
dritte Sektion zur „Automobilität zwischen
Sicherheit und Risiko“ mit seinem Vortrag
„Sicherheit, Freiheit und Autonomie im Diskurs der Verkehrssicherheit“ am Beispiel der
USA und der BRD zwischen 1960 und 1990.
Der Diskurs über Sicherheit im Straßenverkehr wurde durch Vorstellungen über individuelle Freiheit und Regulierungen der Verkehrssicherheit geführt und in dieser Zeit
in erster Linie durch technische Fragen sowie durch „Erziehungsmaßnahmen zur Fahrsicherheit“ in den Medien dominiert. GORDON PIRIE (Kapstadt) gab mit seinem Vortrag einen Einblick in die Kategorien des
Begriffs „Risiko“ und der bewussten Konfrontation mit dem Gefährdungspotential der
Geschwindigkeit aus sozialwissenschaftlicher
Perspektive.
Die vierte Sektion „Neue Formen der
Mobilität“ untersuchte neue Formen des
Car-Sharing- und Communitygedankens, die
LUIDGER DIENEL (Berlin) vorstellte. Er zeigte, dass in Ländern wie der Türkei oder
Russland die Idee von gemeinschaftlich genutzten Transportmitteln seit langem überaus präsent ist, wie das Beispiel der Sammeltaxen zeigte. Dieses Konzept setze sich
heute auch in Deutschland – zu beobachten an Beispielen wie „Uber“– in den Städten durch. ANNIKA LEVELS (Erkner) diskutierte im Vergleich der Städte Berlin und
New York den Umgang mit den Herausforderungen des wachsenden Fahrradverkehrs
und der vergleichsweise längeren „Tradition“
der Einflussnahme auf die städtische Fahrradinfrastruktur von Seiten der Kommunalpolitik in vielen Ländern Europas. Vergleichbar sind derzeit (trotz unterschiedlicher Ausgangslage) stadtgesellschaftliche Tendenzen,
welche dem Rad als Verkehrsmittel mehr
Platz einräumen, wie man etwa an den „Critical Mass“-Demonstrationen in beiden Städten
beobachten könne.
Die fünfte Sektion mit dem Schwerpunkt
„Autostädte zwischen Boom und Krise“ eröffnete HARALD ENGLER (Erkner) mit einem
Vergleich der Autostädte in der DDR und
der Bundesrepublik im 20. Jahrhundert. Er
zeigte die starke gegenseitige Abhängigkeit
von Werk und Stadt sowie die Einflussnahme
der großen Firmen sowohl auf die räumliche
und demografische Konfiguration der Stadt
und die Stadtverwaltung als auch auf die
besondere Identitäts- und Imagebildung an
den Beispielen Wolfsburg, Rüsselsheim und
Eisenach. SUSAN C. TOWNSEND (Nottingham) analysierte am Beispiel der Stadt Nago-
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Städtische Automobilität im Wandel / Urban automobility in transition
ya die Transformation einer Autostadt in Japan in der Nachkriegszeit, die durch das Unternehmen Toyota geprägt wurde. Hier wurden zwar Visionen der modernen Stadt nach
amerikanischem Vorbild mit einen umfassenden städtischen Straßensystem verwirklicht,
doch stand diesem Konzept ab den 1970erJahren wie auch in europäischen Städten eine zunehmend kritische Stadtgesellschaft entgegen. MARIUSZ JASTRZAB (Warschau) gab
einen Einblick in die Massenmotorisierung
Polens in den 1970er-Jahren und die mediale
– bewusst technikfreundliche und stark westlich orientierte – Inszenierung der polnischen
Autoproduktion anlässlich der 25-Jahrfeier
der Automobilfabrik ‚Fabryka Samochodów
Osobowych’ in Warschau, die das polnische
Modell des Fiat produzierte, im Jahr 1976.
In der sechsten Sektion „Stadtplanung und
Mobilität im Sozialismus“ veranschaulichte
GYÖRGY PÉTERI (Trondheim) am Beispiel
eines ungarischen Films über Verkehrserziehung und sparsamen Benzinverbrauch, den
Umgang mit der Massenmotorisierung in Ungarn nach 1956. Er hob das Spannungsverhältnis zwischen der Ideologie der sozialistischen Gesellschaft und den gelebten modernen Alltag – einer sich mehr und mehr durchsetzenden Konsumgesellschaft – in Ungarn
hervor. Der Traum vom ungehindert fließenden Verkehr in den Städten der UdSSR und
der DDR in den 1960er-Jahren war Thema
des Vortrags von ELKE BEYER (Erkner). International geprägte städtebauliche Leitbilder
und deren Reflexionen zirkulierten auch in
den sozialistischen Ländern, auch hier kam
es trotz geringerer Motorisierung der Bevölkerung zum Bau großer Verkehrsinfrastrukturen als Zeichen des Fortschritts.
Im anschließenden Zeitzeugengespräch mit
den ost- und westdeutschen Regional- und
Verkehrsplanern Friedemann Kunst (Berlin),
Ludwig Krause (Berlin), Axel Priebs (Hannover) und Hermann H. Saitz (Erfurt) wurden
Erfahrungen der Stadt-und Verkehrsplanung
aus den Städten Berlin, Erfurt und Hannover in den 1960er- und 1970er-Jahren reflektiert. Die Diskussion drehte sich unter anderem um Fragen der Eigenständigkeit der Verkehrsplanung als Fachdisziplin innerhalb der
Stadtplanung, die Dominanz des Autoverkehrs innerhalb der Verkehrsplanung sowie
das Selbstverständnis der Verkehrsplaner. So
gab es auf beiden Seiten übergeordnete Leitbilder, die ihren gemeinsamen Ursprung in
den 1920er-Jahren hatten. Jedoch war das vordergründige Ziel der Verkehrsplaner in der
DDR nicht, den Stadtverkehr für die Autofahrer möglichst komfortabel und fließend umzusetzen, sondern die drängenden Transportprobleme zu lösen. Auch die Abkehr von den
herrschenden Leitbildern in Ost und West erfolgte auf verschiedenen Wegen.
Konferenzübersicht:
Public lecture
Andreas Knie (Berlin): Automobility in transition – long-term trends and current challenges
Introduction
Christoph Bernhardt (Erkner) /Simon Gunn
(Leicester)
Keynote
Brian Ladd (Albany): The Americanization of
european traffic planning? The transfer and
reception of American expertise
Section I: Automobility in Western Europe:
between town planning and planning for
transport
Christopher Kopper (Bielefeld): Why the „Los
Angelization“ of German cities did not happen. The German perception of U.S. traffic
planning and the preservation of the German
city
Per Lundin (Göteborg): The role of traffic safety guidelines in city planning: SCAFT68 and
the making of the car-friendly city in post-war
Sweden
Section II: Making West European cities mobile
Mathieu Flonneau (Paris): From taylorization
to Disneylandisation: historical urban spaces
in transition. Parisian car civilization in long
term perspective (1895-2015)
Richard Harrison (Leicester): Town planners,
traffic and the urban environment in 1960s
Britain: the cases of Leicester and Milton
Keynes
Section III: Automobility between risk and security
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Achim Saupe (Potsdam): Security, freedom
and autonomy in the discourse of automobile and road traffic safety (United States and
West Germany 1960-1990)
Gordon Pirie (Cape Town): Roads and risk:
engineering public assets in history
Section IV: New forms of mobility
Liudger Dienel (Berlin): Shared taxis and new
community transport systems in Eastern Europe and in Germany in the 20th and 21st
Century
Annika Levels (Erkner): The politicization of
urban cycling. Rethinking streets in 21st century New York and Berlin
Section V: Car cities between boom and crisis
Harald Engler (Erkner): Autostädte in Ost
und West im späten 20. Jahrhundert
Susan C. Townsend (Nottingham): Nagoya.
The making of Japan’s Motor City
Mariusz Jastrzab
˛ (Warschau): The Festival of
Socialist Consumerism. 25th Anniversary of
the Passenger Cars‘ Factory in Warsaw
Section VI: Town planning and mobility under socialism
György Péteri (Trondheim): Soft Power Within - Comments On State Socialism and Modern Mobility – using the Example of Hungary
Elke Beyer (Erkner): Freie Fahrt in die sozialistische Stadt. Automobilität und Städtebau
in der UdSSR und der DDR in den 1960er Jahren
Round Table with contemporary witnesses
Milestones of car oriented town planning in
East and West Germany
Friedemann Kunst (Berlin)
Ludwig Krause (Berlin)
Axel Priebs (Hannover)
Hermann H. Saitz (Erfurt)
Moderation: Harald Engler (Erkner)
Tagungsbericht Städtische Automobilität im
Wandel / Urban automobility in transition.
16.09.2015–18.09.2015, Berlin, in: H-Soz-Kult
01.04.2016.
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