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La Ferrassie und die Vorbedingungen zur Entstehung figürlicher
Darstellung
Thesen zur Klassifizierung und Entstehung von Paläokunst
Eine Betrachtung von Lutz Fiedler und Christian Humburg
Inhalt:
1. Kunst und Stil im anthropologischen Verständnis
2. Darstellung von Kultur im Paläolithikum
3. Eine neue Deutung der Moustérien-Befunde von La Ferrassie
4. Die nonreale Wirklichkeit figürlicher Darstellung
5. Abstract
6. Résumé
7. Literatur
1. Kunst und Stil im anthropologischen Verständnis
In den letzten Jahrzehnten wurden von amerikanischen und englischen
Wissenschaftlern zahlreiche dogmatische Artikel über mittelpaläolithische
Menschen, insbesondere den Neandertaler veröffentlicht. In vielen dieser Arbeiten
wurde betont, dass diese Hominiden noch keine richtigen Menschen waren. Erst mit
dem Cro-Magnon-Typus sei Kultur, also symbolisches Denken, Sprache, Religion
und Kunst in die Welt gekommen. Die Engstirnigkeit derartiger Behauptungen zeigte
sich vor allem in einem völlig unreflektierten Kulturbegriff und erstaunlichem
Unverständnis der in den überlieferten lithischen Repertoires offenbar werdenden
techno-sozialen Konzeptionen. Neuere Arbeiten über die kulturellen Leistungen der
Neandertaler verdrängen gegenwärtig die schrillen Äußerungen über den
geistlosen, steinebenutzenden Aasfresser. Da in dieser Debatte immer wieder der
Begriff der Kunst strapaziert wird ohne dabei ein grundsätzliches, Kultur
konstituierendes Darstellungsvermögen einzubeziehen, werden der neuen
Interpretation der alten Befunde von La Ferrassie zunächst Definitionen von
kulturellem Selbstverständnis, Stil und Kunst vorangestellt.
Kunst im anthropologischen Sinn ist nicht alleine das, was in unserer eigenen
kulturellen Prägung oder in irgendeinem anderen kulturellen Selbstverständnis als
"eigentliche" Kunst gewertet und innerhalb des jeweiligen Existenzmilieus als etwas
Besonderes verstanden wird. Kunst ist im Sinne E. Cassirers eine
Kommunikationsform, eine symbolische Form, verzahnt mit Sprache, Mythos und
Technik, durch die der Mensch sich selbst und seine Welt wahrnimmt und versteht
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(Cassirer 1944). Damit tritt der Begriff Kunst aus seiner gewohnten Klassifizierung
als etwas Nicht-utilitäres und Abgehobenes heraus (Fiedler und Greve 1998). In
diesem Verständnis hat Kunst vor allem mit Gesellschaft, Kommunikation, Identität
und Formgebung zu tun. Europäisch-westliche Vorstellungen, die damit
individuellen Ausdruck, Freiheit und Kreativität verbinden, müssen in einer
wissenschaftlich-anthropologischen Definition in den Hintergrund treten.
Abb.1
Kunst als Form vielschichtiger Orientierung, des Selbstverständnisses und der
Anordnung zum Handeln schließt nicht allein alle sogenannten Kunstarten wie
Musik, Literatur, Schauspiel, Architektur, Plastik, Malerei usw. ein, sondern umfasst
gleichwertig - um Beispiele der eigenen westlichen Zivilisation zu nennen - Kitsch,
Reklame, technisches Design, Speisezubereitung, Umgangsformen, Mode,
Schlager, Volkskunst, Comics, Kosmetik, Frisuren, Schmuck, Verpackung usw. Alle
"Sachen" einer Kultur haben ihren besonderen, mehr oder weniger zeitabhängigen,
wandelbaren Stil sowie diesem untergeordnet eine Unzahl von individuellen Dingen
mit "Erkennbarkeit". Die kultur- und epochenabhängige "Erkennbarkeit" wird erlernt
und schließt ein, den Sinn der Sachen und das Wissen um ihre
Nutzungsmöglichkeiten unmittelbar zu verstehen. Das bedeutet, dass kulturelle
Umwelt insgesamt gestaltet ist und dass auch die Gestaltung des nur Nützlichen,
Technischen und Banalen weitgehend einem Stil unterliegt, der keineswegs nonutilitär ist, sondern das Verständnis der "Sachen" sowie ihren Gebrauch und Wert
vermittelt.
Gerade die Archäologie zeigt, dass Fundobjekte einer jeweiligen "Epoche" einen
bestimmten Stil haben, in zeit- und kulturspezifischer Weise gestaltet worden sind,
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also bestimmten Denkweisen, Kommunikationsmustern und Orientierungssystemen
unterlagen. Entscheidend ist dabei, dass das Nützliche mit seiner bestimmten
Funktion auch stets mit variabler stilistischer Form verbunden ist.
Abb. 2
So kann ein Messer beispielsweise spitz sein, ein schräg abgeschnittenes Ende
haben, zungenförmig gestaltet sein oder wie ein Eskimo- oder Inka-Messer
halbmondförmig aussehen sowie darüber hinaus die unterschiedlichst gearbeiteten
(auch verzierten) Griffformen besitzen - in jeder Form kann es ein kulturspezifisches
"Küchenmesser" sein. Ein kulturspezifisches Küchenmesser wird jedem Mitglied der
entsprechenden Gesellschaft in seiner Gestalt und seinem Nutzen vertraut sein; es
ist selbstverständlich und verleiht dadurch, wie alle Kulturgüter, soziale und
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persönliche Identität (Fiedler 1998 u. 2002 c). Was für das beispielsweise gewählte
Messer gilt, trifft ebenso auf Bekleidungsstücke, Küchengerichte, Lieder, Häuser,
Tempel, Masken, Statuetten, Ikonen usw. zu.
Abb.3
2. Darstellung von Kultur im Paläolithikum
Die Sorgfalt der Formgebung von "Sachen" steht mit der Bedeutung oder dem Wert
in Zusammenhang, den die Gemeinschaft oder das Individuum ihnen jeweils
beimisst. Umso höher die Wertschätzung ausfällt, desto mehr wird die Gestaltung
kultiviert. Umgekehrt vermittelt der formale gestalterische Aufwand von Sachen
deren Bedeutung und Ansehen.
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Hier liegt offensichtlich die anthropologische Ursache für die "schöne" Form, für
Dekor und Farbgebung. Sowohl die Gesellschaft kann eine "Sache" durch
sorgsame, aufwendige Gestaltung auszeichnen als auch ein Individuum sich selbst
in seiner Gemeinschaft durch herausragende "Sachen" hervortun. Diese Erkenntnis
steht im Widerspruch zu Randall Whites Hypothese, nach der er frühe
Schmuckobjekte aus dem Beginn des Jungpaläolithikums als Rangzeichen deutet
(White 1989). Sie wären es nur, wenn sicher ist, dass sie von der Gemeinschaft
verliehen wurden; sie wären es nicht, wenn sie persönlichen Wünschen nach
Ansehnlichkeit gedient hätten, egal ob der Schmuck nur als verschönernd
verstanden wurde oder ihm auch magische oder heraldische Funktionen
beigemessen wurden. Keineswegs deuten sich mit diesen Fundgegenständen erste
gesellschaftliche Differenzierungen an, denn die ethologische Forschung an
Primaten zeigt, dass das Sichselbst-Hervortun auch im Tierreich verwurzelt ist.
Bekannt sind Schimpansenmänner, die sich mit Ästen oder anderen Gegenständen
zum Imponieren ausstatten (Lawick-Goodall 1975). Unabhängig vom Gedanken an
die gesellschaftliche Nützlichkeit des Auffallenden oder Schönen, bezeugen sowohl
frühe Schmuckfundstücke (Bednarik 2003) als auch einige funktional und ästhetisch
hervorragend gearbeitete Stein- und Holzartefakte des älteren Paläolithikums, dass
schon der Homo erectus alle mentalen und handwerklichen Voraussetzungen
besaß, Kunst zu schaffen.
Abb. 4
Dingliche Artefakte sind realisierte Symbole (Fiedler 2002 c). Sowohl die (in den
Köpfen) abstrakten, als auch die konkreten (dinglichen) Symbole sind nur in einem
Kommunikationssystem zu verstehen und sie besitzen darin eine allgemeine,
verbindliche Akzeptanz. Sie geben der Gesellschaft und ihren Individuen Identität,
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Weltverständnis und Orientierung. Jede allgemeine kulturelle Tradition ist ein
symbolisches System, das von den Mitgliedern einer Gemeinschaft durch
praktischen Umgang und Sprache erlernt wird sowie im Denken, Sprechen,
Verstehen und Handeln fortwährend realisiert und dargestellt wird.
Die Verbalsprache, ihre Begriffe und Grammatik, sind ebenso symbolisch wie die
dingliche Kultur. Sie steht dazu in einem selbstähnlichen Verhältnis, denn Wörter
können mit Geräten verglichen werden, die alle jeweils bestimmten Zwecken und
Zusammenhängen dienen (Wittgenstein 1984). Symbole haben eine Doppelnatur:
sie bestehen in Gedanken abstrakt und sie sind in "Sachen", also in Zeichen,
Objekten, Organisationsmustern, Sprache und Handlungen realisierbar.
Es ist das Eigentümliche eines symbolischen Systems, dass es sich selbst stets
weiter zu symbolisieren vermag. Auch Abstrakta, Symbole, sind in weiteren
Symbolen, also Zeichen oder Wörtern symbolisierbar (wie z.B. der Begriff Symbol
selbst ein Symbol ist). Das führte schon im Paläolithikum dazu, dass "abstrakte"
graphische Zeichen sehr früh auftraten. Es bleibt allerdings die Frage, ob solche
Muster, wie beispielsweise die gleichmäßigen Strichbündel von Bilzingsleben
(Mania 1990) oder von La Ferrassie (Grab1), sogenannte abstrahierte Zeichen sind,
oder ob sie gleichsam unmittelbare Darstellung von Rhythmus und dessen Intensität
sind. Dessen ungeachtet liegt es auf der Hand, dass derartige einfache Muster die
Grundlage für eine Weiterentwicklung graphischer Zeichen waren und später Jungpaläolithikum bis Neolithikum - im System von Piktogrammen zur Schrift
führten (Kuckenburg 1996). (Grab 1, Abb. 10)
So weit hier das anthropologische Verständnis von Kunst einsichtig und logisch
erscheint, bezieht es sich auf "Sachen", die einen deutlichen Bezug zur
Existenzsicherung, zur sozialen Organisation und einer bewussten, allgemein
technischen Ergologie hatten. Wie aber steht es mit der graphischen, malerischen
und plastischen Kunst, die Lebewesen zur Abbildung bringt? Abgebildete
Lebewesen erfüllen ja nicht, was die übrigen Darstellungen der Symbole sind,
nämlich Realisationen ihres funktionierenden Selbst zu sein. Die Zeichnung oder
Plastik eines Tieres "funktioniert" nicht, denn das Dargestellte ist real nur eine
Imagination aus nicht lebenden Linien, Flächen und Werkstoff.
Im Paläolithikum erscheint sehr früh ein Instrumentarium festgelegter
Artefaktformen. Sie waren als verbindliche "Bilder im Kopf" gespeichert (Fiedler
2002 a). Faustkeile beispielsweise erfüllten in ihrer Realisation die technischen
Aufgaben und weiterführenden Ziele, mit denen ebenso die Formvorstellung und die
Herstellungsmethode gedanklich-symbolisch verbunden waren.
Natürlich konnten auch besonders "schön" gemachte Faustkeile sowohl der
Selbstdarstellung dienen, als auch mythologische Ansprüche erfüllen, aber sie
waren dessen ungeachtet stets gut verwendbare Geräte. So wie die Faustkeile als
Abbildungen des vorgestellten Musters reale Funktionen besaßen, so mussten es
auch die übrigen Realisationen haben: Behausungen, Speere, Feuerstellen,
Zeichen, Jagdteams, soziale Bindungen.
Es könnte jetzt das Argument folgen, dass naturgemäß mit der sogenannten
Weiterentwicklung des Menschen und seiner Kultur auch eine Weiterentwicklung
zur graphischen Symbolik stattfand, in der die Abbildungen von Menschen und
Tieren (mit zunehmender Kunstfertigkeit) mehr und mehr in den Vordergrund traten
und auch zu kommunikativen Beschreibungen von Tieren, Jagd oder mythischen
Ereignissen benutzt wurden. Aber gerade dafür finden sich in den teilweise reichen
archäologischen Quellen des Paläolithikums nicht viele überzeugende Belege
(Leonardi 1975 , Bednarik 2003).
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3. Eine neue Deutung der Moustérien-Befunde von La Ferrassie
Zu den frühen Beispielen anthropomorpher Darstellungen des Mittelpaläolithikums
gehört nach unserer Hypothese der schon lange bekannte, aber bisher nicht
verstandene Grabungsbefund von La Ferrassie: neun in strenger Ordnung
aufgeschüttete Hügel und sechs ovalen Gruben unter dem teilweise verwitterten
Abri (Peyrony 1934). Die etwa gleich großen, fast 0,5 bis 0,7 m hohen Hügel von
etwa 0,75 bis 1 m Durchmesser waren in drei parallelen Reihen jeweils zu dritt
angeordnet, wobei die beiden flankierenden zur mittleren Reihe um den halben
Abstand, den die Hügel zueinander einhalten, versetzt waren.
(Peyrony 1934; Abb. 1)
Abb.5
Diese Figuration (Abb.2) lässt es zu, darin eine anthropomorphe Beschreibung in
Schneemann-Prinzip zu erkennen (Greve & Fiedler1998): Kopf, Rumpf,
Extremitäten und - in Analogie zu der benachbarten "weiblichen" Figuration - auch
das Geschlecht. Im „Kopf“ fand sich die Bestattung eines kleinen Kindes, ein
wichtiger Hinweis auf die Vorstellung der Neandertaler vom "Sitz der Seele". Einen
knappen Meter oberhalb des Kopfes, genau in der Symmetrieachse der Figuration,
fand H. Delporte 1973 eine weitere Kinderbestattung in einer flachen Grube
(Delporte 1984).
Die zweite Figuration (Abb.2) unter dem gleichen Abri besteht aus einer Gruppe von
sechs etwa gleich großen, durchschnittlich 1,7 m langen ovalen Eingrabungen (Abb.
1). Sie befindet sich rechts, östlich benachbart der Hügelgruppe. Drei der Gruben
sind miteinander und zur Abi-Rückwand etwa parallel angeordnet. Zwei weitere
befinden sich rechts davon. Ihre gemeinsame Längsachse ist um etwa 115° zur
Richtung der drei ersten Gruben versetzt. Diese beiden bilden mit der mittleren der
zuerst genannten sowie mit einer weiteren, links befindlichen ein offenes "S". Seine
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beiden Bögen sind mit der ersten und dritten Grube der parallelen Dreiergruppe
ausgefüllt.
Die länglich-ovalen Gruben geben durch die Richtungsänderung ihrer Längsachsen
eine unmissverständliche Anleitung zum "Lesen" des Gesamtbildes (Abb. 2). So
interpretiert ist es eine auf der Seite liegende weibliche Figur, die dem männlichen
Bild zugewandt ist. Zusammengefügt erinnert sie an bekannte jungpaläolithische
Frauendarstellungen Europas in Seitenansicht (z.B. Cussac oder Pech Merle). Im
"Bauch" - oder Uterus - dieser Struktur befand sich das Skelett eines Kleinkindes.
Es war mit einer dicken Kalksteinplatte abgedeckt, die mit mehreren Paaren von
eingepickten Grübchen versehen war (Abb. 6 – 8).
Beide annähernd gleich große Strukturen lagen nebeneinander, beide mit den
"Köpfen" Richtung Abi-Rückwand, so, als ob hier ein über lebensgroßes
Menschenpaar ruhte In dieser Weise wäre das Abri-Areal ein sakraler Bereich und
zugleich Wohnstelle der Lebenden. Damit mögen die relativ häufigen Bestattungen
der Neandertaler unter Abris in einem Zusammenhang stehen, die dann ein
deutlicher Hinweis darauf wären, dass im Mittelpaläolithikum Tod und Leben nicht
als etwas zu Trennendes, sondern als zusammen gehörende Teile des Daseins
verstanden wurden (Greve & Fiedler 1998).
Abb. 6
Die Befunde aus dem Moustérien von La Ferrassie zeigen durch die beinahe
architektonische Aufteilung des Abri-Raumes mittels anthropomorpher Hügel und
Gruben sowie der begleitenden Bestattungen ein erstaunliches "künstlerisches"
Konzept.
8
Abb. 7
9
Ob die Gräber alle annähernd gleichzeitig zu datieren sind (Delporte 1984) oder ob
sie sich über viele Jahrzehnte verteilen, ist ungewiss. Sehr wahrscheinlich ist aber,
dass die Strukturen des „mythischen Paares“ nicht für ein kurzfristiges Ereignis
angelegt worden waren, sondern lange sichtbar, vielleicht auch in Teilen
gelegentlich kultisch renoviert blieben. Denn die umgebenden Gräber, Gruben und
Gräbchen scheinen sowohl räumlich als auch in ihren Ausrichtungen Bezug darauf
zu nehmen. Im Verhältnis zum bisherigen wissenschaftlichen Verständnis des
Mittelpaläolithikums wäre diese Interpretation völlig neu. Ebenso erstaunlich ist die
in den figuralen Strukturen deutlich werdende duale Vorstellung von Mann und Frau.
Der Mann wurde in aufsteigenden Formen symbolisiert, die Frau in Hohlformen.
Damit werden ein aktives, raumgreifende Wesen des Mannes und ein bergendes,
fruchtbares, der Erde verbundenes Wesen der Frau beschrieben. Die "Frau" ist
etwa 1 m größer als der "Mann". Das mag die Gleichwertigkeit der Geschlechter
belegen. Es wäre zudem möglich, dass Aushubmaterial der Gruben zum Errichten
der Hügel benutzt wurde, der Mann also aus der Frau geschaffen wurde. Ebenso
mag die Kleinkindbestattung im "Kopf" der männlichen Figuration nicht unbedingt
ein Hinweis darauf sein, dass die damaligen Menschen nur dem Manne „Köpfchen“
zubilligten. Es könnte ebenso der Hinweis darauf sein, dass der Jäger während all
seiner Aktivitäten an seine Nachkommen, seine Familie und seine Gruppe zu
denken hatte. Das Kinderskelett im "Uterus" der weiblichen Figuration ist
dementsprechend die eindeutige Symbolisierung von Fruchtbarkeit und Leben.
Abb. 8
10
Diese komplexen Strukturen öffnen uns so einen hypothetischen Einblicke in eine
Gedanken- und Geisteswelt, die den Neandertalern bisher nicht zugetraut wurde.
Allerdings sind die sogar erheblich älteren Wurfspeere und übrigen Holzgeräte von
Schöningen seit einigen Jahren der endgültige Beleg dafür, dass unsere frühen
Vorfahren keine unorganisierten Beutegreifer und Aasfresser waren (Thieme 1999).
Es war übrigens Hartmut Thieme, der bei der Analyse der Wohnplatzstrukturen der
Fundschicht B1 von Rheindahlen schon vor zwanzig Jahren darauf hinwies, dass
die Verteilungsmuster der Steinartefakte ein eigentümlich duales Muster aufwiesen
(Thieme 1983 u. 1988/1990), ein Hinweis, der bisher keine wissenschaftliche
Resonanz gefunden hat.
Interessanterweise ist die Doppelstruktur von La Ferrassie keine Beschreibung des
optischen Eindrucks von Menschen, sondern eine synthetische Form, die in
additiver Weise die Kraftbereiche menschlicher Organe verkörpert. Eine solche
Darstellungsweise (Schneemann-Manier) ist gelegentlich noch bei heutigen
Vorschulkindern zu beobachten, die aus dem analytischen Wissen vom Körper in
ähnlich addierender Methodik aus Kringeln oder Strichen intentionale
anthropomorphe Gebilde zusammensetzen (Fiedler 2002 b). Das heißt natürlich
nicht, dass Neandertaler die Denkweise heutiger Kinder besaßen, sondern dass es
bei der Darstellung von Lebewesen auch andere Konzepte gibt als die, die uns in
unserer Kultur allgemein vertraut sind.
Abb. 9
Eine additiv-summarische Auffassung des Menschen findet sich übrigens nicht
allein in Zeichnungen sogenannter primitiver Menschen und von Kindern, sondern
taucht auch in der "Modernen Kunst" des 20. Jahrhunderts auf (z.B. die Maler
Fernand Léger, Joan Miró oder Jean Dubuffet) Dass auch der Homo sapiens
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sapiens des Jungpaläolithikums gelegentlich eine vergleichbare Darstellungsweise
benutzte, belegt die Elfenbeingravierung einer Frau von Předmosti (Abb. 6 – 8).
Sie ist im Gegensatz zu vielen anderen weiblichen Bildnissen des mittleren
Jungpaläolithikums (Gravettien) nicht "naturalistisch", sondern eine aus Ovalen und
Bändern zusammengesetzte Figur, die weniger anatomisch richtig als eher in einer
gleichsam topographischen Ordnung Kopf, Brüste, Arme, Bauch und Uterus sowie
Beine erkennen lässt. Anders als die vielen übrigen "Venusfiguren" des gleichen
europäischen Kulturhorizonts, die eine betonte Wiedergabe sichtbarer Körperlichkeit
sind, steht diese Elfenbein-Graphik den Figurationen von La Ferrassie nahe. Man
könnte sich zu der Aussage versteigen, sie hätte nichts mit der sogenannten
naturalistischen Kunst des Jungpaläolithikums gemein, doch auch dort, wie
beispielsweise auf den Statuetten von Mezin, finden sich "abstrakte" Muster, die
nicht-naturalistisch sind.
Abb.10
12
Selbstverständlich entzieht sich die hier vorgelegte Betrachtungsweise der
Figurationen von La Ferrassie eines absoluten Beweises. Doch die Stimmigkeit
(correspondence) aller Einzelheiten (Ausrichtung, Anzahl 2,3.6 u.9 [Bergounioux
1958], Position der Kinderskelette, Hügel und Eingrabungen, Beziehung zu den
einander zugewandten Bestattungen einer Frau und eines Mannes im Westteil des
Abris, Vergleichbarkeit mit "naiver" Darstellungsweise) lässt keine andere
Möglichkeit zu, in dieser sonderbaren und ungewöhnlich aufwendigen Anlage eine
anthropomorphe männlich-weibliche Darstellung zu erkennen. Ob es weitere,
ähnlich lesbare Zeichen - eventuell die gepickten Näpfchen (cupules) an
Felswänden oder auf Blöcken - aus dem älteren Paläolithikum gibt, ist zukünftig zu
prüfen. Möglicherweise ergeben sich anhand jüngerer steinzeitlicher Darstellungen
sowohl des frankokantabrischen Raums, als aber besonders auch anderer Gebiete
der Erde, diesbezüglich neue Aspekte. Übergänge von einer additiven zu einer
organischen Gestaltung, wie sie in der Darstellungsweise von Kindern zwischen
dem vierten und neunten Lebensjahr auftauchen, kommen unseres Wissens mit der
Ausnahme der Figur von Předmosti im Jungpaläolithikum Europas nicht vor,
begegnen uns aber später vielfältig in der Kunst des pazifischen Raumes und
Afrikas. Die zahlreichen feinen, verwirrenden Ritz- und Schnittlinien auf
Knochenstücken aus dem Mittelpaläolithikum Europas (Leonardi 1975) müssen in
diesem Zusammenhang allerdings nochmals unter die Lupe genommen werden. Es
genügt nicht, sie alle als unbeabsichtigte Zufälle oder als Ergebnisse
bodenmechanischer Prozesse abzutun (Bednarik 2003).
4. Die nonreale Wirklichkeit figürlicher Darstellung
Die jungpaläolithischen Tierdarstellungen mit ihrem visuellen Wirklichkeitsbezug
traten relativ plötzlich und im südwestlichen Europa in überraschender Fülle und
"Qualität" auf. Als Höhlenkunst wurden sie an überwiegend versteckten Orten
realisiert und hatten dort keinen Schauwert, sondern eine magisch-religiöse
Funktion (Greve und Fiedler 1998). Die ältesten figürlichen Darstellungen des
Jungpaläolithikums gehören allerdings noch nicht zur eigentlichen Höhlenkunst,
sondern sind mobile Objekte oder Malereien im Tageslicht: eine gemalte Antilope
aus dem Apollo-11-Abri (Namibia), ein Steinblock mit einem Pferdekopf aus dem
Abri von Combe Capelle (Frankreich), geschnitzte Tierkonturen aus Sungir
(Russland), die Statuetten von Tier-Mensch-Mischwesen aus dem Hohlestein und
dem Geissenklösterle (Deutschland) und vom Galgenberg (Österreich) sowie die
geschnitzten Tierfiguren aus der Vogelherd-Höhle (Djindjian, Koslowski & Otte
1999). Diese als sehr früh einzustufenden Objekte stehen möglicherweise mit
einigen wenigen Funden in Zusammenhang, die aus dem Alt- und
Mittelpaläolithikum stammen. Es sind naturgeformte Gesteinsstücke, die der
Mensch unter Umständen manipuliert hat (Bednarik 1999, 2001 u. 2003).
Entsprechende alt- und mittelpaläolithische figürliche Darstellungen scheinen eine
lange Geschichte zu haben. Diese ist uns schwer erschließbar, weil dabei sowohl
mit vergänglichen Materialien als auch mit Ausdrucksformen gerechnet werden
muss, die nicht im Bereich unserer Kunst-Erwartungen liegen. Doch welchen Sinn
hatten sie, welchen Zwecken unterlagen sie und welche psychischen und
ethologischen Vorbedingungen könnten dazu geführt haben, dass Lebewesen, also
menschliche Gestalten, Gesichter oder Tiere, in "toten" Materialien nachempfunden
wurden (Fiedler 2002 a)?
Die Frage ist von außerordentlich großer Bedeutung, nicht deshalb, weil hier die
Voraussetzungen und Anfänge von bildender Kunst gesucht werden, sondern
deshalb, weil es um eine einzigartige anthropologische Tatsache geht. Denn keine
anderen Lebewesen der Welt erzeugen dinghafte, optisch ähnlich erscheinende
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Imaginationen von sich selbst oder von anderen Lebewesen. Es geht dabei um eine
kulturelle Leistung, die keinen anderen Sinn erkennen lässt, als den einer
beabsichtigten Scheinbarkeit oder Über-Wirklichkeit (Surrealität). Sie steht im
Gegensatz zur analysierbaren Realität und weist Bezüge zu Phantasien im
kindlichen Spiel, zu Traum, Halluzination, Pantomime und Sprache auf. Die
Umstände ihrer qualitätvollen Erzeugung und die zahlreichen archäologisch
überlieferten Objekte dieser Art belegen die Bedeutung, die man den Werken
zumaß. Ihr bei allem "Naturalismus" offensichtlicher dinglicher Nonrealismus mag
mit der frühen Erkenntnis zusammenhängen, dass die Wirklichkeit dual und die Welt
der Gedanken etwas Geistiges sowie die Dingwelt etwas Konkretes ist. Flächige
Bilder und plastische Figuren werden ja erst durch ihre betrachtende Interpretation
zu dem, was sie darstellen sollen. Insofern könnte ihnen eine Mittlerrolle zwischen
Geist und Ding zugewiesen werden.
Abb. 11
14
So selbstverständlich figürliche Darstellungen seit dem Jungpaläolithikum in fast
allen Kulturen der Welt geworden sind und heute mittels Photographie, TV und
Cyberspace die Grenzen der augenfälligen Distanz zwischen Realität und
Machwerk schon gewollt durchbrechen, so ist doch festzustellen, dass diese
Irrealität eine "schöne" Eigentümlichkeit ist, deren unmittelbare Nützlichkeit
kulturanthropologisch nicht einfach auf der Hand liegt, es sei denn, es ginge um die
Manipulation der Realität, die Beherrschbarkeit (der Erscheinung) von Menschen
und Tieren sowie die damit verbundenen Techniken und schließlich auch
Beherrschbarkeit des Irrationalen, also um Zauber und Religion einerseits sowie die
Verdinglichung des Lebens andererseits.
Abb. 12
15
Doch derartige Motive haben sich vermutlich erst mit der Weiterentwicklung
bildlicher Darstellungen eingestellt. Weder Australopithecus noch Homo erectus
haben daran denken können. Sieht man von dem rund 4 Mio. Jahre alten,
absichtlich transportierten Gesichts-Stein von Makapansgat ab, stammen die
ältesten Figuren aus der Faustkeilkultur (Bednarik 1999, 2001 u. 2003). In jener Zeit
müssen die Vorbedingungen zur Entstehung figürlicher Darstellungen voll
ausgeprägt gewesen sein. Sie sind archäologisch nicht zu fassen, doch
Verhaltensforschung und Psychologie erlauben es doch, vorsichtig die Bereiche zu
umreißen, die als Ausgangsposition zur Darstellung gemeinter, aber nonrealer
Lebendigkeit vorhanden waren.
A. In der Phantasie spielender Kinder können beispielsweise rundliche
Kiefernzapfen Schafe sein und ein länglicher Fichtenzapfen der Hirte. Auch wenn
das Kind weiß, mit was es real spielt, so kann es vollständig das Gemeinte auf
Dinge übertragen, die kaum eine optische Ähnlichkeit damit haben, geschweige
denn, dass sie einen Hauch des vorgestellten Lebens in sich hätten. Dass die
spielerische Imagination nicht allein auf Menschen beschränkt ist, mögen die
scheinbaren Kampf- und Sexualhandlungen zeigen, die viele Jungtiere geselliger
Säuger untereinander ausführen, egal ob das triebbestimmt ist oder nicht, denn
auch das Spiel mit Puppen unserer Kinder könnte ja - zumindest auch triebbestimmt sein. Das Auseinanderfallen von Phantasie und Wirklichkeit wird
gewöhnlich mit der Adoleszenz abgelegt oder doch als kindgemäß und damit unerwachsen abgetan. Was allerdings bleibt, ist die Übertragbarkeit von erwünschter
Lebendigkeit auf Objekte - man denke nur an die gezielt suggerierte Sexualsymbolik
vieler Konsumgüter. Solche Übertragungen sind nicht alleine auf unsere moderne
Kultur beschränkt, sondern spielen eine große Rolle bei vielen Völkern und zu allen
Zeiten. So ist anzunehmen, dass auch frühe Menschen in manchen Objekten etwas
erkennen konnten oder wollten, was diese banalerweise nicht waren. Die Kluft
zwischen bloßem Ding einerseits und damit Gemeintem andererseits gehört zum
allgemeinen Erfahrungsschatz der Menschen. Sie kann aber auch als Pfad
zwischen diesseitiger Realität und transzendenter Wirklichkeit interpretiert werden.
Damit zeigt sich der Bezug, der offensichtlich von je her zwischen Bildern und
Mystik oder Religion besteht (Greve & Fiedler 1998).
B. In Träumen, Fieberanfällen, Rauschzuständen aber auch in der Einbildung unter
psychischen Anspannungen können Lebewesen erblickt werden, ohne dass sie real
vorhanden sind. Selbstverständlich ist zu hinterfragen, ob frühe Menschen vor dem
Homo sapiens sapiens geistig und mental zu derartigen Visionen befähigt waren.
Dass Tiere tatsächlich träumen können, ist längst eine Tatsache (Griffin 1985). Dass
Tiere visuellen Irrtümern unterliegen können, also etwas wahrnehmen, was von
ihnen danach als nicht zutreffend erkannt wird, ist jedem Verhaltensforscher vertraut
(z.B. eine Katze, die in einen Spiegel guckt und sich nur den Bruchteil einer
Sekunde diesem Abbild widmet). Deshalb ist davon auszugehen, dass auch
Australopithecus und Homo erectus zu derartigen (Fehl-) Leistungen in der Lage
waren. Aber fraglich bleibt weiterhin, ob diese Hominiden Traum- und Trugbilder als
Irrtümer abtun und sogleich vergessen konnten, oder ob mit dem zunehmend
symbolisch arbeitenden Gedächtnis solche Erscheinungen klassifiziert und
dauerhaft gespeichert werden konnten. Die Menschen des frühen
Jungpaläolithikums und der Zeit beginnender Höhlenmalerei waren dazu sicher in
der Lage. Die Tier-Mensch-Darstellungen dieser Epoche belegen, dass sie von der
Wirklichkeit irrealer theriomorpher Erscheinungen wussten.
Wenn Tiere in bestimmten Formen oder Strukturen ihrer Umwelt nicht die richtige
Nahrung, Partner oder Feinde erkennen könnten, gäbe es kein animalisches Leben
auf der Erde. Die Speicherung von Erkennungsmustern im neuronalen System, die
den realen Sachen zu- und übergeordnet sind sowie deren spontane Abrufbarkeit
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im notwendigen Augenblick schließt auf Grund der Abstraktheit dieser Vorgänge
Irrtümer nicht aus. Ein Huhn pickt auch ein Sandkorn, das einem Samen ähnelt,
"versehentlich" auf oder eine Antilope erschrickt vor einem plötzlichen
Schattenspiel. Schimpansen erschrecken vor einer nachgebauten
Leopardenattrappe, greifen sie dann "mutig" an und erkennen später ihren Irrtum
(Lawick-Goodall 1975). Kein Schimpanse würde aber ein solches LeopardenSurrogat basteln. Aber ein Australopithecus hob einen Stein auf, der einem Gesicht
ähnlich sieht, und trug ihn nachweislich viele Kilometer von seinem ursprünglichen
Fundort fort (Bednarik 1999). Es ist unmöglich zu beantworten, ob das Spiel,
kommunikativer Spaß oder schon ein Hauch von Gefallen am Irrealen, Magischen
war. Wir können aber vermuten, dass mit der nachweislichen Behandlung des
Steins eine Art erste, keimende Einsicht über ein Ding einerseits und dessen
Deutungsmöglichkeit andererseits verbunden war, eine Einsicht, die eine
Voraussetzung für die erst viel später nachweisbare Fähigkeit ist, eigenhändig das
Gemeinte in oder auf Stein zu gestalten.
C. Es muss aus den oben genannten Gründen schon relativ früh in der
Menschheitsgeschichte, spätestens seit der Faustkeilkultur (Fiedler 1997), eine
Erkenntnis darüber vorgelegen haben, dass es in der gedanklichen Repräsentation
von Sachen nicht nur solche mit eindeutigen, real-banalen Pendants gibt, sondern
auch solche, die durch ihr Erscheinungsbild eine überraschende oder verwirrende
Doppelbedeutung haben können. Ein gesichtsförmiger Stein, eine schlangenförmige
Wurzel oder eine menschengestaltige Felsklippe gehören zum naturgemäßen
Erfahrungsbereich und können in der Erinnerung als Dinge mit einer gewöhnlichen
und einer zusätzlich scheinbaren Realität gespeichert werden, deren Paradoxie
einer Erklärung bedarf. Dies kann auf mythische Weise geschehen oder
psychologisch versucht werden. Die Erfahrungen mit der möglichen
Doppeldeutigkeit sichtbarer Dinge werden im Denken und Kommunizieren durch
diesbezügliche "Bilder im Kopf" sowie dazugehörenden verbalen Begriffen vertreten.
In der jungpaläolithischen Höhlenmalerei, in australischen Felsbildern oder in
christlichen Ikonen wird dieses reale Sein und imaginäre Scheinen intentional
erzeugt, um mystischen Ansprüchen zu dienen (Greve & Fiedler 1998).
Aber schon vorher stand der Mensch vor der alltäglichen Erfahrung, dass das, was
er dachte, längst keine Realität, sondern eine Wirksamkeit seines Geistes war. Der
Name einer Sache, beispielsweise Fluss, ist nicht der Fluss selbst, sondern eine
nicht dinglich fassbare innere Wirklichkeit. Die Abstraktheit der Sprache und des
Denkens einerseits und deren grundsätzlicher Bezug zur umgebenden Welt der
Sachen führt wie von selbst zur Einsicht über die konsequent duale Rolle von Geist
und Ding. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die Menschen vor dem Cro-Magnon
diese Einsicht sogleich mit der uns von den späteren Religionen bekannten
Transzendenz, einem eigenen, von Welt und Leben unabhängigen Bereich
verbanden.
Da es aber Kindern möglich war, im Spiel einem Stück Holz den gemeinten
Charakter eines Tieres zu geben, und es einem Erwachsenen möglich war, in einer
Wolke ein Gesicht, in den Sternen eine Figuration oder im rissigen Muster eines
Felsens ein Bildnis zu erkennen, dämmerte die Erkenntnis, dass die kontemplative
Betrachtung von Dingen, das Hineinsehen, Erkennen und Benennen eine
Möglichkeit ist, das Gewöhnliche und Banale geistig zu beleben und zu erleben.
Diese Erfahrung einer Vergeistigung von Welt kann eine Ursache für das Entstehen
eines umfassenden Animismus sein.
Erst eine animistische Weltsicht ermöglicht es, in der selbst erzeugten
Ritzlinienkontur eines Mammuts nicht einfach ein unsinniges Surrogat, eine Falle
visueller Irritation, sondern etwas Besonderes zu verstehen. Die "Beseelung" des
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Abbildes entspricht außerdem dem Wunsch, dem Gemeinten über den flüchtigen
Augenblick - und letztlich den Tod - hinaus Beständigkeit zu verleihen (Fiedler
1999). Hier bestehen sogar Berührungspunkte zwischen Höhlenmalerei,
Ahnenbildnissen, alt-ägyptischen Sarkophag-Portraits und der darstellenden Kunst
des Abendlandes.
Im Rahmen dieser Theorien vertreten die anthropomorphen Figurationen aus La
Ferrassie ein älteres aber keineswegs primitiveres Konzept des Denkens und
Darstellens. Sie sind vermutlich ein frühes Zeugnis der menschlichen
Selbstreflektion (Peyrony 1934). In diesem Sinne gehören sie aber auch zu dem
Fundament, auf dem der Weg zu einer Verdinglichung des Lebendigen (of all
vivacity), damit auch zu der Kunst imaginärer Wirklichkeit und interpretativer
Weltsicht beschritten wurde.
5. Abstract
Archaeologists and anthropologists are often asking for art predating Lascaux,
Chauvet or Vogelherd. Neanderthal palaeoart usually has been seen with great
scepticism in the debate of the last 30 years. Was that the reason nobody noticed
the figurative structures from the Mousterian level of La Ferrassie? Out-of-date
scientific ideas vanish now. And it is high time to change the old perspective on
culture, representation and Neanderthal artefacts.
The structures of La Ferrassie organize the shelter space as a whole. To proceed
on the assumption that this originates of a unique/homogeneous conception the
scene is legible to read.
Our hypothesis is: The nine small mounds of La Ferrassie represent – in a snowman
stile – an antropomorph figuration. The six ovate depressions represent a pregnant
female with a child in her uterus.
Neither figuration is created in a manner of visual naturalism. The knowledge of
body function is added up in the mounds and pits. This art is more contemplative
than naturalistic.
So the La Ferrassie structures could be of great importance in regard to thinking and
spiritualism of Middle Palaeolithic man.
This leads to the discussion about the reason and the origin of figurative
representation and art
6. Résumé
Les structures découvertes par D. Peyrony dans la couche moustérienne de La
Ferrassie laissent reconnaître un concept cohérent d’axes perpendiculaires, de
groupements par deux et trois ainsi qu‘ une dualité de contraires. Les sépultures
d’adultes et d’enfants, soigneusement positionnées, s’intègrent dans cette
organisation. Il est dès lors possible de reconnaître dans la structure de six fosses
ovales la représentation sommaire d’une femme enceinte et dans le groupe de neuf
monticules celle d’un homme. Les représentations ne sont pas figuratives dans le
sens d’un naturalisme visuel, mais démarquent les différentes parties du corps de
façon additive (comme un bonhomme de neige). Le déchiffrement des structures de
La Ferrassie permet une nouvelle compréhension de la symbolique et de la culture
d’Homo sapiens neanderthalensis.
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Keywords
origin of Palaeolithic art, culture, symbols, thinking
l’origine de l’art paléolithique, la culture, les symbols, le esprit
Ursprünge der Kunst im Paläolithikum, Kultur, Symbole, Denken
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