am Äquator - Buecher.de
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Miguel Sousa Tavares Am Äquator 46551_Tavares_Am Äquator_Titelei1 1 28.05.2008 10:43:55 Buch Hätte Luís Bernardo an jenem Dezembertag des Jahres 1905 geahnt, warum ihn der portugiesische König eingeladen hat, wäre er vielleicht nicht zu ihm gegangen. Denn die Audienz endet für den weltläufigen Müßiggänger mit einem heiklen Auftrag: Er soll in die portugiesischen Äquator-Provinzen São Tomé und Príncipe reisen und dort das Amt des Gouverneurs übernehmen. Die Ankunft am Äquator ist ein Schock. Luís’ Wahrnehmung ist überreizt, sein Körper rebelliert gegen die drückende Hitze. Die fremdartige Wildnis des Regenwaldes fasziniert und ängstigt ihn gleichermaßen. Doch nach und nach lässt er sich von der Schönheit und dem Zauber seiner Umgebung erobern. Er fühlt eine nie gekannte Sinnlichkeit und sieht gleichzeitig überall um sich herum politische Spannungen und ungehemmten Hass. Als der englische Konsul David Jameson eintrifft, findet Luís ganz unerwartet in ihm einen Freund. Doch als er in gefährlicher Leidenschaft zu Ann, Davids schöner Frau, entbrennt, gerät seine Existenz ins Wanken … Autor Miguel Sousa Tavares, geboren in Porto, hat für seine Arbeit als Journalist und Schriftsteller seine Anwaltskarriere aufgegeben. Mit seinem Debüt »Am Äquator«, das über ein Jahr lang an der Spitze der portugiesischen Bestsellerlisten stand, hat er sich sofort in die Reihe der erfolgreichsten Autoren Portugals hineingeschrieben. Der Roman wurde in über 10 Länder verkauft. 46551_Tavares_Am Äquator_Titelei2 2 28.05.2008 10:43:56 Miguel Sousa Tavares Am Äquator Roman Deutsch von Marianne Gareis 46551_Tavares_Am Äquator_Titelei3 3 28.05.2008 10:43:56 Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Equador« bei Oficina do Livro, Lissabon Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100 Das fsc-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier 1. Auflage Taschenbuchausgabe August 2008 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © der Originalausgabe 2003 by Miguel Sousa Tavares e Oficina do Livro – Sociedade Editorial, Lda. by arrangement with Dr. Ray-Güde Mertin, Literarische Agentur, Bad Homburg, Germany Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Corbis An · Herstellung: Str. Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-442-46551-4 www.goldmann-verlag.de 46551_Tavares_Am Äquator_Titelei4 4 28.05.2008 10:43:57 Für Cristina 1 Sind die Dinge erst einmal geschehen, kommt man zwangsläufig ins Grübeln, wie wohl das Leben verlaufen wäre, hätte man anders gehandelt. Hätte Luís Bernardo Valença gewusst, was das Schicksal für ihn bereithielt, wäre er an diesem regnerischen Dezembermorgen des Jahres 1905 vielleicht niemals am Bahnhof Barreiro in den Zug gestiegen. Doch nun saß er bequem zurückgelehnt in den rotsamtenen Erste-Klasse-Polstern und ließ in aller Ruhe die Landschaft an sich vorüberziehen, sah zu, wie die weite Ebene des Alentejo mit ihren Korkeichen und Olivenbäumen sich vor ihm auftat, wie die Wolkendecke, die über Lissabon noch dicht geschlossen gewesen war, zaghaft aufriss und eine tröstliche Wintersonne zum Vorschein kommen ließ. Die trägen Reisestunden bis Vila Viçosa versuchte er mit der einschläfernden Lektüre seiner Tageszeitung zu füllen. O Mundo, ein gemäßigt monarchistisches und zugleich entschieden liberales Blatt, sorgte sich, wie schon der Name andeutete, um den Zustand der Welt und der »Eliten, die sie regieren«. An diesem Morgen berichtete O Mundo über eine Regierungskrise in Frankreich, ausgelöst durch die Baukosten des Suezkanals, den der Ingenieur Lesseps wie ein Besessener vorantrieb, ohne dass ein Ende der Arbeiten abzusehen war. König Edward VII. dagegen feierte auch dieses Jahr seinen Geburtstag im trauten Kreis der Familie, beglückwünscht von allen Königen, Radschas, Scheichs und Stammeshäuptlingen des riesigen Imperiums, in dem, wie O Mundo in Erinnerung rief, die Sonne niemals unterging. Was Portugal betraf, gab es eine neuerliche Strafexpedition gegen die Eingeborenen im Hinterland von Angola zu vermelden, eine weitere 7 Episode des heillosen Durcheinanders, in dem die Kolonie zu versinken drohte. Und in São Bento war es erneut zu Streitereien zwischen den Abgeordneten der Erneuerungspartei von Hintze Ribeiros und den Progressiven um José Luciano de Castro gekommen: Die Liste der von der öffentlichen Hand für den Unterhalt des Königshauses zu übernehmenden Aufwendungen wurde lang und länger, ohne dass das Geld je zu reichen schien. Er war siebenunddreißig Jahre alt, Junggeselle und in dem Maße unsolide, wie die Umstände und seine Herkunft es ihm erlaubten – ein paar Chorsängerinnen und Tänzerinnen mit entsprechendem Ruf, gelegentlich eine Verkäuferin aus der Baixa, zwei, drei tugendhafte verheiratete Damen der besseren Gesellschaft sowie eine viel gerühmte und ebenso umstrittene deutsche Sopranistin, die drei Monate im São Carlos gastiert hatte; allerdings war er wohl nicht deren einziger Freier gewesen. Kurz, er war ein Mann, der sich gern den Frauen hingab, aber ebenso sehr auch der Melancholie. Mit zweiundzwanzig hatte er in Coimbra sein Jurastudium abgeschlossen, doch zum Leidwesen seines inzwischen verstorbenen Vaters beschränkte sich die geplante Anwaltskarriere auf ein kurzes Praktikum bei einem angesehenen Rechtsanwalt in Coimbra, aus dem er erschöpft und von seiner vermeintlichen Berufung für immer geheilt hervorging. Er kehrte ins vertraute Lissabon zurück, wo er verschiedenen Tätigkeiten nachging, bis er vom Vater die Stellung des Haupteigners der Schifffahrtsgesellschaft Insular übernahm: drei Schiffe von jeweils rund zwölftausend Registertonnen, die zwischen der Insel Madeira und den Kanaren, den Azoren und den Kapverdischen Inseln Frachtgut und Passagiere beförderten. Die Büroräume der Companhia Insular befanden sich in einem Gebäude am Ende der Rua do Alecrim. Die fünfunddreißig Angestellten waren über die vier Stockwerke des im pombalinischen Stil errichteten Hauses verteilt, und Luís Bernardo selbst saß in einem weitläufigen Saal mit Blick auf den Tejo, welchen er tage-, monate- und jahrelang mit der Aufmerksamkeit eines Leuchtturmwärters beobachtete. Anfangs hatte 8 er sich eingebildet, von dort aus eine atlantische Flotte und gleichsam einen Teil der Weltgeschichte zu kontrollieren: Gingen Telegramme oder Funksprüche seiner einzigen drei Schiffe ein, so versicherte er sich umgehend ihrer aktuellen Position, indem er kleine Fähnchen in eine riesige, die gesamte hintere Wand bedeckende Landkarte der Westküste Europas und Afrikas steckte. Doch mit der Zeit ließ sein Interesse am jeweiligen Aufenthaltsort von Catalina, Catarina und Catavento nach, und er steckte keine Fähnchen mehr in die Landkarte, obgleich er weiterhin gewissenhaft zu den Abfahrten und Ankünften der Schiffe an der Rocha Conde de Óbidos, dem Hafen von Lissabon, erschien. Nur ein einziges Mal war er, vielleicht aus Entdeckerlaune, vielleicht aber auch nur aus beruflichen Gründen, auf einem seiner Schiffe mitgereist: nach Mindelo auf São Vicente und von dort wieder zurück. Es war eine stürmische, wenig komfortable Reise gewesen, an einen Ort, der ihm trostlos und für einen Europäer seiner Zeit völlig uninteressant erschien. Man erklärte ihm, dies sei nicht das eigentliche Afrika, eher ein Stück ins Meer gefallener Mond, doch er verspürte keinerlei Bedürfnis, darüber hinaus dieses Afrika, von dem man ihm stets so begeistert berichtet hatte, näher kennen zu lernen. Er hatte sich dauerhaft in seinem Büro in der Rua do Alecrim und seinem Haus in Santos eingerichtet, wo er mit einer alten, von den Eltern übernommenen Gouvernante lebte, die regelmäßig die Meinung kundtat, der junge Herr müsse heiraten. Daneben gab es eine Küchenhilfe, ein Mädchen aus der Provinz, Beira Baixa, das hässlich wie die Nacht war. Zu Mittag aß er stets in seinem alten Club am Chiado, zu Abend im Bragança, im Grémio oder gemütlich zu Hause. Anschließend spielte er mit Freunden Karten oder machte Pflichtbesuche bei den Familien der besseren Gesellschaft. Gelegentlich ging er auch ins São Carlos oder zu Festivitäten im Turf oder Jockey. Er hatte gute Beziehungen, war geistreich, intelligent und unterhaltsam. Seine große Leidenschaft war die politische Entwicklung der Welt, welche er mit Hilfe der Abonnements einer eng9 lischen und einer französischen Zeitung verfolgte. Er sprach auch beide Sprachen fließend, was im Lissabon seiner Zeit keineswegs selbstverständlich war. Die Kolonialfrage interessierte ihn besonders. Er hatte alles über die Konferenz von Berlin gelesen, und als die Überseekolonien Gegenstand leidenschaftlicher öffentlicher Diskussionen wurden, veröffentlichte er zwei Artikel in O Mundo, die ihrer ungewohnt nüchternen und neutralen Analyse wegen viel zitiert wurden, zumal in einer Zeit wütend patriotischer und antimonarchistischer Stimmung, die sich mit der scheinbaren Nachgiebigkeit von König Dom Carlos nicht abfinden wollte. Luís Bernardo vertrat einen modernen, wirtschaftlich denkenden Kolonialismus, dessen Ziel die effiziente Nutzung derjenigen Ressourcen sein sollte, die Portugal tatsächlich gebrauchen konnte, und zwar mit Hilfe von eigens für Aktivitäten in Afrika ausgerüsteten Unternehmen, zu deren Führung Professionalität und »zivilisierte Geisteshaltung« vonnöten waren. Keinesfalls dürften sie dagegen weiterhin »dem Willen von Menschen unterworfen sein, die sich, weil sie hier nichts gelten, dort wie Negerhäuptlinge aufführen, ja schlimmer noch als diese, keineswegs jedoch wie Europäer im Dienste ihres Landes und Vertreter der Zivilisation des Fortschritts«. Seine Artikel wurden Gegenstand hitziger Diskussionen zwischen »Europäern« und »Afrikanisten«, und der Ruhm, den sie ihm einbrachten, verleitete ihn dazu, noch einen Schritt weiter zu gehen. In einer kleinen Publikation stellte er die Zahlen des Importhandels mit den afrikanischen Kolonien der letzten zehn Jahre zusammen, um seine These zu untermauern, dieser Handel sei im europäischen Vergleich unbedeutend, unzureichend für die Bedürfnisse des Landes und folglich eine systematische Verschwendung der Möglichkeiten, die eine rationale, intelligente Nutzung der kolonialen Reichtümer biete. »Es genügt nicht, vor der Welt zu verkünden, dass man ein Imperium besitzt«, schloss er, »man muss auch erklären, warum man verdient hat, es zu besitzen und zu behalten.« Die darauf folgende 10 Debatte war heftig und leidenschaftlich, und die Gegenseite konterte mit einem Artikel in der Zeitung Clarim, in dem der »Afrikanist« Quintela Ribeiro, Besitzer riesiger Farmen in Moçâmedes, die Frage stellte: »Was weiß dieser studierte Valença schon von Afrika?« Der Beitrag endete damit, dass der Autor Luís Bernardos Formulierung umkehrte: »Es genügt nicht, der Welt zu verkünden, wie dieser Valença, dass man einen Kopf besitzt. Man muss auch erklären, warum man verdient hat, ihn zu besitzen und zu behalten.« Der Ausspruch Quintelas und die öffentliche Diskussion, die Luís Bernardos Artikel ausgelöst hatten, wurden für Letzteren zu einer Art Visitenkarte: Ein Großteil der Bewohner Lissabons hielt es von Stund an für reine Verschwendung, dass ein Mann seines Alters, mit seinen Fähigkeiten, seiner Intelligenz und Bildung, die besten Jahre seines Lebens damit vergeudete, aus einem Fenster auf den Tejo zu blicken oder auf der Suche nach amourösen Abenteuern durch die Stadt zu streifen. All dies lag bereits einige Monate zurück. Luís Bernardo hatte, nicht ohne Erleichterung, sein friedliches Alltagsleben wieder aufgenommen: Die Unannehmlichkeit, im Mittelpunkt einer öffentlichen Auseinandersetzung zu stehen, wurde durch den daraus resultierenden Ruhm nicht aufgewogen; der schlug sich in vermehrten abendlichen Essenseinladungen nieder, bei denen Luís Bernardo unweigerlich törichte Ansichten zur Überseefrage anhören musste, die stets mit der gleichen Frage endeten: »Und Sie, Valença, wie denken Sie darüber?« Im Augenblick dachte Luís Bernardo an die merkwürdige Einladung, die der König ihm über seinen Privatsekretär, den Grafen von Arnoso, hatte zukommen lassen: Er sollte an diesem Donnerstag im Palast von Vila Viçosa zum Mittagessen erscheinen. Bernardo de Pindela, der Graf von Arnoso, hatte ihn überraschend im Büro aufgesucht und ihm mit den folgenden Worten eigenhändig die Einladung übergeben: »Sie werden verstehen, mein Teuerster, dass ich Ihnen nicht verraten darf, was der König Ihnen zu sagen hat. Die Angelegenheit ist wichtig, 11 und der König bittet darum, Stillschweigen über das Treffen zu bewahren. Im Übrigen werden Sie sehen, wie gut es Ihnen tun wird, einmal aus der Lissabonner Atmosphäre herauszukommen und einen Ausflug nach Vila Viçosa zu unternehmen, zumal ich Ihnen versichern kann, dass man dort hervorragend speist.« Und da war er also auf dem Weg zum Palast der Braganças, inmitten dieses Nichts, das sich Alentejo nannte, wo der ehrwürdige Dom Carlos Jahr für Jahr die beste Zeit des Herbstes und des Winters mit Jagen zubrachte und sich, wie die republikanischen Zungen der Hauptstadt behaupteten, von den wenigen verhassten Momenten erholte, in denen er sich um Regierungsangelegenheiten hatte kümmern müssen. Luís Bernardo und der König waren fast gleichaltrig, doch anders als dieser war Luís Bernardo schlank und elegant und kleidete sich mit der nur auf den ersten Blick nachlässigen Schlichtheit, die den echten gentleman auszeichnet. Dom Carlos von Bragança wirkte dagegen wie ein Bauerntölpel in königlichem Gewand, während Luís Bernardo ein Prinz hätte sein können, der sich als Bürger verkleidet hat. Alles an seinem Auftreten verriet seine Einstellung zum Leben: Er legte Wert auf sein Äußeres, aber doch nie so sehr, dass es unangenehm gewesen wäre; er wusste, was gerade Mode, was aktuell war, und doch vertrat er stets einen eigenen Standpunkt; nicht beachtet zu werden war für ihn ein Grund zur Beunruhigung, zu sehr aufzufallen war ihm zuwider. Seine Stärke war es, keine allzu großen Ambitionen zu hegen, seine Schwäche, dass er vermutlich gar keine hatte. Und dennoch, wenn er sich selbst mit kritischer Distanz betrachtete, erkannte Luís Bernardo, ohne übermäßig eitel zu sein, dass er seinen Mitmenschen in mehr als einer Hinsicht überlegen war: Er war besser erzogen als die direkt unter ihm und intelligenter, gebildeter und weniger oberflächlich als die über ihm Stehenden. Und so waren die Jahre verflogen, und mit ihnen seine Jugend. In der Liebe erging es ihm wie im Leben: Die Frauen, die er wirklich unwiderstehlich fand, erschienen ihm stets uner12 reichbar, und die verfügbaren blieben allesamt enttäuschend. Einmal war er verlobt gewesen, mit einer ziemlich jungen, hübschen und wohlhabenden Dame mit betörendem Jungmädchenbusen, der aus ihrem Dekolleté hervorsah und seinen Blick fesselte. Zweimal hatte er ihn gestreichelt, die Nase darin versinken lassen, ihn entblößt, um ihn ohne jede Scham eingehender Betrachtung zu unterziehen. Er hatte ihr sogar einen Verlobungsring offeriert, und Tante Guiomar, die gelegentlich die Mutterrolle übernahm, hatte mit dem vermeintlichen Schwiegervater bereits den Termin festgesetzt. Doch letztlich hatte sich die Ungebildetheit der Braut als unüberwindliches Hindernis erwiesen. Sie verwechselte Berlin mit Wien und glaubte, Frankreich sei noch immer eine Monarchie. Er stellte sich all die Jahre an der Seite dieses Turteltaubenbrüstchens vor, die Eintönigkeit der langen Abende, die Geistlosigkeit der Unterhaltungen, die Völlerei bei den sonntäglichen Mittagessen im Hause des Schwiegervaters, und machte dann im voll besetzten Grémio einen Rückzieher, ohne Glanz und Eleganz, wüst beschimpft vom Vater der Braut. Auf Zehenspitzen stahl er sich fort, gepeinigt und doch erleichtert, und dachte zu Recht, mit zwei Wochen übler Nachrede wäre alles abgetan und er hätte erneut sein ganzes Leben vor sich. Weitere Bemühungen darum, was man gemeinhin »ein Leben zu zweit« nennt, ließ er dann bleiben. Dort in dem Zug nach Vila Viçosa dankte er dem Schicksal, dass er alleinstehend und Herr über sein Leben war. Er streckte die langen Beine aus, entnahm seinem Jackett ein silbernes Zigarettenetui, zog eine schlanke Azoren-Zigarette heraus, suchte in seiner Westentasche nach Streichhölzern und zündete die Zigarette an, deren Rauch er langsam und genüsslich einsog. Er war ein freier Mann: keine Ehe, ohne Parteibuch, hatte weder Schulden noch Kredite, kein Vermögen, aber auch keine Geldsorgen, neigte nicht zur Oberflächlichkeit und ließ sich ebenso wenig zum Exzess verleiten. Was auch immer der König ihm zu sagen, ihm vorzuschlagen, zu befehlen hätte, das letzte Wort 13 würde stets er selbst behalten. Wie viele Menschen gab es, die das von sich behaupten konnten? An diesem Abend zum Beispiel fand das wöchentliche Diner mit seinen Freunden im Hotel Central statt. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Männern zwischen dreißig und fünfzig, die sich jeden Donnerstagabend trafen, um die exquisite Küche des Central zu genießen und Neuigkeiten aus aller Welt zu diskutieren. In Luís Bernardos Augen ein Ritual unter Männern: ernsthafte, doch keineswegs langweilige, sorglose, doch keineswegs leichtfertige Männer. An diesem Abend gab es jedoch einen ganz besonderen Grund, auf das Abendessen gespannt zu sein, weshalb er auch für die Rückfahrt einen Platz im Fünf-Uhr-Zug reserviert hatte, in der Hoffnung, die übliche Verspätung werde ihn nicht daran hindern, pünktlich im Central anzukommen. Luís Bernardo hoffte nämlich, dass João Forjaz, Mitglied der Donnerstagsgruppe und sein alter Freund aus Schulzeiten, ihm eine Nachricht von dessen Cousine Matilde überbringen werde. Er hatte Matilde diesen Sommer in Ericeira auf einer Abendgesellschaft im Haus gemeinsamer Freunde kennen gelernt, in einer Mondnacht wie aus einem Liebesroman. Als er Matilde im Salon an Joãos Arm auf sich zukommen sah, hatte er ein leises Zittern verspürt, eine Vorahnung drohender Gefahr. »Luís, das ist meine Cousine Matilde, von der ich dir bereits erzählt habe. Das ist Luís Bernardo Valença, der skeptischste Geist meiner Generation.« Matilde lachte über die Bemerkung und blickte Luís Bernardo direkt in die Augen. Sie war fast so groß wie er, der selbst recht groß war, aber ihr Lächeln und ihre Gesten waren die eines Mädchens. Nicht älter als sechsundzwanzig, dachte er. Und doch war sie bereits Mutter und verheiratet – das wusste er. Er wusste auch, dass ihr Mann in Lissabon arbeitete, während sie mit den beiden Kindern die Ferien in Ericeira verbrachte. Er beugte sich vor und küsste die dargereichte Hand. Er liebte es, die Hände zu betrachten, die er küsste: Ihre Hand 14 hatte lange, schlanke Finger, und genau darauf platzierte er seinen Kuss, der ein wenig länger war, als die Höflichkeit es gebot. Er hob den Blick, und sie sah ihn noch immer an. Dann lächelte sie erneut. »Was bedeutet skeptischer Geist? Heißt das ein müder Geist?« João antwortete für ihn und gab das Stichwort. »Luís und müde? Nein, es gibt Dinge, die ermüden ihn nie, nicht wahr, Luís?« »Das stimmt. Zum Beispiel werde ich niemals müde, eine schöne Frau zu betrachten.« Das klang nicht wie ein Kompliment, sondern eher wie der Beginn von Feindseligkeiten. Ein peinliches Schweigen stellte sich ein, das João nutzte, um sich zurückzuziehen. »Na schön, vorgestellt seid ihr jetzt. Dann könnt ihr ja das mit dem Skeptiker klären, während ich etwas zu trinken besorge. Aber Vorsicht, meine liebe Cousine, ich weiß nicht, ob dieser wandelnde Skeptiker in den Augen der Gesellschaft der richtige Umgang für dich ist. Ich komme jedenfalls gleich wieder, lasse euch nicht alleine in dieser misslichen Lage.« Sie sah ihm nach, während er verschwand, und trotz ihrer gespielten Sicherheit glaubte Luís Bernardo plötzlich einen kaum merklichen Schatten in ihrem Blick zu entdecken, eine leise Besorgnis in der Stimme, als sie sich an ihn wandte. »Ist das eine missliche Lage?« Luís Bernardo hatte das Gefühl, sich unpassend verhalten, sie mit seinem Satz über die schönen Frauen erschreckt zu haben. Daher antwortete er sanft: »Bestimmt nicht. Für mich jedenfalls nicht, und ich sehe auch nicht, warum es für Sie anders sein sollte. Sie kennen mich natürlich nicht, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht mit der Absicht durchs Leben gehe, anderen Menschen Böses anzutun.« Diese Erklärung klang so aufrichtig, dass sie sich offensichtlich sofort entspannte. »Dann ist’s gut. Aber sagen Sie mir doch, nur aus Neugier, warum glaubt mein Cousin, Sie könnten nicht der richtige Umgang für mich sein?« 15 »In den Augen der Gesellschaft, hat er gesagt. Und wie Sie wissen, sind die Augen der Gesellschaft niemals unschuldig, selbst wenn das, was sie sehen, von Grund auf unschuldig ist. In diesem konkreten Fall nehme ich an, dass das Unschickliche schlicht und einfach die Tatsache ist, dass Sie verheiratet sind und ich ledig bin und wir hier beisammen sind und uns in einer so wunderschönen Nacht wie dieser unterhalten.« »Ach ja! Die Schicklichkeit, das hat er also gemeint. Die ewige Schicklichkeit! Offensichtlich das Wichtigste, was es auf dieser Welt gibt.« Nun war es an Luís Bernardo, ihr tief in die Augen zu schauen. Sein Blick verwirrte sie, schien er doch eine plötzliche Mutlosigkeit, eine hilflose Einsamkeit auszudrücken, die zugleich anziehend und erschreckend war. Und als er ihr antwortete, tat er es erneut in diesem Ton absoluter Aufrichtigkeit, der sie schon zuvor entwaffnet hatte. »Hören Sie, Matilde. Die Schicklichkeit und alles, was damit zusammenhängt, spielen in unserer Gesellschaft gewiss eine Rolle, und ich will gar nicht die Welt verändern oder die Regeln, die den Menschen allem Anschein nach ein ruhiges, wenn schon kein glückliches Leben garantieren. Mir wäre es oftmals lieber, sie wären nicht so zahlreich, nicht so schwerwiegend, denn so verwechselt man das Leben leicht mit seinem Schein. Aber ich glaube, letztlich haben wir immer die Wahl. Ich zumindest habe sie, und daher betrachte ich mich auch als einen freien Menschen. Doch ich lebe mit anderen zusammen und akzeptiere ihre Regeln, auch wenn es nicht immer meine sind. Ich werde Ihnen jetzt etwas sagen: Sie sind Joãos Lieblingscousine, und João ist immer schon mein bester Freund gewesen. Natürlich haben wir bereits über Sie geredet, und er spricht immer voll Begeisterung und Zärtlichkeit von Ihnen. Ich will Ihnen nicht verhehlen, wie gespannt ich darauf war, Sie kennen zu lernen, und jetzt, wo ich Sie kennen gelernt habe, kann ich bezeugen, dass Sie noch viel schöner sind, als er es beschrieben hat, und dies ganz offensichtlich nicht nur äußerlich, 16 sondern auch innerlich. Dieses Kompliment soll Sie jedoch nicht in Verlegenheit bringen. Ich bringe Sie jetzt zu João zurück, es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, und die Nacht draußen ist wunderschön.« Er verneigte sich elegant, trat einen Schritt vor und wartete offensichtlich darauf, dass sie mit ihm den Rückzug antrat. Doch stattdessen erklang ihre warme, leicht gedämpfte, aber unerwartet feste Stimme. »So warten Sie doch! Wovor flüchten Sie? Wovor flüchtet ein Mann, der sich frei nennt? Versuchen Sie, mich zu beschützen?« »Ja, vielleicht. Ist das etwa schlimm?« Luís Bernardo wollte genauso fest wirken wie sie, doch nun war es an ihm, sich unsicher zu fühlen. Irgendetwas lief nicht wie vorgesehen. »Nein, das ist sehr ritterlich von Ihnen. Ich danke Ihnen sehr. Aber ich möchte nicht vor Gefahren beschützt werden, die gar nicht existieren. Entschuldigen Sie, aber in diesem Fall und diesem Gespräch ist Ihre Sorge fast beleidigend für mich.« Mein Gott, wo soll das hinführen?, dachte er. Stocksteif stand er da und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Sollte er bleiben, sollte er gehen? Warum kam nur João nicht und rettete ihn aus dieser Verlegenheit? »Sagen Sie mir eins, Luís Bernardo.« Sie hatte das Schweigen gebrochen, nahm das Spiel wieder auf, und er erwiderte fast ängstlich: »Ja?« »Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?« »Wenn Sie möchten …« »Warum haben Sie eigentlich nie geheiratet?« Großer Gott, das wird ja immer schlimmer, dachte er. »Weil es sich nie ergeben hat. Meines Wissens gibt es kein Gesetz, das die Leute zum Heiraten verpflichtet.« »Nein, das gibt es nicht, und trotzdem ist es merkwürdig. Sehen Sie, jetzt werde ich Ihnen ein Geheimnis verraten, das für Sie im Übrigen gar keines sein dürfte. Ein paar von meinen Freundinnen haben gelegentlich über Sie gesprochen, und zwar immer in diesem geheimnisvollen Ton. Und Sie wurden mir da17 bei als gut aussehender, intelligenter, gebildeter und gut situierter Mann beschrieben, der allen eine angenehme Gesellschaft ist. Es heißt, Sie seien ein Frauenheld, das ist kein Geheimnis. Was also ist das Geheimnis Ihres Zölibats?« »Es gibt kein Geheimnis. Ich habe mich nie wirklich verliebt, und deshalb habe ich nie geheiratet. So einfach ist das.« »Das ist seltsam …«, insistierte sie, als hätte seine Aussage sie verwirrt. »Was ist daran seltsam: dass ich mich nie wirklich verliebt habe oder dass ich nie geheiratet habe, auch ohne verliebt zu sein?« Luís Bernardo hatte wieder Oberwasser gewonnen und einen herausfordernden Ton angeschlagen. Sie erkannte die Provokation und errötete, ärgerlich über sich selbst und über ihn. Wollte er sie herausfordern? »Nein, seltsam ist, dass Sie nie das Gefühl von Verliebtheit kennen gelernt haben … dass Sie nie eine Frau lieben, nie eine Frau heiraten konnten.« Die Worte sprudelten aus ihrem Mund, der Blick, den er auffing, war so unsicher, dass Luís Bernardo seine Worte sofort bereute. Doch nun waren sie ausgesprochen, und zwischen die beiden legte sich ein Schweigen, als hätten sie heimlich einen Waffenstillstand vereinbart. João erlöste sie schließlich von diesem lastenden Schweigen. Luís Bernardo nutzte sogleich die Gelegenheit, um sich mit einer kurzen Höflichkeitsfloskel und einem Kopfnicken zu verabschieden. Er trat hinaus in den hellen Mondschein. Das Meer von Ericeira schien sich beruhigt, schien ebenfalls die Waffen gestreckt zu haben. Aus der Ferne erklang die Musik von einem Volksfest, und aus einem zur Hauptstraße hin offenen Fenster drangen die Stimmen und das Lachen einer allem Anschein nach glücklichen Familie. Auf einmal verspürte Luís Bernardo geradezu Sehnsucht nach solch einem von niemandem hinterfragten Glück. Er hatte Lust, dorthin zu gehen, wo die Musik gespielt wurde, ein Mädchen aus dem Ort zum Tanzen aufzu18 fordern, ihren festen, ein wenig atemlosen Körper an seinem Körper zu spüren, das billige Eau de Cologne in ihrem Haar zu riechen und ihr in einer plötzlichen Eingebung ins Ohr zu flüstern: »Willst du mich heiraten?« Er musste schmunzeln über diesen Einfall und dachte sich, dass er es sich am nächsten Tag doch wieder anders überlegen würde. Dann zündete er sich im Dunkeln eine Zigarette an und hörte plötzlich nur noch seine Schritte, die sich in Richtung Hotel entfernten. Die beiden darauf folgenden Wochen in Ericeira verbrachte er vormittags am Strand, mittags in den kleinen Fischlokalen direkt am Wasser, wo man in aller Bescheidenheit den besten Fisch der Welt bekam, und nachmittags im Hotelsalon oder in einem der Straßencafés am Platz, wo er Zeitung las, Briefe schrieb oder mit João Forjaz und anderen Freunden plauderte. Das Abendessen nahm er, wenn er nicht irgendwo eingeladen war, im Hotel ein, pünktlich um halb neun, alleine, mit João oder auch mit anderen, die gerade kein festes Programm hatten. Im Speisesaal gab es all das zu sehen, was das geruhsame gesellschaftliche Leben eines Sommerhotels ausmachte. Junge Paare, deren Kinder, sofern es sie gab, der Amme anvertraut worden waren, die mit ihnen in dem kleinen Esszimmer neben der Küche speiste, Großfamilien – Großeltern, Söhne, Töchter, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter und jugendliche Enkel –, die die beiden mittleren Tische des Speisesaals einnahmen, einsame Herren, einige davon auf der Durchreise, andere auf Urlaub wie er, oder Offiziere im Dienste der Königin Dona Amélia, die ebenfalls dort den Sommer verbrachte. Luís Bernardo war fasziniert von der Phantasie des Küchenchefs, der jeden Tag, und ohne je ein Gericht zu wiederholen, drei Suppen, drei Vorspeisen, drei Fischgerichte, drei Fleischgerichte und drei Desserts auf seiner Speisekarte anbot. Nach dem Abendessen zog er sich für gewöhnlich mit anderen Herren in die Bar oder den Rauchersalon zurück, wo er seine Zigarre anzündete und in einem bauchigen Glas französischen Cognac schwenkte. Dort saß er und beobachtete die anderen oder ließ sich zu einem Würfel19 oder Dominospiel überreden. Letzteres übrigens ein Spiel, das ihn zu Tode langweilte. Zu gegebener Stunde begaben sich die Unverheirateten dann hinaus ins Leben, und die Familienväter blieben allein zurück. Es gab nur ein Ziel: das Casino, wo praktisch das gleiche Programm ablief – Zigarren, Cognac, Spiele, Unterhaltungen, eine Routine, die lediglich durch die beiden großen Sommerbälle Anfang und Ende August unterbrochen wurde. Es gab aber auch eine heimliche, inoffizielle Alternative, über die nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde: den Besuch der Salons von Dona Júlia oder Dona Imaculada. Unter den Herren hieß es, Dona Júlia habe die frischeren Mädchen, aber bei Dona Imaculada seien sie vertrauenswürdiger. Diese Besuche begannen gegen Mitternacht und zogen sich bis in die frühen Morgenstunden hin. Verheiratete und Ledige, wohlhabende und einflussreiche Herren, selbst Familienväter brachten ihre fast noch bartlosen Söhne dorthin, um sie würdevoll in die Welt der Männer einzuführen. Die nächtlichen Abenteuer der Herren der Sommergesellschaft Ericeiras boten den Damen am nächsten Morgen in den Strandkörben allerlei Anlass zu Tuscheleien. »Gestern sollen allein bei Dona Imaculada zwei Grafen und ein Marquis gewesen sein! Gott im Himmel, wo soll das noch enden?«, fragte mit honigsüßer Stimme von der Höhe ihres untadeligen Witwenstatus herab Mimi Vilanova, die an den Stränden Ericeiras unangefochten als die Königin der Tugend galt. »Also mein Mann wurde da noch nicht gesichtet, der verbringt die Nächte an meiner Seite«, versicherte eilends eine verheiratete Dame, die mit den lokalen Gepflogenheiten noch nicht so vertraut war. Und die Damen schwiegen und schüttelten missbilligend den Kopf. Doch über Andeutungen ging das Ganze nie hinaus, und auch die »Mädchen« taten niemals den Mund auf, wussten sie doch, dass Verschwiegenheit die Seele ihres Geschäfts war; ebenso wenig hätte einer der Herren, selbst wenn er diese Orte niemals aufsuchte, sich an der unverbrüch20 lichen Solidarität versündigt, die sich auf alles erstreckte, was die außerehelichen Kontakte von Männern betraf. Luís Bernardo war auch zweimal dort gewesen, in Begleitung von João und anderen Freunden. Einmal bei Dona Júlia und das andere Mal bei Dona Imaculada, gelassen und entspannt wie nur wenige in einer solchen Situation. Er musste niemandem Rechenschaft ablegen, nicht einmal seinem Gewissen. Und wenn er sich dort körperliche Befriedigung verschaffen konnte, so tat er dies mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er zu einem Abendessen bei Freunden ging. Doch herrschte an diesen Sommertagen auch eine Langeweile, die schlimmer war als die häufig wolkenverhangenen Vormittage, an denen Kinder und Badegäste nicht ins Wasser gingen, sondern sich im Sand tummelten, möglichst weit vom Meer entfernt. Die Tage waren zu lang für diese ewige Muße, die wie ein Laster ohne Freuden war, wie eine stupide, sinnlose Ruhe, die ihn enervierte und in einen Zustand andauernder Willenlosigkeit versetzte. Tagsüber ging er spazieren, nachts trieb er sich herum, und ständig fragte er sich, was er eigentlich dort sollte, wenn er doch nur die Tage verstreichen ließ und insgeheim auf etwas wartete, was niemals eintreten würde. In diesen beiden Wochen hatte er Matilde nur zweimal gesehen. Eigentlich hatte er sie gar nicht richtig gesehen, nur flüchtig wahrgenommen. Ganz fern war sie gewesen, unerreichbar für ihn. Das erste Mal bei einem Konzert im Park, nach dem Abendessen. Sie kam mit einer ganzen Gruppe von Leuten, er war mit João und zwei weiteren Freunden unterwegs. Sie begrüßte João mit einem überschwänglichen Kuss und schien ihn erst dann zu bemerken. »Hallo, Sie auch hier? Haben Sie also immer noch Ferien?« Er antwortete nur mit einem dümmlichen »Wie man sieht« und hoffte, sie werde ihn zumindest fragen, bis wann. Doch Matilde ging mit einem leisen Abschiedslächeln einfach weiter und verlor sich in der Menge. Das zweite Mal sah er sie beim Casinoball, kaum dass er, von der Bar und den üblichen Gesprächen mit den üblichen Leuten kommend, den 21 Tanzsaal betreten hatte. Er lehnte am Türpfosten und ließ den Blick über die Runde schweifen, als er sie plötzlich erblickte. Sie war strahlend schön, in einem bodenlangen, weiß-gelben Trägerkleid, das Haar mit einer brillantenverzierten Tiara hochgesteckt, die dunkle Haut leicht sonnenverbrannt. Sie wirkte noch größer und leichter, während sie in den Armen ihres Mannes einen langsamen Walzer tanzte. Ihre Augen blickten in Luís Bernardos Richtung, hatten ihn jedoch noch nicht entdeckt. Sie lächelte über etwas, das ihr Mann ihr gerade ins Ohr flüsterte. Als ihr Blick schließlich auf den seinen traf, der starr auf sie gerichtet war, schweifte er für einen kurzen Augenblick ab, als erkenne sie ihn nicht sofort, doch dann grüßte sie ihn mit einem leisen Kopfnicken, das eigentlich gar keines war, sondern eher ein unmerklicher Augenaufschlag. Da machte ihr Tanzpartner eine unerwartete Drehung, sie verschwand aus Luís Bernardos Gesichtsfeld und verlor sich in der Menge der glücklichen, in einer lauen Sommernacht tanzenden Paare. Luís Bernardo kehrte dem Ball und dem Casino den Rücken und ging eine Zigarette rauchen. Er versuchte zu ergründen, was er gerade empfand. Wut, ja Wut – eine törichte, unvernünftige, durch nichts gerechtfertigte Wut. Neid, einen irrationalen, unbeherrschten Neid. Und Traurigkeit, Leere, aus seinem Inneren kommend, wo eine Stimme ihm sagte: »Du wirst niemals so glücklich sein, wirst niemals so eine Frau haben, die du dein Eigen nennen kannst. Jeder ist seines Glückes Schmied, und du hast dir das deine geschaffen. Du lebst nicht dein eigenes Glück, sondern das, was du anderen von ihrem Glück rauben kannst.« Da fühlte er sich auf einmal ganz schlecht. Schlecht in Bezug auf sein Leben, seine Person, seine viel gerühmte Freiheit. Der Ball war ihm verdorben. Die Ferien waren unerträglich geworden. Er kam sich vor wie ein artfremdes Tier, wie ein Raubvogel inmitten eines glücklichen – auf idiotische, unverständliche Weise glücklichen – Vogelschwarms. Er verließ den Ball, als dort gerade Stimmung aufkam, und kehrte schnellen Schrittes zum Hotel zurück. An der Rezeption bat er, man 22 möge ihm für den nächsten Tag die Rechnung fertig machen, konsultierte den Zugfahrplan und legte sich gleich darauf schlafen. Vollständig angekleidet schlief er ein, lediglich den Frack hatte er abgelegt, das Fenster zum Meer weit geöffnet. Er wachte vor allen anderen Gästen auf, da er um halb elf in Mafra den Zug nehmen wollte. Die kleineren Kinder frühstückten zusammen mit ihren Kindermädchen, die Erwachsenen schliefen noch, denn die Ballnacht war lang gewesen. Gedankenverloren stieg er die Treppe zum Erdgeschoss hinab, als sein Herz plötzlich einen Satz machte und er wie angewurzelt stehen blieb. Unten an der Treppe stand Matilde und blickte zu ihm hoch. Sie trug ein weißes Kleid mit ausgeschnittenem Oberteil, das ihm von oben Einblick in ihren Busen gewährte. Ihre Brust atmete schwer, wie die eines verwundeten Tiers. Schließlich brach Luís Bernardo das Schweigen. »Matilde! Sie hier, um diese Uhrzeit!? Ich hätte gedacht, Sie schlafen noch, nach der gestrigen Nacht!« »Und Sie, Luís, was war gestern mit Ihnen los? Sie waren auf einmal verschwunden …« »Ich bin kein großer Freund von Bällen. Ich hatte dort nichts zu tun, und deshalb bin ich gegangen.« »Sie hatten dort nichts zu tun? Was wollen Sie damit sagen? Was macht man denn auf einem Ball außer tanzen?« »Ich habe niemanden gesehen, mit dem ich hätte tanzen können …« »Aber, aber, was für ein anspruchsvoller Mann! Wirklich niemanden?« »Ich habe Sie gesehen, und Sie schienen sehr glücklich zu sein.« »Ja, ich habe mit meinem Mann getanzt …« Vergebens versuchte er, aus dem Ton, in dem sie dies sagte, etwas herauszuhören, Gutes oder Schlechtes. Nichts. Es war, als hätte sie ihm die selbstverständlichste Antwort der Welt gegeben. Er seufzte, rief sich in die Realität zurück. Denn plötzlich hatte er sie wieder vor sich gesehen, so schön, so unbeschwert und glücklich, 23 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Miguel Sousa Tavares Am Äquator Roman Taschenbuch, Broschur, 480 Seiten, 11,8 x 18,7 cm ISBN: 978-3-442-46551-4 Goldmann Erscheinungstermin: Juli 2008 Lissabon, 1905. Der portugiesische König unterbreitet Luís Bernardo Valença ein unerwartetes Angebot: Ausgerechnet er, der Bonvivant und ewige Junggeselle, soll Gouverneur der Äquator-Provinzen São Tomé und Príncipe werden. Dort soll er selbst die Vorwürfe der Briten widerlegen, auf den Kakaoplantagen werde Sklavenarbeit geduldet. Voller Abenteuerlust nimmt er diese Herausforderung an und taucht ein in eine fremde, faszinierende Welt, die politische Spannungen bereithält, aber auch eine wunderschöne und gefährliche Frau …