Das Erotische im Werk von João Ubaldo Ribeiro
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Das Erotische im Werk von João Ubaldo Ribeiro
Das Erotische im Werk von João Ubaldo Ribeiro Freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Grades einer Magistra Artium Eingereicht von: Caroline Benzel Eingereicht bei: Freie Universität Berlin Lateinamerikainstitut 1. Dr. Berthold Zilly 2. Prof. Dr. Víctor Farías 2 An dieser Stelle möchte ich denjenigen danken, die mich während meines Studiums unterstützt haben. Ich danke meinen Eltern Barbara und Volker Benzel, meiner Großmutter Vera Bodsch und meinem Patenonkel Manfred Hennig. Estou muito agradecida à familia Weitmann que me hospedou em casa como se fizesse parte da familia. Os meus agradecimentos também à Vera Follainde Figueiredo que me recebeu carinhosamente no Rio e me ajudou a ordenar as minhas ideias e ao João Pedro Barboza que me mostrou as belezas da ilha Itaparica ligando-as à obra e vida de João Ubaldo Ribeiro. Foram igualmente importantes as indicações de João César de Castro Rocha sobre a evolução da imagem do Brasil erotizado. Quero ainda agradecer a João Ubaldo Ribeiro por me ter concedido uma entrevista muito interessante e divertida. Jamais teria coneseguido conhecer estas pessoas, se o meu professor Berthold Zilly não me tivesse generosamente introduzido neste círculo dos amigos dele. Sem esse apoio, sem as conversas e encontros durante o processo de criação, este trabalho seria bem diferente – para pior. Por isso, muito obrigada professor!!! Os meus agradecimentos ainda ao Luiz António da Souza e à Suzie Pires da Biblioteca da Academia Brasileira de Letras pela ajuda simpática e generosa na pesquisa e às Editoras Nova Fronteira e Objetiva por partilharem os seus clippings de jornais comigo. And last but not least: Vielen Dank an meine unermüdlichen Korrekturleserinnen Jana Weydt, Gitte Wöbbeking, Katrin Reinshagen und Ana Águiar! 3 Inhaltsverzeichnis Einleitung S. 4 1. S. 7 João Ubaldo Ribeiro, ein umstrittener Interpret Brasiliens 2. Eine Diskussion des Erotikbegriffs 2.1 Was ist Erotik? 2.2 Erotik versus Pornographie S. 13 S. 13 S. 18 3. S. 20 Brasilien, Land der Erotik? 4. Identitätstiftende Erotik in Viva o povo brasileiro 4.1 Literarischer und erotischer Kannibalismus 4.2 Die Mulattin als Ergebnis der Vergewaltigung 4.3 Die Mulattin als aktiv Handelnde 4.3.1 Maria da Fé: eine Amazone mit erotischen Bedürfnissen 4.3.2 Die erotische Macht der Sklavin 4.4 Der kolonialisierte Mulatte S. S. S. S. S. S. S. 29 30 35 40 40 44 46 5. Erotik als Gesellschaftskritik 5.1 Die Perversionen der Mächtigen in O feitiço da ilha do pavão 5.2 Karnevalisierte Erotik S. 49 S. 49 S. 54 6. 6.1 Die Erotik des Bösen Die Macht gesellschaftlicher Zwänge – Homosexualität in O sorriso do lagarto 6.2 Die Erotik der Zerstörung in Diário do Farol S. 60 S. 61 7. Erotik der Körper und der Herzen 7.1 Verwandte Seelen 7.2 Happy End für die Liebe 7.3 Tragische Liebe 7.4 Autoerotik S. S. S. S. S. 72 73 75 79 80 8. 8.1 8.2 8.3 8.4 Wollust – Sünde oder pornographisches Motiv? Das Erotische als Verkaufsstrategie? Die eingeschränkte Libertinage Die ambivalente Macht der Libertine Das Pornographische in A casa dos budas ditosos S. S. S. S. S. 82 83 84 88 91 9. Miséria e Grandeza do amor de Benedita – Eine Parodie der Erotik Jorge Amados? S. 94 10. Abschließende Betrachtung S. 98 S. 66 Interview mit João Ubaldo Ribeiro S. 107 Bibliographie S. 116 4 Einleitung Das Erotische ist schon seit dem 16. Jahrhundert mit dem Bild Brasiliens verbunden und wurde zu einem Teil der brasilianischen Selbstbetrachtung. Die Analyse des Werkes eines einflußreichen zeitgenössischen Autors, wie João Ubaldo Ribeiro, der sich intensiv mit dem Selbstverständnis Brasiliens beschäftigt, kann zeigen, welche Bedeutung Erotik und Sexualität innerhalb des Identitätsdiskurses heute beigemessen wird. Bei der Diskussion dieser Frage sollen Texte anderer brasilianischer Autoren, sowie soziologische und kulturhistorische Forschungen hinzugezogen werden. Danach wird untersucht, in welchem Verhältnis Ubaldo Ribeiros Bücher zu gängigen Interpretationen und Strömungen stehen. Zudem muß beachtet werden, daß der Autor innerhalb der brasilianischen Literaturwissenschaft umstritten ist, da ihm von einigen Kritikern eine zu starke Marktorientierung vorgeworfen wird. Im Zuge dieser Arbeit soll deshalb auch auf die Frage eingegangen werden, ob der Autor literarische Erotik möglicherweise verwendet, um den Verkaufserfolg seiner Bücher zu steigern. In meiner Magisterarbeit möchte ich untersuchen, auf welche Weise und zu welchem Zweck João Ubaldo Ribeiro das Erotische einsetzt. Dafür werden repräsentative Textstellen aus Viva o povo brasileiro (1984), O feitiço da Ilha do Pavão (1997), Diário do Farol (2002), A casa dos budas ditosos (1999), O sorriso do lagarto (1989) und Miséria e Grandeza do amor de Benedita (2000) analysiert. Die frühen Romane, vor Viva o povo brasileiro werde ich nicht einbeziehen, da in ihnen das Thema Erotik zwar vorhanden ist, aber noch nicht dominiert. Zudem würde deren Analyse den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Aus denselben arbeitstechnischen Gründen bleiben crônicas (Kolumnen) und Kurzgeschichten des Autors unerwähnt. Die Erkenntnisse dieser Arbeit basieren nicht nur auf dem Studium und der Analyse von Primär- und Sekundärliteratur, sondern auch auf einer Forschungsreise nach Brasilien. Während der Aufenthalte in Rio de Janeiro, São Paulo, Salvador da Bahia und auf Itaparica, konnte ich in zahlreichen Bibliotheken forschen, und meine Ansätze mit brasilianischen Literaturwissenschaftlern diskutieren. Aufschlußreich war auch das Interview, das der Autor mir freundlicherweise gewährte und das im Anhang dieser Arbeit abgedruckt ist. 5 Im ersten Kapitel wird zunächst der Autor und sein Werk vorgestellt sowie darzulegen versucht, warum der einst politische Schriftsteller heute bei manchen Kritikern als Bestsellerautor verpönt ist. Im zweiten Kapitel soll der Begriff Erotik in Abgrenzung zu Sexualität und Pornographie diskutiert und eine brauchbare Definition für die vorliegende Arbeit vorgeschlagen werden. Danach werde ich im dritten Kapitel die Art und Weise erörtern, wie mit diesem Thema in Brasilien umgegangen wird und dabei vor allem auf brasilianische Literatur und Bilddarstellungen über Brasilien eingehen. Viva o povo brasileiro ist der Roman Ubaldo Ribeiros, in dem er sich am dezidiertesten mit der brasilianischen Geschichte und der nationalen Selbstbetrachtung befaßt. Im vierten Kapitel soll deshalb das Erotische in diesen Roman vor allem im Bezug auf bekannte Motive der brasilianischen Identitätskonstruktion untersucht werden, wie den Kannibalen, die Mulattin und den Mulatten. Bei der Analyse von Viva o povo brasileiro stellt sich heraus, daß der Autor Erotik auch in einer kritischen Funktion einsetzt, mit der gesellschaftliche Mißstände und Charakterfehler der Figuren aufgedeckt werden können. Die gesellschaftskritische Intention João Ubaldos scheint sich auch in anderen Romanen fortzusetzen. Im fünften Kapitel wird deshalb geprüft, inwiefern er mit dem Erotischen in O feitiço da ilha do pavão ähnliche Ziele verfolgt. Der Autor scheint sich bei der Darstellung von Erotik auf perverse Praktiken zu konzentrieren, die in den Romanen O sorriso do lagarto und Diário do Farol besonders schockierend erscheinen. Im sechsten Kapitel werde ich deswegen zu klären versuchen, zu welchem Zweck João Ubaldo diese Formen der Erotik einsetzt und ob die Grenzen der Pornographie in diesen Büchern bereits überschritten sind. Bei der Lektüre des ubaldischen Werkes scheint die körperliche Erotik ohne Liebesimpuls zu überwiegen. Im siebten Kapitel soll daher der Versuch unternommen werden, die Liebesgeschichten aus Viva o povo brasileiro, O feitiço da ilha do pavão und O sorriso do lagarto in ihrer Wirkung zu erklären. Dabei wird auch die Autoerotik mancher Figuren betrachtet, da in deren Phantasie der Liebespartner anwesend sein kann. Im achten Kapitel soll der als pornographisch intendierte Roman A casa dos budas ditosos analysiert werden, um festzustellen ob nach der getroffenen Definition tatsächlich pornographische Elemente vorhanden sind. Zudem soll nach Hinweisen gesucht werden, die auf eine besondere Marktorientierung des Autors in diesem Roman schließen lassen. Da das Buch innerhalb einer Serie über die sieben Todsünden entstand, versuche ich 6 herauszufinden, ob das Erotische in diesem Roman besonders negativ bewertet erscheint, oder doch eine befreiende Funktion haben könnte. Da die brasilianische Kritik João Ubaldos Literatur mit dem Werk von Jorge Amado in Zusammenhang bringt, wird im neunten Kapitel das Erotische des Romans Miséria e Grandeza do amor de Benedita vor allem im Hinblick auf „motivos amadianos“ betrachtet. Im zehnten Kapitel sollen die Erkenntnisse dieser Arbeit zusammengefaßt werden. 7 1.João Ubaldo Ribeiro, ein umstrittener Interpret Brasiliens João Ubaldo Ribeiro (1941- ) gilt als einer der wichtigsten brasilianischen Schriftsteller der Gegenwart, dessen Bücher im In- und Ausland hohe Auflagen erzielen.1 Der aus Bahia stammende Autor wurde 1993 in die Academia Brasileira de Letras aufgenommen, nachdem ihn sein Freund und bahianischer Landsmann Jorge Amado (1912-2001) vorgeschlagen hatte. In Brasilien ist João Ubaldo Ribeiro jedoch nicht nur als Literat bekannt, sondern auch als Journalist, der jeden Sonntag crônicas in den Zeitungen O Globo und Estado de São Paulo veröffentlicht, weshalb er und sein Werk einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind. Zudem wurden einige seiner Romane fürs Fernsehen und Kino adaptiert.2 Als Höhepunkte seiner schriftstellerischen Karriere gelten die während der Militärdiktatur (1964-1985) veröffentlichte Romane Sargento Getúlio (1971) und Viva o povo brasileiro (1984). Für beide Bücher erhielt er im Erscheinungsjahr den Prêmio Jabutí da Câmara Brasileira do Livro als bester Romanautor des Jahres. Auch Ubaldo Ribeiro scheint diese beiden Bücher besonders zu schätzen, da es die einzigen sind, die er selbst ins Englische übersetzt hat. Während der Militärdiktatur erschien auch der Roman O setembro não tem sentido (1968) über die intellektuellen Probleme des jungen Künstlers, sowie Vila Real (1979), der vom Überlebenskampf der Bauern des Sertão handelt. In dieser Zeit betrachtet João Ubaldo sich als politisch engagierten Autoren, wie er rückblickend (1987) in einem Interview erklärt. „ (...) je n’ai jamais eu de vocation de militant et j’aurais fait un détestable guérillero. Mais, en même temps, ce que j’écrivais était résolument très orienté. Je pensais que je pouvais changer le monde, moi et tous mes amis de ma génération,(...). Nous mêlions cynisme et engagement. “ 3 Gleichzeitig sind die ersten drei Romane Setembro não tem sentido, Sargento Getúlio und Vila Real stark autobiographisch geprägt, sie sind eine „ sorte d’autobiographie fantasmagorique“4, indem der Autor vor allem seine Kindheit in Sergipe und die Position seines Vaters als Polizeichef verarbeitet. 1 Die Bücher Ubaldo Ribeiros wurden in folgende Sprachen übersetzt: Deutsch, Dänisch, Englisch, Finnisch, Französisch, Hebräisch, Holländisch, Italienisch, Norwegisch, Russisch, Slowenisch, Schwedisch, Spanisch, Ungarisch. 2 TV: O santo que não acreditava em Deus (Rede Globo, 1993), A maldita (Rede Globo, 1995), O sorriso do lagarto (Rede Globo, 1991), Danada de sabida (Rede Globo, 1994), O poder da arte e da palavra (Rede Globo, 1994) Kino: Sargento Getúlio (1983 mit Lima Duarte in der Hauptrolle) 3 Raillard, Alice, „Je suis le résultat d’une maturation”, in: La quinzaine littéraire, 1987, S.23. 4 Ibid., S.23. 8 In Viva o povo brasileiro versucht der Autor sich an einer Deutung der brasilianischen Geschichte und der nationalen Selbstbetrachtung. „Il me semble être le résultat d’une maturation. Je ne pense plus que je vais changer le monde, mais que je vais contribuer à ce changement en communiquant ma prise de conscience de la réalité brésilienne. Je ne considère plus le livre comme … un fusil, mais comme une base sur laquelle édifier quelque chose de nouveau ; comme une contribution à la connaissance que nous prenons de nous-mêmes, en tant que Brésiliens et en tant que personnes. Je ne pense plus uniquement en termes de Brésil, je pense au monde, bien que je pense avant tout en termes brésiliens. “5 Der Blickwinkel des Autors hat sich vergrößert – die Schauplätze seiner Jugend bleiben präsent, doch integriert er sie jetzt in einen gesamt-brasilianischen Kontext. João Ubaldo behält seine kritische Grundhaltung gegenüber der herrschenden Klasse Brasiliens, bemüht sich aber gleichzeitig um eine positive Affirmation der brasilianischen Identität6, indem er denen eine Stimme gibt, die in der offiziellen Geschichtsschreibung ignoriert werden, nämlich den Sklaven und Armen. Indem der Autor die Standpunkte von Unterdrückern und Unterdrückten ironisch gegenübergestellt, weist er auf den Leitsatz des Romans hin, „Não existem fatos, só existem histórias.“7 Auch im Roman O feitiço da ilha do pavão (1997), der dreizehn Jahre später veröffentlicht wurde, geht es um die Veränderung scheinbarer Tatsachen, wenn einzelne Figuren die Zukunft der Pfaueninsel magisch verändern können. Auffällig an beiden Romanen sind der ironische Erzählstil und die sehr offenherzig beschriebenen erotischen Szenen. Sexualität und Erotik nehmen einen wichtigen Platz im gesamten Werk des Autors ein: „I was always fascinated by the idea of writing a pornographic book with some literary quality. This is a very difficult genre.“8 Eben diesen Versuch unternimmt Ubaldo Ribeiro mit dem Roman A Casa dos budas ditosos, der in Portugal einen derartigen Skandal auslöste, daß zwei Supermarktketten den Verkauf verweigerten. 5 Raillard, Alice, „Je suis le résultat d’une maturation”, in: La quinzaine littéraire, 1987, S.23. „Kulturelle Identität, Bezeichnung für das gefühlsbeladene Selbstverständnis eines Individuums oder einer sozialen Einheit, einem bestimmten unverwechselbaren kulturellen Milieu anzugehören, das sich in gesellschaftlich-historisch erworbenen Eigenheiten wie Sprache, Werten, Sitten und Bräuchen und ähnlichem von anderen Kollektiven unterscheidet. Im 20. Jahrhundert ist der Begriff der kulturellen Identität eng verbunden mit den politischen Bestrebungen ethnischer Minderheiten in Europa, Asien und Nordamerika oder ganzer Bevölkerungen in Afrika, Asien und Lateinamerika, sich von der kulturellen Bevormundung durch die europäisch geprägten westlichen Kulturen zu befreien.“ In: Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003. 7 Epigraph zu Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 7. 8 „Porno with redeeming value” in: Brazzil, April 1999, Internet. 6 9 Das Buch ist die fiktive Lebensbeichte einer Frau aus Bahia, die ihr Leben nur ihrer erotischen Selbstverwirklichung gewidmet hat, und entstand 1999 als Teil einer Serie über die sieben Todsünden. Schockierend wirkte auch der Roman Diário do Farol (2002), der von einem Priester handelt, der nach schrecklichen Mißhandlungen in der Kindheit seine Existenz dem Bösen verschrieben hat. Auch in O sorriso do lagarto (1989) steht „das Böse“ thematisch im Mittelpunkt. Ein alkoholkranker Biologe kommt einer Gentechnik-Testreihe auf die Spur, in der Menschen und Tiere gekreuzt werden. „Das Böse“ manifestiert sich hier in skrupellosen Vertretern der brasilianischen Mittelschicht, die mittellose Frauen zu Versuchszwecken mißbrauchen. Die Themen des ubaldischen Werkes sind äußerst vielfältig und haben doch die Gemeinsamkeit, daß der Blick des Autors stets auf Brasilien gerichtet ist – keine Selbstverständlichkeit bei einem so weitgereisten Mann. Selbst den Berlinaufenthalt während der Wiedervereinigung nutzte er später kaum literarisch. Seine schriftstellerische Auseinandersetzung mit Deutschland beschränkt sich auf die in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Kolumnen9 und Anekdoten über deutsche Verhaltensweisen.10 João Ubaldo Ribeiro interpretiert Brasilien nicht nur auf die unterschiedlichsten Arten, sondern erfindet es immer wieder neu. Die Betonung der Erotik, die Ubaldo Ribeiro selten euphemistisch sondern meist sehr deutlich darstellt, wird ihm von manchen Kritikern als Exotismus11 angelastet. „Existe um tipo de bestseller brasileiro para exportação, cuja fórmula básica está na ambientação histórica e regionalista, onde o líbido aflora, mais forte do que o poder e a religião, sobretudo nas mulheres (...). João Ubaldo Ribeiro (...) nos dá um típico representante dessa literatura made for gringo, (...), com paisagens exuberantes, costumes exóticos e tipos femininos calientes “12 Besonders Literaturwissenschaftler aus São Paulo und Rio de Janeiro werfen ihm vor, Bestseller zu produzieren, deren literarischer Wert zweifelhaft ist. So wird er als ein wenig origineller Nachfolger von Jorge Amado gehandelt, der ein exotisches Brasilienbild produziert, um im Ausland Erfolg zu haben.13 9 Zusammengestellt in: Ribeiro, João Ubaldo, Ein Brasilianer in Berlin, 1994. besonders auffallend in: Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 2000². 11 Exotismus ist eine Grundhaltung, die das Fremde als besonders positiv auszeichnet und Probleme ausklammert. Vor allem zivilisationsmüde Europäer erliegen der Anziehung des Exotischen. Vgl. Brockhaus – Die Enzyklopädie, Band 7, 1998, S. 23 f. 12 Monte, Alfredo, „João Ubaldo Ribeiro faz obra para estrangeiros”, in: A Tribuna, 1998. 13 Im Zuge meiner Recherchen wurde ich vor allem in den Universitäten von Rio de Janeiro und São Paulo mit dem Vorurteil konfrontiert, daß João Ubaldo kein ernstzunehmender Schriftsteller sei, der Brasilien exotisiere, von seinem Verlag gekauft worden sei und seit Sargento Getúlio kein gutes Buch mehr geschrieben habe. An der Universidade de São Paulo fand ich nur eine Magisterarbeit über João Ubaldo Ribeiro. 10 10 Der Vergleich mit Jorge Amado erscheint durchaus berechtigt, auch wenn João Ubaldo das stets abstreitet: „(...) como escritor não me vejo como herdeiro de Jorge Amado - ele é único.”14 Beide Autoren sind literarische Populisten15, die das einfache Volk und dessen Werte schätzen und gleichzeitig die Korruption und den moralischen Verfall der herrschenden Klassen angreifen. Beide verwenden populäre Liedtexte, Gedichte, Gebete und Rezepte, um die Volkskultur in ihren Romanen aufleben zu lassen. Im Gegensatz zu Jorge Amado ist João Ubaldo Ribeiro jedoch kein Romantiker. Er schreibt zwar auch über exotische Schauplätze, sinnliche Frauen und erotische Verwicklungen, doch bemüht er sich dabei stets um ironische Distanz. Die Novelle Miséria e Grandeza do amor de Benedita (2000), die von dem malandro16 Deoquinha und dessen Ehefrau handelt, erinnert zwar sehr an Amados Romane Dona Flor e seus dois maridos (1966) oder A morte e a morte de Quincas Berro d’água (1959), ist in der Grundhaltung des Autors jedoch spöttischer. Wenn Ubaldo Ribeiro ein Nachfolger Jorge Amados sein sollte, dann vor allem im Bezug auf dessen zweite Phase, die 1958 mit Gabriela, Cravo e Canela beginnt und in der Amado den Humor entdeckt. Wenn João Ubaldo Ribeiro abstreitet ein Nachfolger Amados zu sein, dann entweder aus Bescheidenheit, oder aber aus Gründen der Eitelkeit. Schriftsteller und Dichter wollen originell sein und denken ungern über fremde Einflüsse auf ihr Werk nach. „To be enslaved by any precursor’s system, (…), is to be inhibited from creativity by an obsessive reasoning and comparing, presumably of one’s own works to the precursor’s. Poetic influence is thus a disease of selfconsciousness; (…)“17 Daß es Verbindungen und Übereinstimmungen zwischen dem literarischen Schaffen der beiden Autoren gibt, ist eindeutig, auch wenn man die Auswirkungen dieses gegenseitigen Einflusses noch genauer untersuchen müßte. Dafür spricht auch, daß die Schriftsteller befreundet waren und auch privat über Literatur und Politik diskutierten.18 Halten manche Kritiker den literarischen Populismus Amados19 und 14 Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 114 (dieser Arbeit). „Im Populismus wird das Volk als Beispiel vorgeführt, mit einer Tendenz zur Mythisierung dargestellt, einhergehend mit der Aufwertung der Arbeit und der heimatlichen Verwurzelung.“ In: Hess, Rainer: Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten, 1989, S. 332. 16 Der malandro ist ein brasilianischer Schelm, der bei den Frauen beliebt ist und sich häufig von ihnen aushalten läßt. Er vermeidet Arbeit und mogelt sich nicht selten mit krimineller Energie durchs Leben. 17 Bloom, Harold, The Anxiety of Influence, 1973, S. 29. 18 Vgl. zur Freundschaft der beiden: Ribeiro, João Ubaldo, Interview mit Jorge Amado, wahrscheinlich 1979. In der Fundação da Casa Jorge Amado in Salvador gibt es einen Briefwechsel zwischen den beiden Autoren, der jedoch der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich gemacht wurde. 19 Vgl. zum Populismus bei Amado: Galvão, Walnice Nogueira, Saco de Gatos, 1976. 15 11 Ubaldo Ribeiros für verwerflich, so wird João Ubaldo aber auch deswegen kritisiert, weil er aus seinem Drang Geld zu verdienen keinen Hehl macht. „Ora, eu escrevo por dinheiro. Felizmente, estou em boa companhia: Balzac, Dickens, Faulkner, Dostoiévsky, todos eles eram profissionais. Neste caso, somos uns mercenários. Umberto Eco diz que alguns escritores aspiram a seguir o gosto popular, enquanto outros aspiram a criar seu próprio público. Eu, com modéstia, coloco-me no segundo grupo. Ou seja, não quero curvar minha espinha dorsal para seguir uma trilha popularesca, como uma prostituta. Quero, é viver do meu trabalho, vendendo os meus livros, como tenho feito até hoje, (…).“20 Es ist sicher legitim, diese Selbsteinschätzung des Autors vor allem mit Blick auf Bestseller wie Diário do Farol und A casa dos budas ditosos anzuzweifeln, da deren skandalöse Inhalte mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Verkaufserfolg abzielten. Beide Bücher wurden von Verlagen in Auftrag gegeben und bei Nova Fronteira hat Ubaldo Ribeiro inzwischen einen Exklusivvertrag bis 2010. Damit hat sich die Zielsetzung des Autors möglicherweise geändert. Ohne die direkte Bedrohung der Grundfreiheiten durch die Militärdiktatur entwickelte er sich vom engagierten Schriftsteller immer mehr zum professionellen Schreiber, der nicht aus einem inneren Drang heraus schafft, sondern um Geld zu verdienen. Schreiben ist nicht mehr künstlerische Berufung, sondern ein Beruf. Was jedoch nicht bedeutet, daß João Ubaldo seine sozialkritische Grundhaltung aufgegeben hätte. Diese zeigt sich beispielsweise in der Selbstdarstellung des Autors, der sich dem Volk stärker verbunden fühlt als den Eliten und sich in seinen crônicas und in Interviews als einfachen Menschen präsentiert, der instinktiv schreibt. Tatsächlich kommt er jedoch aus der oberen Mittelschicht, ist hoch gebildet und hat Jura, Politologie und Verwaltungswissenschaften studiert. Sein Auftreten als Mann des Volkes, „que não tem cara de escritor“21 der meist in Bermudas und mit Sandalen herumläuft, ist vielleicht auch als Protesthaltung gegen die eigene Herkunft zu erklären. João Ubaldo kann die Eliten Brasiliens in seinen Büchern so gelungen kritisieren und karikieren, weil er sie genau kennt. Geboren wurde der Autor 1941 auf der Insel Itaparica in eine wohlhabende und kulturell interessierte Familie Der Vater Manoel Ribeiro, ein bekannter Jurist und Polizeichef von Sergipe, maß der Ausbildung dieses erstgeborenen Sohnes besonderes Gewicht bei, wobei er recht krude Erziehungsmethoden angewandt haben soll. Nicht 20 21 „Playboy entrevista João Ubaldo Ribeiro”, in: Playboy, April 1991, S.22. Coutinho, Wilson, João Ubaldo Ribeiro, 1998, S.16. 12 unbedingt freiwillig las der junge João Ubaldo bereits im Alter von zehn Jahren Homer und übersetzte portugiesische Texte ins Französische. In den Ferien schrieb er Predigten des Padre Vieira ab und las Camões. Zur Lektüre seiner Jugend gehörten zudem Montaigne, Rabelais, Shakespeare, Dostojewski und Joyce. Schon aufgrund dieser klassischen Bildung wäre es sicherlich unpassend, João Ubaldo „nur“ als Nachfolger Amados zu sehen. Möglicherweise liegt die Bandbreite der ubaldischen Themen nicht an vermeintlichen Vorgaben seines Verlages, sondern an den vielen literarischen Anregungen, die der Autor schon früh aufnahm. João Ubaldo Ribeiro sieht sich selbst nicht in einer bestimmten literarischen Tradition, erkennt aber die Einflüsse anderer Schriftsteller an. „Eu sou herdeiro, como todo escritor, de uma tradição que me precedeu. Não fui eu quem inventou o romance.”22 Zudem ist der Wahl-carioca23 ein Mann mit vielen unterschiedlichen Interessen und einem abwechslungsreichen Lebenslauf. Ubaldo Ribeiro hat mehrere Jahre im Ausland gelebt (USA, Portugal, Deutschland), Jura, Politologie und Verwaltungswissenschaften studiert, die Militärdiktatur miterlebt, als Journalist gearbeitet und an der Universität von Salvador (UFBA) Politologie unterrichtet. Zudem ist er ein ausgewiesener Hobby-Biologe, der sogar schon ein Bakterium entdecken konnte. „Tenho interesses variegados sobre a vida em geral, o que leva muitos a dizerem que meus livros são completamente diferentes entre si. Entretanto, acho que as preocupações básicas são as mesmas. (…) Religiosas, humanistas …Sei lá, preocupações com o destino da humanidade, com a injustiça, com a discriminação, coisas assim.“ 24 Die charakteristischen Merkmale, die sich wie ein roter Faden durch das Werk Ubaldos ziehen, scheinen also das sozialkritische Engagement, der Humor, die Beschäftigung mit der brasilianischen Identität - und die erotischen Szenen zu sein. 22 Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 114 (dieser Arbeit). Bewohner von Rio de Janeiro 24 „Playboy entrevista João Ubaldo Ribeiro”, in: Playboy, April 1991, S. 109. 23 13 2. Eine Diskussion des Erotikbegriffs Bevor das Erotische im Werk Ubaldos analysiert wird, soll zunächst der Begriff Erotik diskutiert und gegenüber der Pornographie abgegrenzt werden. Da sich schon die griechische Mythologie mit diesem menschlichen Bedürfnis befaßt, wird zunächst eine Interpretation des antiken Philosophen Platon (428-347 v. Chr.) wiedergegeben. Im Anschluß werden die Annahmen des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud (1856-1939), dargelegt, da dessen Theorien über die menschliche Psyche und Sexualität das Denken des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert haben. Auch der französische Denker Georges Bataille (1897-1962) kann sich diesem Einfluß nicht entziehen. Seine gewaltsame Interpretation der Erotik wird im nachfolgenden Kapitel beleuchtet. Erotik ist aber nicht nur eine individuelle Lebenserfahrung, sondern auch Gegenstand künstlerischer und literarischer Betrachtungen. Daher soll versucht werden, einander abgrenzende Definitionen für Pornographie und Erotik aufzustellen, an Hand derer sich die Romane Ubaldo Ribeiros theoretisch fundiert interpretieren lassen. 2.1 Was ist Erotik? Der Begriff Erotik kommt von Eros, dem griechische Gott der sinnlichen Liebe, der in der frühen Mythologie (ab 2000 v.Chr.) als eine der Urkräfte der Natur, Sohn des Chaos und Verkörperung der Harmonie im Universum galt, während er später als leidenschaftlicher Sohn der Liebesgöttin Aphrodite angesehen wurde. Der Philosoph Platon läßt im Gastmahl25 Aristophanes die Entstehung dieses Liebesgottes erklären: In vergangenen Zeiten soll es drei Arten von Menschen gegeben haben, Männer, Frauen und Androgyne, die beide Geschlechter in sich vereinten. Als sie in ihrem Größenwahn die Götter herausforderten, trennte Zeus sie zur Strafe in zwei Geschlechter. Seitdem suchen diese getrennten Androgyne, also die heutigen Menschen, ihre passende Hälfte und umarmen sich in ihrem verzweifelten Wunsch, wieder vereint zu sein. Der Eros entstand nach Platon also aus der Suche nach körperlicher und geistiger Einheit. Dadurch bekommt er eine große Macht, denn für Sekunden gelingt es ihm, die Götter herauszufordern und die Menschen 25 Vgl. Platon, „Das Gastmahl“, in: Hauptwerke, 1958, S. 113-142. 14 wiederzuvereinen. Weniger mystisch aber dennoch richtungsweisend waren im 20. Jahrhundert die Erkenntnisse Sigmund Freuds für die Betrachtung menschlicher Erotik. Der deutsche Mediziner war der erste, der die immense Bedeutung der Sexualität für alle menschlichen Lebensbereiche und Lebensalter wissenschaftlich zu beweisen suchte. Das gesamte soziale Zusammenleben und die daraus folgende Kulturentwicklung seien allein durch die Kraft des Eros und dem gesellschaftlichen Umgang mit ihm entstanden. Eros ist bei Freud mit dem Sexualtrieb gleichzusetzen, der die Menschen libidinös aneinander bindet und die Bildung von Lebensgemeinschaften ermöglicht. Dieses Zusammenleben werde allerdings durch den zweiten großen Trieb der Menschen, den Todes- oder auch Destruktionstrieb, gestört. Die Kulturentwicklung ergibt sich schließlich aus dem Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb. Freud bezeichnet die Kulturentwicklung deswegen als „Lebenskampf der Menschheit“.26 Diese beiden Triebe beherrschen nach Freud die Menschen seit ihrer Geburt, werden aber durch Erziehung unterdrückt und umgeleitet, sublimiert. Der Trieb selbst ist nach Freud jedoch ein rein organischer Vorgang. „Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ, und das nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung dieses Organreizes.“27 Durch die Unterdrückung des Sexualtriebes können Perversionen und Neurosen entstehen, wobei Freud alle sexuellen Vorgänge, die nicht der Fortpflanzung dienen, als Perversionen definiert. Er unterscheidet zwischen normalen Perversionen (wie dem Küssen) und krankhaften Perversionen (wie Fetischismus). Diese Perversionen werden zu Neurosen, wenn die betroffenen Personen ihre Phantasien nicht ausleben, sondern unbewußt unterdrücken. „die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion.“28 Die Sublimierung des Sexualtriebs kann nach Freud auch positiv sein, wenn diese Energie statt dessen für kulturell erwünschtes Schaffen eingesetzt wird. Dem Freudschen Verständnis folgend, könnte man alle Handlungen als erotisch definieren, die auf Lusterwerb ausgerichtet sind, um Unlust zu vermeiden. Die Ideen Freuds und vielleicht auch Platons werden vom Philosophen Georges Bataille in seinem Werk L’erotisme (1957) aufgegriffen. Für ihn ist Erotik der Versuch die Kontinuität29 der Menschen wiederherzustellen, gegenüber der Unmöglichkeit den Tod zu überwinden. 26 Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, 2003, S. 85 f. Ibid., S. 70. 28 Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2003, S. 68. 29 Die Begriffe Kontinuität und Diskontinuität werden in dieser Arbeit im Sinne Batailles verwendet. Kontinuität ist die Verbindung, Verschmelzung, Einheit zu einem anderen Menschen, Diskontinuität die individuelle 27 15 Dieser Wunsch der Verschmelzung birgt aber auch immer eine zerstörerische Kraft. „Im allgemeinen ist es der passive, weibliche Teil, der als konstituiertes Wesen aufgelöst wird. Doch für einen männlichen Partner hat die Auflösung der passiven Seite nur einen Sinn: sie bereitet eine Verschmelzung vor, in der sich zwei Wesen mischen, die zum Schluß gemeinsam denselben Grad der Auflösung erreichen. Die ganze erotische Veranstaltung ist auf eine Zerstörung der Struktur jenes abgeschlossenen Wesens ausgerichtet, das der Partner des Spiels im Normalzustand ist.“30 In der erotischen Begegnung geht es nach Bataille also um die Auflösung von Strukturen, „jener Formen des sozialen, regelmäßigen Lebens, welche die ausgeprägte diskontinuierliche Ordnung der ausgeprägten Individualitäten ausmachen, die wir sind.“31 Laut Bataille ist auch die gewaltsame Erotik des Marquis de Sade (17401814) auf das Streben nach Kontinuität zurückzuführen, die dieser letztendlich im Tod zu finden hofft. Diese Interpretation Batailles würde eine persönliche Bindung von Sades Libertins zu ihren Opfern voraussetzten, die aber nicht vorhanden ist. „Die Libertins sind grausam, weil Genuß nicht teilbar ist. Die Praxis der Libertinage setzt eine völlige Gleichgültigkeit im Hinblick auf das Objekt des Vergnügens voraus (…) Weil die Praxis der Libertinage das Fehlen jeder Beziehung impliziert, wird sie vor allem als eine Erfahrung von Einsamkeit erkennbar.“32 Nach Hugues Jallos Interpretation ist die Erotik für Sade, der den größten Teil seines Lebens im Gefängnis verbrachte, nicht Mittel um die Einsamkeit aufzuheben. Im Gegenteil mache Einsamkeit die ungehemmte Erotik, deren höchstes Ziel der eigene Genuß sei, erst möglich. Der eigenen Gewalttätigkeit seien keine Grenzen gesetzt. Deswegen könne Sadismus laut Jallo auch nicht als Gegenstück zum Masochismus verstanden werden, denn nach Sacher-Masoch „findet das Verlangen nach Unterwerfung mit einem regelrechten Vertrag in schriftlicher Form einen juristischen Rahmen.“33 Masochisten lassen sich also quälen, weil sie selbst das so wollen, sie sind ihrem eigenen Willen unterworfen und nicht dem des Quälenden. Batailles kritisiert an Sade, daß dessen Version von Erotik die Möglichkeit der Zeugung und damit die Entstehung von Leben ignoriere. Der Sinn der Erotik bestehe laut Bataille nicht darin, Einsamkeit. „Zumindest an einem Punkt der Fortpflanzung hat es Kontinuität gegeben. Es gibt einen Punkt, an dem das ursprünglich Eine übergeht in Zwei. Sobald zwei vorhanden sind, ist die Diskontinuität jedes der Wesen wiederhergestellt. Aber der Übergang schließt zwischen den beiden einen Augenblick von Kontinuität ein. Das erste stirbt, aber in seinem Tod zeigt sich der fundamentale Augenblick der Kontinuität zweier Wesen.“ In: Bataille, Georges, Die Erotik, 1994, S. 16. 30 Bataille, Georges, Die Erotik, 1994, S. 20. 31 Ibid., S. 21 32 Jallo, Hugues, D.A.F. Marquis de Sade – Eine Einführung, 1999, S. 56. 33 Ibid., S. 71. 16 die endgültige Kontinuität im Tod zu finden, sondern soviel Kontinuität zuzulassen, wie es möglich ist, ohne zu sterben. Aber: „Die sexuelle Aktivität des Menschen ist nicht notwendigerweise erotisch. Doch ist sie es stets dann, wenn sie nicht rudimentär, wenn sie nicht einfach animalisch ist.“34 Erotik unterscheidet sich von der Sexualität durch „ein vom natürlichen Zweck der Fortpflanzung und der Versorgung der Kinder unabhängiges psychisches Bestreben.“35 Diese Definition gelte aber nur für die körperliche Form der Erotik, die Bataille von der Erotik der Herzen unterscheidet. Die Erotik der Herzen sei mit der Erotik der Körper eng verbunden, erblicke doch „der Liebende unter glücklichen Umständen im geliebten Wesen die Totalität, das heißt die Kontinuität des Seins.“36 Diese erotische Form der Liebe ist stets intersubjektiv und einzigartig, liegen physische und psychische Schönheit doch im Ermessen des Betrachters. Es ist fraglich, ob der Mensch sich durch die Erotik wirklich als Individuum auflösen will, wie Bataille behauptet. Unter Umständen könnte man auch das Gegenteil glauben, etwa daß die Menschen den Tod durch die Zeugung von Nachkommen zumindest partiell zu überwinden suchen. Nimmt man an, daß der Versuch den Tod zu überdauern wichtiger Bestandteil der Erotik ist, so könnte eine Verbindung zwischen Kunst, Literatur und Erotik bestehen. Indem Künstler und Literaten ihr Lebenswerk schaffen, bleibt ein Teil von ihnen der Nachwelt erhalten – mitunter dauerhafter als bei der Zeugung biologischer Nachkommen. Aber auch das Verhältnis der Rezipienten zu einem Kunstwerk kann erotischer Natur sein, wenn man Freuds Ansatz folgt, der alles als sexuell betrachtet, was dem eigenen Lusterwerb dient. „A expressão artística se realiza em função de um mesmo impulso para a totalidade do ser, para sua permanência além de um instante fugaz e para sua união com o universo. A comunicação que se estabelece entre a obra de arte e o leitor / espectador é nitidamente erótica. O prazer diante de uma obra de arte não é, em primeira instância, intelectivo, racional, embora a razão possa interferir através de julgamentos de valor, (...) . O primeiro contato entre o espectador e o objeto artístico é sempre sensual: aquela obra nos agrada ou nos desagrada, (...)”37 Problematisch an einer so weit gefaßten Erotik-Definition ist die Unmöglichkeit sie einzuschränken. Demnach könnten alle sinnlichen Freuden als erotisch gelten: ein heißes Bad, Essen, Musik, … Diese Verallgemeinerung des Erotik-Begriffs soll darauf 34 Bataille, Georges, Die Erotik, 1994, S. 32. Ibid., S. 13. 36 Ibid., S. 289. 37 Castello Branco, Lúcia, O que é Erotismo, o.J., S. 12. 35 17 verweisen, daß es neben der Erotik der Körper möglicherweise auch eine reine Erotik des Geistes gibt, die beispielsweise aus ästhetischem Lesegenuß entstehen kann. Im engeren Sinn scheint Erotik ein unterschiedlich interpretierter Begriff für die geistige Komponente des Liebeslebens, im Unterschied zur rein sexuellen, körperlichen Vereinigung zu sein. Die Frage ist, ob Menschen sich wirklich in einen totalen Zustand des Nicht-Denkens begeben können, ob es also wirklich geistlose Sexualität gibt. Vielleicht ist nicht nur die Tatsache wichtig, ob gedacht wird, sondern auch auf welche Art und Weise. Besteht die Erotik einer sexuellen Begegnung nicht im Hinauszögern, der Vorfreude, der phantasievollen Ausgestaltung einer Situation? Die Trennung zwischen Sexualität und Erotik bleibt verschwommen – sie gehören zusammen und sind doch auch getrennt vorstellbar. Eine Situation kann auch ohne sexuelle Handlung erotisch sein, einfach nur durch die Macht der Gedanken. Eine Vergewaltigung hingegen gilt kaum als erotisch, sondern als Ausdruck sexueller, animalischer Gewalt. Läßt sich auch für Erotik keine abschließende Definition finden, könnte man zumindest jede literarische Darstellung menschlicher Sexualität (oder Erotik), als Erotik bezeichnen. Denn beim Lesen einer erotischen Szene, muß man die Phantasie aufbieten, um sich die Beschreibungen des Autors vorzustellen. Die Literatur kann nicht nur vom reinen Geschlechtsakt leben. Ein Autor muß immer die Voraussetzung für den Akt schaffen, die Personen einführen und eine Atmosphäre kreieren. Der Autor hat keine Bilder, die für sich sprechen, er muß die Bilder im Kopf erst mit Worten entstehen lassen. Durch diese geistigen Prozesse, wird jede Darstellung menschlicher Sexualität zu Erotik. Literarische Erotik entsteht also nicht nur durch die Kreativität des Autors, sondern auch die Phantasie des Lesers, der den Text jedes Mal neu interpretiert. Möglicherweise berücksichtigt der Autor sein Publikum schon beim Schreiben als impliziten Leser, der zwar nicht real präsent ist, aber „die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler 38 Rezeptionsbedingungen anbietet“ Text seinen möglichen Lesern als verkörpert. Ein Schriftsteller gibt diesem impliziten Leser Hinweise, wie der Text gelesen werden soll, was hinsichtlich der literarischen Erotik auch bedeutet, daß der reale Leser Lebens- und Lusterfahrung braucht, um sie gebührend zu würdigen. 38 Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens, 1976, S. 60 f. 18 2.2 Erotik versus Pornographie Diese mentalen Prozesse finden aber nicht bei allen Darstellungen von Erotik gleichermaßen statt. In einem Film können Sexualität und Erotik unvermittelt dargestellt werden, ohne daß der Zuschauer sich allzu viel vorstellen muß. Gerade in Pornofilmen bleibt für Phantasie wenig Raum, da die Kameras jegliches körperliche Detail in Großaufnahme zeigen. Im Brockhaus werden folgende Merkmale der Pornographie aufgeführt: „extreme Kontextreduzierung, d.h. die Einschränkung aller Erfahrung auf sexuelle Erfahrung; hoher Explizitheitsgrad der Darstellung; Instrumentalisierung der Darstellungsform als Mittel zur Intensivierung und Vervielfachung sexueller Lust; Ausrichtung der Sexualität an der Häufigkeit ihres Vollzugs; Entindividualisierung und Austauschbarkeit der beteiligten Menschen. (…) sexuelle Fiktionen von Macht, Dominanz und Kontrolle sowie von Kontrollverlust (v.a. der Frau); Anonymität der sexuellen Kontakte und Fehlen von Gefühlen für den Partner; (…)“39 Nach diesen Merkmalen wären die Bücher Sades, durch die Entindividualisierung der Opfer und der absoluten Macht der Libertins, bereits pornographisch und nicht mehr erotisch. Die Schwierigkeit, die Texte anderer Autoren als pornographisch oder erotisch einzustufen, besteht darin, daß nicht alle Schriftsteller so eindeutig Stellung beziehen, wie Sade. Kann ein Roman auch dann pornographisch sein, wenn die Erotik nur eine sekundäre Rolle spielt? Oder würden dann die geistigen Aspekte überwiegen und damit die Entindividualisierung der Pornographie unmöglich machen? Auch João Ubaldo Ribeiro hat Schwierigkeiten damit Erotik und Pornographie begrifflich zu trennen. Er sieht die Definitionen in ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Normen. „Existiu um juiz da suprema corte americana que, decidindo sobre um caso de pornografia, disse que não sabia definir pornografia, mas sabia distinguir quando via. Eu sou um pouco assim, como ele. Há um limite entre pornografia e erotismo, você pode dizer o bom gosto, mas o bom gosto também é uma coisa muito relativa. Bom gosto para alguns é mal gosto para outros. Depende de cultura, depende de tanta coisa, então eu não sei qual é essa distinção. Eu tenho a impressão que no caso da minha distinção aqui, pornografia seria extremamente gratuita - ou seja, o ato sexual, o devasso, o libertino, apenas pelo ato sexual libertino - não como impulso que é socialmente controlado, socialmente vigiado, socialmente policiado, socialmente valorado que eu acho que o livro reflete.”40 39 40 Brockhaus – Die Enzyklopädie, Band 17, 1998, S. 61. Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S.109 (dieser Arbeit). 19 Für den Schriftsteller liegt also dann Pornographie vor, wenn die Protagonisten sich ihrer Sexualität hingeben, ohne in irgendeiner Form moralisch und gesellschaftlich gezügelt zu sein. Pornographie wäre demnach ein Akt der Befreiung von gesellschaftlichen Beschränkungen, sowie positiven und negativen Normen. So versteht João Ubaldo die pornographischen Elemente in seinem Roman A casa dos budas ditosos. Dieser Definitionsversuch läßt sich jedoch nicht auf die Unterscheidung von Pornographie und Erotik im Allgemeinen anwenden. Etymologisch setzt sich Pornographie aus den griechischen Worten ‚pornos’ 41 (Prostituierte) und ‚grafo’ (Schreiben) zusammen. Pornographie ist also die Schrift über die käufliche Liebe, die selbst zu merkantilen Zwecken verkauft wird. Pornographie und Prostitution gehören auch heute noch zusammen, denn sowohl Prostituierte als auch Pornodarsteller/Innen und Nacktmodelle verkaufen ihren Körper gegen Geld, wenn auch in unterschiedlicher Form. Pornographie in Form von Zeitschriften, Büchern und Filmen wird nach Angaben von Francesco Alberoni vor allem von Männern konsumiert. Er bezeichnet Pornographie als ein Märchenland, in dem alle männlichen Phantasien erfüllt werden. „Die pornographischen Helden sind deshalb auf wunderbare Weise der Pflicht entbunden, Frauen aufzureißen und sich mit Liebesvorspielen aufzuhalten. Kaum erblickt, sind die Frauen auch schon nackt und disponibel.“42 Die Frauen seien dabei stets unterwürfig und sexuell verfügbar, die Männer stark, dominant und sehr viril. Pornographie kann heute auch als Gegenentwurf zur weiblichen Emanzipation verstanden werden. „(…) é preciso aceitar e apoiar a situação de desigualdade social em que vivemos para encontrar prazer nas relações desiguais entre patrão e empregada (...), e é fundamental crer sobretudo na preservação do casamento burguês, já que essas ousadias só têm lugar fora do lar e se constituem em estratégias para ajudar a manter o matrimônio, a torná-lo menos monótono.”43 Demnach wäre Pornographie eine literarische und filmische Gattung, die den Eros ideologisch mißbraucht, nämlich um bestehende Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern und Klassen zu sichern. Für die Unterscheidung zwischen Erotik und Pornographie wäre also nicht nur entscheidend, welche erotischen Handlungen in welcher Deutlichkeit gezeigt werden, sondern auch, wie die Machtstrukturen verteilt 41 pornos ist wiederum ein Derivat von ‚pernemi’ (verkaufen) Alberoni, Francesco, Erotik, 1991, S. 13. 43 Branco, Lúcia Castello, O que é erotismo?, o.J., S. 23f. 42 20 sind und ob möglicherweise Entwürdigung, Leiden und Schmerz eine Rolle spielen. Erotische Literatur müßte also, wenn sie von der Pornographie abgegrenzt wird, eine andere Zielsetzung haben und fragwürdige gesellschaftliche Normen eher in Frage stellen als untermauern. Das würde der revolutionären Macht des Eros bei Platon und Bataille entsprechen. Damit läge auch nahe, daß erotische Literatur in ihrer revolutionären Funktion auch ironisch, satirisch und karnevalistisch sein kann. Und tatsächlich haben seit den cantigas de escárnio e maldizer44, Dichter und Schriftsteller immer wieder das Erotische benutzt, um die Heuchelei der Gesellschaft anzuprangern und soziale Mißstände zu kritisieren. Der italienische RenaissanceDichter Aretino (1492-1556), der Portugiese Bocage (1765-1805) stehen ebenso in dieser Tradition wie die Brasilianer Gregório de Mattos (1636-1695) und Bernardo Guimarães (1825-1884) mit seinem O elixir do pajé (1883). Möglicherweise lassen sich die Romane João Ubaldos auch in dieser Tradition sehen, was die Frage aufwirft, ob das Erotische in seinem Werk existierende Herrschaftsstrukturen eher unterstützt oder in Frage stellt. 3. Brasilien, Land der Erotik? Im Jahr 1936 stellte ein von Europa desillusionierter Stefan Zweig (1881-1942) Brasilien als das Land der Zukunft vor.45 Diese hoffnungsvolle Interpretation gehört in Deutschland inzwischen der Vergangenheit an. Heutzutage gilt Brasilien als Schwellenland mit großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen, aber auch als Land des Karnevals, der Lebensfreude und der schönen sinnlichen Frauen. Diese Vorstellung eines erotisierten Brasiliens beschränkt sich nicht auf Reisekataloge oder Reportagen im Privatfernsehen. Auch Künstler, die sich in ihrem Werk mit Brasilien beschäftigen, sehen oft nur den erotisierten Körper. So auch der englisch-argentinische Photograph Christopher Pillitz in seinem Fotoband Brésil incarné, der nach eigenen Angaben in der ganzen Welt photographiert hat, ohne auf vergleichbar sinnliche Menschen zu stoßen. „On m’a souvent demandé: pourquoi une étude sur la sexualité brésilienne ? La réponse est courte : parce qu’elle est unique. À savoir que la mosaïque riche et sensuelle du Brésil ne connaît aucune frontière, n’a pas de limites, ne respecte aucune tabou, brise les règles en usage et ne recule devant aucun excès ; c’est un pays où tout peut arriver e où tout arrive. Les notions conventionnelles de la 44 45 Sie bildeten die Kehrseite zum idealisierenden Minnekult, im Portugal des 13. und 14. Jahrhunderts. Zweig, Stefan, Brasilien, Land der Zukunft, 1997. 21 moralité disparaissent tout simplement. Le chaos, le désordre et la violence sont intrinsèquement liés à son expression sexuelle unique. (… )L’image populaire que le Brésil a cultivée est illustrée par le Carnaval – un étalage coloré de sensualité, de délire collectif et de jouissance. ” 46 Brasilien ist in diesem Fotoband ein Land der leicht bekleideten Körper, wie folgende Beispielbilder belegen. ____________________________________________________________________47 _____________________________________________________________________ Christopher Pillitz photographiert Bikini-Schönheiten am Strand, Samba-Tänzerinnen beim Karneval, Transvestiten in ihrer Show und Liebespaare in intimer Umarmung. Dabei steht der schlanke, durchtrainierte Körper stets im Mittelpunkt. Die Umgebung untermalt und steigert die Sinnlichkeit ohne vom Körper abzulenken. Zum gängigen Brasilienbild gehört auch die Annahme: „La sensualité fait partie de la nature brésilienne."48 Diese Sinnlichkeit ist dabei etwas Instinktives, Kreatürliches. Die photographierten Menschen werden nicht in nachdenklicher Stille abgelichtet, sondern im Moment scheinbar ungehemmter Sinnlichkeit festgehalten. Verbreitet wurde dieses exotische, erotisierte Brasilienbild vor allem durch die Bücher Jorge Amados, die in über 40 Sprachen übersetzt wurden und die Wahrnehmung Brasiliens im Ausland entscheidend geprägt haben.49 Der wichtigste Roman ist in diesem Zusammenhang Gabriela, Cravo e Canela, der Jorge Amado 1958 auch in nicht-kommunistischen Ländern zum Durchbruch verhalf. Wie sich die Verleger im Ausland die Protagonistin Gabriela und damit auch die brasilianischen 46 Pillitz, Christopher, Brésil incarné, 2000, S. 1. Abbildungen aus: Ibid. 48 Ibid., Nachwort: S.5. 49 Ilana Seltzer Goldstein hat dieses Phänomen in ihrer Studie O Brasil best seller de Jorge Amado (2003) untersucht. 47 22 Frauen vorstellen, zeigen die Einbände der ausländischen Editionen.50 Meistens präsentieren sie eine leicht bekleidete, oder nackte Mulattin, die von Blumen und Früchten umgeben ist.51 „Por exemplo, supomos que a Gabriela – mulher idealizada por Amado – como fruto de uma voz masculina, expressa fantasia de um imaginário masculino que a torna objeto de desejo, e ao passar ser filha do Brasil, conseqüentemente modelo da mulher brasileira, pode ter levado consigo caracteristicas da personagem amadiana, tais como inocência, alegria, pecado, sedução, permissividade, enfim, uma mulher livre de regras e normas sociais.“52 ____________________________________________________________________53 _____________________________________________________________________ Diese Darstellung der Mulattin ist nicht neu, sondern hat in Kunst und Literatur über Brasilien Tradition. Wir finden sie schon im 17. Jahrhundert bei dem holländischen Maler Albert Eckhout (ca. 1610 – ca. 1665). Er kam um 1636 mit dem deutschen Grafen Moritz von Nassau-Siegen nach Brasilien, der den Posten des holländischen Statthalters in Pernambuco antrat. Die Bilder, die Eckhout vermutlich nach seinem Aufenthalt 1641 von der brasilianischen Bevölkerung (Männern und Frauen) anfertigte, hingen teilweise im Gouverneurspalast des Grafen, hatten also repräsentative Funktion. Für das Thema Erotik sind vor allem vier Bilder von verschiedenen „brasilianischen“ Frauen interessant. Sie scheinen jeweils eine Gruppe aus einer streng hierarchisch geordneten Kolonialgesellschaft zu verkörpern. Das Gemälde Tupuya Woman zeigt eine nackte Indianerin mit abgerissenen menschlichen Gliedmaßen in der Hand, offensichtlich 50 Vgl. Aráujo Caldas, Sônia Regina, Gabriela, Baiana de todas as cores (2003) eine Magisterarbeit, in der die Autorin die verschiedenen Titelillustrationen von Gabriela, Cravo e Canela in Brasilien und im Ausland analysiert. 51 Die Umschlaggestaltung unterscheidet sich in Brasilien nicht wesentlich. Allerdings nehmen Brasilianer diese Frauen nicht als Prototyp der Brasilianerin, sondern als typische baiana bzw. mulata wahr. 52 Aráujo Caldas, Sônia Regina, Gabriela, Baiana de todas as cores, 2003, S. 285. 53 Abbildungen aus Ibid. 23 eine Kannibalin, die ganz unten in der Hierarchie des Künstlers Eckhout steht. Zivilisierter durch den Kontakt mit den Weißen ist die Tupinambá Woman, die immerhin schon einen Lendenschurz und Früchte in ihrem Korb trägt. Das Kind auf ihrem Arm beweist ihre Fruchtbarkeit und mütterliche sowie soziale Kompetenzen, ebenso wie das Kind der African Woman, was die Frauen über die Kannibalin erhebt. Allerdings richtet das Kind der Afrikanerin einen Maiskolben direkt auf den Schoß der Mutter, was pejorativ als Symbol für die sexuelle Verfügbarkeit der schwarzen Sklavin gedeutet werden kann. In ihrem Lendenschurz steckt eine Pfeife, was in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts traditionell auf eine Prostituierte hindeutet.54 Nur die Mameluca ist mit einem weißen Gewand vollständig bekleidet, doch hebt sie ihr Kleid neckisch in die Höhe. Sie ist, wie Gabriela auf den abgebildeten Buchtiteln, von exotischen Bäumen mit Früchten umgeben und trägt einen Korb mit Blumen, ein typisches Attribut der Flora, römische Göttin der Blumen, des Gartens und der Liebe: „a favorite guise in which to depict courtesans, especially in Italian Renaissance Painting.“55 ____________________________________________________________________56 Tupuya Woman Tupinambá Woman African Woman Mameluca _____________________________________________________________________ Schwarze Frauen und Mulattinnen wurden als Sklavinnen sexuell ausgebeutet, wobei letztere als besonders begehrenswert galten, weil sie den weißen Schönheitsidealen eher entsprachen. Die rassistische Intention dieser „positiven Darstellung“ Eckhouts wird durch die Abwertung der indigenen und schwarzen Frauen deutlich. 54 Vgl.: Parker Brienen, Rebecca, „Albert Eckhout and Frans Post: Two Dutch Artists in Colonial Brazil”, in: Brazil:Body and Soul, 2002, S. 66. 55 Ibid., S. 65. 56 Vgl. Abbildungen in: Sullivan, Edward J. (Hg.), Brazil: Body and Soul, S. 95ff. Diese Bilder wurden im Jahr 2000 im Guggenheim-Museum New York, im Zuge der Ausstellung Brazil: Body and Soul ausgestellt. Dabei sollte durch eine Schau von barocken und modernistischen Werken eine Interpretation der brasilianischen Selbst- und Fremdbetrachtung ermöglicht werden. 24 Gilberto Freyre (1900-1987) interpretiert in der sozialhistorischen Studie Casa grande e senzala (1933) die sexuelle Energie der Portugiesen, die sich ohne Vorurteile mit den Einheimischen paarten, als das Erbe eines Volkes, das sich selbst aus verschiedenen Volksgruppen zusammensetzt - und das in der Gestalt der „moura encantada“57, der verzauberten Maurin, bereits eine dunkelhäutige Frau zum erotischen Ideal erhoben hat. Seefahrer und Abenteurer fühlten sich fern der Heimat frei von gesellschaftlichen Zwängen und wurden durch die unbekleideten, unschuldigen Indianerinnen zusätzlich stimuliert.58 Dadurch wurde das neu entdeckte Land schnell zu einem exotischen und erotischen Paradies stilisiert. Das Sprichwort „Não existe pecado ao sul do equador“ stammt aus diesen enthusiastischen Anfängen der Kolonialisierung. Amerigo Vespucci (1454-1512) brachte die Sünde ins Paradies als er auch von perversen sexuellen Riten und Kannibalismus schrieb. Dieser Darstellung Brasiliens als Sodom und Gomorra, schlossen sich Schreiber wie André Thevet (1502-1590), Jean de Léry (1516-1613) und Gabriel Soares de Sousa (ca.1540-1550-1592) an. Innerhalb von hundert Jahren wurde aus dem Paradies eine christliche Vorstellung der Hölle. „It was a vision centred on the question of sexual life, sensuality, and eroticism no less than the obvious potential for economic exploitation an colonization.“59 Diese Interpretationen der Entdecker und Kolonisatoren, Brasilien mit Erotik zu verbinden, wurde von den Brasilianern insofern übernommen, als die Frage der miscigenação als grundlegend für die Entstehung der brasilianischen Gesellschaft angesehen wurde. Dabei ging es zunächst vor allem um den sexuellen Akt der Vermischung und erst später bei Gilberto Freyre auch um kulturelle Komponenten. Die Darstellung der Indianer als primitive Wilde hat sicherlich auch zu der Abwertung indianischer Frauen geführt. Wie auf den Bildern Eckhouts zu erkennen, entsprechen nicht mehr Indianerinnen, sondern die Mulattinnen dem erotischen Ideal der Kolonialherren. Auch in der Literatur hat das Motiv der sinnlichen Mulattin Tradition. Gregório de Mattos (1636-1695), Aluísio Azevedo (1857-1913)60, Bernardo Guimarães (1825-1884)61 und Manuel Antônio de Almeida (1831-1861)62 – sie alle 57 Freyre, Gilberto, Casa grande e senzala, 2002, S. 84. Die Mauren lebten bis zu ihrer Vertreibung von 711- 1249 n.Chr. in Portugal und hatten einen großen Einfluß auf die portugiesische Kulturentwicklung. 58 zu den Reizen der Índio-Frauen, siehe: A carta de Pero Vaz de Caminha (1500), 2000. 59 Parker, Richerd G., Bodies, pleasures, and passion, 1991, S. 14. 60 1890 in: O cortiço 61 1875 in: A escrava Isaura 62 1854 in: Memórias de um Sargento de Milícias 25 lassen sinnliche Mulattinnen in ihrem Werk auftreten, die stets sehr schön, lebhaft und freizügig sind und weiße Männer um den Verstand bringen. Dabei wird das Motiv des Kannibalismus insofern übernommen, als die romantischen Dichter sie stets als gute Köchinnen schildern und ihre Reize metaphorisch mit Früchten vergleichen. Die mulata wird comível, also eßbar im übertragenen, erotisierten Sinn des Wortes comer. Teófilo de Queiroz Júnior hat in seiner Arbeit über die Mulattin in der brasilianischen Literatur, folgende Eigenschaften herausgefiltert: „Para sintetizar os dois pólos da avaliação corrente sobre a mulata, podemos dizer que, de positivo, são reconhecidas suas habilidades culinárias, via de regra, sua higiene, sua resistência física ao trabalho, sua saúde, sua solidariedade, sua beleza perturbadora, sua sensualidade irresistível, seus artifícios de sedução a que sabe recorrer, quando canta, dança e se enfeita. Já a soma de seus defeitos é constituida por sua falta de moralidade, por sua irresponsabilidade, por ela ser muita pródiga sempre.“63 Gabriela ist die Königin der Mulattinnen, ungeschlagen in ihrem sinnlichen Charme, ihrer Musikalität, der Freude am Tanzen und der Kunst Männer mit ihren Kochkünsten und körperlichen Vorzügen zu erfreuen. Im Gegensatz zu den oben genannten Schriftstellern meint Jorge Amado diese Charakterisierungen völlig positiv, ohne die Unterlegenheit Gabrielas gegenüber weißen Frauen beweisen zu wollen. „Selbst an sich negative Eigenschaften, wie z.B. unmoralisches Verhalten und Triebhaftigkeit, wertet Amado positiv um. Sie erscheinen der Herkunft und Kultur der mulata angemessen und damit begrüßenswert.“64 Damit folgt er dem Vorbild seines Freundes, dem Soziologen Gilberto Freyre, der in den 30er Jahren die regionalistische Bewegung im Nordosten Brasiliens begründete. Freyre hatte 1933 in Casa grande e senzala die bislang als negativ angesehene „Rassenmischung“ positiv umgedeutet und vor allem den Einfluß von Indianerinnen, Afrikanerinnen und mulatas auf die Herausbildung der brasilianischen Gesellschaft betont. Er weist einschränkend darauf hin, daß die dunkelhäutigen Frauen in ihrer Eigenschaft als Sklavinnen sexuell verfügbar waren und nicht aufgrund einer „rassischen“ Prädisposition. Andererseits sind seine Beschreibungen der sinnlichen Mulattinnen so enthusiastisch, daß dieser Einwand wenig Gewicht hat.65 Die Vermischung von Menschen verschiedener Hautfarbe ist in Brasilien eine Realität. 63 Queiroz Júnior, Teófilo de, Preconceito de cor e a mulata na literatura brasileira, 1975, S. 76 f. Rauh, Annette, Mulatas und mulatos als literarische Held/innen. Zum Romanwerk von Aluísio Azevedo und Jorge Amado,1997, S. 138. 65 Vgl. Bocayuva, Helena, Erotismo à Brasileira – o excesso sexual na obra de Gilberto Freyre, 2001. 64 26 Deswegen ist es ganz verständlich, daß Schriftsteller, die sich mit der Frage der nationalen Identität befassen, dieses Thema aufgreifen und die Figur der Mulattin als Ergebnis dieser Vermischung, literarisch aufleben lassen. Problematisch sind die stereotypen Merkmale, die diesen Frauen zugeschrieben werden. Sie bleiben eine erotische Männerphantasie, Objekt einer positiven oder negativen Projektion. Die Mulattin wird als literarisches Motiv mißbraucht, ohne selbst eine Stimme zu bekommen. Dabei ist es sicherlich eine Ironie des Schicksals, daß gerade eine Bevölkerungsgruppe, die in Brasilien diskriminiert wird, das Brasilienbild im Ausland nachhaltig prägt. Dieses Ideal der freien Erotik das die Mulattin symbolisiert, ist aber nur eine Spielart im komplexen sozialen Gefüge Brasiliens und gilt vornehmlich außerhalb der Ehe. Moralische Wertungen gehören in einem katholisch geprägten Land natürlich auch zu der Betrachtung von Erotik. Nach kirchlicher Auffassung ist geschlechtliche Vereinigung nur innerhalb der Ehe erlaubt, und auch nur dann, wenn Kinder gezeugt werden sollen. Hinzu kommt das patriarchale Erbe der Kolonialgesellschaft, das auch im heutigen Brasilien noch vorhanden ist. Wurden dunkelhäutige Frauen als Gespielinnen geschätzt, so wurden weiße Ehefrauen und Töchter eifersüchtig bewacht. Die Familienehre hing vom Verhalten der Frauen ab und war somit stets gefährdet. Während die Männer stark, tapfer und untreu waren, sollten ehrbare Frauen im Gegenteil schwach, schön, häuslich und vor allem keusch sein. Diese Ideale setzten sich in den erotischen Beziehungen fort, Männer erobern und Frauen geben sich passiv hin. Die Frage ist, wie solch unterschiedliche Erotik-Auffassungen innerhalb einer Gesellschaft nebeneinander bestehen können. Eine mögliche Antwort haben Gilberto Freyre und Roberto da Matta (1936-) geliefert, indem sie auf den großen kulturellen Unterschied zwischen Haus und Straße hinwiesen66 – zudem bleiben die erotischen Beziehungen geheim. „Em baixo do pano, tudo pode acontecer“. Dieses brasilianische Sprichwort deutet an, wie Religion, Erotik und patriarchalische Geschlechterverhältnisse koexistieren können. Alles ist möglich, solange niemand davon erfährt. Neben der Heuchelei, über die João Ubaldo gerne schreibt, gibt es eine weitere Möglichkeit, wie erotische Freiheit trotz der bestehenden Zwänge entstehen kann: beim Karneval, „when the silent, and sometimes perverse, pleasures that occur within four walls escape their boundaries and create a fully public world in which, like the private world of erotic ideology, 66 Vgl. Parker, Richerd G., Bodies, pleasures, and passion, 1991, S. 100. 27 anything is possible.“67 Diese Freiheit des Karnevals gibt es manchmal auch im täglichen Leben durch die sacanagem, die spielerische Übertretung der bestehenden Regeln. Dank dieser Freude an der Überschreitung wird Verbotenes zu etwas Positivem umgedeutet. „This interpretation is itself clearly immanent, of course, in the prohibitions that define these other systems. (…) Indeed, in this model of sexual universe, anything is possible, prohibition is itself prohibited, and even the most taboo desires and practices can be seen as especially exciting.“68 Die einzigartige brasilianische Erotik, die Christopher Pillitz in seinem Fotoband festhalten will, scheint tatsächlich zu existieren. Aber nur als Ergebnis der Überschreitung von moralischen Regeln und Gender-Verhältnissen, als eine Form der Erotik in einem komplexen sozialen Gefüge. Die brasilianische Erotik bzw. das Sexualverhalten der Brasilianer war auch schon Studienziel von quantitativen soziologischen Forschungen, wie in der 1983 erschienenen Studie Hábitos e atitudes sexuais dos brasileiros, die vom Instituto Paulista de Pesquisa de Mercado in zwanzig brasilianischen Städten durchgeführt wurde. In dieser Studie wurden Stadtbewohner, die lesen und schreiben konnten, über ihre sexuellen Präferenzen befragt. Bezeichnenderweise gab ein Drittel der Befragten an, schon einmal fremdgegangen zu sein (zumeist Männer), während gleichzeitig über 50 Prozent den Ehebruch kategorisch ablehnten. Ein Widerspruch, der die Doppelmoral der brasilianischen Gesellschaft andeutet. Bei der Interpretation solcher Studien sollte beachtet werden, daß die Interviewten nicht unbedingt die Wahrheit sagen müssen, sondern die Antwort geben, die sie für gesellschaftlich akzeptabel halten. Zudem besteht eine Diskrepanz zwischen dem moralischen Gewissen, den Emotionen, der Phantasien und dem tatsächlichen Verhalten. Siebzig Prozent der männlichen Befragten lehnten Homosexualität ab, während über die Hälfte sich gegen Prostitution aussprach, was nicht bedeutet, daß sie noch nie entsprechende Erfahrungen gemacht hätten. Bei diesen Ergebnissen sollte auch bedacht werden, daß nur das Sexualverhalten von Personengruppen erforscht wurde, die zu den sozialen Klassen A, B und C69 gehören. Damit bleiben 70 Prozent70 der brasilianischen Bürger unberücksichtigt. 67 Vgl. Parker, Richerd G., Bodies, pleasures, and passion, 1991, S. 146 f. Ibid., S. 103f. 69 In soziologische Forschungen und Marktstudien wir die brasilianische Bevölkerung in Gruppen von A bis D, manchmal auch E eingeteilt. Die Zuordnung zu diesen Klassen erfolgt nach einem Punktesystem, in dem 68 28 Erkenntnisse über die ärmsten Klassen der brasilianischen Bevölkerung stammen aus kleineren Studien und der Berufserfahrung von Sozialarbeitern und Ärzten: „ (…)a classe D governa-se pelos padrões mais tradicionais e arcaicos: a mulher submete-se ao homem sexualmente, sem estar interessado em agradála; ela não se preocupa se isso lhe agrada ou não, tratando apenas de desempenhar o seu papel; o homem, sempre que possível aborda outras mulheres, não sendo raro que seja o iniciador sexual de suas próprias filhas etc.”71 Das erotische Verhalten hängt also auch vom sozialen Umfeld ab, wobei die Gegensätze in Brasilien besonders drastisch sind, und damit wohlmöglich auch die Unterschiede im Sexualverhalten. Männer der Mittelschicht sind stärker bemüht, ihre Partnerinnen erotisch zufrieden zu stellen, für 85 Prozent der befragten Männer war der weibliche Orgasmus wichtig. Der Sexualforscher Flávio Gikovate vermutet indes, daß diese Männer vor allem ihre eigene Männlichkeit beweisen wollen: „o dar prazer à mulher, (…) passou a ser o mais recente requisito do machismo; assim sendo o homem sente-se orgulhoso e sexualmente competente quando é capaz de fazer sua parceira ter orgasmos;”72 Laut Freud ist Heuchelei aufgrund der Erotik eine ganz normale Entwicklung von Kulturgesellschaften und dabei ist Brasilien keine Ausnahme. Allerdings gibt es spezifische brasilianische Entwicklungen, wie den Karneval, den Gegensatz zwischen casa e rua, die großen sozialen Unterschiede, rassistische Vorurteile, ausgeprägte Geschlechterrollen sowie die kirchlichen Moralvorstellungen, welche der brasilianischen Erotik eine besondere Note geben. . Bildungsstand, Lebenssituation, Einkommen und Besitz der Befragten bewertet wird. A steht dabei für die besten Lebensumstände und D für die schlechtesten. 70 „Inicialmente, vale registrar que o Brasil é um país profundamente heterogêneo e desigual em todos os sentidos. Como grande regra, do ponto de vista dos costumes e das condições de vida, colocam-se as classes A, B e C de um lado – representando cerca de 1/3 da população – e a classe de de outro – composta de 2/3 da população.“ In: Gikovate, Flávio, „Observações Acerca de Uma Pesquisa Sobre o Comportamento Sexual do Brasileiro“, in: Hábitos e Atitudes Sexuais dos Brasileiros, 1983, S. 100. 71 Ibid., S. 100. 72 Ibid., S. 100. 29 4. Identitätsstiftende Erotik in Viva o povo brasileiro Viva o povo brasileiro ist der längste und ambitionierteste Roman Ubaldo Ribeiros, er selbst nannte es „o último dos livros que tem de escrever “.73 Es ist ein Buch über die Geschichte Itaparicas, die der Autor exemplarisch für die Entstehung der brasilianischen Nation erzählt. Schon in der Wahl des Titels zeigt er seine Intention, einen Roman über das national-brasilianische Selbstverständnis zu verfassen. In dem Werk existieren zwei gegensätzliche Auffassungen von Identität, da Volk und Eliten sich unversöhnlich gegenüberstehen und nur die jeweils eigene Gruppe als brasilianisches Volk ansehen. Das brasilianische Wir-Gefühl entsteht aus der Ausgrenzung des jeweils anderen. Einem ähnlichen Ansatz folgte auch Jorge Amado in seinem frühen Werk, als er besonders im Bahia-Zyklus (Jubiabá (1935), Mar Morto (1936), Capitães da Areia (1937)) die arme Bevölkerung zu einer solidarischen Leidensgemeinschaft erklärte, die alle positiven Eigenschaften in sich vereinte.74 In Viva o povo brasileiro scheinen zudem intertextuelle Bezüge zu Casa grande e senzala (1933) von Gilberto Freyre, Iracema (1865) von José de Alencar, aber auch Macunaíma (1928) von Mário de Andrade zu bestehen. Diese drei Autoren haben sich in unterschiedlicher Weise mit der Entstehung der brasilianischen Nation beschäftigt und dabei stets die Erotik mit einbezogen. Casa grande e senzala ist nicht nur eine sozialhistorische Studie, sondern auch erotische Literatur, da Freyre eigene Erinnerungen in sein Buch einfließen läßt.75 Er sucht die Wurzeln der brasilianischen Gesellschaft in der Kolonialzeit und betont die erotischen Freiheiten, die sich weiße Patriarchen erlauben konnten. In dieser Zeit entsteht das Motiv der sinnlichen Mulattin, das Freyre um so begeisterter aufgreift, als daß er als Sohn eines Plantagenbesitzers selbst ihrer Faszination erlegen ist. Das gesamte Buch scheint eine Rechtfertigung seiner erotischen Präferenzen zu sein. José de Alencar ist als romantischer Prosa-Dichter in erotischen Schilderungen wesentlich zurückhaltender und versteckt sie hinter Naturbeschreibungen. In seinem Gründungsroman Iracema, macht er die gleichnamige Indianerin zu einer Urmutter Brasiliens, nachdem sie das Kind des 73 Wyler, Vivian, „João Ubaldo Ribeiro e o último dos livros que „tem“ de escrever“, in: Jornal do Brasil, 30.09.1983. 74 Später änderte sich dieser radikale Ansatz Jorge Amados in ein sentimentales Nationalgefühl, das auch die Eliten miteinschloß. 75 Ein Beispiel für die erotische Sprache Freyres: „O que a negra de senzala fez foi facilitar a depravação com sua docilidade de escrava; abrindo as pernas ao primeiro desejo do sinhô-moço. Desejo não: ordem.” In: Freyre, Gilberto, Casa grande e senzala, 2002, S. 372. 30 Portugiesen Martim geboren hat. Die Indianerin hatte sich in den Weißen verliebt und die körperliche Vereinigung erzwungen, indem sie Martim mit einem Schlaftrunk betäubte. „No romance de Alencar, a sedução realizada por Iracema recorrendo à beberagem oferecida a Martim, tem a função de isentá-lo de culpa no episódio, de recalcar o sentido de violação implícito na relação conquistador / terra conquistada, já que a figura da heroína indígena acaba sendo reforçada muito mais com abnegação, receptáculo passivo das sementes da civilização do que como parte ativa numa disputa de espaço.“76 Wenn, wie von Vera Follain behauptet, in Wahrheit der Portugiese Martim die Indianerin Iracema kulturell unterwirft, ist es auch nicht verwunderlich, daß die Geschichte tragisch endet. Martim liebt sein abenteuerliches Leben und die portugiesische Heimat zu sehr, um sich wirklich auf Iracema zu konzentrieren, die deshalb voller Traurigkeit stirbt. Ihr Sohn lebt jedoch weiter, als sichtbares Ergebnis ihrer erotischen Vereinigung, die kulturell nicht gelingen sollte und so wird ein Mestize zum Stammvater aller Brasilianer. Ein Kind kultureller Gegensätze ist auch Macunaíma, der gleichzeitig in der Gegenwart der Mythen und der Vergangenheit der Maschinen lebt. Diese vielen Widersprüche machen ihn zum herói sem nenhum caráter - zum ironischen Prototyp des Brasilianers, der sich vor allem durch sexuelle Energie auszeichnet. Das Erotische in Macunaíma ist brutal, die Figuren lieben und schlagen sich, beißen sogar ganze Körperteile voneinander ab. Das Erbe der Kannibalen ist in ihnen noch lebendig, Macunaíma verschlingt seine Partnerinnen erotisch und nimmt ihre Erfahrungen in sich auf. Mit Macunaíma hat Mário de Andrade die Idee eines Gründungsmythos ironisch aufgegriffen und einen verantwortungslosen malandro zum Urvater Brasiliens gemacht – Macunaíma ist das Negativ von Iracema. 4. 1 Literarischer und erotischer Kannibalismus In Viva o povo brasileiro wird die brasilianische Geschichte neu gedeutet, indem die Unterdrückten eine Stimme bekommen und damit die offizielle Geschichte hinterfragen, die von den Eliten niedergeschrieben wurde. Der Roman beginnt mit der Beschreibung eines Gemäldes, auf dem ein junger Soldat heldenhaft für die Heimat stirbt und noch im Todeskampf eine patriotische Rede an die Möwen hält. 76 Figueiredo, Vera Follain de, „Viva o povo brasileiro e a vocação totalizante do romance latino-americano“, in: Revista Brasil de Literatura, o.J, Internet. 31 Im Anschluß folgt die realistischere Version, die Geschichte eines jungen Fischers, der nicht weiß warum und für wen er kämpft. Paßenderweise lebt in ihm die brasilianische alminha (Seelchen) und damit wird er zum Symbol für die arme Bevölkerung, die sich in ihrer Ignoranz opfern läßt. Diese brasilianische alminha, eine Erfindung des Autors, lebt im Laufe der Jahrhunderte in den verschiedensten Brasilianern und verinnerlicht so eine brasilianische Gesamterfahrung. Mit solchen und ähnlichen Geschichten weisen Autor, Erzähler und die Protagonisten immer wieder darauf hin, daß es keine geschichtliche Wahrheit gibt und der Roman selbst nur eine Geschichte unter vielen ist: „toda a História é falsa ou meio falsa e cada geração que chega resolveu o que aconteceu antes dela e assim a História dos livros é tão inventada quanto a dos jornais, (…).“77 Dieses Vorher schöpft João Ubaldo Ribeiro aus Geschichtsbüchern und der brasilianischen Literatur, die er parodiert und damit auch bewertet. Er wird zum literarischen Kannibalen ganz im Sinne des Manifesto antropófago78(1928) von Oswald de Andrade (1890-1954), benutzt jedoch nicht ausländische Kultur, um sie zu etwas Brasilianischem zu verarbeiten, sondern verschlingt das Brasilianische und kreiert dadurch etwas Neues. Er erfindet die brasilianische alminha, die über die Jahrhunderte in verschiedenen Figuren des Romans wiedergeboren wird. Die ersten brasilianischen Inkarnationen dieser Seele sind verschiedene Tiere, Indianerinnen, der Alfares Brandão, bis sie eines Tages zu Maria da Fé wird, der Heldin des Buches und Symbolgestalt für das brasilianische Volk. Wichtig für die Interpretation des Romans ist auch die Inkarnation der Seele im Menschenfresser Caipiroba, dem Sohn eines entlaufenen Sklaven und einer Indianerin. Als die Jesuiten versuchen ihn zu missionieren, wird er verrückt und entwickelt sich zu einem Kannibalen. Ein kulinarischer Genuß, den Caipiroba vorher nicht kannte: Erst die Jesuiten bringen ihn auf die Idee Menschenfleisch zu essen. Damit parodiert João Ubaldo die Berichte europäischer Chronisten über Menschenfresser und die Europäer werden zu unfreiwilligen Gründungsvätern der Anthropophagie. Tatsächlich ist umstritten, ob es in Brasilien tatsächlich diesen Brauch gegeben hat. Zwar wurde dies von Reisenden behauptet, doch waren ihre Reiseberichte nicht immer glaubwürdig, weil sie teilweise voneinander abgeschrieben 77 78 Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 515. Andrade, Oswald de: „O manifesto antropófago”, in: Obras completas, Bd.6, A utopia antropofágica, 1990. 32 haben.79 „No entanto não há, na história do Brasil, depoimento de alguém que houvesse visto índio comer gente.“80 João Ubaldo Ribeiro treibt die Ironie und Komik der Situation noch weiter, als Caipiroba die gefangenen Europäer nach portugiesischen Rezepten zubereitet, die ebenfalls von den Jesuiten stammen. Später entdeckt der caboclo81 zudem, daß Holländer wesentlich besser als Portugiesen schmecken, eine Anspielung auf die Vorstellung, daß die Holländer als Kolonialherren eine bessere Zivilisation hervorgebracht hätten. Die Anthropophagie wird zu einem karnevalistischen Bankett.82 João Ubaldo treibt Technik und Motiv der Anthropophagie auf die Spitze, indem er als literarischer Kannibale, der die brasilianische Geschichte und Literatur verspeist und zu etwas Neuem verdaut, über Kannibalen schreibt. Gleichzeitig ironisiert er zumindest die modernistische Interpretation der Anthropophagie. Nach Auffassung der Modernisten sollte durch sie etwas Neues, genuin Brasilianisches entstehen. Wie soll das möglich sein, wenn Europäer diese Praxis eingeführt haben? Das modernistische Konzept des Kannibalismus beruht nach Ubaldo Ribeiros Interpretation auf einer kolonialisierten Brasilienbetrachtung. Dennoch wird er mit seiner Kritik an der Anthropophagie zum perfekten literarischen Kannibalen: „Destruir para construir em cima. Deglutir para, de posse do instrumental do „inimigo“, poder combatê-lo e superá-lo. Deglutir o velho saber, transformando-o em matéria prima do novo.“83 Vu, die Tochter des caboclo, verspeist nicht nur Menschenfleisch, sondern „vernascht“ auch den gefangenen Holländer Zinique, in der doppelten Bedeutung des Wortes comer. „Quando ela finalmente o pôs nu da cintura para baixo, ele estava imóvel, pois tão logo esboçou a reação costumeira, ela lhe acertou os dedos quebrados e amarrou a argola do nariz numa corda curta. (…) Vu levantou o tronco ainda ajoelhada e (…) sentou-se em cima dele com um movimento só, deu um gritinho e desatou a maior risada que jamais pensara poder dar.“84 79 vgl. Carneiro, J. Fernando: A antropofagia entre os indígenas do Brasil, 1946. Holanda, Sérgio Buarque in: A antropofagia entre os indígenas do Brasil, 1946, S. 17. 81 caboclo bedeutet Halbblutindianer, der Autor benutzt sowohl die Schreibweise caboclo als auch caboco, wobei letztere eine Varietät ist, die wahrscheinlich den Dialekt der Sprechenden verdeutlichen soll. 82 Im Karneval werden bestehende Werte vorrübergehend auf den Kopf gestellt. Nach Bachtin gehören zum karnevalesken Denken: „Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes, sozusagen die Akte des Körper-Dramas, Essen, Trinken, Ausscheidungen (…), Begattungen, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch den anderen Leib – alles das vollzieht sich an den Grenzen von Leib und Welt, an der Grenze des alten und des neuen Leibes.“ In: Bachtin, Michail, Literatur und Karneval, 1969, S. 17. 83 Friedman Maltz, Bina, Antropofagia e tropicalismo, 1993, S. 11. 84 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 52 f. 80 33 Vu, die im Roman durch ihre Nachkommen zu einer Urmutter Brasiliens wird, verschlingt den Holländer sexuell und kulturell. Das erscheint deshalb wichtig, weil Frauen oft symbolisch die Mutter Erde repräsentieren, die in einem Kolonialland von vermeintlichen Entdeckern unterworfen wird. In diesem Fall wartet die Frau als Symbol für die brasilianische Erde nicht darauf, unterworfen und befruchtet zu werden, sondern ergreift selbst als Handelnde die Initiative. Wie bereits erwähnt, wurde comer (essen) schon von romantischen Dichtern im Sinne von possuir (besitzen) verwendet, indem sie die Mulattinnen euphemistisch mit Früchten verglichen, die verspeist werden sollten. Ubaldo Ribeiro kehrt diese Tradition um, indem eine Einheimische den weißen Holländer erotisch verspeist. Dabei geht sie äußerst brutal vor und behandelt ihn wie ein gefangenes Tier. Wie ein Zuchtstier hat er einen Ring in der Nase und wird an der kurzen Leine gehalten. Der Holländer Zinique wird von Vu nicht als Mensch angesehen. Daß einem „zivilisierten Europäer“, von brasilianischen „Wilden“ sein Menschsein genommen wird, ist vermutlich eine weitere ironische Pointe des Autors. Hatten doch manche Theologen zeitweise die Existenz einer Seele bei Indios und Afrikanern bezweifelt. Forscher, die sich mit dem rituellen Kannibalismus in der Karibik befaßten, kamen zu dem Ergebnis, daß manche Kannibalen die besiegten Feinde verspeisten, um dadurch ihre besten Eigenschaften zu übernehmen.85 Im Fall von Vu und ihrem Holländer geschieht genau das Gegenteil. Der Holländer wird unterworfen, im sexuellen Sinne aufgefressen und sein Geist nimmt die Kultur des Kannibalen an. Seine holländische Seele wird brasilianisch und manifestiert sich im Laufe des Romans auf verschiedenen Candomblé-Veranstaltungen.86 João Ubaldo versucht hier eine neue Interpretation der Anthropophagie, des Wortes comer und der dadurch implizierten kulturellen Aneignung. Das Verschlingen im erotischen Sinne könnte eventuell Batailles aggressiver Vorstellung von Erotik entsprechen, nach der die „geschlossene Struktur“ des Partners, meist die der Frau, zerstört und aufgelöst wird. Die Verbindung zwischen Grausamkeit und Sexualtrieb hatte schon Freud als „kannibalisches Gelüste“87 bezeichnet, das der „Befriedigung des anderen, ontogenetisch älteren großen Bedürfnisses dient.“88, der oralen Phase.89 85 vgl. Carneiro, J. Fernando: A antropofagia entre os indígenas do Brasil, 1946. Candomblé ist ein afro-brasilianischer Kult, der aus den religiösen Mythen der afrikanischen Sklaven und dem aufgezwungenen Katholizismus durch die Sklavenhalter entstand. 87 Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2003, S. 61. 88 Ibid., S. 61. 86 34 Die Verbindung zwischen Gewalt und Erotik erinnert aber auch an Macunaíma, den Helden ohne Charakter, den Mário de Andrade als ironischen Prototyp des Brasilianers erschuf.90 Ähnlich sind auch die eingeschränkten sprachlichen Möglichkeiten Macunaímas und der Kannibalenfamilie, in diesem Fall von Caipiroba: „forçando-o a mandar a mulher ficar quieta e a dar-lhe uns cachações para que não tivesse um comportamento impróprio e incomodativo, também lhe trazia uma satisfação misteriosa, tanto assim que às vezes perguntava à mulher, logo após: teve coisa? Tive coisa, respondia ela, e ele ria satisfeito – carrá-carrá-carrá! – dava um tapa na bunda dela.“91 Auch der Held ohne Charakter spricht meist in sehr kurzen, abgehackten Sätzen: „Tem coisa.“92, „Ai! Que preguiça!“93 oder „Estou de mal“94. Die sprachliche Ausdrucksweise der Figurenrede entspricht dem Bewußtseinszustand der Indianer, die nur über einen eingeschränkten Wortschatz verfügen. Der Erzähler distanziert sich hier jedoch nicht von der Figurenrede, sondern nähert sich teilweise sogar an: „dava um tapa na bunda dela“, ohne sich jedoch völlig mit ihr zu identifizieren. Das zeigen Wendungen wie „comportamento impróprio e incomodativo“, die einem gehobenen Sprachstil entstammen. Die teilweise sprachliche Annäherung scheint aber darauf hinzudeuten, daß der Erzähler die Indianer nicht verurteilt oder belehren will. Indem João Ubaldo Ribeiro die Erzähler- und Figurenrede sprachlich den beschriebenen Zeiten und sozialen Status der Figuren anpaßt, hat er zudem die Möglichkeit Stile anderer Autoren und Epochen zu parodieren. Durch diese einfache Sprache erscheinen Vu und ihr Vater besonders primitiv. Vu versteht nicht, warum sie den Holländer berühren möchte, sie merkt nur, daß der körperliche Kontakt angenehme Gefühle auslöst, ohne zu wissen daß dadurch Kinder gezeugt werden. Ihre Reaktionen sind instinktiv und kreatürlich, sie nähert sich dem Tier und der Natur. Die Kannibalin ist das Gegenteil einer edlen Wilden, das 89 Freud teilte die frühe sexuelle Entwicklung von Kindern (0-3) in zwei autoerotische Phasen ein. In der oralen Phase lutschen und saugen Kinder nicht nur zur Nahrungsaufnahme, sondern auch um die erogenen Mundschleimhäute zu reizen. In der analen Phase versuchen die Kinder hingegen die „erogene Reizbarkeit der Afterzone auszunützen“ in: Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2000, S.88. 90 Ein Beispiel für die Darstellung von Erotik in Macunaíma: „O herói se atirou por cima dela para brincar. Ci não queria. Fez lança de flecha tridente enquanto Macunaíma puxava de pajeú. (…) O herói apanhava. Recebera já um murro de fazer sangue no nariz e um lapo fundo de txara no rabo. A icamiaba não tinha nem um arranhãozinho e cada gesto que fazia era mais sangue no corpo do herói (…)“ in: Andrade, Mário de: Macunaíma, 2001, S. 25. 91 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 53. 92 Andrade, Mário de, Macunaíma, 2001, S. 25. 93 Ibid., S.27 94 Ibid., S. 15 35 Gegenteil der schönen Iracema – ein Kontrast den Ubaldo Ribeiro möglicherweise beabsichtigt hat, zumal auch Vu ihren weißen Krieger erotisch überwältigt. Die Ursache ihres primitiven Daseins liegt allerdings in der Kolonisation, da ihr Vater Caipiroba erst nach Ankunft der Jesuiten verrückt und aus seinem sozialen Umfeld verbannt wurde. Deswegen ist nicht unbedingt der Indio als solcher primitiv, sondern vor allem in seiner Eigenschaft als colonizado, womit in dem Roman der angeblich positive Einfluß der Jesuiten in Frage gestellt wird. 4.2 Die Mulattin als Ergebnis der Vergewaltigung Mulattinnen werden in der brasilianischen Literatur häufig als erotische „Leckerbissen“ dargestellt, wobei ihre sexuelle Hingabe als positiv gilt. Sie sind aber nicht nur Sinnbild des erotisierten Brasiliens sondern auch der brasilianischen Identität. Die heldenhafte Mulattin Maria da Fé gilt als Inkarnation der brasilianischen alminha und damit des brasilianischen Volkes: „O povo brasileiro somos nós“.95 Sie ist jedoch nicht die Frucht eines friedlichen Zusammenlebens der „Rassen“, sondern wurde in einer Vergewaltigung gezeugt. Ubaldo Ribeiro schildert diese Schändung aus der Sicht von Perilo Ambrósio, dem Baron von Pirapuama, der sich die Vergewaltigungsszene der jungfräulichen Sklavin Vevé vorstellt und dabei masturbiert. Diese Phantasie wird der Baron genauso umsetzen. „E finalmente pegando a negrinha Vevé e, sem dizer uma palavra, atirá-la à cama, abrir-lhe as pernas, deixar bem claro que não queria que se mexesse, (...), deflorá-la de um só golpe, (...) enfiar-lhe tudo com um golpe rude que quase a lançasse contra a cabeceira, (...) gozasse dentro dela, senhor completo, (...).“96 Der Sadismus des angeblichen Helden der Unabhängigkeit wird nicht nur durch den Akt an sich, sondern auch die brutale Sprache zum Ausdruck gebracht. Sie soll mit einem Schlag (golpe) entjungfert werden und mit einem Schlag will er in sie eindringen. Zudem soll sie gegen die Kopfstütze geworfen werden, wobei das Verb lançar mit dem Wortstamm lança (die Lanze) verwendet wird. Durch die etymologische Nähe zu einer Waffe ruft lançar gewalttätige aber auch phallische Assoziation hervor. 95 96 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 564. Ibid., S. 91. 36 Diese gewaltsame Erotik erinnert wieder an die Ausführungen Batailles, da Vus „geschlossene Struktur“, ihr Körper zerrissen wird, damit der Vergewaltiger sich durch seinen Orgasmus mit ihr vermischen kann. Durch diesen kurzen Augenblick der Verschmelzung fühlt Perilo Ambrósio sich komplett und allmächtig. Macht und Transgression sind seine Aphrodisiaka. Die Frage ist, ob man im Falle einer Vergewaltigung überhaupt von Erotik sprechen kann. Viele Vergewaltiger werden nicht primär von sexuellen Impulsen angetrieben, sondern wollen vor allem Macht97 ausüben, indem sie eine andere Person erniedrigen. Macht und Erotik gehen eine unheilige Partnerschaft ein, vielleicht könnte man von einer pervertierten Form von Erotik sprechen. Möglicherweise sind hier aber auch bereits die Grenzen der Erotik überschritten und es handelt sich um triebhafte Sexualität, ausgelöst von dem Wunsch Macht auszuüben. Im Fall von Perilo Ambrósio scheinen beide Antriebe, Machthunger und körperliche Bedürfnisse, zusammenzugehören. „(...) sentia que podia mijar em tudo o que quisesse, podia fazer qualquer coisa que quisesse. (…) Sim, podia sair ali nu como estava, a glande como a cabeça de um aríete irresistível, e podia fazer como que todos a olhassem e a reverenciassem e ansiassem pela mercê de poder tocá-la e beijá-la.“ 98 Kurz vor und nach der Vergewaltigung definiert Perilo seine Macht nur über seinen Phallus. Er möchte die ganze Welt schänden, indem er auf sie uriniert. Gleichzeitig soll seinem göttlichen Phallus gehuldigt werden. Die sprachliche Gestaltung dieser Phantasie ist den hochfliegenden Gedanken Perilos angemessen, die gleichzeitig in ihrer Absurdität parodiert werden. Schließlich handelt es sich nicht um eine heilige Reliquie, sondern um ein Geschlechtsteil. In der Vergewaltigungsszene wird eine Handlung wiedergegeben, die gleichzeitig die Machtverhältnisse zwischen Herren und Sklaven repräsentiert. Der Sklavenhalter vergreift sich an einer Sklavin, die passiv bleiben und keine Lust empfinden soll. Die Szene ist in ihrer detaillierten Beschreibung voyeuristisch angelegt und wirkt durch die Reproduktion der Machtverhältnisse pornographisch. Es ist durchaus möglich, daß Leser, die eine pejorative Einstellung gegenüber farbigen Frauen teilen, diese Darstellung als erotisch anregend empfinden. 97 „ Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. (…) Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen“ In: Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 1972, S. 28 f. 98 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 90. 37 Andererseits ist Perilo Ambrósio eine derart negative Figur, daß er kaum Sympathien auslöst. Der Baron hat seinen Titel durch Mord und Verrat erschlichen, indem er einen Sklaven während der Unabhängigkeitskämpfe tötet und mit dessen Blut eine Verwundung vortäuscht. Dem Zeugen seiner Tat schneidet er die Zunge heraus. Um sich die väterlichen Ländereien anzueignen, verleugnete der „Held der Unabhängigkeit“ seine eigene Familie als Vaterlandsverräter, zumal er sie tödlich haßt. „Lembrou, como de hábito sentindo o peito ofender-se e doer a solidão pesada da injustiça, que o pai ameaçara (...) expulsá-lo da vila e da fazenda, ao vê-lo atacar uma das irmãs com um chuço de assar porque ela se apossara primeiro de um pedaço de carne distante mas cobiçado. Não tinha como alcançar aquela salpresa a resplender entre maxixes e jilós na outra ponta da mesa, (...) Então não cabia fazer nada, a não ser, com os olhos de uma baleia ferida, voar por cima daquele intolerável abismo entre ele e o pedaço de carne, e antes que a irmã mordesse o que era dele, transfixar-lhe a mão com o chuço preto e gorduroso. (...), o pai arrancou-lhe a lasca de carne entre os dentes em meio a uma chuva de tabefes, (...), jamais, agora que fora ingratamente magoado, existirá em toda a Terra carne suficiente para matar a fome por aquele pedaço usurpado e arrancado à força de seus dentes desesperados.”99 In dieser satirischen Szene wird der wahre Charakter des angeblichen Helden offengelegt. Ein erwachsener Mann haßt seine Familie und insbesondere die eigene Schwester wegen eines Stückes Fleisches. Die unermeßliche Gier von Perilo wird ins Groteske übersteigert, etwas scheinbar Wertloses wird zum Antrieb für seine Rache. Die satirische Intention des Autors wird auch durch die parodistisch verwendete hohe Stilebene deutlich, die einem Heldenepos angemessen erscheint. Der Bewußtseinsstrom der Figur Perilo vermischt sich mit Einwürfen des Erzählers, wenn dieser Perilo beispielsweise mit einer „baleia ferida“ vergleicht. Damit ironisiert Ubaldo Ribeiro zudem die edle, offizielle Version, die der Baron gerne über seine Familiengeschichte erzählt: „Entre a Pátria e a família, (…), Deus há sempre de me dar forças para escolher a primeira, eis que vale mais o destino de um povo que a sina de um só.“100 Durch die komplizierte Wortwahl und die Satzstellung wird die pompöse Eitelkeit des Barons betont, der fast selbst an seine Lügen glaubt. Diese patriotische Sentenz macht den Baron noch lächerlicher. Die Allmachtsphantasien dieses Mannes sind besonders empörend, weil sie die Phantasien eines grausamen Kindes sind, das durch bösartige Schlauheit zu Geld und Einfluß gekommen und damit zur Elite des unabhängigen Brasiliens aufgestiegen ist. 99 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 21. Ibid., S. 35. 100 38 Die unermeßliche Freßgier des Barons ist aber auch psychologisch interessant, weil sie auf eine mögliche orale Fixierung hinweist, die laut Freud zu Sadismus führen kann. Zu Zeiten der Psychoanalyse hätte der Baron vielleicht keine Frauen vergewaltigt, sondern wäre in psychologische Behandlung gekommen. Auch der Name Perilo, der in Schreibweise und Lautbild aus perigo (Portugiesisch: Gefahr) und périle (Französisch: Gefahr) zusammengesetzt ist, läßt von dieser Figur nichts Gutes erwarten. Der Zuname Ambrósio ist vermutlich eine weitere spöttische Anspielung Ubaldo Ribeiros, denn ambrósios heißt auf Griechisch „zu den Unsterblichen gehörend, göttlich“, woher auch der Name der Unsterblichkeit verleihenden Götternahrung Ambrosia herrührt.101 Die Göttlichkeit des Barons existiert zwar nur in dessen eigener Phantasie, gleichzeitig paßt seine Freßgier zu der Nahrungsbedeutung von Ambrósia. Unsterblichkeit hat ihm der Name nicht verliehen, denn die Sklaven vergiften den Baron aus Rache für seine Verbrechen.102 Was für Auswirkungen die brutalen Phantasien des Barons haben, wird an der Textstelle deutlich, in der die Vergewaltigung aus Vevés Perspektive geschildert wird. Wie auch an anderen Stellen des Romans, werden die Blickwinkel der Mächtigen und Machtlosen gegenüber gestellt. „Chorou muito tempo na mesma posição, chorou por muitas razões, às vezes todas juntas, às vezes cada uma por seu turno, teve raiva de sentir pena de si mesma, principalmente teve raiva por sentir vergonha, porque haveria de sentir vergonha, quando não tinha feito nada? (…) Suja, muito suja, suja de todas as maneiras, doída, tão doída, ela abraçou a si mesma, sozinha, tão sozinha, sozinha tão sem remédio, e ficou dormente.“103 In dieser erlebten Rede vermischen sich die Beschreibungen des Erzählers mit denjenigen der Figur. Diese „Doppelstimme“ wird zur „psycho-narration, das heißt zur bildhaften Erzählung von Bewußtseinszuständen (…), die von der Handlungsfigur selbst nicht versprachlicht werden (können).“104 Die beiden Stimmen verbinden sich zu einem Sprachstrom, die nur durch die unterschiedlichen Stilebenen der Figurenund Erzählerstimme unterscheidbar sind, auch wenn die Erzählerstimme sich teilweise dem Sprachniveau der Figur anpaßt.105 Der Erzähler sortiert Vevés Gedanken und schildert ihre nach Außen sichtbaren Reaktionen. Dadurch wird die allumfassende, 101 vgl. Duden, Lexikon der Vornamen, 2004, S. 42. Einen Tod, den auch die weißen Sklavenhalter in Alejo Carpentiers (1904-1980) El reino de este mundo (1949) ereilt. 103 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 135. 104 Vogt, Jochen, „Grundlagen narrativer Texte“, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, 1997², S. 304. 105 z.B. Anpassung der Erzählerrede an die Stilebene der Figur: „principalmente teve raiva por sentir vergonha“, hohe Stilebene: „porque haveria de sentir vergonha?“ 102 39 seelische und körperliche Verzweiflung von Vevé deutlich und kontrastiert hart mit den brutalen Allmachtsvorstellungen des Perilo Ambrósio. Die Phantasie Ambrósios bleibt zwar pornographisch, doch verhindert die Polyphonie106 der Stimmen, daß auch die Wirkung dieser Szene pornographisch wird. Der Leser erfährt von der geplanten Schändung vor der eigentlichen Tat, weiß also schon vor Vevé, was ihr widerfahren wird. Diesen Wissensvorsprung teilt sich der Leser mit dem Vorarbeiter, der die Vergewaltigung organisiert. Dadurch wird der Leser vom Voyeur zum Mitwisser und impliziert auch zu einem Komplizen, der ein geplantes Verbrechen verschweigt. Er ist gezwungen wie in einem Film darauf zu warten, daß das Unausweichliche passiert – eine unangenehme Lage, welche die Empathie des Lesers für das Opfer verstärkt. Die Mißhandlung kommt schließlich unerwartet, weil zunächst Vevés erotische Träumerei, das romantische Liebesspiel zwischen zwei Walen beschrieben wird. Der Gegensatz zwischen Vevés Träumen und der traurigen Wirklichkeit führt einmal mehr Freyres euphemistische Formulierungen wie „formas sadistas de amor“107 ad Absurdum. Nach der Vergewaltigung wird Vevé freigelassen und dem Schwarzen Leléu übergeben, damit die Frau des Barons nichts von dem Übergriff erfährt. Die in Casa grande e senzala beschriebene positive Annäherung zwischen Herren und Sklavin findet nicht statt und auch der Nachwuchs ist unerwünscht. João Ubaldo vermeidet nicht nur jegliche Romantisierung der Casa Grande, sondern macht eine Annäherung zwischen Bevölkerung und Elite fast unmöglich. Das Volk in diesem Roman entsteht aus der Distanz zwischen Herrenhaus und Sklavenhütte und deshalb muß Maria da Fé als Hoffnungsträgerin der Unterdrückten in Freiheit geboren werden. Sie verbringt in der Obhut Vevés und Leléus, der relativ wohlhabend ist und sie wie ein Enkelkind behandelt, eine angenehme Kindheit und Jugend. Sie erhält Unterricht auf einer Privatschule und lebt in einem priveligierten Freiraum ohne ethnische Vorurteile. Maria da Fé weiß nicht, daß sie in der Kolonialgesellschaft aufgrund ihrer Hautfarbe stigmatisiert wird. Das erfährt sie erst, als weiße Männer sie vergewaltigen wollen und dabei ihre Mutter Vevé töten, die sie verteidigt. Durch diese Tat verändert sich das Leben Marias von Grund auf. Sie verliert ihre Naivität und erkennt die Ungerechtigkeiten der Kolonialgesellschaft. 106 Polyphonie = Mehrstimmigkeit, „Die Protagonisten des polyphonen Romans (…) vertreten unvereinbare Standpunkte, deren Konkurrenz nicht durch eine übergeordnete Autoreninstanz entschieden wird.“ Martinez, Matias, „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, 1997², S.437. 107 Freyre, Gilberto, Casa Grande e Senzala, 2002, S. 377. 40 Sie ist deshalb nicht zufrieden, als Leléu die drei Mörder heimlich tötet. „(…) se os homens morreram sem saber porque estavam morrendo, de pouco adiantara a vingança.“108 Die Figur Maria da Fé ist also in doppelter Hinsicht das Ergebnis einer Vergewaltigung. Sie wird durch eine Vergewaltigung gezeugt und erlangt durch eine versuchte Vergewaltigung ihr soziales Bewußtsein. Ohne dieses Erlebnis und den Tod ihrer Mutter wäre sie nie zu der Guerillera geworden, die sie zur Heldin des Romans macht. Ribeiro entmystifiziert den Gründungsmythos der friedlichen Vermischung der drei „Rassen“. Er betont die Brutalität der Weißen und schildert den Widerstand der schwarzen Frauen. Aus diesen Gegensätzen wird dennoch die Lichtgestalt Maria da Fé geboren, die zur Leitfigur der „Irmanidade do povo brasileiro“ aufsteigt. 4.3 Die Mulattin als aktiv Handelnde Maria da Fé unterscheidet sich von anderen Mulattinnen der brasilianischen Literatur, denn sie hat eine Vergangenheit und eine Zukunft. Marias Vorfahren können durch die Seelenwanderung der alminha bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden, ein Privileg das normalerweise Familien der Elite vorbehalten ist. Auch die Lebensgeschichten der beiden Eltern sind bekannt, ebenso wie der Augenblick der Zeugung. Maria da Fés Geschichte unterscheidet sich grundlegend vom Klischee der sinnlichen Mulattin, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennt und auf ihren sinnlichen, naiven Charme reduziert bleibt. Maria bekämpft die Ungerechtigkeiten ihrer Gegenwart, um eine bessere Zukunft für das brasilianische Volk zu erwirken. 4.3.1 Maria da Fé: eine Amazone mit erotischen Bedürfnissen Maria da Fé wird zur gefeierten Volksheldin, die mit Waffengewalt gegen die Sklaverei kämpft, ohne jedoch unnötige Brutalitäten zu begehen. Im Gegensatz zu früheren mulata-Beschreibungen zeichnet Maria da Fé sich nicht durch ihre Nähe zu den Weißen, sondern die Hinwendung zu ihren schwarzen Wurzeln aus. Das tut sie nicht in Ermangelung von Alternativen, sondern aus Überzeugung. Dank ihrer Schulbildung und Leléus Unterstützung hätte sie sogar als Lehrerin arbeiten können. Dennoch entscheidet sie sich für ein unkonventionelles Leben und wird zur 108 Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 371. 41 klassischen Verkörperung der Amazone, zur donzela guerreira109, ohne Mann an ihrer Seite. Damit entspricht sie nicht dem bekannten Motiv der sinnlichen Mulattin, obwohl Maria da Fé schön ist: „a figura alta (…), tão bonita (…), os olhos verdes“.110 Mit ihren grünen Augen ähnelt sie Jorge Amados Gabriela, doch das ist auch die einzige Übereinstimmung. Sie ist attraktiv, wird aber nicht mit Früchten verglichen oder aufgrund ihrer Kochkünste gelobt. Maria da Fé setzt nicht ihre körperlichen Reize ein, sondern kämpft mit ihrem Verstand und Waffengewalt. Ihre Mitstreiter sind zumeist Männer und sie muß sich in einer reinen Männergesellschaft durchsetzen. Aus diesem Grunde meidet sie Abenteuer mit dem anderen Geschlecht. „Se fosse homem, podia ter até várias mulheres, mas, sendo mulher, não podia ter homem nenhum, exceto um que não quisesse mandar nela ou achar que a tinha subjugado só porque a levara para a cama.”111 Maria da Fé ist sich bewußt, daß Erotik und Unterwerfung in einer patriarchalen Gesellschaft zusammengehören. Als Anführerin kann sie nicht zulassen, daß ein Mann glaubt, sie erotisch zu dominieren. Eine Frau kann scheinbar nur dann herrschen112, wenn sie nicht als erotisch begehrenswert wahrgenommen wird. Obwohl Maria diese Situation erkennt, versucht sie nicht die Geschlechterverhältnisse aktiv zu verändern. Sie bekämpft die Sklaverei und nicht die Unterdrückung der Frau. Deswegen gibt sie ihren erotischen Bedürfnissen nur heimlich nach, als ihrer Guerilla-Gruppe Patrício Macário, ein Offizier der brasilianischen Streitkräfte in die Hände fällt. Patrício und seine Kollegen werden mit einem Schlaftrunk betäubt, entwaffnet und nackt ausgesetzt. Zuvor stattet sie aber Patrício einen Besuch ab. „Entrou pouco depois, fechou a porta, lá estava ele, somente a cabeça aparecendo entre as dobras do lençol, à luz fraquinha de uma lamparina de caneco. (…) O coração disparando, o fôlego opresso, mas um bem-estar muito grande por todo o corpo, curvou-se para ele, tão belo e forte dormindo igual a um inocente e, bem devagar, levantou o lençol, desvelando-o como se temesse acordá-lo. “ 113 In diesem Abschnitt wird das klassische Rollenverhältnis der Geschlechter im Patriarchat umgekehrt. Maria da Fé kann den schlafenden Mann erotisch dominieren, ohne selbst unterworfen zu werden. Im Unterschied zu anderen Mißbrauchsszenen des 109 Zum Motiv der Amazone vgl.: Galvão, Walnice Nogueira, A donzela guerreira, 1998. Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 499. 111 Ibid., S. 396. 112 „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ In: Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 1972, S. 28 ff. „Herrschaft ist ein Sonderfall von Macht“ in: Ibid., S. 541. 113 Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 404. 110 42 Romans nähert Maria da Fé sich ihrem „Opfer“ mit Respekt. Sie bewundert seine Schönheit und hebt das Laken sanft an. Das Licht ist gedämpft und der Mann liegt hilflos wie ein Kind, unschuldig, ausgeliefert. Dies ist eines der seltenen Beispiele, in denen der Autor eine erotische Handlung nur andeutet und nicht genau beschreibt. Ubaldo Ribeiro überläßt es der Phantasie der Leser sich vorzustellen, was Maria da Fé genau macht, gibt aber eindeutige Hinweise: „ O que ela fez em seguida? Ninguém sabe. O que se sabe é que ela saiu dali algum tempo depois com um ar quase maroto, (…).“114 Man muß beim Lesen stets seine Vorstellungskraft mobilisieren, denn wie detailliert eine Schilderung auch sein mag, immer gibt es Auslassungen die der Leser mit eigenen Bildern ausfüllen kann. Auch der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz erklärt den Unterschied zwischen Erotik und Sexualität aus der menschlichen Phantasie. „El erotismo es invención, variación incesante; el sexo es siempre el mismo. (…) En todo encuentro erótico hay una personaje invisible y siempre activo: la imaginación, el deseo.“115 Wenn man annimmt, daß Erotik sich von animalischer Sexualität vor allem durch mentale Vorgänge unterscheidet, könnte eine Steigerung des geistigen Anspruchs auch eine Steigerung der Erotik mit sich bringen. Durch derartige Auslassungen wird der Leser in die Erotik der Szene miteinbezogen, was ihre erotische Wirkung steigert. Deswegen wäre es unpassend, diese Szene als Vergewaltigung zu deuten, da die sprachliche Gestaltung des Autors nicht auf eine solche Interpretation schließen läßt. Zudem wird die Vorstellung eines Mißbrauchs von Männern normalerweise nicht als besonders traumatisch empfunden. „Eine Vergewaltigung ist für den Mann eine positive erotische Phantasie, (…)“116, zumindest wenn die Täterin eine schöne, junge Frau ist. Wahrscheinlich spielt der Autor wieder auf den Gründungsroman Iracema von José de Alencar an, denn auch die virgem dos lábios de mel gibt ihrem weißen Krieger einen Schlaftrunk, um sich ihm körperlich zu nähern. Maria da Fé und Iracema sind kriegerische Frauen, die nicht nur mit Waffengewalt kämpfen, sondern auch um die Liebe. Durch diese Ähnlichkeit zu Iracema wird Maria da Fé noch einmal als Symbolfigur des brasilianischen Volkes identifiziert. Dabei gelingt Maria da Fé, was Iracema mißlang. Durch diese erotische Form von comer, macht sie Patrício zu einem Teil des brasilianischen Volkes, von dem er sich als Sohn des angepaßten 114 Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 404. Paz, Octavio: La llama doble,1995, S. 15. 116 Alberoni, Francesco, Erotik, 1991³, S. 76. 115 43 Mulatten Amleto entfernt hatte. Die brasilianische alminha lebt in Maria, die gleichzeitig die Seele des caboclo Caipiroba war und die mysteriöserweise auch die Seele des Holländers Zinique wurde.117 Die Seele Ziniques ist in Maria da Fé gefahren und die Seele Vus in Patrício. Damit wird die Urgeschichte der Vergewaltigung umgekehrt, denn Vu hatte einen Mann sexuell unterworfen und dadurch zum Brasilianer gemacht. Auch Patrício fühlt sich nach seiner Begegnung mit Maria da Fé, immer stärker dem einfachen Volk verbunden. Als Sohn des Aufsteigers Amleto gilt er zwar offiziell als Weißer, hat aber in Wirklichkeit eine schwarze Großmutter. Durch Maria findet er zu seinen Wurzeln zurück, öffnet seinen Geist für den Candomblé und die Probleme des Volkes. Das Motiv der Mulattin, die Fremde ins brasilianische Leben einführt, ist nicht neu. „Die Funktion der Frauen ist es, Einwanderer in die brasilianische Kultur einzuführen. Als mulatas scheinen sie dafür prädestiniert. Sie sind Kulturträgerinnen (Afro-)Brasiliens und werden sogar zu Symbolen für dieses Land und seine Kultur.“118 Allerdings initiiert Maria nicht einen Fremden in die brasilianische Kultur, sondern hilft einem entfremdeten Brasilianer dabei, sich selbst zu finden. Dabei geht es um mehr als folkloristische Elemente, wie Capoeira oder Karneval, nämlich um eine grundlegende Selbstaffirmation. „Agora vou ensinar vocês a ter orgulho.“119 Teil dieser Selbstentdeckung ist auch die Annäherung an das Übersinnliche, der Glaube an Seelenwanderung und den Candomblé, im Gegensatz zur Logik der Kolonialherren. Vertreter der weißen Elite können nicht Teil der Irmanidade do povo brasileiro werden, dieses Privileg ist Armen, Sklaven und gebildeten Mulatten vorbehalten. Als Volksheldin beugt sich Maria da Fé nicht den Hierarchien zwischen Männern und Frauen, zwischen Regierung und Volk. Während sie die sozialen Ungerechtigkeiten mit Waffengewalt bekämpft, unterläuft sie die Hierarchien zwischen den Geschlechtern aber nur heimlich. 117 Möglicherweise handelt es sich hier um eine nicht beabsichtigte Konfusion des Autors, der selbst angab, während des Schreibprozesses den Überblick verloren zu haben und versehentlich Namen vertauschte. 118 Rauh, Annette, Mulatas und mulatos als literarische Held/innen. Zum Romanwerk von Aluísio Azevedo und Jorge Amado., 1997, S.135. 119 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 519. 44 4.3.2 Die erotische Macht der Sklavin Maria da Fé ist nicht die einzige mulata, die gegen die Geschlechter- und „Rassenhierarchien“ aufbegehrt. Die Sklavin Martina schafft sich ihre persönliche Freiheit im erotischen Liebesspiel, für das sie die Liebhaber selbst aussucht. Den Sohn des Hauses hat sie verführt und abhängig gemacht.120 „Não sei como é que tu faz uma coisa dessas – (…) Um frangote desses que não te traz nada, branquinho, senhor como qualquer outro, aproveitador como qualquer outro …“121, wirft ihr die Sklavin Merininha vor. „Ora, minha filha, tu acha que eu vou deixar de papar um meninozinho limpinho, cheiroso e disposto, (…) tu não sabe o que eu boto ele para fazer. (…) Come ele, como eu, minha filha … Ha-ha! Tu sabe que quem garrou foi eu?“122 Martina ist zwar leichtlebig und oberflächlich, dennoch sind ihre Verführungskünste äußerst amüsant. Für wenige Momente hört die Sklaverei auf zu existieren, wenn Martina ihre weibliche Macht über den verschreckten weißen Jungen ausübt. Die Mulattin macht den Herren zum Sexualobjekt, kommandiert ihn herum und nimmt ihn überhaupt nicht ernst – er wird zum Sklaven ihrer dominanten Erotik: „tu não sabe o que eu boto ele para fazer“123 Hier zeigt sich einerseits der befreiende Aspekt der Erotik, die alle Menschen gleichmacht, Machtverhältnisse verschiebt oder umkehrt. Andererseits wird auch die männliche Angst vor weiblicher, dominanter Erotik thematisiert. Dabei ist es kein Zufall, daß es sich um eine Mulattin und einen weißen Jungen handelt, denn diese Machtspielchen könnten auch in anderen Konstellationen stattfinden. In ihrer leichtfertigen Lebenseinstellung entspricht Martina den sinnlichen Mulattinnen der Literatur, mit dem Unterschied, daß sie aktiv verführt und die Männer nicht ernst nimmt. Jorge Amados Gabriela würde nie derart respektlos über ihren angebeteten Nacib124 sprechen und intime Details ausplaudern. Normalerweise werden solche Gespräche von Männern geführt und nicht von angeblich unterwürfigen Sklavinnen. Der Autor versucht sicherlich nicht, die Grausamkeiten der Sklaverei zu 120 Möglicherweise spielt der Autor auf den Mythos von Xica da Silva an, die im 18. Jahrhundert den Gouverneur von Minas Gerais João Fernandes de Oliveira verführte, und damit zu der mächtigsten Frau im Bundesstaat wurde. 121 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 272. 122 Ibid., S. 272 f. 123 Ibid., S. 272. 124 in: Amado, Jorge, Gabriela, cravo e canela, 2001. Gabriela arbeitet als Köchin für den Syrer Nacib und ist gleichzeitig seine Geliebte. Ihre kurze Ehe scheitert an Gabrielas Untreue, die ihn trotzdem von ganzem Herzen liebt. Nach einer Bußzeit darf Gabriela in Küche und Bett von Nacib zurückkehren. 45 beschönigen, indem er eine glückliche Sklavin auftreten läßt. Martina hat nur einen kurzen Auftritt innerhalb des Romans, sie bildet nur eine kleine Facette innerhalb der ubaldischen Identitätskonstruktion. Weitaus bedeutsamer sind Maria de Fé und Merinha, die nicht nur ihr Leben lang auf ihre große Liebe, den entlaufenen Sklaven Budião wartet, sondern auch den verhaßten Perilo Ambrósio vergiftet. Dadurch wird deutlich, daß Martinas vermeintlich unmoralisches Verhalten nicht als allgemeine Charakterisierung farbiger Frauen zu gelten hat. João Ubaldo Ribeiro benutzt zwar eine mulata als Symbol für das brasilianische Volk, doch meidet er gängige Vorurteile. Dadurch, daß der Erzählerstil gelegentlich Elemente der erlebten Rede enthält und die Frauen zudem in der direkten Rede selbst zu Wort kommen und sich im Laufe ihrer Lebensgeschichte weiterentwickeln, hören sie auf Symbole zu sein und werden zu Menschen. Natürlich wird Maria da Fé durch ihre Schönheit, ihren Mut und Einfallsreichtum stark idealisiert, so wie auch Jorge Amado seine Gabriela in ihrer sirenen-gleichen Wirkung auf Männer verklärte. Maria da Fé ist aber eher eine Heilige als ein Sexsymbol. Zudem steht die sinnliche Anziehungskraft einer Frau bei João Ubaldo nicht im Zusammenhang mit einer dunklen Hautfarbe, wie beispielsweise bei Amado. Martina ist eine sinnliche mulata, ihre Verführungskünste unterscheiden sich aber nicht wesentlich von denen anderen weiblichen Figuren im Werk João Ubaldos. Stellt man Martinas Verführungsszene neben eine entsprechende Beschreibung aus dem pornographischen Roman A casa dos budas ditosos, ergeben sich kaum Unterschiede. Martina lockt den weißen Knaben folgendermaßen: „ (...) e ele ficava sempre na saída do corredor, de mão na cintura para o cotovelo esfregar no meu peito achando que não reparava, mas eu só reparando e cada vez eu demorava mais nessas passadas e sempre que eu ia lá dentro ajeitava o peito dentro do califom, subia assim, espie, bico pra cima assim, pra quando passasse no braço dele, ele sentisse o peito descaindo ali e às vezes eu fazia uma paradinha sem olhar para ele, ia e voltava o peito, tantan. Muito bem, numa dessas passadas, virei para ele e disse: por que não vai me chamar de noite pra pedir um chá? (…) Disse assim, bem encompridado: chaaaá.“125 Die Libertine aus A casa dos budas ditosos verführt ihren Jura-Professor mit ähnlichen Methoden: „Dei para ficar na sala depois da aula, sempre tinha uma pergunta, vários perguntas, olhando direto nos olhos dele, que desviava a vista, mas eu firme. (…) Ele estava curvado, com as mãos apoiadas na mesa, e então aparentando estar toda sem jeito, deixei uns cadernos cair da mesa, (…) encostei na mão 125 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 273. 46 dele, que se fechava sobre a borda da mesa. Ele levou um susto e tirou a mão, mas eu fiz pressão e minha saia chegou a subir um pouco, (…) depois fiquei vermelha, (…)“126 Die ubaldischen Frauenfiguren setzen raffiniert ihre körperlichen Vorzüge ein und nicht etwa ihren Intellekt. Der Körper ist die Waffe der weiblichen Verführung, unabhängig vom Bildungsstand und der Epoche in der die jeweiligen Frauen leben. Diese instinkt-betonte Darstellung beschränkt sich nicht auf Farbige, wie es in der brasilianischen Literatur oft üblich war, sondern gilt auch für weiße Frauen der Oberschicht. Diese Verführerinnen bilden jedoch nur eine Facette des Frauenbildes, das Ubaldo Ribeiro in seinem Werk entwirft. Es wäre unfair zu behaupten, daß er Frauen grundsätzlich auf den Körper reduziert. Wenn es um mehr als körperliche Erotik, wenn es um Liebe oder eine wichtige Aufgabe geht, endet die Herrschaft der Instinkte und die Frauen zeigen ihre Persönlichkeit. Dennoch tendiert der Autor dazu, radikale Frauenpersönlichkeiten zu entwerfen, die sich, getreu dem klassischen patriarchalen Schema, entweder der Heiligen oder der Hure annähern. 4.4 Der kolonialisierte Mulatte In Viva o povo brasileiro werden zwei Familiengeschichten erzählt: die des Barons von Pirapuama (Maria da Fés Vater), sowie die von Amleto Ferreira (Patrícios Vater), eines unehelich aber frei geborenen Mulatten im Dienste des Barons. Perilo Ambrósio schätzt Amleto als intelligenten Angestellten, verachtet ihn aber gleichzeitig als Mischling. Nachdem der Baron von Sklaven vergiftet wurde, bringt Amleto die Reichtümer des Barons an sich und steigt in die bessere Gesellschaft auf. Je erfolgreicher er ist, um so weniger wird seine dunkle Hautfarbe wahrgenommen, bis er schließlich in der Fremdwahrnehmung ganz zu einem Weißen wird. Seine schwarze Mutter verleugnet er und legt sich einen falschen Stammbaum mit englischen und französischen Vorfahren zu. Jeden Tag zwingt er seine Kinder, ihre Nasen schmal zu streichen, das Haar zu glätten, sowie die Sonne zu meiden. Patrício ist der einzige Nachkomme Amletos, der die Wahrheit über seine Herkunft zu fühlen scheint und gegenüber den Embranqueamento-Methoden des Vaters rebelliert. Mit solchen Schlichen gelingt es Amleto aber tatsächlich, weißer zu erscheinen, nicht zuletzt durch seinen Reichtum, der ihn auch gesellschaftlich zum Weißen macht. 126 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 2000², S. 66 f. 47 Amleto sucht jedoch nicht seine Situation zu verbessern, um die weiße Gesellschaft in irgendeiner Form kritisch zu unterwandern, oder aus Überlebenswillen, wie beispielsweise Leléu (Maria da Fés Adoptiv-Großvater). Amleto verachtet wirklich alle farbigen Menschen und damit letztendlich auch sich selbst. „(…) a fala daqueles negros baleeiros, o som daquelas palavras que mais pareciam ruídos dos matos e dos bichos, o jeito desempenado do arpoador, os movimentos bailarinos dos outros pretos, tudo isso fazia com ele, (...) sentisse o rosto frio, o coração batendo e a garganta estreitada de raiva, (...)”127 Bevor er reich wird und eine eigene Lebensgeschichte erfinden kann, schämt sich Amleto, Sohn einer freigelassenen Schwarzen und eines englischen Seemanns zu sein. Durch seine Bildung fühlt er sich den Sklaven überlegen, wird aber dennoch von den Weißen diskriminiert. Sie betrachten ihn nicht als intelligenten, gebildeten Menschen, sondern sehen nur die dunkle Hautfarbe, die ihn automatisch disqualifiziert. Die Weißen verhalten sich ihm gegenüber genauso, wie er gegenüber den Schwarzen, er bewegt sich innerhalb einer Hierarchie der Verachtung. Obwohl ihm die Sklaven verhaßt sind, fühlt er sich zu schwarzen Frauen hingezogen, beispielsweise zu Vevé, bevor sie vom Baron vergewaltigt wird. „Amleto sentiu uma estremeção, a boca salgada, as virilhas quase estralando, queria olhar os peitos dela, podia vê-los, pegá-los, fazer com eles o que quisesse! (...) Devagar inicialmente, depois como se quisesse transformá-los e massa de pão ou fundir com eles os dedos, apertou os peitos de olhos fechados, curvou-se e chupou um e outro com toda a força, enchendo a boca tanto quanto podia.”128 Vevé läßt diesen Mißbrauch völlig regungslos über sich ergehen, wehrt sich nicht, zeigt aber ebenso wenig Zeichen von Erregung. Amleto hingegen bekommt schon durch diese Berührungen einen Orgasmus. Ihn erregt es, eine Frau zu demütigen, von der er sich gleichermaßen angezogen und abgestoßen fühlt. Amleto setzt seine beschränkte Macht ohne Skrupel ein, um Sklavinnen sexuell zu mißbrauchen. Er hat die aggressive Erotik der Weißen in ihrer Abhängigkeit von Erniedrigung und Macht übernommen. Amleto ist in vieler Hinsicht eine Kopie des Barons, er spricht pompös mit vielen lateinischen Zitaten, ist allerdings viel intelligenter. Er vergreift sich sogar an derselben Frau, zeigt innerhalb der machistischen Werteordnung aber nicht gerade seine männliche Stärke. Er schafft es in letzter 127 128 Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 102. Ibid., S. 102. 48 Konsequenz nicht, Vevé und damit einen Teil seiner eigenen Identität zu vergewaltigen. Er ist eine widersprüchliche Persönlichkeit, in ihm finden sich die Antagonismen der Sklavengesellschaft, die es Mulatten nur dann erlaubt sozial aufzusteigen, wenn sie ihre schwarzen Wurzeln verleugnen. Auch der Name Amleto deutet in Anlehnung an Shakespeares Hamlet nicht auf ein glückliches Schicksal hin. Nachdem er sein Leben lang die eigene Herkunft verleugnet, gelogen, gestohlen und sich selbst betrogen hat, verliert er im Alter schließlich den Verstand. Er kann keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen, weil er eine neurotische Furcht hat, eine Fliege zu verschlucken, was möglicherweise eine Folge seines biologischen Reinheitswahns ist, da Fliegen oft mit Schmutz in Verbindung gebracht werden. Die beiden großen Patriarchen des Romans werden von ihren eigenen Taten eingeholt. Der Baron wird von seinen Sklaven vergiftet und Amleto geisteskrank.129 Ähnliches widerfährt dem Schwarzen Leléu, der zwar nicht die eigene Herkunft ablehnt, aber doch auf Kosten von Sklaven und armen Freigelassenen seinen sozialen Aufstieg betreibt. Er macht ehemalige Sklavinnen zu Prostituierten und verkauft Fisch zu Wucherpreisen. Zwar schlägt er den Weißen bei jeder Gelegenheit ein Schnippchen, doch stellt er nie die Sklaverei selbst in Frage. Im Gegensatz zu Amleto hat Leléu jedoch auf den „richtigen“ Weg zurückgefunden, als er Maria da Fé zärtlich adoptiert. So wird zwar auch er im Alter verrückt, aber auf eine liebenswertere Art. Er, der nie eine richtige Kindheit hatte, wird im Alter völlig infantil, und findet so zu seiner verlorenen Unschuld zurück. Indem João Ubaldo die Doppelmoral Amletos und seiner Umgebung aufdeckt, befindet er sich in einer Tradition mit Aluísio Azevedo und Jorge Amado, die auch schon die Figur des Mulatten benutzten, um soziale Mißstände aufzuzeigen. Während Amado mulatos wie in Jubiabá (1935) idealisierte, gibt Azevedo seinem Protagonisten in O mulato (1881) einen schwachen Charakter, den er genetisch aus seiner Herkunft erklärt. Amleto ist weder ein positiver Held, der gegen die Unterdrückung kämpft, noch wird sein schlechter Charakter biologisch abgeleitet. Seine Skrupellosigkeit ist Ergebnis des sozialen Umfelds, in das er geboren wurde. Er paßt sich den Begebenheiten der Gesellschaft an, indem er selbst weiß und damit mächtig wird. Auffällig ist trotzdem, daß männliche Mulatten in Viva o povo brasileiro nicht als ideelle Gründungsväter Brasiliens in Frage kommen. 129 Beides Schicksale, die an die Figuren der zwei großen Klassiker des magischen Realismus erinnern: der Tod durch Vergiften in Alejo Carpentiers (1904-1980) El reine de este mundo (1949) und der verrückte Patriarch in Cien años de solidad (1967) von Gabriel García Márquez (1928-). 49 5. Erotik als Gesellschaftskritik João Ubaldo versucht in seinem längsten Roman nicht nur die Geschichte Brasiliens neu zu deuten, sondern bietet auch verschiedene Interpretationen des nationalen Charakters. Es gibt nicht ein brasilianisches Volk, sondern mehrere, je nachdem welche Personengruppe über ein brasilianisches Wir-Gefühl räsoniert. Die Plantagenbesitzer und späteren Bürger der Mittelschicht halten sich selbst für die wahren Brasilianer – ebenso wie die Sklaven und Armen. Der polyphone Charakter des Romans verbietet eine eindeutige Charakterisierung des brasilianischen Volkes. Die Sympathie des Autors liegt jedoch bei den Schwachen, denn die Herrschenden haben bei ihm immer negative Charaktereigenschaften und so konstruiert Ubaldo Ribeiro die Irmanidade do povo brasileiro aus einer Polemisierung zwischen Unterdrückten und Mächtigen. Zu dieser mystischen Bruderschaft, die das Volk repräsentiert, gehören diejenigen, die ihre Unterdrückung erkannt haben und für ihre Freiheit kämpfen. Das können Sklavinnen sein, die ihren Herren vergiften, aber auch Soldaten, die über die wahren Härten des Krieges sprechen, oder eben Maria da Fé, die sich zur Leitfigur dieser Bewegung entwickelt. Diejenigen, die nicht zu dieser Bruderschaft gehören, werden dem Leser als dumm, arrogant und grausam vorgeführt. Diese Eigenschaften dehnen sich auch auf ihr Sexualverhalten aus, oder werden durch dieses erst deutlich. João Ubaldo charakterisiert seine Figuren oft über diese intimsten Momente, nackt vor den Augen des Autors und der Leser. Eine Vorgehensweise, die sich in den meisten Romanen wiederholt. 5.1 Die Perversionen der Mächtigen in O feitiço da ilha do pavão Indem Ubaldo die gewaltsame, psychopatische Erotik von Perilo Ambrósio schildert, übt der Autor auch Gesellschaftskritik. Der als Held gehandelte Baron ist in Wirklichkeit ein Vergewaltiger, Ubaldo Ribeiro verbindet das Höchste mit dem Niedrigsten, „castigat ridendo moris“, er bestraft die Sitten mit dem Gelächter. „Por seu caráter denunciador, a sátira é essencialmente paródica, pois constrói-se através do rebaixamento de personalidades (…), instituições e temas que, segundo as convenções clássicas, deveriam ser tratados em estilo elevado.“130 130 Cavalcanti Nuto, João Vianney, „Grotesco e Paródia em Viva o povo brasileiro”, S. 3 in: Revista Brasil de Literatura, (Internet). 50 Dabei benutzt der Autor häufig die sexuellen Vorlieben seiner Figuren, um das tatsächliche Verhalten einer Person an ihren eigenen Werten zu messen. In O feitiço da ilha do pavão sind alle Mitglieder der so genannten Elite – Lehrer, Priester und Offiziere – in ihrem Sexualverhalten pervers.131 Die Pfaueninsel ist eine fiktive Insel, auf der während der Kolonialzeit eine utopische Gesellschaftsordnung entsteht. Die Sklaverei wird vom Capitão Cavalo, dem offiziellen Vertreter der portugiesischen Krone abgeschafft, während ausgerechnet im quilombo132 schwarze Menschen versklavt werden. Dort hält ein größenwahnsinniger Afrikaner kongolesischer Abstammung, nach dem Vorbild europäischer Königshäuser Hof. Mit dieser ironischen Konstellation betont der Autor, daß die nach Brasilien eingeführten Afrikaner aus verschiedenen Völkern stammten und sich nicht unbedingt miteinander solidarisch fühlten. Der Sohn des Capitão Cavalo, Iô Pepeu, lehnt jegliche Verantwortung ab und hat vor allem das Ziel, mit möglichst vielen Frauen zu schlafen. Die rechtschaffenen Bürger der Insel sind über die unmoralischen Zustände entsetzt und vertreiben die nackten Indios aus der Stadt, da sie angeblich die herrschende Sittenlosigkeit mit verursachen. Zusätzlich wird die Inquisition auf die Insel geholt, um die moralische Ordnung wiederherzustellen. Als die tugendhafte Entrüstung der Bürger nachläßt, fällt ihnen ein, daß sie selbst auch Opfer der Inquisition werden könnten. Einer von ihnen ist der Schulmeister José Joaquim Moniz Andrade: „Acaso alguns meninos e meninas com quem ele achava já ter estabelecido sólida cumplicidade falariam sobre o que faziam com ele, sabendo que ele nunca os havia forçado e que participavam de bom grado, como numa brincadeira na rua? (...) o que o mestre-escola fazia era ir desenvolvendo aos pucos um rol de pretextos e manobras a fim de que certos alunos e alunas de que era preceptor particular baixassem as calças, para serem chibatados levemente por ele, entre uma apalpadela ou outra. Jamais passaram disso, a não ser que se considere como tal o fato de que, depois de algum tempo chibatando os alunos, o mestre passava a pedir retribuição, baixando por seu turno as calças para que os vergastassem, só que, ao contrário do que ele fazia, com toda a força que quisessem. Algumas gerações de assivissojoemapaenses já haviam passado por essas experiências e muitas delas já eram compostas de senhoras e senhores casados, uns poucos dos quais, mesmo depois de crescidos, tinham procurado o mestre para umas trocas de chibatadas. “133 131 Laut Freud sind alle sexuellen Handlungen, die nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet sind, Perversionen. In diesem Fall sind jedoch krankhafte Perversionen gemeint, durch die andere Menschen zu Schaden kommen. 132 quilombos waren Siedlungen entlaufener Sklaven, die ab dem 17. Jahrhundert vor allem im Nordosten Brasiliens entstanden. 133 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.232. 51 In dieser erlebten Rede versucht der Schulmeister sein eigenes Verhalten zu rechtfertigen und wirkt dadurch um so lächerlicher. Die Komik seiner Rechtfertigung wird durch die sehr gewählte Sprache erhöht, die seine niedrigen Taten als bedeutend und edel erscheinen lassen. Der relativ lange Abschnitt wirkt wie eine offizielle Ansprache mit umständlichen Wendungen und euphemistischen Formulierungen. Nur die unterstrichenen Textstellen befassen sich wirklich mit dem Geschehenen. Indem Ubaldo Ribeiro einer Figur masochistische Neigungen zuspricht, wird sie herabgesetzt und lächerlich gemacht. Auch hier geht es dem Autor darum, das öffentliche Bild von Personen anhand ihrer sexuellen Geheimnisse zu entwerten. Die masochistischen Episoden werden aber nicht detailliert geschildert, der Leser wird nicht zum voyeuristischen Beobachten gezwungen. Der Schulmeister erinnert sich seiner vergangenen Sado-Maso-Erlebnisse, gleichzeitig ist seine Rede durchzogen von Selbstrechtfertigungen. Dadurch haben die Leser einen intellektuellen und gefühlsmäßigen Abstand zu diesen Geschehnissen und können darüber lachen. Das Verhalten des Schulmeisters hat auch Auswirkungen auf seine Frau: „(...) Dona Maria Joana, mulher do mestre-escola, (...), não indigava se falariam, antes se saberiam. O negro Serafim não podia falar e, se pudesse, certamente não contaria, era muito leal e tinha em jogo a boa vida que levava. Incendiada pelos desejos que não derivavam satisfação de ter um marido sempre às voltas com as musas, os clássicos e as chibatadas de que ela já tinha conhecimento fazia bastante tempo, Dona Maria Joana escolhera Serafim para amante. Bonito negro, alto e espadaúdo, era cego, surdo e mudo de nascença. (...) Dona Maria o seduziu numa noite que o marido resolveu varar até o dia em seu sótão, no preparo de um importante documento. Não falou nada, apenas pegou-o pelo pulso e o levou para a cama. E, desse dia em diante, sempre aproveitou as mais oportunidades de encontrar-se com Serafim, achando até mesmo que, como no caso das chibatadas em relação a ela, o marido também sabia e não se importava, talvez até gostasse de que o rapaz a servisse e o deixasse livre para a consecução de sua obra.“134 Ebenso wie ihr Mann nutzt Dona Maria Joana ihre Stellung aus, um sich mit einem Schwächeren sexuell zu amüsieren. Auch sie versucht sich moralisch zu rechtfertigen, ist dabei aber weniger verlogen als ihr Ehemann, indem sie ihr aktives Vorgehen bei der Verführung Serafims betont. Zudem ist sie Opfer ihres Ehemannes, der die erotischen Bedürfnisse seiner Frau vernachlässigt. Die Bürger der Pfaueninsel halten sich selbst in ihren erotischen Eskapaden an gesellschaftliche Hierarchien, indem sich 134 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.232 f. 52 jeder einen hierarchisch niedriger stehenden Sexualpartner sucht. Erotik besteht innerhalb dieser Strukturen vor allem aus Machtmißbrauch. Es ist schon sehr zynisch, daß eine Frau der Gesellschaft sich an einen schwarzen, taubstummen und blinden Hausdiener hält. Das Motiv der sexuell frustrierten „alten Jungfer“, die sich an Schwächeren vergreift, findet sich auch bei Jorge Amado. In Capitães da Areia (1937) treibt ein alterndes Fräulein mit dem verkrüppelten Sem-Pernas, der immerhin noch ein Kind ist, ein makabres Liebesspiel. Jorge Amado hatte João Ubaldo 1979 in einem Interview von einer ähnlichen Erfahrung erzählt: „Sim, D. Marieta, solteirona, católica, muito rígida. Essa, sim, ia me dar banho e ficava me pegando, me masturbando.“135 Diese solteironas gehören als unglückliche Erbinnen des Patriarchats zu der Vorstellungswelt über brasilianische Frauen. Indem João Ubaldo das Verhalten der Dona Maria Joana schildert, parodiert er gleichsam ihren Mann, der seiner Aufgaben in der patriarchalen Gesellschaft nicht nachkommt, nämlich seine Frau sexuell zufrieden zu stellen. Ein weiteres Beispiel für männliche Unzulänglichkeiten ist die besonders markante Figur des Polizeichefs Mestre-de-Campo José Estevão Borges Lustosa, der sich auch gerne der Wolf von São João nennt. In seinem an Irrsinn grenzenden Größenwahn erinnert er stark an Perilo Ambrósio. Er sieht sich selbst als zukünftigen Diktator der Insel, der die Sittenlosigkeit eindämmt und straffe militärische Disziplin durchsetzt. Doch auch er muß sich den Erinnerungen an seine Taten stellen, nämlich homosexuellen Handlungen. „Sim, era verdade. Como homem, mas era verdade. Sempre como homem! Jamais lhes virara o traseiro nem lhes tocara os bagos. Sempre os punha de quatro e os enrabava como homem, ainda dando-lhes umas mordidas fortes no cogote e nas costas e baixando-lhes umas boas dúzias de palmadas nos quartos. Sim, sempre como homem e, depois, não tinha com eles chistes nem intimidades. Dizia-lhes sempre que lhes tinha ido aos cus porque lhe apetecia e porque assim prestavam algum serviço na terra e que tratassem de calar a boca e não tomar ousadias com ele, do contrário não viveriam para repetir a história. E não contava nos dedos as vezes em que, ao mandar um deles embora, fazia-o à custa de xingamentos destinados a pô-los em seu lugar e debaixo de umas boas apalpadas com os lados de espadagão.“136 Wieder reißt João Ubaldo einer gesellschaftlichen Respektsperson die Maske herunter, indem er ihre intimsten Geheimnisse verrät. Daß ein Soldat als Vertreter der Männlichkeits-Kultur homosexuell ist, scheint eine weitere ironische Spitze des 135 136 Ribeiro, João Ubaldo, Interview mit Jorge Amado, wahrscheinlich 1979, S. 7. Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.231. 53 Autors zu sein. Der Polizeichef rechtfertigt seine Neigung, indem er seine Männlichkeit hervorhebt, die sich vor allem durch Brutalitäten auszeichnet: „mordidas fortes, palmadas, xingamentos, apalpadas com os lados de espadagão”. Zudem betont er mehrfach, stets der aktive Part gewesen zu sein: „Sempre como homem”. Diese Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Homosexualität entspricht der traditionellen Deutung in Brasilien, seit den Zeiten kirchlicher Inquisition.137 Jenseits kirchlicher Einmischung wurde diese Unterscheidung noch verstärkt und Homosexualität nur als verwerflich für denjenigen angesehen, der sich passiv hingibt, also den „Part der Frau“ übernimmt, während der Aktive nicht als homosexuell gilt. Auch Gilberto Freyre, der selbst erotische Erfahrungen mit Männern gemacht haben soll, weist in Casa grande e senzala sowie Sobrados e mucambos auf gleichgeschlechtliche Erotik zwischen Sklavenhaltern und Sklaven, sowie innerhalb indigener Stämme hin.138 Trotz dieser brasilianischen Toleranz gegenüber aktiver Homosexualität, scheint der Polizeichef von seinen eigenen Beteuerungen nicht vollständig überzeugt zu sein, da er sehr oft betont als Mann gehandelt zu haben. Nimmt man an, daß sich die Figur in diesem inneren Monolog selbst belügt, würde das einer modernen, europäisierten Auffassung von Homosexualität entsprechen, die jede sexuelle Handlung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern als homosexuell und damit möglicherweise als verwerflich deutet. In diesem Fall würde nicht unbedingt die erotische Handlungsweise des Offiziers kritisiert, sondern daß er sie sogar vor sich selbst heuchlerisch leugnet. Zudem benutzt er seine Stellung als Offizier, um seine untergebenen Soldaten zu mißbrauchen. Auch dadurch gleicht er dem Vergewaltiger Perilo Ambrósio. Das sündige Treiben der Bürger bleibt den Inquisitoren nicht verborgen und als Padre Tertuliano von den Übergriffen des Polizeichefs auf die Soldaten erfährt, ruft er ihn sogleich zu sich. „O padre gostava de militares graduados e enérgicos e não pudera sopitar a atração que sentira pelo mestre-de-campo, ao tomar conhecimento da história de Domitilio e Cosme. (...) Também ele queria ser dominado como os milicianos, queria ser possuído por um militar voluntarioso e enérgico. De uniforme, sim, de uniforme, sonho que sempre acalentara e que nunca julgara poder vir a seu alcance. “139 137 Vgl. Vainfas, Ronaldo, „Moralidades brasílicas: deleites sexuais e linguagem erótica na sociedade escravista”, in: História da Vida Privada no Brasil, 1997, S. 234 f. 138 Vgl. Freyre, Gilberto, Casa grande e senzala, 2002, S. 187/188, S. 204-205, S. 240; Freyre, Gilberto, Sobrados e mucambos, 1977, S. 154, S. 194 f. 139 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.260. 54 Auch die Kirche verliert demnach ihre Glaubwürdigkeit als moralische Instanz. Anstatt dem Militär ins Gewissen zu reden, nutzt der Priester die Gelegenheit, um seine passiven homo-erotischen Phantasien auszuleben. „Deitado de bruços numa camilha de forro aveludado, padre Tertuliano, com a batina levantada até quase o pescoço, olhava para trás, onde se postava com a expressão severa o mestre-de-campo, vestido em sua túnica marcial, mas nu da cintura para baixo. – Ordens, meu comandante! – disse o padre, com as pernas juntas e o corpo retesado. – Levanta este cu! À traseira! – ordenou o mestre-de-campo e imediatamente após, num só movimento ágil, o padre ficou de quatro, para ser quase de pronto penetrado com energia pelo mestre, (...) e continuou a dar ordens, como se estivesse à frente de uma batalha.“140 Innerhalb einer Szene gibt Ubaldo Ribeiro Militär und Kirche der Lächerlichkeit preis. Denn die beiden Männer schlafen nicht einfach miteinander, sondern tun das in ihrer Eigenschaft als Priester („vestido em sua túnica marcial“) und Militär („como se estivesse em frente de uma batalha“). Vielleicht spielt er damit auf die unrühmliche Verbindung zwischen den Spitzen von Militär und Kirche zu Beginn der Militärdiktatur (1964-1985) an, indem er diese Partnerschaft zweier Männerbünde über die Homosexualität parodiert. 141 Gleichzeitig benutzt João Ubaldo ein bekanntes Klischee, denn daß es unter katholischen Priestern häufig zu homosexuellen Handlungen kommt, ist eine landläufige Vorstellung. Er persifliert die Heuchelei der herrschenden Klasse, die über andere urteilt, ohne den eigenen moralischen Ansprüchen gerecht zu werden. Ob auch Homosexualität an sich verurteilt wird, kann an dieser Stelle nicht abschließend bewertet werden. Es erscheint zumindest auffällig, daß Sympathieträger nicht homosexuell sind und daß Ubaldo zwischen passiver und aktiver Homosexualität keinen moralischen Unterschied zu machen scheint. Auch in O sorriso do lagarto gibt es homoerotische Szenen zwischen moralisch sehr fragwürdigen Figuren. . 5.2. Karnevalisierte Erotik Treue Frauen, die einen einzigen Mann lieben und erotisch monogam sind, werden in den Büchern Ubaldo Ribeiros als Ideal dargestellt. Erwartungsgemäß kommen diese positiven Heldinnen meist aus dem Volk, während Frauen der herrschenden Klasse aufgrund geheimer Perversionen oder ihrer übertriebenen Moral parodiert werden. Die einzige wirklich keusche Frau in O feitiço da ilha do pavão ist die Gattin des 140 141 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.259. João Ubaldo Ribeiro schreibt auch in Diário do Farol über einen Priester der mit den Militärs kollaboriert. 55 Polizeichefs, Dona Felicidade. Obwohl ihr Name Glück bedeutet, kann sie diese Glückseeligkeit zumindest nicht in der Erotik finden. Sie rühmt sich, beim ehelichen Beischlaf noch nie Vergnügen empfunden und sich ihrem Mann noch nie nackt gezeigt zu haben. Erst nachdem der Indio Balduino mit Iô Pepeus Hilfe das Trinkwasser der Stadtbevölkerung vergiftet hat, sitzen die beiden sich magenkrank und unbekleidet auf ihren Nachttöpfen gegenüber. „(...) estavam ambos sentados em seus penicos, pois, para minorar sua aflição, dispunham de vários deles, todos ricamente esmaltados e decorados. Tinha sido o efeito da água a razão para os ulos tresvariados de Dona Felicidade, acompanhados por diversos, menos esgoelados, de seu marido, sons estes agora substituídos por outros, emitidos de parte do corpo, que não a boca, mas antes o seu oposto. Não era hábito do casal sentar-se nos penicos face a face e o intendente sustentava publicamente que macho não caga nem mija sentado, no máximo agachado, mas nesse transe a premência vencera decoro e convicções, e Dona Felicidade, que se gabava nas confissões de jamais ter sentido prazer algum em estar com homem e de nunca ter-se mostrado a ele na claridade, agora chorava de dor e vergonha, (...)“142 In dieser karnevalistischen Szene werden die lustfeindliche Einstellung von Dona Felicidade und der Männlichkeitswahn ihres Mannes ins Lächerliche gezogen. Laut Bachtin werden durch das karnevaleske Lachen bestehende Werte, Normen und Institutionen in Frage gestellt. Dieses Lachen charakterisierte Bachtin als gemeinschaftlichen, teils vulgär-obszönen und von einer Betonung der Leiblichkeit und Sinnlichkeit begleiteten Akt. Im karnevalesken Denken spielen Extremitäten und Leibesöffnungen eine wichtige Rolle.143 In diesem Absatz betont João Ubaldo den Gegensatz der Leibesöffnungen: „que não da boca, mas antes do seu oposto.“ Durch den gehobenen Sprachstil, mit dem gewählten Vokabular und der poetisierten Satzstellung wirkt die Situation noch grotesker. Die Sprache des Autors ist ebenso übertrieben wie die emaillierten Nachttöpfe. Hat Ribeiro in Viva o povo brasileiro bereits karnevaleske Techniken im Zusammenhang mit Erotik eingesetzt, so ist O feitiço da ilha do pavão ein durch und durch karnevalistischer Roman.144 Die gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Insel 142 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.78. Vgl. Bachtin, Michail, Literatur und Karneval, 1969. 144 Roberto da Matta spricht von der „Karnevalisierung des Lebens“, wenn die gesamte Existenz von karnevalesken Werten durchdrungen ist, was weitreichende politische und kulturelle Folgen hat. Eine positive Grundeinstellung zu allem Lebendigen und Natürlichen, eine alegria, die auch in aussichtslosen Situationen nicht kapituliert, einen Sinn fürs Groteske und Mehrdeutige, den Hang zur permanenten Krönung und Entkrönung von Personen und Institutionen und schließlich auch eine Vorliebe für Transvestismus und Bisexualität, zeichnen das karnevalisierte Leben aus. Vgl. Matta, Roberto da: Carnavais, malandros e heróis – para uma sociologia do dilema brasileiro, 1990. 143 56 sind völlig umgekehrt. Der portugiesische Adelige treibt die Abolition voran, während ein Kongolese im quilombo ein Königreich ausruft und weiterhin Sklaven hält. Die Elite gibt sich heimlich sexuellen Perversionen hin, während die Außenseiter der Gesellschaft die Zukunft der Insel retten. Durch die Entdeckung eines Zeitlochs gelingt es einer Frau die die Verbannte genannt wird, sowie dem Exil-Deutschen Hans, dem Capitão Cavalo und Crescência, die freiheitliche Utopie der Insel zu bewahren. Immer wenn einer von ihnen das Zeitloch betritt, erscheint ein Pfau am Horizont und schlägt ein Rad. Ist das Rad beendet, so befindet sich die Insel bereits in einer neuen Zukunft. Die Verschwörer probieren verschiedene Zukunftsversionen aus und entscheiden sich für eine, in der die Sklaven des quilombo sich selbst befreien. Dieses Rad des Pfaus könnte einerseits für das Rad der Zeit stehen, andererseits aber ein weiteres Symbol für die karnevalistische Utopie der Insel sein, denn während des Radschlagens steht die Welt auf dem Kopf. In den verschiedenen Zukunftsversionen variieren die Regierungsformen und Herrscher, ein weiteres Zeichen der Karnevalisierung. Wer heute König ist, kann morgen Bettler sein. Angetrieben wird die Handlung des Romans vor allem durch Iô Pepeus sexuelle Leistungen und Probleme. Entsprechend expressiv wird er im zweiten Kapitel eingeführt. „A ela sem pena! – bradou uma voz de mulher, por trás do madeirame de uma janela do andar de cima da Casa dos Degraus. -Mais alto! Mais sentimento! Mais sinceridade! -A ela sem pena ! Sem pena! Mais sentimento! -Sim, ai, vem de lá! A ela sem pena! (…) -Sim! Assim! Vou comer-te toda. Desalmada! Ai que te atocho até os gorgomilos, malvada! Olha-o cá, olha-o bem! Gostas! Enlouqueces quando o tocas? É o teu bonifrate querido, todo teu, podes viver sem ele? Vês como se empina por ti! Que queres que ele faça? A ela sem pena, a ela sem pena, anda lá, não esperes que te peça! (…) Vou trespassar-te, vou misturar-me contigo perversa! Ai que me matas! Ai que te mato! Ai que morro, levanta essa periquitona, levanta esse meio do mundo, isto cá é o meio do mundo, ai, levanta, vai, arreganha-mo lá, ai que morro, ai que me matas!“145 In diesem Textabschnitt erlebt der Leser die erotische Vereinigung zwischen Iô Pepeu und Vitória. Dabei bleibt der Erzähler außerhalb des Raums und die direkte Rede Iô Pepeus entspricht genau dem, was auch die anderen Frauen des Hauses hören. Der Leser muß sich die Handlungen zu diesen enthusiastischen Ausrufen selbst vorstellen und wird animiert, seine erotische Phantasie zu entfalten. Durch die vulgäre 145 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.19f. 57 Ausdrucksweise und die vielen Ausrufezeichen impliziert der Autor jedoch, daß die beiden voller Leidenschaft agieren – gleichzeitig könnten sie aber auch voller Leidenschaft schauspielern, denn die Handlungen werden nicht beschrieben, die Tür des Zimmers ist verschlossen und die Ausrufe erscheinen sehr theatralisch, fast operettenhaft. Dennoch wird mit wenigen Worten eine erotisch Gesamterfahrung beschrieben, indem Iô Pepeu sich mit der Frau vermischen will und ihr Geschlecht zum Mittelpunkt seiner Welt erhebt. Die enthusiastischen Laute werden von denen im Haus arbeitenden Frauen trocken kommentiert: „Se dessa vez não emprenhar, não emprenha mais nunca. (...) Desde ontem que eles estão na safadagem. Se fosse Nana, já tava com pelo menos dois no bucho, com tanta cocação.“146 Das Treiben der Beiden wird nicht als skandalös empfunden, sondern unter praktischen Gesichtspunkten diskutiert. Sie wissen, daß die Geliebte vor allem mit Iô Pepeu schläft, um sich seine finanzielle Unterstützung zu sichern. Diese Form des Konkubinats hat (nicht nur) in Brasilien Tradition und existiert teilweise bis heute, wenn mittellose Frauen sich von reichen Männern aushalten lassen, ohne dabei als Prostituierte zu gelten. Durch Vitórias Kalkül bekommt Iô Pepeus Enthusiasmus etwas Groteskes. Seine Leidenschaft wird offenbar nicht erwidert, denn sie gehorcht ohne Eigeninitiative. Während er seinen Gefühlen lautstark Ausdruck verleiht, antwortet sie nur mit den Worten „A ela sem pena!“ Alle Frauen der Insel kennen Iô Pepeus sexuelle Präferenzen und wissen, daß er nur mit einer Frau schlafen kann, wenn diese „A ela sem pena!“ schreit. Grund dafür ist Iô Pepeus Angst vor Frauen, die erst durch diese drei Worte verschwindet. „Que palavras, malditas palavras, cravadas em seu miolo tão indelevelmente, desde aquela tremenda primeira ocasião em que a negra Sansona, uma das preferidas de Capitão Cavalo e três vezes maior que Iô Pepeu, puxou-o para uma esteira e, com as feições assustadoramente transfiguradas e a voz parecendo lhe sair dos peitos enormíssimos, tirou-lhe a roupa, apalpou-o todo, mordeu-lhe o pescoço, alisou-lhe a bunda e abriu diante dele as coxas poderosas, gritando: - A ela sem pena! Nesse dia e em todos outros em que esteve com Sansona, o medo só passava depois que ela fazia essa exortação com entusiasmo, o que, aliás, lhe ocorria naturalmente. Quando ele levou Esmeraldina para os matos, achando que dessa feita não sentiria medo, teve o mesmo pavor, até que lhe veio à mente pedir que ela dissesse as palavras de Sansona. Milagrosamente, o medo se desfez, mas ele se tornou para sempre escravo dessas palavras e, de certa maneira, escravo da obsessão por Crescência, que tinha o poder de não dizê-las.“147 146 147 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.20. Ibid., S.34. 58 Für eine solche Angst vor Frauen würde man eine psychologische Erklärung erwarten, wie beispielsweise Mißhandlungen durch die Mutter oder frühen Liebeskummer. Ubaldo Ribeiro bleibt jedoch karnevalistisch, indem er die groteske Leibesfülle der negra Sansona betont, die den Zeitpunkt der erotischen Initiation Iô Pepeus bestimmt hatte. Diese Eigeninitiative deutet wieder auf das Fehlen hierarchischer Strukturen und die Macht des Karnevals hin. Die karnevalistische Grundhaltung zeigt sich auch in der Charakterisierung Iô Pepeus. Er ist ein klassischer Nichtsnutz, der nur an sein eigenes Vergnügen, also an Erotik denkt und sich ausschließlich über seine sexuellen Leistungen definiert. Aufgrund seiner stets drohenden Impotenz ist er aber auf die Mithilfe der Frauen angewiesen, die ihn nach allen Regeln der Kunst betrügen und manipulieren. „Corno é Iô Pepeu, que pensa que as mulheres é só dele e ainda dá sustento a elas. Casa de chão de lajota e telhado amouriscado não é todo mundo que tem, não.“ 148 Das würde ihn innerhalb einer patriarchalen Gesellschaftsordnung zu einer Witzfigur machen, in der karnevalistischen Welt der Pfaueninsel wirken seine Fehler aber liebenswert. Zudem bestraft er sich mit seiner Potenz-Besessenheit selbst, denn er verkennt, daß Crescência die einzige Frau ist, die es wirklich gut mit ihm meint – obwohl sie sich weigert die drei potenzspendenden Worte auszusprechen. Iô Pepeu versteht nicht, daß durch diese Weigerung Crescências die eigentliche Erotik entsteht. Nur sie beschäftigt seine Gedanken und nur bei ihr kann er seine körperlichen Bedürfnisse nicht sofort stillen. Bei anderen Frauen geht es nur um Sexualität, bei Crescência wird aus dem rein körperlichen Bedürfnis auch eine sentimentale, intersubjektive Bindung. Ironischerweise bedeutet der Name Crescência „Wachstum“ und ist etymologisch gesehen dem Potenzproblem Iô Pepeus entgegengesetzt. Auch in seiner Namensgebung ist eine Anspielung auf seinen steigenden und schrumpfenden Phallus enthalten. Sein Name erinnert an das Kinderspielszeug iôio, das an einer Schnur immer wieder hoch und runter gezogen wird. Dieses menschliche Jojo, Iô Pepeu, will sein Problem durch die Einnahme eines Potenzmittels lösen, das er von dem Indianer Balduino bekommt. In seiner Verzweiflung und Unvernunft mißachtet er die Warnungen des Indianers, trinkt zu viel und wird zur „sex-machine“. 148 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.21. 59 „Pois então. Foi Santa, foi Naná, foi Vitória, foi Das Dores, foi Eulâmpia, foi Nazinha, foi quem apareceu. (...) Talvez mais um golinho. Pronto, só mais um golinho, uma bicadinha. Duas. Pronto. (...), passou a chamar as mulheres uma por uma. Nas últimas vezes, já não conseguia terminar, todo esfolado e encharcado de suor. Não, aquilo podia não querer baixar, mas ele lhe daria um descanso de qualquer jeito, ou melhor, daria um descanso a si mesmo. Não era possível passar o tempo naquele vuque-vuque, isso só podia fazer mal. Mas, havendo desobedecido tão cabalmente às recomendações de Balduino, não conseguiu ter um bom dia. (…)Viu uma mulazinha castanha e achou-a irresistível, com seus olhos negros pestanudos, seu couro macio e luzidio, suas ancas bem proporcionadas e sua cauda cerdosa e vibrátil, a qual, certamente já acostumada por outros moços, se arredou nervosamente para um lado, assim que ele subiu num toco, baixou as calças e começou a penetrá-la. Dessa vez gozou e se derreou sobre os quartos dela, que continuou parada, como se compreendesse a situação.“149 Auch hier zeigt der Autor seinen Sinn fürs Groteske. Iô Pepeus Verhalten, das unter normalen Umständen abstoßend wirken würde, erscheint in diesem Fall nur komisch und absurd. Nachdem er mit vielen Frauen geschlafen hat, vergreift er sich schließlich an einer Mauleselin, die ihm mit ihren langen, schwarzen Wimpern unwiderstehlich erscheint. Die größten Tabubrüche werden auf dieser karnevalisierten Insel zu einem heiteren Spaß. Inspiriert wurde João Ubaldo möglicherweise von dem erotischironischen Gedicht O elixir do pajé (1883) von Bernardo Guimarães: „graças ao santo elixir que herdei do pajé bandalho, vai hoje ficar em pé o meu cansado caralho! (…) Este elixir milagroso, o maior mimo na terra, em uma só gota encerra quinze dias de tesão… (…) dá tal força e valentia que só com uma estocada põe a porta escancarada do mais rebelde cabaço, e pode em cento de fêmeas foder de fio a pavio, sem nunca sentir cansaço …“150 Durch diese intertextuelle Referenz wird einmal mehr die satirische Intention Ubaldo Ribeiros deutlich. Das Erotische dient in O feitiço da Ilha do pavão vor allem dazu, 149 150 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.85f. Guimarães, Bernardo, „O Elixir do Pajé“ in: Poesia Erótica e Satírica, 1992, S. 55 ff. 60 groteske, satirische Situationen zu kreieren. Gleichzeitig fällt auf, daß der Roman in seinem inhaltlichen Aufbau karnevalistisch angelegt, aber nicht völlig von der Karnevalisierung durchdrungen ist. Gerade das perverse Verhalten der Bürger ist nur scheinbar lustig, denn mögen ihre Vergehen auch in einem heiteren, komischen Tonfall erzählt werden, sind sie dennoch ernste Fehltritte, die auf dem sexuellen Mißbrauch von Schwächeren beruhen. Der Autor scheint von dem Ansatz der Karnevalisierung nicht völlig überzeugt zu sein, vielleicht weil ihm der Karneval selbst auch keine Freude bereitet, wie er in einer seiner crônicas behauptet. „Hoje já desisti, mas parte considerável da minha existência foi dedicada a tentar gostar brincar de carnaval. (…) Deve ser porque só consigo é ir ficando triste, ficando triste e aí volto para casa, numa melancolia besta que a mim mesmo me irrita.“151 Vielleicht war auch O feitiço da ilha do pavão ein Versuch, den Karneval zu mögen, der an der negativen Einstellung gegenüber den elitären Bürgern gescheitert ist. 6. Die Erotik des Bösen Im den Romanen Ubaldo Ribeiros finden erotische Begegnungen nur selten zwischen gleichberechtigten Gefährten statt. Häufig wirken sich gesellschaftliche Machtverhältnisse auch auf das Intimleben der Figuren aus, wodurch die Verbindung zwischen Macht und Erotik verdeutlicht wird. Eine Analogie die sich nach Ansicht des Autors auch in der Alltagssprache zeigt. „Existe uma forma de , existe alguma analogia entre poder e dominação e o ato sexual. Existe realmente. Até em expressões vulgares. Como se diz em várias línguas, inclusive português, uma palavra chula: „Eu vou foder você.“ Ou seja: „Vou dominar você, vou eliminar você“.“152 João Ubaldo betont und übersteigert diese dominierende Form der körperlichen Vereinigung in seinen Büchern, indem er vor allem außergewöhnliche Sexualpraktiken beschreibt. Die Lust der Mächtigen im Werk Ubaldos, konzentriert sich dabei nicht auf die „normale“ Vereinigung, sondern auf sadomasochistische Praktiken und homosexuelle Handlungen, die von manchen Teilen der brasilianischen Gesellschaft verurteilt werden. Die erotische Lust entspringt also der Möglichkeit, andere Menschen zu etwas Verbotenem zu zwingen, also die moralischen und 151 152 Ribeiro, João Ubaldo, „Alô, massa tijucana!“, in: Arte e ciência de roubar galinha, 1998, S. 223. Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 113 (dieser Arbeit). 61 körperlichen Grenzen des „Opfers“ zu überschreiten. Dabei wollen die Handelnden sich nicht mit den Unterworfenen vereinigen, sondern sie beherrschen. Die Lust an der Macht hat die Lust an der verbindenden, intersubjektiven Erotik abgelöst. Da O feitiço da ilha do pavão ein heiteres Buch ist, spielt Ubaldo Ribeiro nicht alle Möglichkeiten durch, die aus der Verbindung zwischen Macht und Erotik entstehen. Die letzten Konsequenzen dieser Allianz zeigt er hingegen in O sorriso do lagarto und Diário do Farol, in denen sich die Lust an der Macht bis zur Befriedigung des Tötungstriebs steigert. Die Überschrift „Erotik des Bösen“ erscheint deswegen angebracht, weil der Autor in verschiedenen Interviews153 erklärt hatte, er wolle mit O sorriso do lagarto ein Buch über „das Böse“ 154 schreiben, das sich in manchen skrupellosen Vertretern der brasilianischen Mittelschicht widerspiegle. „Die Erotik des Bösen“, soll also als die Erotik böser Menschen verstanden werden, die im Falle des Priesters in Diário do Farol auch etwas Böses bezwecken. Die Figur Ângelo Marcos hingegen ist vermutlich vor allem durch die Unterdrückung seiner erotischen Neigungen zu dem bösen Menschen geworden, der er in O sorriso do lagarto ist. 6.1 Die Macht gesellschaftlicher Zwänge – Homosexualität in O sorriso do lagarto O sorriso do lagarto ist nach Aussage des Autors ein Roman über „das Böse“, über die herrschende Klasse Brasiliens, die das eigene Volk verachtet und ausbeutet. Ein Thema, das schon in Viva o povo brasileiro eine Rolle spielt und diesmal in das Brasilien der Gegenwart übertragen wird. Ângelo Marcos ist ein typischer Vertreter der oberen Mittelschicht, ein reicher, opportunistischer Politiker, der durch seine rassistischen und sexistischen Reden auffällt. Er ist mit Ana Clara verheiratet, die er regelmäßig betrügt und um die er sich erst bemüht, als ein Tumor in seinem Anus diagnostiziert wird und er Todesängste aussteht. Nach der notwendigen Strahlentherapie zieht das Ehepaar sich auf die Insel Itaparica zurück, wo sich Ana Clara in den Fischer und Biologen João Pedroso verliebt. João findet heraus, daß auf der Insel mittellose schwarze Frauen künstlich mit Affensperma befruchtet wurden und daraufhin Zwitterwesen zur Welt brachten. Er ist von der Monstrosität dieser Tat 153 João Ubaldo Ribeiro, „Je voudrais faire un roman sur le Mal, le Mal générique, le Mal politique, le Mal social. Le mal transparent dans l’attitude d’une grande partie de la classe dominante brésilienne: elle méprise notre pays, elle déteste ce qu’il est, ce que nous sommes et, couvre toutes les violences (…).“ In : Raillard, Alice, „Je suis le résultat d’une maturation”, in: La quinzaine littéraire, Nr. 484, 1987, S. 23. 154 „Böse, das, das dem Guten entgegengesetzte, dem Sittengesetz höhnende, schlichtweg Verwerfliche. Ursache von Leid und Unglück in der Welt.“ In: Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003. 62 entsetzt und versucht, die Öffentlichkeit zu informieren. Die Hintermänner dieser Versuche sind jedoch zu mächtig, und der Biologe kann keine Beweise vorlegen. Gleichzeitig wird das Verhältnis zwischen Ana Clara und João Pedroso immer leidenschaftlicher, sie verlieben sich ineinander und wollen ein neues Leben beginnen. Bevor es dazu kommen kann, läßt Ângelo Marcos den Geliebten seiner Frau vom Profikiller Boaventura ermorden. ‚Boa’ heißt auf Portugiesisch ‚gut’, und ‚ventura’ soviel wie ‚Glück, gutes Schicksal’. Die positive Bedeutung des Namens wird pleonastisch verdoppelt und wirkt damit um so zynischer. Auch der Name ‚Ângelo’, also Engel oder Götterbote, läßt nicht auf den wahren Charakter von Ângelo Marcos schließen. Er könnte höchstens ein gefallener Engel sein, eine Inkarnation Satans, des Bösen. Diese Interpretation würde seinem gewissenlosen Verhalten und der Intention Ribeiros, über „das Böse“ zu schreiben, entsprechen. Mit dem Profikiller Boaventura, dem „Todesengel“, den Ângelo Marcos anheuert, hat er schon seit Jahren ein homosexuelles Verhältnis. „Lembrava todos os encontros, (...), lembrava, lembrava como achava lindo que ele, parecendo buscar algo vital sem o qual morreria, lhe baixasse com impaciência a cueca (...) e o chupasse ronronando baixo com os olhos fechados, (...) até que com aquele jeito inesquecível, ele ficou de quatro e pediu para ser penetrado. Recordou em pormenores insuportáveis como gozou tão intensamente naquele dia, enfiado nele até mais não poder e mordendo-lhe o pescoço e pedindo-lhe que virasse o rosto para ser beijado e deitando em cima dele sem sair de dentro dele e masturbando-o em tanta sincronia que gozaram juntos aos gritos e gemidos, sem querer desgrudar um do outro.“ 155 Wie aus dieser Textstelle ersichtlich wird, fühlt Ângelo Marcos wahre Leidenschaft, wenn er sich mit Boaventura paart, ohne seine Männlichkeit beweisen zu wollen. Allerdings sind diese Erinnerungen mit Schuldgefühlen belastet, er findet sie unerträglich aber gleichzeitig sehr aufregend. Interessanterweise werden diese Begegnungen nie in Echt-Zeit beschrieben, sondern immer aus der indirekten Rede der Erinnerungen. Das deutet an, wie sehr den Politiker seine Liebe zu Männern quält. Zudem erinnert er sich stets wider Willen dieser eigentlich glücklichen Momente, wenn ein bestimmter Reiz die Erinnerung auslöst. Scheinbar grundlos beginnt Ângelo Marcos auf Spatzen zu schießen. Wie sich herausstellt, hat er Freude am Töten und bringt erregende Nachmittage damit zu, bis dieses sadistische Hobby zu einer zwanghaften Obsession wird. Grund für diese Faszination ist die Leidenschaft für 155 Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 185. 63 Boaventura, der seine Karriere als bezahlter Mörder auch mit diesem scheinbar „harmlosen Vergnügen“ begann. Indem Ângelo Marcos die Vögel tötet, versucht er in Wirklichkeit, seinem Geliebten näher zu sein. Diese Erkenntnis dringt auch zu Ângelo Marcos durch, als er nach einem Schiffsausflug mehrere Spatzen im Müll picken sieht. Die Erinnerung an Boaventura überkommt ihn, und er muß sich übergeben. Kurz zuvor hatte er seinen Freunden die Geschichte des Killers erzählt. „- E o pistoleiro era veado? – Era. O pior tipo. O que hoje se chama entendido, bichona enrustida, desses que andam com mulher e com homem, para mim é o tipo mais nojento que existe. Eu sou um homem de mente aberta, é difícil encontrar um cara mais liberal do que eu, mas esse negócio de veadagem eu não aceito, não aceito mesmo, é uma coisa instintiva, é um negócio que não consigo controlar, é raiva mesmo. Quando eu penso num cara dando o rabo ou, pior ainda, chupando outro – só cuspindo, me dá náusea pensar -, quando eu penso nisso me dá uma espécie de revolta, eu tento até me dominar, mas não consigo. Tudo veado é mau-caráter, além disso.“ 156 In dieser vorgeblichen Haß-Tirade spiegelt sich die Heuchelei, aber auch die Tragik Ângelo Marcos’ wider, der in Wirklichkeit seine eigene Geschichte erzählt. Gleichzeitig fällt auf, daß er zwischen aktiver und passiver Homosexualität zu unterscheiden scheint, eine Auffassung, die in Brasilien weit verbreitet ist. In seiner Beziehung zu Boaventura hingegen, empfindet er gerade die passive Unterwerfung als Beweis ihrer perfekten erotischen Partnerschaft: „Orgulhava-se disso na cama, por assim serem amantes completos, em vez de, como antes lhe parecia que ia acontecer, ele nunca ser possuído (…).“157 Darin offenbart sich der Unterschied zwischen öffentlicher Moral und tatsächlichem Handeln, ein Widerspruch der so weit führen kann, daß Menschen sich selbst belügen. Durch die ständige Verdrängung seiner eigentlichen Neigung wird er zu einem Sadisten und Frauenhasser. Er züchtigt gerne Frauen während des Geschlechtsakts, kann diese Vorliebe aber nur bei seinen Konkubinen und Prostituierten ausleben, weil die Ehefrau Ana Clara diese Gewalttätigkeiten nicht zuläßt. „Grande trepada, a negrinha, cada vez melhor. Bimbada completa, em tudo quanto é buraco. Que rabo!(…) encara qualquer coisa, até umas porradinhas, (…). E dureza suficiente para enrabar a putinha, aquela bunda sensacional.“158 In diesem inneren Monolog haben die Leser an Ângelo Marcos’ Bewußtseinsstrom teil, der über seine farbige Konkubine nachdenkt. Das Fehlen ihres Namens und die 156 Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 169. Ibid., S. 186. 158 Ibid., S. 205 f. 157 64 Bezeichnung als „Grande trepada“, „putinha“, „negrinha“ verweisen auf die Verachtung, die Ângelo Marcos für diese Frau empfindet. Er diskriminiert sie nicht nur als weibliches Wesen, sondern vor allem auch als Farbige, was sich zudem über die vulgäre Sprache wie „buraco“ und „bimbada completa“ äußert. Seine geringe Meinung vom weiblichen Geschlecht erstreckt sich auch auf seine Ehefrau, die er nur als Gastgeberin für seine politischen Empfänge braucht. „Mulher não tem a cabeça muito segura, é um ser instinitivo, funciona muito mais na base hormonal e animal do que na base intelectual, não há exeção, quem pensa o contrário quebra a cara. (...) Mulher é fêmea, (…) depois gente.“159 Obwohl Ângelo Marcos im 20. Jahrhundert lebt, benutzt er noch Argumente des 19. Jahrhunderts, indem er vermeintliche biologische Fakten benutzt, um Frauen abzuwerten. Damit entwirft Ubaldo Ribeiro ein düsteres Bild der Männer der Mittelschicht, die noch in den patriarchalen Strukturen der letzten beiden Jahrhunderte zu leben scheinen. Eine besonders erschreckende Version, da es sich bei dem Sprecher um eine einflußreiche Persönlichkeit mit Universitätsabschluß handelt. Als Ana Clara ihren Macho-Ehemann betrügt, erklärt er dieses unmoralische Handeln vor allem aus ihrem Dasein als Frau, von der man nichts Besseres erwarten könne. Interessanterweise läßt er nur den Liebhaber ermorden und nicht die treulose Ehefrau, was sich wohl aus seinem mangelndem Interesse für sie erklärt. Daß ihr Mann sie nicht liebt, hat Ana Clara schon lange bemerkt: „os homens, no fundo, só gostam de homem mesmo.“160 Ihr alter Ego das Heteronym161 Suzanne Fleischmann, das sie für ihre Tagebucheinträge verwendete, sagt es in deutlicheren Worten: „sustento que ele é veado, sempre sustentei, e não tem coragem de encarar a realidade.“162 Deswegen fühlt Ângelo Marcos sich von seinem angeblichen Freund fast stärker betrogen als von seiner Frau. „João Pedroso! Pondo-lhe chifres, metendo em sua mulher, ela lá embaixo dele de pernas abertas, talvez até sendo enrabada“163 159 Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, S. 241. Ibid., S. 51. 161 Der Begriff wird hier nach dem Vorbild des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa (1888-1935) verwandt, der sein lyrisches Ich in verschiedene Heteronyme aufspaltete, die er als selbständige poetische Individuen mit fiktiver Biographie sowie spezifischer Thematik und Stilistik auffaßte. 162 Ibid., S. 349. 163 Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, S. 304. 160 65 Normalerweise bezieht sich der Ausdruck pôr chifres auf die Frau, sie ist es, die dem Gatten Hörner aufsetzt.164 Da sich Ângelo Marcos als Homosexueller aber in Wirklichkeit für Männer interessiert und aus seiner Sicht nur diese ein moralisches Bewußtsein haben, läßt er João Pedroso töten. Seine Ehefrau sieht er als Teil seines Besitzes und deswegen ärgert ihn der Betrug. In seiner Phantasie malt er sich eine Situation aus, in der seine Frau von João Pedroso sexuell dominiert wird, „talvez até sendo enrabada“ und läßt damit seine Fixierung auf Analverkehr durchscheinen. Ângelo Marcos wird von João Ubaldo als Opfer und Täter zugleich beschrieben. Er erscheint als Opfer einer vorgeblich liberalen Gesellschaft, die in Wirklichkeit Abweichungen von der Norm mißbilligt. Somit wird nicht unbedingt die Homosexualität des Politikers kritisiert, sondern die Tatsache, daß er diese verschleiern muß. Andererseits wird er durch die Ermordung João Pedrosos und seiner abwertenden Einstellung gegenüber Farbigen und Frauen zu einem Täter. Die Wirkungsweisen von Macht und Erotik vermischen sich bei ihm auf zweierlei Weise. Zum einen benutzt Ângelo Marcos seine gesellschaftliche Stellung und sein Geld dazu, um Frauen körperlich und seelisch zu unterwerfen. Er schlägt Prostituierte und zwingt Ana Clara nach João Pedrosos Verschwinden bei ihm zu bleiben, weil sie finanziell auf ihn angewiesen ist. Obwohl sein Reichtum ihm Macht verleiht, wird seine individuelle, homosexuelle Erotik durch die Macht der Gesellschaft ausgegrenzt und unterdrückt. Seine Ehe und die Vertuschung der Homosexualität beruhen auf gesellschaftlichen Zwängen des modernen Brasiliens, die einerseits dem katholischen Erbe entspringen, bestimmte Praktiken als Sünde zu verdammen, und sich andererseits von dem patriarchalen Männlichkeitsbild ableiten lassen. Die in gewisser Hinsicht tolerantere Einstellung eines Gilberto Freyre, scheint zumindest in Ubaldo Ribeiros Brasilienbetrachtung des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu gelten. Der Tradition, die Liebe zwischen Männern als Sünde zu sehen, entspricht auch die Vorstellung, daß nur Männer dieser Minderheit den HIV-Virus übertragen. So behauptet der Mediziner Ângelo Marcos allen Ernstes, daß eine Ansteckung nur beim Analverkehr möglich sei. Deswegen läßt er beim letzten Treffen nicht zu, „que Boaventura o penetrasse, porque 164 Der Anthropologe Richard G. Parker hatte brasilianische Männer zu diesem Ausdruck befragt: „It`s the mulher who makes a cuckold … Even if it was my best friend who fucked with her, you know, it wasn`t him who made a corno out of me, no. I would call him a „son of a bitch“ – but she was the one who betrayed me. (João) Indee, the mulher herself can be described as a cornoateira or, loosely translated, a specialist in the art of cuckoldry; and the threat posed by the cornoateira seems to be understood in Brazilian life as an almost everpresent danger.“ In: Parker, Richerd G., Bodies, pleasures and passions, 1991, S. 49. 66 agora tinha medo.“165 Möglicherweise vermeidet er diese Form der Vereinigung aber auch aufgrund seines Tumors, den er zynischerweise im After hat, also dem Bereich, der Ângelo Marcos in moralische Gewissensbisse stürzt. Dieser Tumor könnte das greifbare Ergebnis dieses inneren Kampfes sein, da Geschwüre gemeinhin auch mit seelischen Problemen und Verdrängungsvorgängen in Verbindung gebracht werden. Damit würde Ubaldo Ribeiro möglicherweise in Anlehnung an Freud den Einfluß des Erotischen (und dessen Verdrängung) auf alle Lebensbereiche der Menschen betonen. Gleichzeitig wirkt ein Tumor in einem solch sensiblen Bereich äußerst grotesk und karnevalistisch, denn die niedere Körperlichkeit dieser Krankheit kontrastiert mit dem über die Maßen gepflegtem Erscheinungsbild, und der gesellschaftlichen Stellung des Politikers. Ângelo Marcos ist nicht der einzige Homosexuelle, der in den Büchern Ubaldos derart spöttisch und schadenfroh vorgeführt wird. Der Koch des Politikers entspricht dem Bild des weibischen, affektierten, schwulen Mannes und auch in O feitiço da ilha do pavão hat das Verhältnis zwischen Priester und Offizier eine lächerliche Note. Der einzige, der nicht auf diese klischierende Art und Weise beschrieben wird, ist der Profikiller Boaventura, auch wenn er kaum eine positive Figur ist. Andererseits gehört der Beruf des Profikillers sicher nicht zu den als typisch angesehenen Berufen Homosexueller166, wobei auch seine Lebensgeschichte das Ergebnis einer lebenslangen Verdrängung sein könnte. Jedenfalls zeigen auch in O sorriso do lagarto korrupte Vertreter der Mittelschicht ein auffälliges Sexualverhalten, während sich die positiven Figuren des Romans, João Pedroso und Ana Clara „normal“ verhalten, ohne sadistische Spielereien oder Vorlieben für das eigene Geschlecht. Hier stellt sich die Frage, ob der Autor möglicherweise unbewußt die Homosexuellenfeindlichkeit der von ihm kritisierten Gesellschaft übernimmt, zumal er auch nicht zwischen aktiven und passiven Handlungen unterscheidet. 6.2 Die Erotik der Zerstörung in Diário do Farol Diário do Farol (2002) ist ein dunkler, zynischer Roman, über einen Priester der seine Lebensbeichte ablegt, um, wie der Ich-Erzähler selbst erklärt, das Dasein möglichst vieler Menschen mit seinen Ideen zu vergiften. Durch die von Ubaldo Ribeiro gewählte Form, den gesamten Roman aus der Perspektive des psychopatischen 165 166 Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 335. In dem James-Bond-Film: Diamonds are forever (1971) gab es allerdings ein homosexuelles Killer-Pärchen. 67 Priesters zu erzählen, fehlt die ironische Distanz zur Figur, die andere Bücher João Ubaldos ohne Ich-Erzähler auszeichnet. Diário do Farol handelt von einem Jungen, der als Kind von seinem Vater gequält wurde und deswegen beschließt „böse“ zu werden. Der Geist seiner Mutter, die vom Vater angeblich ermordet wurde, begleitet ihn als unsichtbare Stimme um Rache zu fordern.167 Er soll den Vater und dessen neue Frau, die Schwester der toten Mutter ermorden. Die Ausführung dieser Verbrechen wird zum einzigen Lebensinhalt des Erzählers. Im Priesterseminar, in das er gezwungen wird, erwirbt er die Fähigkeiten die seine Rache ermöglichen, nämlich die zu Betrug, Manipulation und Erpressung. In den Ferien wendet er seine Erkenntnisse an und vergiftet die neugeborenen Halbgeschwister, um den Vater zu bestrafen. Im Seminar wird der Erzähler durch seine Skrupellosigkeit immer einflußreicher, er scheut sich nicht einmal, manchen Priestern sexuell gefügig zu sein, was der Ich-Erzähler in geschäftsmäßiger Sprache berichtet. „(…) decidi que seria ativo quando se oferecesse a oportunidade e, embora fazendo pequenas concessões, sem jamais praticar felação ativa ou ser penetrado (…). Pegar no membro de um padre, ou mesmo masturbá-lo, me eram, apesar da minha repulsa, aceitáveis em último caso. Também deixei que gozassem entre minhas coxas, mas só quando isso se fazia incontornável. (…) Possuir um padre, fosse pela boca ou pelo ânus, não me dava tanto asco, embora eu me opusesse aos beijos na boca que as vezes me queriam dar. E também dei muitas palmadas, tapas e surras de cinturão num deles, que depois ficava de quatro e me pedia para penetrá-lo com violência, enquanto lágrimas lhe escorriam dos olhos encantados.“ 168 Das Motiv der homosexuellen und masochistischen Priester kommt bereits in O feitiço da ilha do pavão (1997) vor. Neu sind jedoch der kühle, distanzierte Ton und die sachliche, nicht-obszöne Sprache, die der Autor für erotische Handlungen vorher nie verwendete. Wendungen wie „felação ativa“, „pegar no membro“, „possuir“, sind Begriffe, die der Autor in A casa dos budas ditosos (1999) ausdrücklich vermied.169 In dieser Textstelle versucht der Autor wohl nicht, eine erotische Stimmung hervorzurufen, sondern ermöglicht den Lesern Einblicke in die kalte Psyche des Erzählers. Wie in seinen anderen Romanen auch, schafft der Autor eine spezielle 167 Die Parallelität zu Shakespeares Hamlet ist unverkennbar. Der Onkel Hamlets (Bruder seines Vaters), Claudius, tötet Hamlets Vater, den König von Dänemark. Nach dessen Tod heiratet Claudius die Witwe und wird selbst König. Der Geist des toten Königs erscheint Hamlet und fordert Rache. In Diário de Farol wird statt dessen die Mutter ermordet – von ihrem Mann in Komplizenschaft mit ihrer Schwester. 168 Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 59 f. 169 Zu der Schwierigkeit erotische Szenen auf Portugiesisch zu schreiben, vgl.: Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 107 (dieser Arbeit). 68 Sprache für seine Figur, nur daß diesmal ein ganzes Buch auf den Gedanken und Erlebnissen einer Person beruht. Grund für die Kälte der Sprache ist das grundsätzliche Desinteresse des Erzählers an diesen Praktiken: „Em primeiro lugar, deve haver algo distorcido em minha libido, pois o sexo em si nunca exerceu, coma exeção do caso de Maria Helena, grande atração sobre mim.“170 Maria Helena ist die einzige Frau, in die der Erzähler sich zu verlieben glaubt. Ansonsten benutzt er Erotik nur, um Macht über Andere zu erlangen und sie nach Möglichkeit zu erniedrigen. So bereitet es ihm besondere Freude, junge Verlobte zu verführen, die zu ihm in die Beichte kommen, obwohl er sie wegen ihrer aufgesetzten Keuschheit verachtet. „Descobri especial prazer em entereter-me sexualmente com as noivas. (…) Claro que lhes mantinha a virginidade vaginal, mas, de resto, fazia tudo com elas e me dava extraordinário prazer vê-las na rua, de mãos dadas com os noivos e trocando carícias discretas com eles.“171 Dieselben Frauen, die sich ihrem Priester hingeben, verlangen von ihren Verlobten daß sie Prostituierte aufsuchen, um ihre Libido auszuleben. Ein Verhalten das der Erzähler versteht, „mas que, como disse, faz parte da estupidez humana.“172 Der IchErzähler kritisiert also die Heuchelei bei Anderen, obwohl er sie selbst mit voller Absicht praktiziert. Die bekannte Ironie des Autors scheint durch, wenn der Erzähler behauptet, der Allgemeinheit einen Dienst zu erweisen, weil diese Frauen in Zukunft schneller zu Oral- und Analverkehr bereit sind. Die Beweggründe des Erzählers sind jedoch nicht erotischer Natur, weder im physischen noch im psychischen Sinn der Erotik. Er bezieht seine Lust aus der Macht, die er über die Frauen ausübt, indem er sie animiert, entgegen ihrer Prinzipien zu handeln. Bei einem dieser Abenteuer lernt der Priester Maria Helena kennen, die einzige Frau in die er glaubt verliebt zu sein. „Não posso negar que ela era realmente especial, na sua sensualidade extrema, acobertada pela aparência inocente.“173 Maria Helena weist jedoch den Heiratsantrag des Erzählers zurück, dessen Liebe sich daraufhin in Haß verwandelt. Lebensinhalt sind fortan die Ermordung seines Vaters und die Vergeltung an Maria Helena, deren tragisches Schicksal sich schon in ihrem Namen andeutet. Es ist vermutlich kein Zufall, daß der begeisterte Homer-Leser João Ubaldo eine wunderschöne Frau Helena nennt. Hatte doch die Entführung Helenas 170 Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S.137. Ibid., S. 143. 172 Ibid., S. 143. 173 Ibid., S. 158. 171 69 durch Paris in Homers Ilias den Trojanischen Krieg verursacht. Auch in diesem Fall löst Helena einen kleinen Krieg aus, nämlich einen persönlichen Rachefeldzug, der sie und ihre nächste Umgebung betreffen wird. Der Priester bekommt durch die Militärdiktatur die Gelegenheit zur Vergeltung, da Maria Helena in eine linke Bewegung eintritt, die der ehemalige Liebhaber infiltriert und an die Militärs verrät. Im Zuge dieser geheimen Operation läßt er sich foltern, um glaubwürdiger zu erscheinen und quält auch andere. Dabei entdeckt der Erzähler seine wahre erotische Neigung. „Há uma beleza especial na tortura, embora eu não possa explicar isto a você: ou você tem sensibilidade para isso, ou não tem, problema grotescamente seu. (…) Ah, que descobertas, que transes, que prazer misterioso me arrepiando desde as entranhas, em ver aquelas relações de amor entre os torturadores e os torturados, (…) havia, ouso dizer, quase orgasmo, pelo menos em mim.“174 Die schwärmerische Begeisterung für die Schönheit der Folter steht im krassen Gegensatz zur neutralen Sprache, die der Erzähler für seine homoerotischen Erfahrungen einsetzte. Der Sinn jeder Erotik liegt für den vorgeblichen Priester in der Zerstörung des Anderen, in der absoluten Transgression, wie schon Sade sie propagiert hat. Die Unterwerfung und Zerstörung eines Menschen, der Moment in dem die „geschlossene Struktur“ aufgebrochen wird, sind im Sinn von Bataille, das Ziel dieser pervertierten Form der Erotik. Die Lust, Macht auszuüben, steigert sich bis in die Lust an der Folter und am Töten. Der Erzähler selbst zitiert Sade und die Geschichte der O. von Pauline Réage als beispielhaft für sein Erotikverständnis. Zwar wird in der Geschichte der O. niemand getötet, doch baut sich auch dort ein erotisches Spannungsverhältnis zwischen Folterer und Gefolterten auf. Diese Verbindung existiert bei Sade nicht unbedingt, da in seinen Büchern ausschließlich die Libertins regieren, die sich nicht für die Gefühle ihrer Opfer interessieren. O. dagegen läßt sich aus Liebe zu ihrem Freund mißbrauchen und vergewaltigen. Möglicherweise wollte der Autor mit diesem intertextuellen Vergleich seinen Erotik-Ansatz in Diário do Farol rechtfertigen, auch wenn der Vergleich zu diesen Klassikern der erotischen Literatur gewagt erscheinen mag. Diese Anspielungen unterstreichen jedoch den Ansatz des Autors, die zerstörerische Kraft der Erotik im Spannungsfeld zwischen Lebens- und Destruktionstrieb literarisch umzusetzen. Nachdem der Priester die linke Gruppierung verraten hat, erbittet er sich die Gunst, Maria Helena und ihren Mann 174 Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 260. 70 selbst zu töten. Zuvor läßt er sie in einer Folterzelle fesseln, um sie gemeinsam mit einem Kollegen vergewaltigen zu können. „Ainda de pé diante dela, levantei a batina e, com meu membro ereto, também lubrifiquei-o e meti nela com força e paixão. – Oh, meu amor, que bom, que bom – dizia eu, enquanto lhe apertava o pescoço não o suficiente para matála, mas para deixá-la atordoada, outra técnica que a práctica me havia ensinado. – Estou quase gozando aqui dentro mesmo, em vez de em sua cara. Mas contive o orgasmo e parei diante dela, com a cabeça de meu sexo tão próxima quanto possível do seu rosto, que não podia virá-lo de todo para o lado como tentou. Entre palavras carinhosas e algumas novas bofetadas, me masturbei diante da cara dela e ejaculei abundantemente em seus lábios inutilmente cerrados. Logo mandei que a amarrassem de barriga para baixo, como o marido – Meu amor, minha vida, minha linda – disse eu. – Eu sempre quis meter em todos os buracos do seu corpo e ainda tenho tesão suficiente para meter nessa bundinha maravilhosa.“175 Auch in diesem Abschnitt assoziiert der Erzähler brutale Gewalt mit Liebe und Leidenschaft. Eine Angewohnheit, die der Erzähler durch die Torturen der Kindheit entwickelt haben könnte, indem er die Mißhandlungen des Vaters unbewußt zu Liebesbeweisen umdeutete. Auch bei der Charakterisierung dieses Priesters versucht João Ubaldo eine psychologisch denkbare Figur zu entwerfen, indem er Kindheitserlebnisse mit dem Verhalten des Erwachsenen verknüpft. Nach der Vergewaltigung ermordet der Priester seine beiden Opfer, Maria Helena und ihren Mann. „(…) vou deixar que o companheiro aqui mate seu bosta de marido e eu mesmo estrangulo você. Foi o que fiz, (...) e ela (...), deu o último suspiro aconchegada amorosamente em mim.“176 Die Grausamkeit und Perversion des Priesters widersprechen jeder Moral, und wahrscheinlich ist er wahnsinnig, da er glaubt, mit dem Geist seiner toten Mutter zu sprechen. Dennoch löst der Roman sehr ambivalente Gefühle aus, da die Darstellungen und Meinungen des Erzählers nicht relativiert werden. Es fehlt die Polyphonie der Stimmen, die Ubaldo Ribeiros übrige Romane kennzeichnen. Der Leser wird in die Rolle des Voyeurs gezwungen, wenn der Ich-Erzähler die Folterungen und Vergewaltigungen darstellt. Obwohl der Autor eine mögliche psychologische Erklärung für das Verhalten des Priesters entwirft, bleibt ein gewisses Unbehagen bei der Lektüre dieses Romans bestehen. Durch den Wahnsinn des 175 176 Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 299 f. Ibid., S. 300 f. 71 Erzählers wirken die Schilderungen seiner schrecklichen Kindheit nicht glaubwürdig. Auch das Motiv der grausamen Stiefmutter ist schon zu abgenutzt, als das es den Leser wirklich berühren könnte. Um so eindringlicher wirken die Beschreibungen der Folterungen, da es sich hier um Begebenheiten handelt, die zumindest in ähnlicher Form während der Militärdiktatur wirklich vorgekommen sind. Gefesselte, vergewaltigte Frauen sind ein beliebtes Motiv in der Pornographie und es fällt auf, daß der Erzähler nur die Vergewaltigung Maria Helenas in allen Einzelheiten wiedergibt. Die Szene ist eindeutig pornographisch, da Machtstrukturen reproduziert und aus der Sicht des Priesters als positiv dargestellt werden. Bevor er die Frau schließlich tötet, ejakuliert er noch in ihr Gesicht, was ebenfalls eine pornographische Handlung ist, die eine Frau erniedrigt. Durch die Foltersituation ist die Macht des Erzählers total und er nutzt sie bis zum Ende, indem er sein Opfer tötet. João Ubaldo Ribeiro hat in Diário do Farol die Idee einer Erotik der Zerstörung zu Ende gedacht und diese in politische Zusammenhänge eingebettet, denn die Folterungen werden erst durch die Militärdiktatur ermöglicht Zwar sind die Verbrechen des Erzählers nicht politisch motiviert, doch wird er von den Militärs unterstützt, was wiederum die Verkommenheit eines Regimes zeigt, das solchen Menschen die Möglichkeit gibt, ihre sadistischen Neigungen auszuleben. Wie schon der Autor Alec Mellor 1949 in La torture feststellte, gibt es „vor allem zwei Hauptursachen für die alt-neue Seuche: die Entstehung totalitärer Staaten und die moderne Kriegführung mit ihrem Zwang zu schnellen nachrichtendienstlichen Erkenntnissen.“ 177 Allerdings foltert und vergewaltigt der Erzähler für den eigenen Lustgewinn und behauptet nicht einmal, nach Erkenntnissen zu suchen. Den Schergen des Regimes bleibt keine noch so zweifelhafte Entschuldigung, sie foltern, um zu foltern. Am Ende des Romans tötet der Erzähler schließlich auch den Vater und zieht sich danach auf eine einsame Insel zurück. Sein Lebenswerk ist vollbracht und möglicherweise begeht er nach der Niederschrift seiner Geschichte Selbstmord. „Mas também é possível que não. De qualquer forma é bom lembrar que, mesmo eu morto, alguém como eu sempre poderá estar perto de você.“178 Mit diesen Worten schließt der Roman und enthüllt möglicherweise die Intention des Autors, darzulegen, daß bösartige, perverse Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben, oft ein ganz normales Leben führen. Das hat gerade die Geschichte 177 178 Cziesche, Dominik „Die Geißel der Götter“, in: Der Spiegel, 2004, Nr. 36, S. 98. Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 302. 72 Brasiliens gezeigt, da viele Schergen der Militärdiktatur unerkannt und unbestraft weiterleben konnten. Falls der Autor beim Schreiben des Romans eine solch kritische Absicht hegte, so ist diese nicht wirklich aufgegangen, denn dafür ist die Handlung zu wenig nachvollziehbar und die perversen, erotischen Darstellungen zu pornographisch. Neben den bereits erwähnten Textstellen hat der Autor auch voyeuristische Szenen eingebaut, die den Handlungsverlauf in keiner Weise vorantreiben. So fängt der Erzähler beispielsweise ein Verhältnis mit einer masochistischen Mulattin an, nachdem er sie mit einem anderen Priester beobachtet hatte. „Sem que eu lhe dissesse nada, prendeu minha batina na faixa da minha cintura, baixou-me as calças, fechou os olhos e, sem tocar no meu pênis chupou-me, devo admitir com grande proficiência, (...) descobri que a língua dela era um órgão sexual poderoso como me dava imenso prazer em esbofeteá-la e sentir que ela entrava em êxtase a cada golpe, bem como, (...), quando eu, puxando sua cabeça pelos cabelos retirava meu pênis de sua boca e, com um movimento brusco, a trazia de volta.”179 Auch an dieser Stelle wird die männliche Macht des Erzählers über eine unterwürfige Frau demonstriert, auch hier handelt es sich also um Pornographie, die allerdings nicht wie die Folterbeschreibungen in einen politischen Zusammenhang gebracht wird. Möglicherweise sollte der Roman eine ähnliche Provokation darstellen, wie A casa dos budas ditosos, ein Buch das einen großen Verkaufserfolg erzielte. Das wäre ein gefährlicher Versuch, denn Vergewaltigungen, Folterungen und entwürdigende Darstellungen von Frauen sollten einem seriösen Autor nicht als Verkaufsstrategie dienen. 7. Erotik der Körper und der Herzen Die Liebe ist eines der wichtigsten und beständigsten Themen der Weltliteratur und wird von João Ubaldo, dessen Werk voller Erotik ist, dennoch selten behandelt. Erstaunlich, wenn man bedenkt, daß Liebe und Erotik als ebenso verwoben gelten, wie Erotik und Sexualität180. Für Octavio Paz gehören alle drei Komponenten zusammen: „Por el cuerpo, el amor es erotismo y así se comunica con las fuerzas más vastas y ocultas de la vida. Ambos, el amor y el erotismo – llama doble – se 179 Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 245 f. Zur Unterscheidung zwischen Erotik und Sexualität siehe Kapitel 2.1 in dieser Arbeit. Danach entscheidet sich Erotik von Sexualität durch ein über das Körperliche hinausgehendes psychisches Bedürfnis. 180 73 alimentan del fuego original: la sexualidad. Amor y erotismo regresan siempre a la fuente primordial, a Pan y su alarido que hace temblar la selva.“181 In João Ubaldos Romanen kommt diese doppelte Flamme selten vor, nur die Erotik brennt und nährt sich aus der Sexualität, während die Liebe182 traurig qualmt. Die Figuren Ubaldo Ribeiros sind voller sexueller Perversionen, doch lieben können sie nur selten. Das liegt vermutlich daran, daß der Autor erotische Darstellung oft als Kritik an den Handelnden verwendet. Vielleicht liegt diese Trennung zwischen Erotik und Liebe auch an der Zeit, in der João Ubaldo lebt. In den meisten modernen Gesellschaften ist das Erotische kommerzialisiert und zu einem Konsumartikel geworden, eine Entwicklung, von der auch Brasilien nicht verschont geblieben ist. Hier soll nun analysiert werden, wann und zu welchem Zweck der Autor die von Bataille so genannte Erotik der Herzen einsetzt, und ob er dabei einem bestimmten Muster folgt. 7.1 Verwandte Seelen Zunächst bleibt festzustellen, daß aufrichtige Liebe in den Büchern Ubaldo Ribeiros stets mit Hindernissen verbunden ist. Damit befindet er sich in einer langen literarischen Tradition,183 denn das Thema Liebe scheint vor allem interessant zu sein, wenn eine Liebesbeziehung Gegner und Hindernisse hat. „Das Motiv gewinnt seinen Reiz nicht nur durch die mögliche Darstellung einer intimen Begegnung zweier Liebender, sondern vor allem durch die Gefahr, die die heimliche Zusammenkunft mit sich bringt.“184 Der Alltag glücklicher Liebe ohne Komplikationen verspricht kaum Spannung und ist nur eingeschränkt für die literarische Gestaltung geeignet. Auch aus diesem Grund mag der Shakespeare-Bewunderer João Ubaldo das Motiv der unglücklichen Liebe ausarbeiten, wie im Fall von Maria da Fé und Patrício Macanário. Zwei getrennte Seelen treffen sich nach Jahrhunderten wieder, und doch stehen sie auf verschiedenen Seiten. Das Motiv des herkunftsbedingten Liebeskonflikts, das beispielsweise auch Romeo und Julia (1595) beherrscht, wird hier von einem 181 Paz, Octavio: La llama doble, 1995, S. 207. Liebe wird hier als heftige emotionale Zuwendung zu einem anderen Menschen verstanden. 183 Beispiele für Liebesbeziehungen mit Hindernissen in: Shakespeare, William, Romeo und Julia (1595); Alencar, José de, Iracema (1865) ; Amado, Jorge, Cacau (1933); García Márquez, Gabriel, El amor en los tiempos del cólera (1985); Queirós, Eça de, O primo Basílio (1878); Lawrence, D.H., Lady Chatterley’s Lover (1928); etc. 184 Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur, 1976, S. 454. 182 74 Familienkonflikt zu einem sozialen Problem abgewandelt. Maria da Fé und Patrício stehen nicht nur auf verschiedenen Seiten, weil sie eine Aufständische und er ein Soldat ist, sondern auch weil ihre Lebensgeschichten zwei grundsätzlich unterschiedliche Erfahrungen der Mischlingsbevölkerung repräsentieren. Patrício ist ein Nutznießer der Anpassung seines Vaters und Maria da Fé ein Symbol des Widerstands. Die Liebe der beiden nähert diese unterschiedlichen Lebensentwürfe an. „Que orgulho sentia de estar ali com ela, de partilhar sua esteira, de ser amado por ela! Orgulho porque jamais houvera mulher tão bela em parte alguma e ele não podia descrever esse orgulho, que lhe vinha quando notava os olhos dela fixos nele, (…). Pois ele também a amava, com tanta intensidade que às vezes se assustava, (…).“185 Dies sind Pátricios Gedanken nach einer gemeinsamen Liebesnacht mit Maria da Fé, die nicht genauer beschrieben wird, möglicherweise weil diese wahrhafte Liebe über eine körperliche Anziehung hinausgeht. Zudem erinnert die Geschichte der beiden Seelen von Maria da Fé und Patrício stark an die von Platon niedergeschriebene Legende des Eros, der sich ergänzenden Hälften. Zunächst gibt es in Viva o povo brasileiro nur eine brasilianische alminha, nämlich die des caboclo Caipiroba. Erst durch die Verbindung zwischen seiner Tochter Vu und dem Holländer Zinique, entsteht durch dessen Akkulturation eine zweite brasilianische Seele. Die beiden Seelen lieben sich aufgrund ihres ursprünglichen Verwandtschaftsverhältnisses, als Vater und Tochter. Die Seelen, die sich in Patrício und Maria da Fé wieder erkennen, können als Spiegelbild der platonischen Androgyne nur einen kurzen Augenblick vereint bleiben. Auch aufgrund dieser seelischen, fast inzestuösen Beziehung, könnte der Autor die körperlichen Aspekte dieser Liebe ausgelassen haben.186 Patrício ist nach seiner Liebesnacht von der Notwendigkeit des Widerstandes überzeugt und möchte sein früheres Leben aufgeben, um sich Maria da Fé anzuschließen. Auf diese Weise drückt João Ubaldo vielleicht einmal mehr seine Sympathie für die Irmanidade do povo brasileiro aus, denn nach Elizabeth Frenzel muß die Entscheidung eines Opfers „für die Seite fallen, der vom Autor das größere 185 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 508 f. Im Übrigen ist die Geschichte der verschiedenen brasilianischen Seelen äußerst verworren, was vielleicht auch durch die orale Überlieferungstradition der Indianer und der schwarzen Sklaven begründet ist. Ribeiro imitiert die mündliche Form der Geschichtserzählung, die sich ständig verändert und dadurch auch widersprüchlich ist. Aus dem entführten Holländer Heike Zernike, macht die orale Tradition beispielsweise den caboclo Sinique, einen Freund des Menschenfresser Caipiroba. 186 75 Recht (…) zugesprochen wird, (…).“187 Gleichzeitig wird die patriarchale Geschlechterhierarchie umgekehrt, da ein solches Opfer normalerweise von einer Frau erwartet wird. Maria da Fé nimmt das Angebot ihres Geliebten jedoch nicht an, sie will ihr Leben ganz dem Kampf für die Freiheit widmen – eine Entscheidung die sie einerseits heroisiert, andererseits einem Keuschheitsgelübde nahe kommt. Maria da Fé beugt sich einem Schicksal, das in ihrem Namen „Maria vom Glauben“ bereits angedeutet wurde. Aufgrund der Namensgebung könnte man versucht sein, die Geschichte von Maria da Fé und Patrício mit der biblischen Geschichte von Maria und Josef zu vergleichen188, denn auch die Mulattin wird ein keusches Leben führen. Bei dieser einmaligen Liebesvereinigung zeugt Patrício einen Sohn, von dem er aber erst nach dem Tode Marias erfährt. Dieser Sohn wird allerdings nicht zu einem Propheten, der das Schicksal des brasilianischen Volkes verändert, noch zum Hüter wichtiger Geheimnisse. Er übergibt die magische Kiste, in der die Mysterien der Irmanidade do povo brasileiro enthalten sind dem Vater, was vielleicht bedeuten soll, daß diese Erkenntnisse nicht übertragbar sind, sondern von jeder Generation selbst entdeckt werden müssen.189 7.2 Happy End für die Liebe Nicht immer ist die Liebe in Viva o povo brasileiro solch symbolischer Natur. Bei dem anderen Liebespaar des Romans, Merinha und Budião, die beide gegen die Sklaverei aufbegehren, gibt der Erzähler Gedanken und Handlungen Budiãos beim Liebesspiel recht genau wieder. „Às vezes ele sentia vontade de deixar de existir, de entrar por aquelas gordurinhas, (...) de se misturar, se misturar e então pararem, então virarem parte do chão, unidos de uma vez por todas, sem nada falar, nada mexer, (...) os dois uma planta, uma árvore, (...). Enfiou a cara no sovaco dela, aspirou como se fosse morrer sem ar se não o fizesse, (...) – Me dá força – disse ele, encostando a cabeça e a cara no lugar do amor, abrindo-lhe a racha delicada 187 Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur, 1976, S. 468. Nur daß der Geliebte nicht Josef heißt, sondern als Patrício an die römischen Patrizier erinnert. Eine Übereinstimmung, die der Vater Amleto sicher gewollt hat, um die angebliche Verbindung der Familie zur europäischen Kultur zu untermauern. Gleichzeitig heißt ‚patrício’ auch Landsmann, was auf die Verbindung Patrícios zum brasilianischen Volk verweist. 189 Für diese Interpretation würde auch das Ende des Romans sprechen. Nach dem Tod Patrícios öffnen Diebe die Kiste und lösen damit ein apokalyptisches Szenario aus, die Geheimnisse entweichen und Brasilien wird mit Blut übergossen. Die Mysterien der Kiste sind die sozialen Ungerechtigkeiten und Verbrechen, die vom großen Kapital und den Amerikanern verbrochen werden. Lösungsvorschläge sind nicht enthalten und künftige Generationen müssen eigene Anstrengungen unternehmen. 188 76 com dois dedos, encostando ali o pescoço e abraçando-a pelos joelhos. (...) ele quis entrar e lá ficar, abrigado em baixo do Grande Umbigo.“190 Wieder vermischt João Ubaldo die Gedanken der Figur mit der Rede des Erzählers, so daß man glaubt, am Gedankenfluß der Person teilzuhaben, obwohl Handlungen beschrieben werden. Dabei zeigt sich in dieser Textstelle, daß der Autor durchaus in der Lage ist, ein erotisches Liebesspiel ohne Vulgaritäten und voyeuristische Elemente zu entwerfen. Die respektvolle Benennung intimer Körperstellen, wie „lugar de amor“ und romantische Vorstellungen wie „os dois uma planta, uma árvore“ betonen die Verliebtheit Budiãos und schließen eine voyeuristische Lesart, die sich nur auf das Körperliche konzentriert, aus. Hier zeigt sich der Eros in seiner schönsten Form, dem Streben nach ewiger Einheit, wie Platon ihn im Gastmahl interpretiert hatte. Gleichzeitig erscheint Merinha als Urmutter allen Lebens, denn Budião möchte mit seinem ganzen Körper in diesen Schoß, der für ihn zum Mittelpunkt der Welt wird, eindringen und dort verweilen, Diese Interpretation würde auch die ungewöhnliche Großschreibung der Worte „Grande Umbigo“ erklären. Die großen Anfangsbuchstaben stellen eine Verbindung zu „Deus“ her, der in romanischen Sprachen meistens mit einem Großbuchstaben beginnt. Die erotische Liebesbeziehung wird so zu einer Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Sein stilisiert, eine Bedeutung die auch schon der Philosoph Georges Bataille der Erotik zuschrieb. Gleichzeitig fühlt Budião sich eins mit der Natur, denn er würde sich am liebsten gemeinsam mit Merinha in einen Baum verwandeln. Der Augenblick des Glücks währt jedoch nur kurz, da Budião sich auf eine wichtige Mission begibt, die ihn zehn Jahre lang von Merinha fernhalten wird, die dennoch auf ihn wartet. Als er ein Jahrzehnt später nach vielen Abenteuern zurückkehrt, ist ihre Liebe ungebrochen. Vielleicht ist dieser Zeitraum eine Anspielung auf die zehn Jahre, die Odysseus brauchte, um nach Ende des Trojanischen Krieges zu seiner Frau zurückzukehren.191 Mit seiner Heimkehr ist das kämpferische Leben Budiãos jedoch nicht beendet, da er als entlaufener Sklave gefangen und gefoltert wird, bevor Maria 190 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 280 f. Für diese Interpretation würde die Affinität Ribeiros zu Homer (zwischen 750-650 v.Chr.) sprechen. Zudem gibt es in Viva o povo brasileiro weitere Textstellen, die auf die Ilias hinweisen könnten. Das Eingreifen der Orixás (afrikanische Gottheiten, die in Brasilien in die synkretistische Religion Candomblé aufgenommen wurden) in der Schlacht von Tuiuti, erinnert an die griechischen Gottheiten der Ilias. (Diese intertextuelle Referenz könnte ebenfalls den Os Lusíadas (1572) von Camões (1524-1580) gelten, in denen römische Götter auftreten, oder aber Jorge Amado, der seinen Figuren auch übersinnliche Hilfe zukommen ließ.) 191 77 da Fé ihn befreit. Auch Odysseus konnte sich auf Ithaka nicht sofort zur Ruhe setzen, sondern mußte zuvor die Freier seiner Frau Penelope töten. Erst nach diesem letzten Abenteuer kann Budião / Odysseus die Liebe genießen. In den bislang acht erschienenen Romanen João Ubaldo Ribeiros kommt es nur ein weiteres Mal zu einem „Happy End“ für die Liebenden. Auch in O feitiço da ilha do pavão, das der Autor als livrinho bezeichnet, können Crescência und Iô Pepeu sich letztendlich im Liebesglück vereinen. „– A ela sem pena - disse ela. – A ela sem pena! Ah, quem estava distraído nessa hora afirma que a tarde se iluminou de rosa e carmim, o ar se perfumou e toda a orla da ilha do Pavão faiscou. Não se sabe se isso é verdade, mas parece que sim, porque passaram um tempo infinito um dentro do outro e gozaram como ninguém nunca gozou neste mundo, atravessando a longa noite abraçados e amantes, nada ruim podendo alcançá-los.“192 Auch hier erscheint der Liebesakt als ein mystisches Erlebnis, das nicht nur die Liebenden betrifft, sondern die ganze Insel erstrahlen läßt – eine romantische Überhöhung, die durch die rosa Farbgebung der Umwelt, der Duftbeschreibung und dem Flimmern, zu Kitsch193 wird, womit der Autor möglicherweise dieses glückliche Ende parodiert. Die Vereinigung von Crescência und Iô Pepeu ist der Realität entrückt, nachdem sie durch Iô Pepeus Impotenz während des ganzen Romans mit sehr irdischen Problemen zu kämpfen hatten. Allerdings entscheidet Crescência erst, sich Iô Pepeu mit allen Konsequenzen hinzugeben, als sie erkennt, daß sie Nachkommen braucht, die das Geheimnis des Zeitloches bewahren können. Eine Überlegung, die in einer patriarchalen Gesellschaft normalerweise der Mann anstellen müßte. Die Utopie der Insel scheint gewahrt, da es eine Chance für die folgenden Generationen gibt, das Schicksal der Pfaueninsel zu bestimmen, eine Möglichkeit die den Figuren in Viva o povo brasileiro verwehrt blieb. Die pessimistische Zukunftsvision des Autors in seinem längsten Roman liegt möglicherweise nicht nur daran, daß er sich auf historische Tatsachen beruft, sondern auch, daß er während der Militärdiktatur veröffentlicht wurde. In beiden Büchern handelt die zentrale Liebesgeschichte aber von einem weißen Mann und einer farbigen Frau, die mit ihrer erotischen Vereinigung 192 Ribeiro, João Ubaldo: O feitiço da Ilha do pavão, 1997, S. 33. „Kitsch zeigt meist einen Hang zur Gefühlsbetonung, zu einer übertriebenen Romantisierung, zur Verniedlichung und zum Dekorativen, gibt die Wirklichkeit verzerrt, stark vereinfacht oder ungenau wieder, will sich mit klischeehaften, falschen oder übertriebenen Gefühlen beim Publikum einschmeicheln und zielt auf einen unausgebildeten, unkritischen Geschmack.(…) Mit der Bezeichnung „Kitsch” ist ein ästhetisches Qualitätsurteil verbunden, das abwertend und häufig auch provokativ gemeint ist.“ In: Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional, 2003. 193 78 neues Leben zeugen.194 Während Maria da Fé und Patrício sich aufgrund ihrer Seelenverwandtschaft tatsächlich lieben, ist die Liebe zwischen Crescência und Iô Pepeu weniger eindeutig, wie der Autor selbst bestätigt. „O amor para muitas pessoas não passa de um impulso egoísta. Você pode até argumentar, se for uma teórica polêmica, que todo amor é uma forma de egoísmo. (...) O amor é basicamente um dar e não tomar. Mas tem gente que só toma. Então no sentido muito lato de amor, vamos dizer, eu acho que chegou a haver amor de Crescência para Iô Pepeu no fim. Acho que ela foi seduzida pelo amor dele ou pela obsessão dele por ela.“195 Diese Interpretation des Autors widerspricht zwar der romantischen Gestaltung der Szene, entspricht jedoch dem Charakter der Figuren, die man sich kaum als Liebespaar vorstellen kann. Crescência ist schön, intelligent und zielstrebig, während Iô Pepeu sich ausschließlich über seine sexuellen Leistungen definiert. Vielleicht verliebt Iô Pepeu sich im Laufe des Romans in Crescência, weil nur sie seinem Verlangen Einhalt gebietet und dadurch einzigartig wird. Nur mit ihr erfährt Iô Pepeu Erotik in einer Verbindung aus Liebe und Sexualität. Das Verhalten der Figur Crescências wird zum Ende des Romans jedoch undurchsichtig. Der Leser konnte eigentlich annehmen, daß sie in Iô Pepeu verliebt sei, da sie schließlich ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihn aus dem quilombo zu retten. Als jedoch der Capitão Cavalo andeutet, sie solle eine lebenslange Bindung mit seinem Sohn Iô Pepeu eingehen, erscheint sie nicht besonders begeistert. „Crescência adivinhou que Capitão Cavalo gostaria de que ela tivesse filhos com Iô Pepeu e sentiu um arrepio.”196 Dieser Schauder, den Crescência erlebt, kann angenehm sein, oder auch nicht, weswegen ihre Gefühle ein Geheimnis bleiben. Sie scheinen für das Verständnis des Romans auch nicht wichtig, weil der Autor sich insgesamt mit der psychologischen Ausgestaltung der Protagonisten zurückhält. In O feitiço da ilha do pavão treffen wir auf typisierte Figuren, wie den homosexuellen Soldaten und Priester, den masochistischen Lehrer, die perverse alte Jungfer, die weisen Außenseiter, den verrückten Despoten, den Taugenichts und Schelm, sowie die jungfräuliche Geliebte. Dabei wird Crescência zwar nicht psychologisch greifbar 194 Dabei fällt auf, daß zwar die Zeugung von Kindern thematisiert wird, nicht jedoch die Erziehung und das Heranwachsen. Kinder spielen in den Romanen João Ubaldos kaum eine Rolle, mit Ausnahme von Diário do Farol, da das bösartige Verhalten des Priesters auf seine Kindheitserlebnisse zurückzuführen ist. 195 Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 115 (dieser Arbeit). 196 Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do paãvo, 1997, S. 302. 79 dargestellt, aber als intelligente, wißbegierige Frau idealisiert, die zudem auch noch ein keusches Leben führt. Zudem wird sie mit ihrer Mutterschaft für Nachkommen sorgen, die das Geheimnis der Insel bewahren, sie wird zur Urmutter dieser Bewegung, was sich bereits in ihrer Namensgebung angedeutet hatte.197 7.3 Tragische Liebe Der Roman O sorriso do lagarto spielt zwar auch auf einer Insel, doch gilt hier die Macht des Bösen und nicht die der Utopie. Vielleicht nimmt deswegen die Liebesgeschichte zwischen João Pedroso und Ana Clara ein tragisches Ende. Im Unterschied zu O feitiço da ilha do pavão ist in diesem Roman die Liebe der Protagonisten nachzuvollziehen, da neben ihren Handlungen und dem sozialen Umfeld auch ihre Gedanken und Stimmungen geschildert werden. Der Leser erlebt, wie die beiden sich kennenlernen, flirten und schließlich intim werden. Sie haben eine wahrhaft erotische Beziehung miteinander, die auf Gegenseitigkeit beruht und die auch ihre Gedanken beschäftigt. „Toda molhada, só de pensar. Notara porque estava sem calcinha e, ao rodopiar pelo simples prazer de girar a saia rodada, viu uma manchinha nela. Tocou-se, estava alagada. Bem, não tinha por que surpreender-se, já que ficara mesmo numa excitação inenarrável, sentada com as coxas apertadas e à beira de gozar pensando nele. Ah, não queria mudar o vestido, tinha que ser este vestido e sem calcinha, para que ela desfrutasse daquela linda cara que ele certamente faria, uma espécie de susto maravilhado, uma espécie de careta divina, quando lhe enfiasse a mão por baixo da saia e ela se revelasse antes do momento esperado, pronta para ele, pronta!“198 Als sie nur noch aneinander denken können, wird aus einer Affäre eine große Liebe. Ana Clara will sich scheiden lassen und damit ihr privilegiertes Leben aufgeben. Ihr Mann weiß dieses gemeinsame Glück zu verhindern, indem er João von Boaventura ermorden läßt und die Leiche im Meer versenkt. Ana Clara ahnt die Tat ihres Mannes, ohne sie beweisen zu können und ekelt sich künftig vor Meerestieren. In einem Streit mit ihrem Mann verliert sich auch noch das Kind von João Pedroso und wird deswegen verrückt - sie erleidet eine Persönlichkeitsspaltung. Fortan gibt es Ana Clara und Suzanne Fleischmann, die ursprünglich nur ein Heteronym für ihre 197 Crescência von ‚crescer’ = ‚wachsen’, kann also in doppelter Hinsicht interpretiert werden. Zum einen als ironische Anspielung auf Iô Pepeus Potenzproblem und zum anderen als fruchtbarer Name für eine künftige Mutter. 198 Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 199. 80 schriftstellerischen Versuche war. Nur indem sie ihre alte Persönlichkeit weitgehend abstreift, kann sie weiterhin mit Ângelo Marcos zusammenbleiben, von dem sie finanziell abhängig ist. Der Tod Joãos deutet sich bereits in seinem Charakter an, daß er kurz nach der Erfüllung seines Liebesglücks ermordet wird, paßt zu seinem lebenslangen Scheitern. Gleichzeitig sollte man nicht vergessen, daß mit dieser tragisch endenden Liebesgeschichte gleichzeitig auch ein Ehebruch verbunden ist. Ein Topos, der in der Weltliteratur traditionell bestraft wird, wie beispielsweise in Gustave Flauberts (18211880) Madame Bovary: moeurs de province (1857), oder in Theodor Fontanes (18191898) Effi Briest (1895). Allerdings arrangiert Ubaldo Ribeiro das Motiv des Ehebruchs so überspitzt, daß die Ermordung nicht unbedingt als gerechte Rache, sondern auch als Kritik an dem männlichen Ehrbegriff verstanden werden kann. Ângelo Marcos ist homosexuell und hat seine Frau vor allem aus Prestigegründen geheiratet. Daß er dennoch Rache übt, erklärt sich nicht aus seiner verletzten Liebe, sondern nur aus niederen Beweggründen wie verletztem Stolz und der Lust am Töten. 7.4 Autoerotik Die erotischen Darstellungen João Ubaldos sind häufig voyeuristisch angelegt, vor allem, wenn Masturbationsszenen und die dazugehörenden Phantasien geschildert werden. Perilo Ambrósio masturbiert beispielsweise, während er sich die Vergewaltigung Vevés vorstellt, ebenso wie Ângelo Marcos, wenn er an seinen Geliebten Boaventura denkt. In diesen Fällen beschreibt der Autor vor allem die Phantasie der Männer, jedoch nicht die entsprechenden Handlungen. Die Direktheit der Gedanken bringt den Leser dabei häufig in die Nähe des Voyeurismus’, ebenso wie bei weiblichen MasturbationsPhantasien, bei denen der Autor nicht nur die Vorstellungen, sondern auch die konkreten Handlungen beschreibt. Die Schwägerin Patrícios masturbiert in Viva o povo brasileiro, während sie an ihren Schwager denkt: „Pensou novamente no Tico.(Anm. der Verf.: Patrício) (…) Entrou na banheira, a água estava bem quente, como ela gostava. Abriu as pernas e sentiu que, misturando-se à água, seu próprio caldo escorria, (…). Esticou o braço um pouco para trás, pegou a escova (…), tomando cuidado para não se machucar, enfiou em si o cabo com um gemido ronronado. Quase no mesmo 81 instante, enquanto o coração se acelerava (…) gozou tão longamente que pensou que ia morrer.“199 Die Erotik dieser Szene ergibt sich nicht aus der Phantasie der Figur sondern aus ihrer konkreten Handlung. Der Autor beschreibt sehr detailliert, wie Henriqueta sich Vergnügen verschafft, auch biologische Details („seu próprio caldo escorria“) werden nicht ausgespart. Henriqueta wird in einer intimen Situation, im Badezimmer beobachtet, Autor und Leser werden zu versteckten Voyeuren. Interessant ist dabei die Verbindung zwischen sexuellen Bedürfnissen und der Phantasie der Masturbierenden. Dadurch wird ihre Handlung menschlich und erotisch und hebt sie von einer rein mechanischen Handlung ab. Auch Ana Clara masturbiert, während sie ihren Geliebten João Pedroso erwartet. „Puxando para o lado o vestido, que estendera sobre a cama, deitou de pernas abertas e começou a masturbar-se com ambas as mãos, uma apertando o púbis e a outra esfregando o médio e o indicador em movimentos rápidos e curtos. Virando a cabeça para um lado e para outro cada vez mais depressa, gemendo alto e abrindo a boca como se toda a musculatura da face houvesse endurecido naquela posição, gozou uma vez e logo duas e três, terminando por rolar na cama com um soluço gutural, até parar de lado, os joelhos dobrados, as mãos ainda entre as coxas juntas.“200 Auch diese Masturbationsbeschreibung ist sehr detailgetreu, fast wirkt sie wie eine erotische Anleitung für Frauen, so wie die männliche Phantasie sie diktieren mag. Der Eros wirkt in diesem Fall auf zweierlei Weise. Der Autor beschreibt die sinnlichen Gedanken im Kopf Ana Claras und wie sie diese Spannung körperlich umsetzt. Durch die detaillierte Beschreibung kann der Leser sich die Szene genau vorstellen und als erotisch empfinden. Im Gegensatz dazu wird männlichen Masturbationshandlungen in der Regel wenig Platz eingeräumt. Ângelo Marcos erotische Begegnungen mit Boaventura werden auf drei Seiten beschrieben, gefolgt von einer kurzen Masturbation. „Desceu a mão para a braguilha, abriu o zíper. Não, só o ziper não, tiraria a bermuda e a cueca. Tirou a camisa também e se masturbou imaginando uma tesão indestrutível, em que gozariam por todos os buracos e pontos do corpo um do outro, mas não conseguiu retardar o orgasmo como queria e esguichou com tanta força que algumas gotas quase lhe chegam ao queixo.“201 199 Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 508. Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 203. 201 Ibid., S. 188. 200 82 Die Betonung liegt hier nicht auf der Masturbation sondern der Vorbereitung und dem Ergebnis, der Ejakulation. Die Selbstbefriedigung wird schnell und desinteressiert beschrieben, der Autor scheint mit Vorliebe die Autoerotik weiblicher Figuren mit voyeuristischen Details einzufangen. Daneben dienen diese intimen Momente auch dazu, die wahren Neigungen der Protagonisten zu erfahren, denn in diesen Augenblicken denken sie an die Menschen, die sie wirklich begehren. Diese Fähigkeit die Vorstellungskraft für erotische Gefühle einzusetzen gehört nach Octavio Paz zu den Merkmalen menschlicher Erotik. „En el acto erótico intervienen siempre dos ó más, nunca uno. Aqui aparece la primera diferencia entre la sexualidad animal y el erotismo humano: en el segundo, uno o varios de los participiantes puede ser un ente imaginario. Sólo los hombres y las mujeres copulan con íncubos y súcubos.“202 Wahre Erotik als Verbindung zwischen Geist und Körper gibt es in João Ubaldos Romanen also dann, wenn die Protagonisten verliebt sind und / oder masturbieren. Allerdings kann diese Erotik auch zu Pornographie werden, wenn die Figuren sich gleichzeitig die Erniedrigung einer anderen Person vorstellen oder herbeiführen. 8. Wollust – Sünde oder pornographisches Motiv? A casa dos budas ditosos erschien 1999 in der Serie Plenos Pecados des Verlages Objetiva, in der die sieben Todsünden, also Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei und Wollust, von jeweils verschiedenen Autoren behandelt wurden. João Ubaldo weigerte sich, die Todsünde Trägheit zu übernehmen, um nicht das Klischee des faulen baiano zu bedienen und so entstand A casa dos budas ditosos als Auftragsarbeit über die Todsünde Wollust. Da Ubaldo diese Aufgabe übernommen hat, stellt sich bei der Lektüre des Romans die Frage, ob der Autor selbst Wollust auch als Sünde ansieht. Falls er Wollust und Erotik in seinem Roman kritisch erörtern wollte, so wurde er zumindest nicht so verstanden. In Portugal weigerten sich die Supermarktketten Continente und Pão de Açúcar aus moralischen Gründen, das Buch 202 Paz, Octavio, La llama doble, 1995, S. 15. 83 zu vertreiben, obwohl beide Märkte Erotikfilme in ihrem Sortiment führen. Der Text scheint auf manche Leser also ausgesprochen schockierend zu wirken. Der Ausgang dieses Skandals war für den Autor positiv, da die Reaktion der Supermärkte in der portugiesischen Presse heftig debattiert wurde, was die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen ließ. 8.1 Das Erotische als Verkaufsstrategie? Obwohl das Erotische in den meisten Büchern Ubaldo Ribeiros einen wichtigen Platz einnimmt, ist A casa dos budas ditosos der einzige Roman, der beinahe ausschließlich von diesem Thema handelt. Durch den erwähnten Skandal in Portugal wurde der Verkauf des Buches überproportional gesteigert. Es ist anzunehmen, daß der Autor diese heftige Reaktion aus Teilen des Publikums gewollt und provoziert hat: „Enfim, sexo sempre mexe muito com as pessoas.“203 Zudem läßt er kaum ein Tabu aus: Inzest, Orgien, Sodomie, Homosexualität bei Frauen und Männern, Bisexualität, Ehebruch, offene Ehen, Lolita-Nymphchen, all diese umstrittenen Praktiken, Motive und Einstellungen gehören zu den Themen dieses Romans. Dabei fällt auch auf, daß Ubaldo Ribeiro ein Buch über Erotik ausgerechnet aus der Perspektive einer Frau schreibt. Möglicherweise wollte er sich mit diesem Kunstgriff der feministischen Kritik entziehen und der Gefahr entgehen, Frauen zu Sexualobjekten zu reduzieren. Der Autor selbst begründet seine Entscheidung mit der Unmöglichkeit über Erotik in der dritten Person zu schreiben: „Tanto assim que quando eu resolvi usar recursos pornográficos nesse livrinho, eu escolhi de propósito um truque para pôr na primeira pessoa. Para evitar amardilhas como „tocou no seu sexo”, para não ter que usar essas palavras literárias que não soam bem. Então pondo na primeira pessoa era mais fácil usar o palavrão, usar linguagem que se ouve mais na rua. Mais natural digamos, mais espontânea.“204 203 204 Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo, 2004, S. 108 (dieser Arbeit). Ibid., S. 107 (dieser Arbeit). 84 In demselben Interview betont er auch seine engen freundschaftlichen Beziehungen zu verschiedenen Frauen, die es ihm ermöglicht haben sollen ein tieferes Verständnis für die weibliche Erotik zu entwickeln. Dieses Verständnis mag auch aus der Tatsache resultieren, daß der Autor bereits in dritter Ehe verheiratet ist. Neben diesen arbeitstechnischen Erklärungen könnte es weitere Gründe für die Wahl einer weiblichen Erzählerin geben. Denn in einem patriarchal geprägten Land wie Brasilien konnten Autor und Verlag durchaus erwarten, daß ein Roman über eine hemmungslos wollüstige Frau, einerseits gemischte Reaktionen hervorruft, aber vor allem die Neugier potentieller Leser/Innen weckt. Laut João Ubaldo waren viele Frauen von dem Roman begeistert, denn nie zuvor hätte er so viele Reaktionen von Leserinnen erhalten.205 Manche Frauen glaubten sogar, die Erzählerin existiere tatsächlich, womit sie einer weiteren Marketingstrategie erlagen. João Ubaldo Ribeiro hatte in einem kurzen Vorwort behauptet, daß ihm eine anonyme Frau ihre Lebensbeichte auf Band gesprochen habe, damit er sie transkribieren und veröffentlichen könne. Damit benutzt er einen ähnlich literarischen Trick wie Choderlos de Laclos mit seinen Les liaisons dangereuses206 der vom Verlag durch den Klappentext und gezielt lancierte Zeitungsartikel unterstützt wurde. Dieses Geheimnis um eine unbekannte Frau, hat den Absatz des Buches vermutlich ebenfalls gesteigert. 8.2 Die eingeschränkte Libertinage Das Vorwort des Autors mag ein literarischer Trick gewesen sein, um den Verkauf des Buches zu fördern, doch gibt er seinen Lesern die Möglichkeit, diesen zu durchschauen. Gleich zu Beginn der Geschichte löst João Ubaldo das vermeintliche Rätsel der Autorenschaft, wenn die Ich-Erzählerin, die sich selbst eine Libertine nennt, den Titel ihrer Erinnerungen diskutiert. „O título que ia botar era „Memórias de uma libertina“, mas não vou mais botar, é bom gosto de mais para esse povo que nunca leu Choderlos de Laclos,“207 Mit dieser literarischen Anspielung auf Les liaisons 205 Ibid., S. 108 (dieser Arbeit). Allerdings hatte Choderlos de Laclos seinen Briefroman 1782 anonym veröffentlicht, was einerseits die Glaubwürdigkeit der Briefe, andererseits aber auch den Skandal erhöhte. Der Autor schildert die Machenschaften zweier Libertins, der Marquise von Merteuil und des Vicomte von Valmont, die in den aristokratischen Salons des Ancien Régime skrupellos Unschuldige verführen. In der Annahme das menschliche Verhalten sei rational erfassbar, beginnen sie einen Wettstreit der Intrigen und Verführungskünste. Dabei führen sie als Forscher der Erotik regelrechte psychologische Experimente durch. 207 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 20. 206 85 dangereuses, die ebenfalls von einem Mann geschrieben wurden, verweist Ubaldo auf sich selbst als Autoren. Zudem nennt er in seinem Vorwort die Initialen der geheimnisvollen Libertine, CDL, was ebenfalls dem Namen Choderlos de Laclos entsprechen könnte. Durch diese Referenz wird auch das Konzept der Libertinage angedeutet, das die Erzählerin in diesem Werk vertritt. Wie die Figuren von Choderlos de Laclos hat auch sie ihr Leben der Erotik gewidmet, um ihre eigenen Gelüste zu erfüllen. Für dieses Ziel verführt sie auch Unschuldige und treibt mit ihnen psychologische Spiele. Eine Libertinage-Konzeption nach dem Vorbild Sades gehört nicht in ihr Repertoire: „Acho que tenho um traço sádico, não sadismo físico, (…) Considero meu sadismo psicológico muito mais interessante, (…).“208 Die Libertins des Marquis de Sade stehen außerhalb gesellschaftlicher und moralischer Bindungen, ihre Lust entsteht aus der Zerstörung der Anderen. João Ubaldos Libertine bleibt aber innerhalb der Gesellschaft, sie ist nicht völlig frei, denn obwohl sie viele Tabus bricht, unterwirft sie sich zumindest scheinbar den sozialen Normen. So wird sie jahrelang ihre Jungfräulichkeit bewahren, obwohl sie das überhaupt nicht möchte. Später kommt sie sogar auf die Idee, das Hymen operativ wiederherstellen zu lassen, um als Jungfrau heiraten zu können. Zudem erklärt sie den Lesern, wie eine Frau dem Mann vorspielen sollte, sexuell völlig unerfahren zu sein, damit er sie nicht verachtet. Wenn die Frau sich nicht verstellt, können die Folgen fatal sein: „Abriu a braguilha dele e deixou que o pau dele pulasse fora. Era a primeira vez que o via assim, cara a cara, e ficou quase hipnotizada, se sentindo como nunca se sentira antes, uma falta de fôlego, uma ânsia, uma vontade de agarrar tudo de uma vez, as costas fibrilando de alto para baixo. Daí para pôr o pau dele na boca foi um instante e aí acabou o namoro. Ele de repente empurrou a cabeça para trás e deu um murro nela. (…) Que era que ela estava pensando? Em que puteiro aprendera aquilo? Achava que mulher dele era para fazer aquela coisa nojenta, própria das mais baixas prostitutas? (…) Nunca mais a beijaria na boca, não queria chupar homem nenhum por tabela.“209 In diesem Abschnitt werden die gesellschaftlichen Zwänge, denen zumindest „ehrbare“ Frauen im erotischen Bereich unterworfen sind, rekonstruiert, andererseits wird auch die Macht des Phallus betont, der die Frau zu instinktiven Reaktionen verführt. Diese fiktive Szene soll vermutlich in den 1950er Jahren in Salvador spielen, eine Zeit in der die Unterdrückung der brasilianischen Frau ausgeprägter war als heute. 208 209 Ibid., S. 84. Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 62. 86 Die Reaktion des Verlobten steht auch stellvertretend für die Doppelmoral eines Frauenbildes, nach dem nur Prostituierte keinen erotischen Beschränkungen unterworfen sind, während Ehefrauen ihre soziale Stellung mit dem Verzicht auf erotische Erfüllung bezahlen. Eines der Hauptthemen in A casa dos budas ditosos ist neben der Erotik, wie so oft im ubaldischen Werk, die Heuchelei. Dabei enthüllt der Roman einerseits die Heuchelei der Männer, die Frauen mit zweierlei Maß messen und die der Frauen, die sich verstellen müssen, um gesellschaftlich zu überleben. Allerdings ist die Verstellung der Figuren in diesem Roman nicht so zynisch wie in Viva o povo brasileiro oder O sorriso do lagarto, sondern wirkt eher unterhaltsam, wie der locker-ironische Stil der Erzählerin unterstreicht. „Vários namorados meus, inclusive meus dois noivos, eu já mulher completa desde priscas eras, achavam que eu era virgem e diziam abertamente que não tinham preconceito, más só casariam com virgens.“210 Solche Aussagen werden von der Erzählerin mit Humor und sportlichem Ehrgeiz aufgenommen, sie erteilt „lições de anti-hipocrisia aplicada, usando, a força dela contra ela, como dizem que fazem os lutadores de jiu-jítsu“.211 Diese Lektion besteht darin, Männer glauben zu lassen, völlig unerfahren zu sein: „Pegar no pau de forma que ele pense que é a primeira vez (…): nunca tomar a iniciativa e, apenas na terceira ou quarta tentativa, deixar, tudo relutante e pudica, que ele puxe sua mão. (…) Sexo anal, a mesma coisa etc. etc. Oh, é a primeira vez, devagar tá? Grandes atrizes se perdem todos os dias.“212 Auch aus Szenen wie diesen läßt sich der große Erfolg dieses Romans bei Frauen erklären. Hier wird die Dominanz der männlichen Welt ins Lächerliche gezogen, wenn Frauen sich scheinbar diesen Werten unterwerfen, aber tatsächlich völlig anders handeln. Einerseits könnten solche Verhaltensweisen als unmoralisch und heuchlerisch gewertet werden. Andererseits entsprechen sie einer sehr brasilianischen Form des Widerstandes - einer Art von cordialidade213, die eine direkte Auseinandersetzung aus Höflichkeit vermeidet, aber dennoch jeden nach eigenem Gutdünken handeln läßt. Möglicherweise entspricht die Erzählerin einer weiblichen Form des malandro, der sich mit geschickten Lügen durchs Leben trickst. Wie dem malandro ist auch der 210 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 35. Ibid., S. 36. 212 Ibid., S. 36 f. 213 In Anlehnung an das Konzept des homem cordial von Sérgio Buarque de Holanda (1902-1982): „Já se disse, numa expressão feliz, que a contribuição brasileira para a civilização será de cordialidade – daremos ao mundo o „homem cordial“. (...) Além disso a polidez é, de algum modo, organização de defesa ante a sociedade.“ In: Holanda, Sérgio Buarque de, Raízes do Brasil, 2003, S. 146 f. 211 87 Erzählerin ihr eigenes Vergnügen sehr wichtig, nie arbeitet oder studiert sie ernsthaft, sondern verführt statt dessen ihre Professoren. Im Gegensatz zum malandro gehört die Erzählerin jedoch der brasilianischen Elite an, ihre Familie besitzt eine Fazenda und finanzielle Sorgen kennt sie nicht. Die Grundeinstellung, sich mit einem jeitinho214 durchs Leben zu mogeln, teilt sie aber mit dem brasilianischen Schelm. Für Außenseiter scheint dieser versteckte Widerstand die einzig mögliche Überlebensstrategie zu sein. Die Zwänge der Gesellschaft sind jedoch nicht die einzigen Beschränkungen, denen die Libertine sich beugen muß. João Ubaldo Ribeiro hat in verschiedenen Zeitungsinterviews betont, daß seine Meinungen nicht mit denen der Erzählerin übereinstimmen.215 Dafür gibt es bereits im Roman Hinweise, denn der Libertine sind nicht nur moralische, sondern auch biologische Grenzen gesetzt. Zum einen ist die Erzählerin steril, sie kann und will auch keine Kinder bekommen. Als Lebensentwurf eignen sich ihre Erzählungen also nicht, denn die Abenteuer der Libertine spielen in der Vergangenheit und ohne Kinder hat sie auch keine Zukunft. Zudem ist sie bei der angeblichen Niederschrift des Manuskriptes bereits krank und wartet auf ihren Tod. Sie hat ein Aneurysma im Gehirn, wird also ebenso schnell und plötzlich sterben, wie sie gelebt hat. Eine glückliches Altern mit Enkelkindern oder Kindern ist ihr nicht vergönnt, sie konzentriert sich auch mit 68 Jahren noch völlig auf die Befriedigung ihrer erotischen Bedürfnisse und hat sich menschlich nicht weiterentwickelt – dadurch wirkt sie wie ein Kind, das nur seinen egoistischen Impulsen nachgibt ohne dabei aber unsymphatisch zu erscheinen. Allerdings soll sie vermutlich auch keine realistische Figur sein, denn wie eine einzige Frau diese erotischen Leistungen vollbringen kann, ist nicht nachzuvollziehen. Auch deswegen steht sie wohl für eine Gesamterfahrung, für die Akkumulation der gedachten erotischen Erfahrungen vieler Menschen, die sich in der Libertine manifestieren. Die Ich-Erzählerin ist die personifizierte Wollust, in ihr stecken alle positiven und negativen Möglichkeiten der Erotik, eine Interpretation die auch die Erzählerin in ähnlicher Form andeutet: „(…) eu encarnei todas as deusas do amor, todas as diabas desabridas que povoam o universo, a Luxúria com suas traiçoeiras sombras coleantes e seus 214 Zum brasilianischen jeitinho, vgl.:Barbosa, Lívia, O jeitinho brasileiro : a arte de ser mais igual que os outros, 1992; Matta, Roberto da, Carnavais, Malandros e Heróis, 1990. „Dar um jeito, fazer o necessário para uma coisa se conseguir; facilitar; arranjar as coisas com habilidade e especialmente com a boa vontade de um pequeno esforço.“ In: „Dicionário de Morais“, 1945, Bd. 6, S. 16. 215 „Carrego nas costas o sentimento de culpa cristão e confesso que me causou certo desconforto descrever algumas passagens da vida sexual da senhora do livro.“ In: Filho, Antônio Gonçalves: „As safadezas de dona CLB“, in: A Notícia, 15.4.1999, anexo. 88 estandartes imorais, seu chamado a devassidão, à dissipação e à entrega a todos os gozos de todos os matizes até chegar à morte lasciva, eu era a Luxúria integral, baixada ali para reinar como um espírito imisericordioso e invencível, (…).“216 Als Göttin oder Teufelin der Wollust scheint die Erzählerin mehr zu sein als eine Frau, die sich gesellschaftlichen Zwängen beugt. Wenn sie sich der Wollust ohne Rücksicht hingibt, besiegt sie alle Einschränkungen und Normen und wird dadurch ebenso mächtig wie gefährlich – eine Gefahr, die tödlich enden kann („morte lasciva“), denn menschliches Zusammenleben ohne gesellschaftliche Übereinkünfte würde unweigerlich in Chaos führen. Die Erzählerin ist trotz ihrer Einschränkungen eine Libertine, die immer wieder ihre erotische Macht benutzt, um bestehende Tabus und Normen zu brechen. 8.3 Die ambivalente Macht der Libertine Mit Hilfe ihrer erotischen Ausstrahlung gelingt es der Erzählerin meist, ihren Willen durchzusetzen und die hierarchisierten Geschlechterverhältnisse scheinbar umzukehren. Dabei verfolgt sie keine revolutionäre oder politische Absicht, denn ihr einziges Lebensziel ist die Befriedigung ihrer erotischen Bedürfnisse, weshalb sie sich auch nicht scheut, ihre gesellschaftliche Stellung auszuspielen, um Schwächere zu mißbrauchen – womit sie die sozialen Hierarchien stützt. Ihr erstes erotisches Opfer ist ein schwarzer Junge, auf der Fazenda ihres Großvaters, „(...) era somente um dos negrinhos da fazenda, naquele bando de escravos que meu avô tinha. Não eram escravos oficialmente, mas de fato eram escravos, e a maior parte vivia satisfeita, fazendo filhos e enrolando o meu avô.“217 Die Kritik der Erzählerin beschränkt sich auf das Infragestellen der Geschlechterverhältnisse soweit sie ihre erotische Selbsterfüllung betreffen. An sozialen Fragen wie Armut oder Rassismus ist sie nicht interessiert, da sie zur weißen Elite gehört und somit auch nicht betroffen ist. Ein soziales oder politisches Engagement würde zudem der Libertinage widersprechen, denn es geht dabei nicht um Freiheit für alle, sondern um Freiheit für den Libertin. Die Libertinage ist ein egoistischer Ansatz, der die Probleme anderer 216 217 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 82. Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 28. 89 ignoriert. Scheinbar ohne ihr Vorgehen zu beschönigen, erzählt die Libertine den Lesern wie sie sich mit dem Jungen verabredet, ihn dabei energisch schlägt und droht daß ihr Großvater ihn kastrieren lassen werde, wenn er ihr nicht gehorche. Als er pünktlich am vereinbarten Treffpunkt mit einer Erektion erscheint, ist sie nicht erfreut. „(…) como era que aquele negrinho, aquele projeto de negrão, aliás, sabia que tinha sido chamado para sacanagem?. E se eu quisesse somente pegar passarinhos, mostrar a ele os livros e lhe ensinar algumas letras do alfabeto? (…) Então veio o estupro, um inegável estupro. (…) Chupe aqui, disse eu, que não sabia realmente que as pessoas se chupavam, foi o que posso descrever como instintivo. Falei com energia e puxei a cabeça dele para baixo pela carapinha e empurrei a cara dele para dentro de minhas pernas, a ponto de ele ter tido dificuldade em respirar. Não me incomondei, deixei que ele tomasse um pouco de ar e depois puxei a cabeça dele de novo e entrei em orgasmo nessa mesma hora e deslizei para o chão.“218 Die Beschreibung dieser Vergewaltigungsszene könnte als pornographisch gelten, werden hier doch bestehende Machtstrukturen übernommen. Möglicherweise finden manche Leser die Unterwerfung des schwarzen Jungen erregend – und zwar nicht weil die Frau dominant ist, sondern der Unterworfene eine dunkle Hautfarbe hat. Die Szene erinnert an das von Gilberto Freyre beschworene Zusammenspiel zwischen dem Sadismus der Herren und dem angeblichen Masochismus der Sklaven und wirkt ebenso verharmlosend. Denn obwohl der Junge sich damit in Lebensgefahr begibt, gefällt ihm das Spiel letztendlich und die beiden werden es noch jahrelang fortführen. Die Macht der Erzählerin beschränkt sich nicht nur auf ihren Status als Enkelin des Besitzers, sie ist auch durch ihre aggressive Sexualität mächtig. Gleichzeitig könnte dieser erotische Übergriff aber auch eine positive, männliche Phantasie sein, denn der Junge befindet sich bereits in einem Zustand der Erregung und wird von einem sehr schönen Mädchen überfallen. Solche intendiert pornographischen Beschreibungen durchziehen das ganze Buch – sie werden auch nicht in irgendeiner Form relativiert, da die Libertine ausnahmslos die einzige Erzählerin bleibt. Die pornographischen Sequenzen vermischen sich zudem mit gesellschaftlichen Tabubrüchen219, wie beispielsweise das inzestuöse Verhältnis zu ihrem Onkel. „Bem, eu não estava pensando nisso, quando tio Alfonso me sentou no colo e ficou de pau duro, eu ainda devia ter uns doze ou treze anos e o filho da puta ficou de pau duro comigo no colo, mas eu deixei. Não sei o que deu em mim, mas deixei e me mexi bastante em cima do pau dele, (...). Começou então a escravidão dele. (...) era só dizer que ia contar tudo a tia Regininha (...) que 218 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 30 f. In fast allen Gesellschaftsformen wird Inzest als sittliche Schranke anerkannt, auch wenn die Definition von Inzest in den verschiedenen Gesellschaften variieren kann. 219 90 ele ficava às portas da morte, quase apoplético. Apliquei até a tortura da gravidez nele, anunciei o atraso de umas regras, só para sacanear ele.“220 Die Libertine scheint schon in ihrer Kindheit eine ausgewachsene Frau gewesen zu sein, die instinktiv die Geheimnisse der körperlichen Erotik kennt. Wie bei dem schwarzen Jungen reagiert sie auch bei ihrem Onkel intuitiv, ihre Begabung zur Wollust ist angeboren und wird nicht gesellschaftlich geformt. Zugleich scheint sie auf den ersten Blick Vladimir Nabokovs (1899-1977) Lolita zu ähneln, doch diese Ähnlichkeit beruht nur auf dem jugendlichen Alter der Erzählerin. Die Libertine wird nicht zu einem Opfer ihres Onkels, und ihre Beziehung bleibt ohne tragische Folgen für sie selbst - nicht sie wird unter diesem Mißbrauch leiden, sondern der Onkel, den sie mit ihren Reizen und psychologischem Geschick regelrecht versklavt. Der Tabubruch des Onkels wird mit einem anderen Tabu beantwortet, mit der frühreifen Sexualität der Libertine, ein Spiel, das im Zusammenhang mit Kindesmißbrauch etwas gefährlich anmutet. Möglicherweise versucht der Autor auch den moralischen Verfall anzudeuten, den eine völlig zügellose Erotik mit sich bringen könnte. Die Erzählerin, die sich selbst als wunderschön beschreibt, weiß genau, wie sie Männer und Frauen zu verführen hat. Experimente wie die beiden Libertins der Les liaisons dangereuses hat sie dabei nicht nötig. Die Erzählerin muß keine Lehrjahre durchmachen, „nasci sabendo“221. Sie findet bei allen ihren Opfern die Schwachstelle und nutzt diese gnadenlos aus: „(…) eu sempre enloqueci os homens que queria enlouquecer, decifro todos, sei dos que gostam de entrevisões indefinidas, dos que sucumbem a um porte erguido, de todos os arquétipos que podem surgir neles, eu sei, tenho talento e estudei, aprimorei esse talento.“222 Der Autor zeichnet das Bild einer Femme fatale der niemand widerstehen kann und die viele Männer ins Unglück treibt, wie den Onkel in den Tod durch Herzversagen. Die Darstellungen der Erzählerin sind ambivalent, einerseits amüsiert sie durch ihre offenherzigen Erzählungen, andererseits führt sie andere Menschen ins Verderben: „L’image de la femme comme un être ambigu, belle, mais d’une beauté parfois mortelle, reflète l’ambivalence de l’homme envers la femme, une ambivalence „reconnue dans toutes les cultures“ selon Jean Molino. Examinons à présent comment cette double attitude d’attirance et de répugnance, de désir et peur, (…). “223 220 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 85 ff. Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 32. 222 Ibid., S. 72 f. 223 Bulver, Kathryn M., La Femme-démon - Figurations de la femme dans la littérature fantastique, 1995, S. 38. 221 91 Diese Ambivalenz zwischen Furcht und Faszination, Spaß und Sünde zieht sich durch den gesamten Roman. Im Laufe ihres Lebens verführt die Libertine unzählige Frauen und Männer, auch nachdem sie bereits verheiratet ist, da der Ehemann ihre Einstellung teilt. Gemeinsam besuchen sie Orgien, nehmen Kokain, tauschen Partner und führen eine vollkommen freie Ehe. Der Mann kennt alle Eskapaden seiner Ehefrau, die nicht nur eine inzestuöse Beziehung zu ihrem Onkel unterhielt, sondern auch zu ihrem Bruder, der wohl die große Liebe ihres Lebens war. „(...) ele tinha tudo, tudo, tudo, ele me comeu de todas as formas que ele quis, e eu também comi ele, eu adoro meu irmão, (...) ele era minha referência e meu parceiro básico, meu macho e minha fêmea, ele me deixava molhada todas as vezes que me tocava, ele anunciava que ia gozar em mim como um césar em triunfo, me elogiava antes, durante e depois, o pau dele pulsava em minha boca antes de ele gozar, (...) o único que soube ser tudo, macho, puto, fêmea, descarado, sádico, masoquista, mentiroso, verdadeiro, lindo, feio, disposto, preguiçoso, lindo, lindo, lindo, lindo, meu irmão Rodolfo“224 Die wahre, komplementäre Liebe, in der sie ihre zweite Hälfte sucht, findet die Erzählerin nur in ihrem Bruder, so als ob sie nur vereint ein vollständiges Wesen wären. Nach Elisabeth Frenzel wurde diese Form des Inzests in der Weltliteratur am häufigsten ausgearbeitet. „Am breitesten entwickelt wurde der Geschwisterinzest, der häufig mit Sympathie gehandelt wird und in dem die Suche nach einem gleichwertigen Partner ihre auf gleichen Erbfaktoren beruhende Erfüllung zu finden scheint.“225 Die liebevolle Begeisterung der Libertine für ihren Bruder weckt tatsächlich Sympathien, die vom Autor vermutlich nicht geteilt werden, denn der Bruder stirbt bei einem Autounfall. Obwohl der Autor pornographische Elemente intendiert, bleibt das Thema Sünde stets präsent, da moralische Wertungen durch den Handlungsverlauf erkennbar werden. Die größten Tabubrüche werden stets mit dem Tod der Komplizen bezahlt. Mit dem Ableben des Bruders und des Onkels sind beide Inzest-Partner der Libertine gestorben. Auch der Ehemann lebt nicht so lang wie die Libertine, was den gemeinsamen Lebensentwurf frühzeitig beendet. Inzest und Ehebruch sind nach Auffassung christlicher Moral Sünden und werden in dem Roman durch das Ableben der Beteiligten sowie der Kinderlosigkeit der Erzählerin bestraft. 224 225 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 96. Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur, 1976, S. 404. 92 8.4 Das Pornographische in A casa dos budas ditosos Der Roman ist voller pornographischer Elemente, wie die gewaltsame Verführung des schwarzen Jungen bereits zeigt. Dabei entsteht die Pornographie durch die Betonung der gesellschaftlichen Macht der weißen Libertine. Häufig wird in dem Buch aber auch die männliche Dominanz akzentuiert, eine weitere Möglichkeit um Pornographie zu erzeugen. Ein Beispiel dafür ist die Entjungferung der Erzählerin durch ihren Jura-Professor, den sie über Monate zu verführen sucht und der dem Autor João Ubaldo Ribeiro verblüffend ähnlich sieht. „Óculos de tartaruga, que ainda não tinham entrado na moda como depois, magrinho no ponto certo, bundinha fornidinha, voz bem modulada, sabia tudo de Penal e outros direitos, era educadíssimo, era da esquerda (...). Um jeito entre acanhado e sardônico, facilidade de falar bem sem afetação, um rosto expressivo e franco e, óbvio, bigode.“226 An dieser Stelle erlaubt der Autor sich wohl den kleinen Scherz, seine eigene Person im Roman auftreten zu lassen, denn auch er hat eine solche Brille, einen Schnauzbart, eine tiefe Stimme und hat ebenfalls Jura studiert. Der Professor erfüllt die Voraussetzungen, um der „deflorador“ der Erzählerin zu sein, die eine bestimmte Phantasie verfolgt, die sie aus einem Buch über sexuelle Aufklärung kennt. „E então chega o momento tão ansiado. Sem pronunciar uma palavra, ele fecha a boca da donzela com um beijo decidido entre seus bigodes másculos, insinua seus quadris, delicada mas firmamente, entre as coxas dela e dirige a glande inturgescente para o hímem então trémulo e lubrificado pelos fluidos naturais da vagina. Resoluto, ele se assegura, às vezes com a ajuda das mãos, de que está no ponto certo e então, ela dá um gemido abafado, entre a dor e o prazer da fêmea que finalmente cumpre o seu destino biológico, penetra-a com um só impulso vigoroso, abre-lhe mais as pernas, inicia um movimento de vaie-vem profundo e , finalmente, derrama-lhe nas entranhas o morno líquido vital, sem o qual ele não é nada, ela não é nada.“227 Die altmodische und euphemistische Sprache dieser Aufklärungsliteratur wirkt heutzutage lächerlich. Die Stärke des Mannes wird übermäßig betont und die Frau vor allem als biologisches (nicht denkendes) Wesen dargestellt. Interessanterweise ist dies nicht nur die Entjungferungsphantasie der Erzählerin, sondern auch deren Masturbationsphantasie. Einerseits scheint die Geschlechterhierarchie übermäßig betont zu werden, was den pornographischen Charakter dieser Beschreibung 226 227 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 64. Ibid., S. 60. 93 unterstreicht. Andererseits könnte der Autor auch diese Art der Aufklärungsliteratur ironisieren, die versucht, biologische Vorgänge euphemistisch zu beschreiben und dennoch zur Masturbations-Vorlage wird. Ein weiterer pornographischer Aspekt des Buches deutet sich in der übertriebenen Phallus-Fixierung der Erzählerin an. Ihr Leben und das der anderen Frauen kreist instinktiv um den Phallus des Mannes. Die Freundin ist „hipnotizada“ als sie das erste Mal das Geschlecht ihres Verlobten erblickt und die Erzählerin beschreibt ihre Geliebten in allen körperlichen Vorzügen, wie auch ihren Bruder. „(…) tinha um pau lindíssimo, delicado e ao mesmo tempo afirmativo e mais duro que a consciência da Alemanha, (…) umas virilhas de cheiro inebriante, (…)“228 (…)até aquele pau grossão se enfiava todo em mim – ninguém me venha com essa história, (…) de que pau pequeno não faz diferença, claro que faz, um pau bem dimensionado preenche apropriadamente a mulher e é um visual estimulante e excitante, nada desse negócio de pau pequeno.“229 Die Härte eines männlichen Geschlechts mit dem Gewissen Deutschlands zu vergleichen, ist ein sehr lustiger und satirischer Einfall. Mit solchen sprachlichen Kapriolen nähert Ubaldo Ribeiro die pornographischen Bilder des Romans einer geistigen Form der Erotik an, indem er nicht nur die Sinne sondern auch den Geist stimuliert. Die Darstellungen in A casa dos budas ditosos sind teilweise pornographisch, aber gleichzeitig auch intelligent, was zeigt, daß auch ein pornographisches Buch literarische Qualitäten ausweisen kann. Ähnlich auffällig wie die Phallus-Fixierung der Erzählerin sind auch die detailgetreuen Beschreibungen des Oralverkehrs. Mehrfach betont sie, daß Frauen die Samenflüssigkeit eines Mannes unter keinen Umständen ausspucken dürfen. „(…) é uma selvageria, um sinal de baixa extração, falta de formação, de classe, de cultura, de sofisticação. Cuspir o esperma só é admissível ou quando se quer insultar um homem ou quando se quer pô-lo no seu lugar: você pode ser bom para eu me distrair chupando seu pau, mas não é bom suficiente para eu engolir sua seiva, me recuso a devorá-lo, não dou às suas células essa intimidade com as minhas. Eu sou maluca.“230 Die Libertine philosophiert über Dinge, über die normalerweise niemand spricht und erteilt ihnen eine neue Wertigkeit. Dadurch wird die Lektüre des Buches amüsant wenn auch nicht unbedingt glaubwürdig. Daß eine Frau sich wirklich so genau mit den körperlichen Bedürfnissen des Mannes auseinandersetzt und diese sogar übernimmt, 228 Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 95. Ibid., S. 100 230 Ibid., S. 101. 229 94 ist nicht sehr wahrscheinlich. Wenn man sie jedoch als die personifizierte Wollust versteht, schließt das natürlich auch die männliche Erotik mit ein. 9. Miséria e Grandeza do amor de Benedita – Eine Parodie der Erotik Jorge Amados? Die Novelle Miséria e Grandeza do amor de Benedita erschien im Jahr 2000 zunächst nur als e-Book im Internet und wurde damit zu einem Novum auf dem brasilianischen Buchmarkt. Neu war zwar die Vermarktung des Buches, nicht jedoch die Thematik, die stark an die humoristischen Bücher Jorge Amados erinnert. Benedita ist eine „santa mulher“, die auf der Insel Itaparica lebt und mit dem promiskuitiven, schelmischen Ehemann Deoquinha Jeque Ruço verheiratet ist. Deoquinha ist ebenso verantwortungslos wie Amados komische Helden Vadinho231 und Quincas232. Wie sie stirbt er fern seiner Ehefrau in den Armen einer Anderen „em posição de combate“233. Grund für seine libidinöse Energie ist die Radioaktivität der Insel Itaparica, die dazu führt, daß Mensch und Natur in einem wahren Sinnesrausch leben. „A radioatividade possa ser talvez a maior responsável pela justificada fama da ilha de altamente favorecer a propensão pela libidinagem. (…) Se já é forte e ousada pela própria natureza, aí então se formam os melhores machos e fêmeas do globo terrestre, assim confirmando todo visitante, sem até hoje nenhuma exceção. Bem certo que outros fatores não podem ser desprezados, entre os quais a alimentação especialista na produção dos fluidos, hormônios, feromônios e demais humores responsáveis pelos centros mentais e corporais da boa cenosidade. (…) E a verdade é que a animalidade da ilha se comporta igual aos homens e mulheres e não se pode olhar para lugar nenhum da ilha, sem que não se dê o flagrante em algum bicho, miúdo ou grande, asa ou sem asa, passando a vara numa fêmea da mesma espécie, ou mesma de outra espécie (…)Porém as plantas da ilha se comportam com o mesmo vigor amoroso do homem e do animal e algumas até envergonham seus donos, a 231 aus: Amado, Jorge, Dona Flor e seus dois maridos (1966) / Vadinho genießt das Leben in vollen Zügen und betrügt seine Frau Dona Flor bei jeder Gelegenheit. Nachdem er im Karneval stirbt und seine Frau noch einmal heiratet, kehrt er als Geist zurück, um sie weiterhin erotisch zu beglücken. Dadurch hat sie zwei Ehemänner: einen für die Sicherheit und den anderen für die sinnliche Liebe. 232 aus: Amado, Jorge, A morte e a morte de Quincas Berro d´Água (1959) / Quincas hat seine Familie verlassen um als Vagabund zu leben. Als er stirbt, nehmen seine Saufkumpane die Leiche mit auf eine letzte Tour, in der Annahme Quincas würde noch leben. 233 Ribeiro, João Ubaldo, Miséria e grandeza do amor de Benedita, 2000, S. 10. 95 ponto de ter gente que não permite certos pés de pau em seus quintais ou jardins, para não dar mau exemplo às crianças (…). Umas plantas que (…) mal passam de quatro palmas de altura e já estão se exibindo mais do que os turistas do clube francês (…). Para não falar nas mangueiras, que ninguém aqui pode fazer pomar de manga raça pura, porque todos os pés fornicam com todos e promovem uma misturação descomedida, (...).“234 João Ubaldo Ribeiro entwirft ein exotisch-erotisches Paradies, in dem Menschen, Tieren und Pflanzen in einem fruchtbaren Rausch zusammenleben. Seine Sprache mit ihren langen fließenden Sätzen scheint selbst orgiastisch überzuquellen. Ubaldo Ribeiro gibt zahlreiche Beispiele für die extreme Fruchtbarkeit der Insel. Durch diese offensichtlichen Übertreibungen will der Autor vermutlich seine ironische Distanz zu dieser paradiesischen Vision andeuten. Er ironisiert seinen eigenen Text, indem er den Exotismus, der ihm so oft vorgeworfen wird, bis ins Maßlose steigert. Indem er die Pflanzen zu erotischen Subjekten macht, vermag er menschliches Verhalten über die Fauna ausdrücken, ohne sprachlich zu klischieren. Die Vorstellung eines erotischen Inselparadieses bleibt aber ein exotisches Stereotyp, selbst wenn er es auf dem Umweg über die Fauna und Flora beschwört. Es ist Ubaldos erster Roman, indem er, wenn auch parodistisch, das Bild eines erotisierten Brasiliens und vor allem Bahias entwirft, was diesem Text eine regionalistische und lokal-patriotische Färbung gibt, ohne das man ihm jedoch insgesamt als Regionalisten bezeichnen könnte: „(…) é que o brasileiro não se dá valor e o nordestino é visto com desdém, embora mal sabendo eles que nós é que desdenhamos deles (…)“235 Die paradiesischen Verhältnisse auf Itaparica gelten allerdings nicht für alle Insulaner, sondern nur für die Männer. Die Frauen müssen sich ihren Wünschen beugen, und falls sie verheiratet sind treu bleiben – eine weitere ironische Spitze des Autors. „A mulher da ilha faz tudo o que ela quer e ninguém precisa explicar a ela que o que ela quer não pode passar do limite do que o marido quer que ela queira, contando que ele cumpra a obrigação do homem. A obrigação do homem é sustentar, dar bom serviço de marido e ser respeitado pela comunidade.“ 236 Die Ehefrau Deoquinhas, Benedita, scheint eine solch ideale Ehefrau zu sein, die ihrem Mann treu ergeben ist, stets zur Kirche geht und ihm wegen seiner außerehelichen Abenteuer keine Szenen macht. Dennoch versucht Deoquinha Rücksicht auf seine Frau zu nehmen und betrüg sie „nur“, wenn sie in Salvador, fern 234 Ibid., S. 14. Ribeiro, João Ubaldo, Miséria e grandeza do amor de Benedita, 2000, S. 16. 236 Ibid., S. 23. 235 96 der Insel, zur Beichte geht. Auch für seinen illegitimen Sohn César Augusto will Deoquinha heimlich gefälschte Papiere besorgen, damit er Priester werden kann. Der örtliche Geistliche verlangt jedoch, daß Deoquinha und Benedita den Jungen adoptieren und zudem in ihr Haus aufnehmen. Damit beginnen die Irrungen und Wirrungen der Erzählung, die ähnlich absurd sind, wie die verschiedenen Tode des Quincas Berro d’Água. Deoquinha befürchtet, seine Frau könnte diesem Ansinnen nicht zustimmen und überredet ihre Schwester Cadinha ihn zu unterstützen. Für diese Hilfe muß er sie nicht nur mit Geld und Immobilien bezahlen, sondern ihr auch körperlich zu Diensten sein. Cadinha ist eine häßliche alte Jungfer, die von ihrem Verlobten nach 22 Jahren verlassen wurde und deswegen nicht nur Männer haßt, sondern auch ihre verheiratete Schwester Benedita. Sie genießt also die Macht, die sie über Deoquinha ausüben kann und zwingt ihn zu regelmäßigem Beischlaf und Liebesschwüren: „Impunha apenas duas condições, uma ditada pela dignidade, outra comandada pela caridade. A primeira era a de que ele doravante a procurasse com regularidade, pois não era uma qualquer para ser usada e abandonada como um traste, não se podia admitir situação tão desdourante. A segunda era de que, ao possuí-la, não contivesse mais o seu ardor (…) principalmente exclamando a intervalos amiudados „Leocádia Maria, meu grande amor, Leocádia, minha vida!“ No que ele, já desbaratado também concordou. Mas teve dificuladae em cumprir a missão até o fim, pois, apesar do pau-deresposta, sua ferramenta principal parecia não responder à presença desnuda e insinuante de Cadinha (…) Felizmente a fé tudo pode e uma oração fervorosa ao bom santo São Gonçalo, que sempre estendeu uma mão a quem fornica por justo motivo, o auxiliou no último momento e ele, os olhos fechados e sem cesser de gemer „Leocádia Maria, meu grande amor“, consumou operosamente a conjugação.“237 Wie so oft in den Büchern Ubaldos wirkt die beschriebene Bettszene nicht erregend, sondern komisch und grotesk. Besonders lächerlich erscheint der Opfergang Deoquinhas, da er sich als völlig überflüssig erweist. Seine gottesfürchtige Ehefrau nimmt einen Jungen, der Priester werden will, nämlich mit Freuden in ihr Haus auf. Diese Idylle wird durch die Ankunft eines deutschen Seemanns gestört der glaubt, in der besten Freundin Beneditas eine Prostituierte zu erkennen, ein Schock den die Freundin nicht überlebt. Die aufgebrachten Inselbewohner wollen den verleumderischen Ausländer lynchen, werden jedoch von Benedita aufgehalten, obwohl der Deutsche auch sie für eine Prostituierte hält. Kurz darauf erfährt Benedita von dem Tod ihres Mannes und auch hier erscheint ihre Reaktion exemplarisch. Sie 237 Ribeiro, João Ubaldo, Miséria e grandeza do amor de Benedita, 2000, S. 83 f. 97 lädt die Geliebten und alle unehelichen Kinder ihres Mannes zur Totenwache ein, was die Inselbewohner vollständig von der edlen Gesinnung und Heiligkeit Beneditas überzeugt. Nur die Schwester Cadinha durchschaut ihr doppeltes Spiel: „Era forçada a reconhecer, que grande mulher era Benedita, que mulher esperta, que mulher que sabia viver! Porque Leocádia tinha certeza de que a história do alemão era verdadeira; (…). Tanto tinha que seu olhar se moveu e ela confirmou, num dos filhos lourinhos do casal, as feições exatas do padre Nicola, o conselheiro espiritual de Benedita na Bahia. E todos os outros, tão diferentinhos entre si, só um ou outro se parecendo e assim mesmo não com Deoquinha, mas com a mãe. Pensando bem, podia até ser mais fácil achar filhos verdadeiros de Deoquinha na rua do que em casa, (…).“238 Mit diesem überraschenden Ende wird die Handlung der Novelle auf den Kopf gestellt. Benedita, die als fromme, leidende Ehefrau galt, entpuppt sich als eine lebensfrohe, durchtriebene Lebenskünstlerin, und Deoquinha, der malandro und Ehebrecher, als gehörnter Ehemann, womit sich die einleitenden Worte des Erzählers als falsch erweisen: „(…) não havendo na ilha nenhum corno homem de verdade, só os cornos mesmos que nasceram para isso, e assim mesmo a maior parte deles é de fora.“239 Der Leser wird von dieser Entwicklung völlig überrascht, da nichts auf dieses Doppelleben Beneditas hinweist, die stets nur aus der Sicht von anderen beschrieben wird, was sich schließlich als eine irrige Charakterisierung erweist. João Ubaldo Ribeiro hat mit Miséria e Grandeza do amor de Benedita ein unterhaltsames, leichtes Buch, ohne großen Anspruch geschaffen. Er setzt routiniert Ironie, Parodie und Hyperbel ein, und verwendet aus seinen Büchern bereits bekannte Motive der Volkskultur, wie das der alten Jungfer oder des malandro. Gleichzeitig ist Benedita die erste Prostituierte im Werk João Ubaldos und sie erinnert stark an Amados Tereza Batista240, aber auch an Dona Flor, die zwei Ehemänner hatte. Im Gegensatz zu Dona Flor leidet Benedita aber nur scheinbar an den Eskapaden ihres Ehemannes. Sie ist auch keine der herzensguten, aber trotzdem stigmatisierten Prostituierten, wie Jorge Amado sie gerne entwarf. Benedita verinnerlicht drei Frauenrollen, die in patriarchalen Strukturen normalerweise getrennt sind. Sie ist Heilige, Hure und Mutter in einer Person, ohne ihre Pflichten in irgendeiner Form zu vernachlässigen. Vielleicht wollte Ubaldo Ribeiro mit diesem Buch Amado parodieren, indem er ähnliche Figuren einführte, die Geschichte aber ironisch abwandelte. 238 Ibid., S. 133. Ribeiro, João Ubaldo, Miséria e grandeza do amor de Benedita, 2000, S. 22. 240 Vgl. Amado, Jorge, Tereza Batista Cansada de Guerra, 1996. 239 98 Zum ersten Mal hat João Ubaldo innerhalb eines Romans ein erotisiertes Brasilienbild entworfen, das durch den Ausgang des Buches noch verstärkt wurde denn die Frauen auf Itaparica scheinen wirklich so erotisch und fruchtbar zu sein, wie in den Naturbeschreibungen angedeutet. Gleichzeitig hat die Lebensführung Beneditas durchaus emanzipatorische Züge, da sie sich in jeder Hinsicht selbst verwirklichen kann. In Miséria e Grandeza do amor de Benedita bedient und ironisiert João Ubaldo das Klischee des erotischen Bahias gleichermaßen – in einer ambivalenten Mischung aus liebevoller Zuneigung und Spott. 10. Abschließende Betrachtungen Fragestellung Im Zuge dieser Magisterarbeit sollte untersucht werden, zu welchem Zweck und auf welche Weise João Ubaldo Ribeiro das Erotische in seinem Werk einsetzt. Die Formulierung dieser Fragestellung ergab sich aus der Annahme, daß Erotik zum Selbst- und Fremdbild Brasiliens gehört und es auf der Hand liegt, daß ein zeitgenössischer Autor dieses Klischee aufgreift. Diskussion des Erotik-Begriffs Um festzulegen welche Textstellen in Ubaldo Ribeiros Werk als erotisch zu gelten haben, wurde zunächst der Erotik-Begriff unter Berufung auf Platon, George Bataille und Sigmund Freud diskutiert. Laut Bataille unterscheidet Erotik sich von animalischer Sexualität dadurch, daß sich in ihr ein psychisches Grundbedürfnis des Menschen ausdrückt, nämlich das Streben nach Einheit, um die individuelle Einsamkeit zu überwinden. Diese Vereinigung (Kontinuität) sei stets mit Gewalt verbunden, da eine Verschmelzung nur stattfinde, wenn zuvor die „geschlossene Struktur“ des Partners zerstört werde. Weniger gewaltsam ist die Interpretation Platons, der den Eros aus einem positiven Streben nach Vereinigung erklärt, das aus einer früheren Einheit von Mann und Frau im Wesen der Androgyne, die von Zeus getrennt worden seien, herrühre. Dadurch entstehe aus dem Eros eine revolutionäre Kraft, da die Menschen mit ihrer Suche nach Gesamtheit den Willen der Götter herausforderten. Freud verwendet einen weiter 99 gefaßten Erotikbegriff, indem er alle Handlungen als erotisch definiert, die auf Lusterwerb ausgerichtet sind, um Unlust zu vermeiden. Erotik scheint sich von Sexualität vor allem durch mentale Vorgänge zu unterscheiden – wobei es sich nach Bataille dabei auch um egoistische Impulse und gewalttätige Phantasien handeln kann. Erotik ist bei Bataille nicht unbedingt ein positiver Wert, wie man aufgrund der Unterscheidung zwischen Erotik und Sexualität im normalen Sprachgebrauch annehmen könnte. Da es unmöglich schien den Begriff Erotik abschließend zu deuten, wurde zumindest jede literarische Darstellung menschlicher Sexualität als erotisch definiert. Jeder Leser muß seine Vorstellungskraft anwenden um literarische Erotik zu erfahren, was die Grundvoraussetzung der Erotik, das menschliche Denken, automatisch einschließt. Erotik in Abgrenzung von Pornographie Pornographie wurde in Anlehnung an Lúcia Castello Branco als eine Gattung definiert, die durch ihre Darstellungen bestehende Machtgefälle zwischen den Geschlechtern und Klassen bestätigt und dabei auch Entwürdigung und Leiden zur Schau stellen kann. Dadurch würden auch Texte des Marquis de Sade, die Bataille noch als eine Form der Erotik ansieht, zu Pornographie. Erotik sollte im Gegenteil fragwürdige Normen eher in Frage stellen, was der revolutionären Kraft des Eros bei Platon entspräche. Aufgrund dieser Unterscheidung sollte bei der Textanalyse vor allem darauf geachtet werden, ob die erotischen Darstellungen gesellschaftliche Hierarchien eher untermauern oder in Zweifel ziehen. Erotisches Brasilien? Um nachzuweisen daß ein erotisiertes Brasilienbild auch außerhalb der Werbung existiert, wurden ein Photoband des Engländers Christopher Pilitz, sowie Buchumschläge von Jorge Amados Gabriela, cravo e canela als Beispiele angeführt, da in beiden Fällen der sinnliche Körper im Mittelpunkt steht. Bei der Suche nach Ursachen für diese erotisierte Brasilienbetrachtung stellte sich heraus, daß dieses Klischee schon seit Jahrhunderten existiert. Pêro Vaz de Caminha hat bereits 1500 in seinem Brief an Manuel I. die Vorstellung eines erotischen Paradieses voller nackter Indianerinnen geprägt, während spätere Chronisten das Land zu einer tropischen Hölle voller Kannibalen erklärten. In beiden Fällen stand jedoch die Nacktheit der Indianer 100 im Mittelpunkt, die entweder als paradiesische Unschuld oder als höllische Unzucht interpretiert wurde. Mit Beginn der afrikanischen Sklaverei lösten Afrikanerinnen und Mulattinnen die indianischen Frauen als erotische Ideale ab, möglicherweise auch, weil sie in ihrer Körperkraft für die Sklaverei geeigneter schienen. Zudem entsprachen die Mulattinnen den Schönheitsidealen der Weißen, und konnten in ihrer Eigenschaft als Sklavinnen sexuell ausgebeutet werden, während die Indianer durch das Eingreifen der Jesuiten nicht versklavt werden durften. Dadurch wurden die Mulattinnen im Laufe der Jahrhunderte zu einem erotischen Ideal, das zum Symbol für die „Rassenmischung“ und eine vermeintlich freie Erotik Brasiliens wurde. Gilberto Freyre hat in Casa grande e senzala die positiven Aspekte der vorher pejorativ betrachteten miscigenação betont und feiert ebenso wie später Jorge Amado die sinnliche Mulattin als Ideal. Selbst Autoren die nicht explizit mulatas in ihrem Werk auftreten lassen, betonen erotische Aspekte bei der Entstehung einer brasilianischen Nation, so der Romantiker José de Alencar mit seinem Gründungsroman Iracema, wie auch Mário de Andrade mit seinem arbeitsscheuen Erotomanen Macunaíma, der von einer fast kannibalistischer Sexualgier erfüllt ist. Nicht zufällig gilt dieses Werk als der wichtigste Prosatext im Sine der Anthropophagie. Die Vorstellung einer enthemmten Erotik bildete aber nur eine Facette innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges, das auch von kirchlichen Moralvorstellungen, ausgeprägten Geschlechterrollen und rassistischen Tendenzen geprägt ist. Erotik und Identität in Viva o povo brasileiro João Ubaldo Ribeiro befaßt sich in seinem literarischen Schaffen stets mit dem eigenen Land, weshalb man annehmen durfte, daß er das Erotische in die brasilianische Identitätskonstruktion einbeziehen würde. Durch die Analyse eines Textkorpus aus seinem Gesamtwerk sollte ersichtlich werden, wie dieser einflußreiche zeitgenössische Autor die Erotik hinsichtlich der brasilianischen Selbstbetrachtung heute wertet. Wie in Kapitel vier dargestellt, erscheint der Zusammenhang zwischen Erotik und Identität besonders deutlich in Viva o povo brasileiro, einem Roman in dem sich der Autor dezidiert mit der brasilianischen Geschichte und Kultur auseinandersetzt und sich offensichtlich auf Klassiker der brasilianischen Literatur wie Iracema, Macunaíma und Casa grande e senzala bezieht. Mit der Figur der Kannibalin Vu, die 101 einen gefangenen Holländer im erotischen Sinne des Wortes comer verspeist und ihn dadurch akkulturiert, wird das Motiv der passiven Mutter Erde und des starken Kolonisators umgekehrt, wie es noch in Iracema beschrieben wurde. Der Kannibalentopos spielt offensichtlich auf modernistische Autoren wie Mário de Andrade an, die im Sinne des Manifesto Antropófago241 aus der kannibalistischen Verwertung europäischer Kultur, eine genuin brasilianische erschaffen wollten. Für eine solche Interpretation sprechen zudem Übereinstimmungen zwischen der Redeweise der ubaldischen Kannibalen und der Macunaímas, sowie die gewalterfüllten Erotikdarstellungen in beiden Werken. Gleichzeitig scheint der Autor die Idee der Anthropophagie ironisieren zu wollen, da er die Jesuiten zu unfreiwilligen Gründungsvätern dieser Tradition erkor. Das Motiv der sinnlichen Mulattin, die in der brasilianischen Literatur auch als Sinnbild Brasiliens gilt, findet sich auch in Viva o povo brasileiro in abgewandelter Form. Ubaldo Ribeiro macht Maria da Fé zu einer Symbolfigur des brasilianischen Volkes, ohne ihr jedoch eine besondere Sinnlichkeit zuzusprechen. Der Autor scheint statt dessen die Brutalität der brasilianischen miscigenação betonen zu wollen, da Maria da Fé in physischer und psychischer Hinsicht aus einer Vergewaltigung geboren wurde. Wie ihre Vorgängerin Vu, unterwirft sie ihrerseits einen Mann erotisch und macht ihn so zu einem Teil des brasilianischen Volkes, während sie ihr eigenes Selbstwertgefühl als Mulattin behauptet. Die Figur Maria da Fé erscheint als ein Gegenentwurf zu Gilberto Freyres Buch Casa grande e senzala, in dem Freyre die sexuelle Ausbeutung der Sklavinnen verharmlost und ihnen eine besondere Sinnlichkeit zugesprochen hat. Damit lag nahe, daß Ubaldo das Erotische auch kritisch einsetzen würde, beispielsweise in Mißbrauchsszenen, welche die Niedertracht des jeweiligen Täters und der Sklaverei offenlegen. Wegen der polyphonen Struktur des Romans werden solche Begebenheiten aus der Sicht von Opfern und Tätern geschildert, wobei letztere Beschreibungen teilweise pornographisch und voyeuristisch wirken. Im Gesamtkontext wurde der Roman jedoch nicht als pornographisch bewertet, da stets Opfer- und Täterstandpunkte gegenüberstehen. Erotische Liebe, die Octavio Paz mit einer doppelten Flamme vergleicht, die sich aus der Sexualität nährt, gibt es in diesem Roman nur zwischen Maria da Fé und 241 Andrade, Oswald de, „Manifesto antropófago“, in: Obras completas, Bd. 6, A utopia antropofágica, 1990. 102 Patrício, sowie Merinha und Budião. Während die körperliche Vereinigung zwischen Maria da Fé und Patrício nur angedeutet wird und damit der Phantasie des Lesers Raum gibt, betont der Erzähler im Fall von Budião und Merinha die Sehnsucht nach Verschmelzung und Einheit. Nur positive Figuren aus dem Volk scheinen liebesfähig zu sein, während die Mitglieder der Eliten das Erotische stets mit Machtmißbrauch und Gewalt verbinden. Erotische Liebe, gibt es in späteren Werken João Ubaldos nur noch zwischen Ana Clara und João Pedroso (O sorriso do lagarto), sowie möglicherweise zwischen Crescência und Iô Pepeu (O fetiço da ilha do pavão). Diese Liebesbeziehungen sind voller Widrigkeiten und enden selten glücklich. Maria da Fé und Patrício müssen ihr Leben getrennt verbringen, ebenso wie Merinha und Budião. João Pedroso, der glaubt in Ana Clara seine wahre Liebe gefunden zu haben, bezahlt diesen Ehebruch mit dem Tod, woraufhin sie den Verstand verliert. Nur die Geschichte zwischen Iô Pepeu und Crescência scheint glücklich zu enden, die der Autor allerdings so kitschig darstellt, daß er diesen Ausgang möglicherweise ironisieren will. Viva o povo brasileiro als Grundform späterer Bücher Viva o povo brasileiro scheint auch im Bezug auf die Erotik das wichtigste Buch des Autors zu sein. Hier finden sich alle Formen der Darstellungen des Erotischen, die auch in Ubaldos späterem Werk vorkommen. So steht die Vergewaltigung Vevés durch Perilo Ambrósio für eine zerstörerische Erotik, die der Autor meist Mitgliedern der Elite zuschreibt, die ihre Lust aus der Erniedrigung Schwacher ziehen. Die Wirkung dieser Szene ist ambivalent, denn der Autor enthüllt nicht nur die Heuchelei einer Gesellschaft, die Vergewaltiger als Helden feiert, sondern er bestätigt auch die herrschenden Machtverhältnisse und appelliert an den Leser als Voyeur. Dadurch gerät er in die Nähe der Pornographie. Ubaldo Ribeiros Methode, negative Figuren über ihre erotischen Verhaltensweisen zu charakterisieren, läßt sich auch in O feitiço da ilha do pavão beobachten. Dieses Vorgehen überspitzt der Autor, indem er allen Mitgliedern der bürgerlichen Elite Perversitäten zuschreibt. Die grotesk und komisch wirkenden Übertreibungen, die er dabei verwendet, wirken karnevalistisch im Sinne von Bachtin. Dafür spricht auch die Betonung der Körperlichkeit, vor allem des Erotischen, sowie die intertextuelle Ähnlichkeit mit dem erotisch-satirischen Gedicht Elixir do pajé von Bernardo Guimarães. Gleichzeitig 103 mißtraut der Autor aber der Macht des Karnevals, denn die erotischen Eskapaden der Bürger wirken nur im ersten Moment lustig, sind es bei längerem Nachdenken aber gewiß nicht. Die Verbindung zwischen Macht, Gewalt und Erotik wird besonders in Diário do Farol deutlich, und ist vielleicht deswegen das ambivalenteste Buch João Ubaldos. Mag auch die Grundhaltung des Autors seiner Figur gegenüber kritisch anmuten, so sind die gewalttätigen, voyeuristischen und damit pornographischen Szenen dennoch schwer zu ertragen. Sowohl in Diário do Farol als auch in O feitiço da ilha do pavão haben die Opfer der Gewalt keine Stimme, wodurch der pornographische Eindruck bestehen bleibt. In Diário do Farol kann man vermuten, daß der Autor, der den Roman auf Bestellung seines Verlages Nova Fronteira geschrieben hat, mit diesen Darstellungen einen Skandal verursachen wollte, wie es ihm bereits mit A casa dos budas ditosos gelungen war. Auch in dieser fiktiven Lebensbeichte überwiegen pornographische Darstellungen, die sich beispielsweise in der übermäßigen Betonung männlicher Potenz und Stärke, sowie der sexuellen Unterwerfung eines schwarzen Jungen ausdrücken. Ebenso voyeuristisch angelegt sind in der Regel Masturbationsszenen von Frauen, wie beispielsweise die von Patrícios Schwägerin in Viva o povo brasileiro. Ihre Handlungen werden ebenso detailliert beschrieben, wie die Ana Claras in O sorriso do lagarto, in dem Augenblick als sie ihren Geliebten João Pedroso erwartet. Wohingegen die autoerotischen Handlungen von Männern offensichtlich keiner genaueren Beschreibung würdig sind. Allerdings werde erotische Phantasien von Männern und Frauen gleichermaßen geschildert, da sie Aufschluß über ihre wahren erotischen Neigungen geben. Homosexuelle Figuren Die Liebe zwischen Männern scheint der Autor, vielleicht unbewußt, kritisch zu sehen – jedenfalls haben homosexuelle Figuren stets einen schlechten Charakter, wie beispielsweise Priester und Polizeichef in O feitiço da ilha do pavão, die durch ihre sexuelle Vereinigung den eigenen moralischen Grundsätzen nicht gerecht werden. Mag der Autor in diesem Fall auch eine parodistische Wirkung intendieren, so ist dies in O sorriso do lagarto und Diário do Farol nicht der Fall. Ângelo Marcos und der Profikiller Boaventura (O sorriso do lagarto) sind sehr negative Figuren, obwohl Ubaldo die gesellschaftlichen Beschränkungen betont, denen sie aufgrund ihrer 104 Neigung ausgesetzt sind. Und auch die homosexuellen Priester in Diário do Farol, die Kinder zum Geschlechtsverkehr zwingen, erwecken nicht gerade Sympathien. João Ubaldo scheint sich denselben gesellschaftlichen Moralvorstellungen zu beugen, die er sonst hinterfragt. Der Autor selbst gibt an, vor allem die Verbindung zwischen Erotik und Heuchelei aufdecken zu wollen: „ (...) a hipocrisia me irrita muito. Talvez se reflete nos meus livros. E o sexo é uma fonte de hipocrisia muito grande. Eu me lembro, esse negócio de hipocrisia me choca tanto, (...). E aí de vez em quando eu surpreendo um homosexual relutante fazendo guerra contra homosexuais, quando eu sei que ele é. Vejo, não só ele como elas também. Vejo as pessoas tomando atitudes que são aparentemente hipócritas e ai de certamente é capaz desse tipo de preocupação aparecendo nos meus romances. Mas não é intencional. Vai aparecendo.“242 Der Gesamteindruck den die Darstellungen homosexueller Männer in João Ubaldos Texten hinterlassen, bleibt dennoch ambivalent, denn sie sind nicht nur Opfer der Gesellschaft sondern eben auch Heuchler, Mörder und Frauenhasser. Frauenfiguren Auch die Frauenfiguren des Autors scheinen eine widersprüchliche Wirkung hervorzurufen. Zwar ironisiert João Ubaldo die patriarchalen Strukturen der brasilianischen Gesellschaft und entwirft starke Frauen wie Maria da Fé (Viva o povo brasileiro) oder Crescência (O feitiço da ilha do pavão). Doch bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, daß die beiden nicht nur klug und willensstark, sondern auch keusch sind und ihr Leben einer höheren Aufgabe widmen – der Mutterschaft und der Zukunft des Volkes – womit sie sich dem patriarchalen Frauenbild der Heiligen und Mutter nähern. Der Name gibt Maria da Fé (Maria vom Glauben) bereits die Aura einer Heiligen, während Crescência (Wachstum) die Mutterrolle schon im Namen trägt. Obwohl die beiden Protagonistinnen aufgrund ihrer keuschen Lebenshaltung idealisiert werden, sind sie durchaus erotisch aktiv wenn sie den richtigen Mann gefunden haben – eine erotische Selbstverwirklichung bleibt ihnen also nicht verwehrt. Gleichzeitig wirken erotisch besonders aktive Frauen in den Büchern João Ubaldos häufig bedrohlich, sie scheinen den in der Weltliteratur dämonisierten Femmes fatales zu entsprechen, die ihre Opfer ins Unglück stürzen. 242 Benzel, Caroline, Interview mit Joõo Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 113 (dieser Arbeit). 105 Die Libertine (A casa dos budas ditosos) setzt ihre Erotik ebenso gnadenlos ein wie die Sklavin Martina (Viva o povo brasileiro), die beide in der Kunst der Manipulation und Verführung geschult sind. Während die aggressive Erotik Martinas nur angedeutet wird erscheint die Libertine als Inkarnation der gefährlichen, unheilbringenden Wollust, da ihre männlichen Partner diese Ausschweifungen allesamt mit dem Leben bezahlen. Zudem ist die Libertine steril, kann also keine Mutter werden und nähert sich dadurch noch mehr der patriarchalen Vorstellung einer Hure, die Lust ohne Fortpflanzung verspricht. Die einzige Frau, die aus diesen Strukturen auszubrechen vermag, ist Benedita, die ein offizielles Leben als Heilige und Mutter führt und gleichzeitig heimlich als Prostituierte arbeitet. Vermutlich wollte João Ubaldo mit dieser überspitzten Darstellung das patriarchale Frauenbild, das in Brasilien noch zu existieren scheint, ironisieren – obwohl er es in anderen Romanen reproduziert. Diese drei genannten Typen von Frauen werden aber nicht nur durch ihr Sexualverhalten charakterisiert, sondern auch durch ihre Klassenzugehörigkeit. Vor allem Frauen der Elite sind promisk und stürzen die Männer ins Unglück, während die Frauen des Volkes monogam sind und hehre Ziele verfolgen. Populistisch? Damit dreht João Ubaldo die Sehweise Jorge Amados um, der dem Volk eine besonders freie Erotik zusprach. Die Vertreter des Volkes sind in João Ubaldos Romanen meist erotisch zurückhaltend, währen die Eliten als pervers dargestellt werden. Allerdings scheint João Ubaldo Ribeiro nach Viva o povo brasileiro dem Volk den Rücken gekehrt zu haben, da die meisten Protagonisten seiner folgenden Werke aus der oberen Mittelschicht stammen und keinen Kontakt zum einfacheren Volk unterhalten. Während der Autor in seinen Zeitungschroniken durchaus Begebenheiten des täglichen Lebens außerhalb elitärer Kreise schildert, bleibt das Volk in den nachfolgenden Romanen unberücksichtigt. Vielleicht deutet sich hier die Marktorientierung des Autors an, die ihm von manchen kritischen Literaturwissenschaftlern vorgeworfen wird. Er schreibt für die Mittelschicht über die Mittelschicht und korrupte Eliten - und erhöht den möglichen Verkaufserfolg zusätzlich mit voyeuristischen und pornografischen Szenen, wie in A casa dos budas ditosos und Diário do Farol. Beide Bücher mögen auch kritische und ironische Textstellen enthalten, doch scheinen sie in ihrer thematischen und 106 sprachlichen Gestaltung sehr auf einen Skandal ausgerichtet zu sein. Eine solche Marktorientierung würde auch der Selbsteinschätzung Ubaldos entsprechen, der sich 1987 mit Rückblick auf Viva o povo brasileiro noch als politisch engagierten Autor definierte und 1991 gegenüber dem Playboy betonte, vor allem Geld verdienen zu wollen. Nach Viva o povo brasileiro versucht der Autor nicht mehr, die brasilianische Bevölkerung positiv darzustellen, sondern kritisiert vor allem die Eliten, ohne Lösungen vorzuschlagen. Erotisches Paradies? Obwohl die sexuellen Begegnungen, die ohne Liebe zustande kommen, überwiegen, erscheint Brasilien nicht als das erotische Paradies der gängigen Klischees. Ubaldo Ribeiro zeigt die Zwänge und die daraus resultierenden Heucheleien der Gesellschaft zu genau, als das dieser Eindruck entstehen könnte. Auch Deoquinha muß in Miséria e Grandeza do amor de Benedita für seine Taten büßen, indem er von der häßlichen Schwester seiner Frau erpreßt wird. Und selbst die Libertine in A Casa dos budas ditosos ist nicht wirklich frei. Sie widmet sich zwar mit aller Kraft ihrer Lust, vermeidet dabei aber den gesellschaftlichen Skandal. Eine vollständige Libertinage scheint in Brasilien nicht möglich zu sein. Tatsächlich ist die befreiende Wirkung der Erotik im gesamten Romanwerk Ubaldo Ribeiros eher flüchtig. João Pedroso wird ermordet, Maria da Fé lebt getrennt von Patrício, Benedita ist eine heimliche Prostituierte und Iô Pepeu bindet sich schließlich doch an Crescência. Die erotische Freiheit der ubaldischen Figuren beschränkt sich auf kurze Augenblicke, sie sprengen niemals offen die bestehenden Strukturen, sondern allenfalls heimlich, ohne wirklich etwas zu verändern. Der Leser kann sich nur in Ausnahmefällen mit den Figuren identifizieren, denn ihre Geschichten sind entweder unerfreulich oder sie enthüllen eine derartige Bosheit, daß man sie nur ablehnen kann. Das Brasilien João Ubaldos ist ein Land voller pervertierter Erotik, voller Machtmißbrauch, unterdrückter Triebe und ständiger Heuchelei, kein Land in dem man leben möchte. 107 Wenn man João Ubaldo also erotischen Exotismus vorwerfen möchte, so wird Brasilien in seinen Romanen nicht zu einem erotischen Paradies, sondern zu einer Version der Hölle: „Só existe pecado ao sul do equador“.243 Interview mit João Ubaldo Ribeiro am 08.04.04 Caroline Benzel: Acha que o erotismo tem um papel importante na sua obra? João Ubaldo Ribeiro: Nunca pensei nestes termos. Nunca pensei em erotismo a não ser nos budas ditosos que foi realmente uma coisa feita para isso. Mas o resto não, nunca pensei não. C.B.: Acha que A casa dos budas ditosos é mais um romance erótico ou pornográfico? J.U.R.: Eu não sei. Ele usa pornografia mas eu não acho que seja propriamente uma obra pornográfica. Ele tem outras pretensões. Ele tem a pretensão da crítica social, a crítica de costumes. É evidente que ele usa pornografia. Eu acho que você deve dar uma olhada no programa da peça. Tem uma carta que uma moça culta me escreveu e uma crítica muito interessante na Folha de São Paulo. C.B.: Mas então acha que o livro tem um lado pornográfico ou não? J.U.R.: Eu não sei. Escrever pornografia na verdade me pareceu sempre muito difícil. Eu sempre tive um certo fascínio. Nunca gostei de pornografia realmente. Já li, especialmente quando jovem – pelo interesse sexual mesmo. Tenho 63 anos, e sou de um tempo onde a repressão era muito maior do que hoje. Não há nem comparação. Hoje é Sodom e Gomorra em relação ao que era em minha época. Então a gente lia o que podia, havia livritos e essas coisas. Mas depois de já maior nunca tive muito interesse em pornografia. Li assim um pedaço ou outro. Mas sempre achei um gênero difícil de escrever. Porque muito facilmente fica repetitivo. E é difícil dizer na terceira pessoa. Eu acho muito difícil em português. 243 Eine Abwandlung des Sprichwortes: „Não existe pecado ao sul do equador“.243 108 Tanto assim que quando eu resolvi usar recursos pornográficos nesse livrinho, eu escolhi de propósito um truque para pôr na primeira pessoa. Para evitar amardilhas como „tocou no seu sexo“, para não ter que usar essas palavras literárias que não soam bem. Então pondo na primeira pessoa era mais fácil usar o palavrão, usar linguagem que se ouve mais na rua. Mais natural digamos, mais espontânea. Mas eu usei elementos pornográficos intencionais. Não quis fazer só um romance pornográfico. Quis fazer uma coisa que tivesse mais. Não quis fazer nenhuma mensagem redutora do mundo, nem um grande livro. Quis sair da mera pornografia. Mas é evidente que tem o seu aspeto e seu conteúdo pornográfico. E tem gente que só viu a pornografia. A maioria dos leitores ao que eu saiba gostou. O livro foi um sucesso muito grande – a peça também. Mas alguns não gostaram. Eu vi gente reclamando, dizendo que era uma coisa inútil, pornográfica, suja. Enfim, sexo sempre mexe muito com as pessoas. Era natural que isso acontecesse. Ia contar uma coisa mas acabei me esquecendo e me lembrei agora. Uma vez quando estive no Canada num cocktail, num evento literário – e aí conheci uma escritora baixinha, gordinha, já uma senhora, não muito velha, mas uma senhora. Começamos uma conversa, e perguntei se era romancista. E ela disse, „eu escrevo pornografia“. Aí eu fiquei curioso, conversei com ela. E pensei, ainda vou escrever um livro pornográfico, mas não levei isso muito à sério. Nem tinha esse projecto de escrever um livro pornográfico, nem semi-pornográfico. Mas acabei de receber essa encomenda de uma editora que não era minha. E aí escrevi, tomei parte na colecção. C.B.: E porque escreveu de ponto de vista de uma mulher? J.U.R.: Não sei, realmente não sei. Veio assim. Eu aceitei a encomenda meia brasileiramente. Vou lhe explicar o que quero dizer com isso. Quem me telefonou foi um dos diretores da Objetiva, da editora que publicou Os budas ditosos. E ele me disse que estava fazendo essa coleção e que tinha pensado logo em mim. Aí disse, tudo bem. Mas pensei que era uma coisa vaga. Aí ele disse, que tinha pensado em eu fazer a preguiça. Mas recusei, que como baiano não queria saber nada de preguiça. E a única coisa que me veio a cabeça foi a luxúria. Nem sei todos os pecados mortais de cor. Talvez eu saiba, mas teria que fazer um esforço. Mas também não dei muita importância. Achei que era um projeto vago, uma dessas coisas que chamei de brasileiras, que nunca fariam, ou fariam daqui em anos. Mas eles mandaram um contrato para mim e – um adiantamento - o que é mais importante ainda. Assinei o contrato e uma semana depois me vi diante do compromisso já afirmado de fazer um livro sobre aquele assunto. E comecei a pensar do meu jeito habitual, porque não planejo muito. Começo pelo título e vou escrevendo. E nessa época sei da origem do título, que raramente eu sei. Por acaso tinham me dado um livro ruim, que se chamava História do sexo ou uma coisa assim, em inglês. E lá entre essas coisas a mulher mencionava a existência de uma tal casa, „The House o the joyous budas“. Traduzi esse título e o pus sem saber o que ia acontecer depois. E fiz essa brincadeira, que não sei porquê, foi levada muito a sério. Até ontem me fizeram essa pergunta – o livro já saía há anos. Sempre invarialmente jornalistas e o público que me encontram na rua me perguntam se é verdade que uma mulher me mandou o manuscrito. Uma óbvia brincadeira literária antiga, que se faz desde que o romance existe praticamente. Além se fazia quando o romance começou a existir 109 porque era uma coisa estranha, a existência de uma narrativa gratuita. As pessoas diziam, achei isso dentro de uma garrafa, achei numa gaveta e assim adiante. Eu fiz a brincadeira, achando que tudo o mundo ia ver que era uma brincadeira. Mas levaram à sério. É curioso, é curiosíssimo que muitas pessoas; muitas não algumas mulheres, algumas, e alguns poucos homens dizem a mim que vêm o narrador masculino por trás daquela mulher. Mas ao mesmo tempo me perguntam, foi a mulher mesmo que mandou? Se vissem que era um narrador masculino não me perguntariam. Eles viram o narrador masculino porque sabem que foi eu quem escreveu o livro. Porque a maioria das mulheres que leu o livro e me escreveu gostou. Porque esse livro teve uma repercussão extraordinário entre as mulheres. Escritor não costuma ver a reação do público, não é como ator ou um cantor, ou até um pintor que vê a reação imediato. Um escritor, o livro dele se espalha, ele às vezes nem sabe da reação de ninguém. A não ser por um crítico ou uma coisa e outra. Mas esse livro obteve um sucesso extraordinário entre as mulheres. E elas me perguntam muito isso, se foi uma mulher realmente ... Apesar de algumas dizerem que „é um homem, está na cara que é um homem. Mas foi uma mulher que lhe mandou.“ Quer dizer ... Eu acho que não parece um homem, mas, .... É porque as pessoas têm uma dificuldade de acreditar que você é capaz de escrever sobre uma coisa que nunca experimentou. Então às vezes até digo de brincadeira com os amigos, já dizia isso, no outro livro meu, no Sorriso do lagarto – não sei se você leu? O sorriso do lagarto tem cenas homossexuais fortes, tem uma cena pelo menos homossexual forte. Aí perguntavam como você escreveu aquilo. Eu digo: „treinando com os amigos.“ Treinava e chamava os amigos. Só posso responder isso. Porque se eu fosse escrever um livro - aliás já fiz cena de parto, não na primeira pessoa, mas já fiz uma cena de parto - no Viva o povo brasileiro tem uma cena de parto. Eu não posso parir, é impossível que eu para, não tenho os instrumentos fisiológicos para parir, é impossível. No entanto acho perfeitamente possível que, se tivesse na minha frente esse desafio - digamos assim - eu acho que seria capaz de descrever na primeira pessoa uma mulher tendo um filho. Talvez no máximo eu conversasse com uma mãe e perguntasse um detalhe ou outro. O que é que você sentiu? Mas talvez nem isso. Eu inventasse um jeito, não preciso parir. Assim não preciso – nunca estive numa batalha e descrevo uma batalha no Viva o povo brasileiro, a batalha Tuiuti, enfim nunca estive em nenhum desastre, nunca estive em varias situações. Mas as pessoas acham que você se inspira assim ou você – tem gente até hoje, tem na Bahia uma família é que eu não sei quem é, mas um sujeito veio me dizer escandalizado, que eu tinha contado a história dessa família. Que é um horror aquilo, que o pessoal está muito chocado comigo, que estava tudo contado ali. Eu não faço a menor ideia que família é essa, mas é assim. C.B.: Qual é para si a diferença entre pornografia e erotismo? J.U.R.: É muito difícil de dizer, não é. Existe aquela velha frase de ..., eu esqueci o nome dele, se eu procurasse na internet era capaz de achar, mas agora dá muito trabalho . Existiu um juiz da suprema corte americana que, decidindo sobre um caso de pornografia, disse que não sabia definir pornografia, mas sabia distinguir quando via. Eu sou um pouco assim, como ele. Há um limite entre pornografia e erotismo, você pode dizer o bom gosto, mas o bom gosto também é uma coisa muito relativa. Bom gosto para alguns é mau gosto para outros. Depende de cultura, depende de tanta coisa, então eu não sei qual é essa distinção. Eu tenho a impressão que no caso da minha distinção aqui, pornografia seria extremamente gratuita - ou seja, o ato sexual, o devasso, o libertino, apenas pelo ato sexual libertino - não como impulso que 110 é socialmente controlado, socialmente vigiado, socialmente policiado, socialmente valorado que eu acho que o livro reflete. Quando ela conta aquelas limitações a que ela é exposta, o fingimento que ela fez, e a própria narrativa dela que já é chocante. Porque não se fala nessas coisas, porque existe um tabu em relação a contar. Até hoje existe, nem eu nem você, nem ninguém quem a gente conhece, talvez um ou outro maluco que você conheça ou eu conheça contaria, a não ser um episódio ou outro, mas não contaria a sua vida sexual. Ninguém contaria. Então já existe esse insólito na coisa. C.B.: Acha que o erotismo pode ter uma função libertadora? J.U.R.: Pode, não. Acho erotismo parte da vida. Sexo inclusivo é base do que se considera uma ciência. Os psicanalistas consideram psicanalise uma ciência. E é uma ciência em torno de sexo. Cuja pedra basilar é o instinto sexual no sentido mais lato da palavra. Então, tanto assim que é algo que mexe com as pessoas universalmente e que tem sido objeto, ao contrário de outras coisas - há sociedades, há culturas que já celebrizavam, já de certa forma sancionaram o furto, dizem que o furto era permitido por exemplo em Esparta, contando que o ladrão não fosse descoberto, o furto era aceitado moralmente. Já houve pecados aceitados moralmente em outras culturas, mas o pecado do sexo é sempre complicado. Esse é muito básico. Qualquer cultura tem um elenco extraordinário de coisas relacionadas com sexo. Até na linguagem de todo dia. Até nas associações mais grotescas que se podem fazer. Como por exemplo, dizem, e acho que é verdade, que na Nova Inglaterra puritana nos Estado Unidos no século XVII ou talvez no começo do século XVIII as pernas de mesa, talvez nem se chamam pernas em outras línguas, mas as pernas das mesas eram cobertas por panos para disfarçar a nudez das pernas da mesa. Talvez umas das palavras para as quais mais existem eufemismos no mundo seja dinheiro. Dinheiro é dinheiro, uma certa quantia, um valor especificado, uma moeda, um pagamento, um desembolso. As pessoas têm pudor em dizer dinheiro. „Quanto dinheiro você tem para mim aí?“ É: „Você já me pode fazer o pagamento? Você tem o desembolso? Já lideram a verba? “ E assim por diante. Mas o sexo ganha para isso. E o sexo é, em certas línguas pelo menos, a maior fonte de tabuismo ou seja de expressões que não são utilizáveis na linguagem, no trato social corrente, se relacionam com sexo. Até coisas que não são realmente sexuais no sentido que envolve relações sexuais, mas envolve algo sexual. Por exemplo a expressão „bloody“ em inglês, que hoje em dia é mais liberada, mas que até hoje não é considerada uma expressão de bom gosto é „bloody“ porque tem a ver com menstruação. „Bloody“ é uma coisa carregada. C.B.: Teve que pesquisar muito para escrever A casa dos budas ditosos? J.U.R.: Não pesquisei. O que está ali saiu da minha cabeça. Não há exatamente coisas que eu li. O que eu pesquisei, mas assim muito superficialmente foram coisas mais pedestres, mais bobas. Eu fui olhar na internet coisas de homossexuais que eu não sabia direito como era, posições, para ver se não estava sendo um pouco fora da moda e tal. Aí fui ver fotos de relações homossexuais entre homens e mulheres e homens e mulheres, para ver como é que era, para ter uma ideia. Isso eu fiz, mas fiz pouco, não fiz muito. E grande parte do que tem no livro, não, só algumas das coisas, eu vivi como solteiro. Eu já fui muito mulherengo, tive muita namorada, muitas amantes, enfim tive aventuras, tive uma vida movimentada em certa época. Então certas coisas eu sei. E 111 sempre me dei bem com as mulheres, sempre tive amigas, sempre tive muito bom relacionamento com as mulheres. Eu sigo o conselho de um amigo meu que é engraçado. Eu tenho um amigo baiano, que hoje já não está tão bonito assim porque já envelheceu, mas era bonito. Mas não era por ser bonito que ele tinha sucesso com as mulheres. Porque outros bonitos não têm. Mas ele tinha tradicional sucesso com as mulheres. Ele aparecia de vez em quando com duas ou três lindas ao mesmo tempo. Lindas, amicíssimas, e ele dormia com a maioria. Uma vez eu disse a ele, há muitos anos: „Adelmo, qual é o seu segredo, deve ter alguma coisa.“ Ele disse: „Eu não tenho segredo nenhum. Mulher é igual ao homem, o meu segredo é esse. Tudo que a gente pensa, elas pensam do jeito delas. A gente só pensa sacanagem, e elas também só pensam sacanagem. É a mesma coisa. E ai converso com elas de igual para igual, no começo elas desconfiam, depois elas vêem que não estou querendo me aproveitar delas, sou apenas um amigo delas, começam a conversar comigo como se fosse um amigo qualquer, outro homem qualquer, e a maioria acaba dando para mim.“ Alguma nem dá. Mas outras dão, a maioria dá, acaba dando e acabam ir para cama. Um belo dia tomar cachaça juntos, fazer uma brincadeira, ir para uma festa, namora e daí dorme junto. E eu sempre tratei mulher igual ao homem, não sei se é por isso. Sempre tive muitas amigas mulheres. E muita coisa daí quem me disse foram mulheres. Eu digo com tanta tranquilidade no livro uma coisa que e desmentida o tempo todo, inclusive por mulheres, inclusive por especialistas, mas já não é tão desmentida como era, mas ainda continua sendo desmentido é: o tamanho do membro sexual masculino não tem a menor importância. Eu digo no livro, a personagem diz no livro que tem. Não é uma importância fundamental, básica. Mas tem. Que a mulher prefere uma coisa de tamanho adequado. Que o tamanho pequeneninho, se o sujeito for um bom sujeito, se valia a pena, não tem assim essa importância toda, não destrói nem estraga. Mas que o tamanho importa, importa. Tem seu papel. Eu digo isso, não por raciocínio meu, porque amigas minhas me disseram: „Não, não. Esse negócio de tamanho está certo, pode ser pequeneninho, mas melhor e que tem um tamanho adequado, um tamanho sério, que satisfaça.“ Se é grande e o sujeito é um débil mental um cretino um tosco, então ele fique com (Perdão da palavra) o pau grande dele, para ele mesmo. Mas se ele é um sujeito simpático, bonito, inteligente, atraente e agradável e tem pau grande melhor. Contando que não seja descomunal, uma coisa monstruosa, isso também ninguém quer. C.B.: Então acha que é um livro típico brasileiro, ou podia ser escrito em qualquer parte do mundo? J.U.R.: Não sei se podia ser escrito em todo o mundo. Acho difícil ser escrito na Algéria, no mundo muçulmano e em certas culturas. Talvez na Alemanha, onde a pornografia é muito mais sinistra do que no Brasil, muito mais envolta em segredos e escuridão, em práticas terríveis, masoquismos estranhos, sadismos estranhos, recursos estranhos. Então é uma coisa cultural. Não sei se seria. Mas acho que seria compreensível na maior parte do mundo ocidental, sim. C.B.: E o que achou da reação em Portugal? (Umas lojas não vendiam o livro) J.U.R.: Se não me engano, foram os que chamam em Portugal de „grandes superfícies“, são áreas que chamamos no Brasil de hipermercados. Dois grandes superfícies, cadeias de Portugal - até já esqueci quais foram - uma delas era até brasileira de origem, a Pão de Açúcar (que já não é brasileira) e outra, proibiram. Mas 112 não houve uma censura em Portugal, não foi o país que proibiu, inclusive isso não existe em Portugal. Foram essas lojas que proibiram. Uma medida difícil de entender porque eu fui a uma dessas lojas, e vi vários livros pornográficos, vi vídeos pornográficos, pornográficos mesmo, coisa só para ver em motel sem nenhum, como os americanos dizem „redeeming social quality“, que talvez o meu livrinho tenha. Não tem nada disso, eu vi lá. Achei que foi algum funcionário que não gosta nada de brasileiro. Sei lá. Sei que foi um benefício muito grande publicitário que eles fizeram ao livro, porque isto chamou uma atenção enorme. Houve protestos de portugueses. Tenho muitos amigos em Portugal, já morei em Portugal, já escrevi em jornais portugueses. E além de todo, os portugueses não são um povo medieval. Então muitos intelectuais portugueses, mesmo sem ser para me defender, ficaram indignados com a proibição. E houve uma reação. E essa reação despertou o interesse do público. E o livro vendeu em Portugal, proporcionalmente muito mais do que no Brasil. Mas muito mais. Tenho a impressão que venderam lá entre os 40.000 até os 70.000 exemplares. O que significa muito mais do que os 200.000 que foram vendidos no Brasil, muito mais proporcionalmente. C.B.: Falando de Viva o povo brasileiro. Nesse livro também tem cenas eróticas. Acha que um certo erotismo faz parte da formação da identidade brasileira? J.U.R.: Não sei. Acho que o erotismo faz parte da formação de qualquer povo. Processado da forma. Houve um tempo em que os romances francêses eram considerados, para usar a expressão francesa „risqués“. Houve um tempo em que se leu autores que hoje seriam perfeitamente inocentes. Como Anatole France, como Guidemot Passant, em que se notava algum erotismo. Ou até Madame Bovary – e assim por diante. Não sei, e existe o Marquês de Sade, existe uma tradição desse tipo de literatura no ocidente inteiro. C.B.: Mas voltando ao erotismo no Brasil. Quando li Viva o povo brasileiro fiquei com a ideia que contraria as ideias de Gilberto Freyre em Casa Grande e Senzala. As mulheres tem um papel muito mais ativo. J.U.R.: Não sei. Talvez seja porque sou mais amigo das mulheres e tenho uma maior identificação com elas. Gosto delas. C.B.: Acha que o riso e o erotismo estão ligados? J.U.R.: Não, necessariamente, não. Não pensei nisso não. E acho por exemplo que o erotismo do Sorriso do lagarto – que tem muito erotismo, não só homossexual como eu falei, mas heterossexual também – não tem nada de engraçado. C.B.: Mas por exemplo em O feitiço da ilha do pavão? J.U.R.: Ah esse é. Mas quis fazer um livro ... Quer dizer não quis fazer um livro, o livro saiu assim. C.B.: O nome do livro tem a ver com a Pfaueninsel em Berlim? 113 J.U.R.: Não, não. Depois é que me lembrei da Pfaueninsel. Mas não. Se tem é inconsciente. Mas quando escrevi não me lembrei de jeito nenhum. Só depois que o livro estava pronto. C.B.: Mas o pavão tem um significado especial, tipo roda de tempo, ou alguma coisa assim? J.U.R.: Não, eu não pensei assim. Agora, a posteriori é possível dizer qualquer coisa. É sempre possível, depois de o livro estar escrito, achar explicações maravilhosas, racionais e tal, que podem ser verdadeiras ou não, pode ser fundamentadas ou não, eu não sei. C.B.: Isso é sempre o perigo quando se analisa uma obra. As vezes se vê coisas nas quais o autor nem tinha pensado. J.U.R.: Isso acontece muito. C.B.: É possível que as vezes utilize o comportamento sexual das pessoas para caraterizá-las ou para fazer uma crítica social? J.U.R.: Não, às vezes, eu gosto de mexer. Porque eu realmente tenho uma, devo ter – eu nunca fui um sacerdote anti-hipocrisia, nunca fui um cruzado anti-hipocrisia, mas a hipocrisia me irrita muito. Talvez se reflete nos meus livros. E o sexo é uma fonte de hipocrisia muito grande. Eu me lembro, esse negócio de hipocrisia me choca tanto, que não esqueço de uma vez, há muitos anos aqui no Rio de Janeiro. Eu estava num restaurante fechado, tinha sido fechado por um grupo de pessoas, que ficaram lá sozinhas bebendo e fazendo isso o que vou dizer. Tinha uma moça jovem, bonita, uma jovem senhora, cheirando cocaína na minha frente. Eu não posso cheirar cocaína, mesmo se quisesse porque eu tenho uma aritmia cardíaca, e se eu cheirar posso dizer, até logo Carolina, foi um prazer, te vejo na outra incarnação e caio duro. Posso não ter nada, mas também posso ter um descompasso cardíaco que me mate. Eu estava lá com ela. E ela falando comigo, com as fileiras da cocaína na frente numa mesa. E ela falou: „Eu tenho um horror de esse negócio de cocaína de pó, não suporto esse negócio. Isso não (cheirando cocaína) não leva a nada. As pessoas cheiram esse negócio ficam conversando sobre sexo eu acho uma nojeira (cheirando cocaína).“ E eu olhei para a cara dela assim. Uma coisa louca, fazendo na minha cara e falando contra. E aí de vez em quando eu surpreendo um homossexual relutante fazendo guerra contra homossexuais, quando eu sei que ele é. Vejo, não só ele como elas também. Vejo as pessoas tomando atitudes que são aparentemente hipócritas e ai de certamente é capaz desse tipo de preocupação aparecendo nos meus romances. Mas não é intencional. Vai aparecendo. C.B.: E os padres? Muitas vezes são os piores de todos nos seus romances? J.U.R.: Às vezes são. Mas eu tenho um padre bom. Acho que tenho alguns. Mas tenho pelo menos um padre bom, no Vila Real tem. No Diário de Farol ele é só tecnicamente um padre, na realidade não é um padre. C.B.: E acha que nos seus livros tem muita amor entre as pessoas? 114 J.U.R.: Não sei. Acho que no Sorriso do Lagarto existe um caso de amor entre a Clara e o João Pedroso. Acho que no Viva o Povo Brasileiro existe amor, não só amor sexual, amor romântico entre Maria da Fé e Patrício Macário, como existe o amor de Leléu pela neta dele, que o modifica como pessoa. Eu acho que o amor existe nos meus livros. C.B.: Mas também tem muita sexualidade sem ser amor. J.U.R.: Tem, tem. C.B.: E falando de Diário de Farol, acha que existe uma relação entre sexo e poder? J.U.R.: Acho que sim. Henry Kissinger dizia que o poder é afrodisíaco. Talvez exista. Existe uma forma de, existe alguma analogia entre poder e dominação e o ato sexual. Existe realmente. Até em expressões vulgares. Como se diz em várias línguas, inclusive português, uma palavra chula: „Eu vou foder você.“ Ou seja: „Vou dominar você, vou eliminar você“. Na realidade „foder“ quer dizer o ato sexual, não quer mandar em ninguém nem dominar ninguém. Como „fuck you“ em inglês. Existe a palavra „possuir“ no sentido de ter uma relação sexual. „Ele a possuiu.“ „Eu fui dele.“ Existe, eu acho. C.B.: Você vê uma diferença entre o erotismo europeu e brasileiro? Como já disse, que na Alemanha podia ser mais sinistro .... J.U.R.: Acho que o sexo é influenciado culturalmente. Não vou dizer determinado. Imagino que certas práticas sexuais são mais comuns, imagino, mas não posso ter certeza. Porque as estatísticas sobre esse assunto são muito enganosas. Não posso dizer que a prática do canibalismo, como para-sexual, talvez seja mais comum em certas países da Europa, como na Inglaterra e a própria Alemanha. Mas não posso dizer, de repente é. Simplesmente porque aí apareceu, e aqui não aparece. Não sei. É muito comum, no Brasil é muito divulgado, por escandaloso, o número grande de país que tem relações sexuais com as filhas. Especialmente no meio rural, em áreas isoladas. Mas de repente você ouve coisas como o número enorme de abusos sexuais para filhos nos Estados Unidos ou em outras culturas. Não sei se isso é mais comum no Brasil, ou nos Estados Unidos ou na Alemanha ou na França. Ou se há lugares onde não existe. Ou existe igualmente de várias formas em toda parte, não sei. C.B.: Agora uma pergunta mais geral. Você se vê numa tradição literária junto com Jorge Amado, ou nem por isso? J.U.R. : Não, eu me vejo como um herdeiro - não de Jorge Amado, ele não tem herdeiro. Ele tem os herdeiros físicos dele, os filhos dele e descendentes deles. Mas como escritor não me vejo como herdeiro de Jorge Amado – ele é único. Eu sou herdeiro, como todo escritor, de uma tradição que me precedeu. Não fui eu quem inventou o romance. Eu continuo escrever o romance. Porquê se escreve o romance eu não sei. Desde que sou menino eu ouço e leio que o romance acabou. Não existe mais. Mas continua se escrever o romance. Houve tempo em que foi moda dizer isso, que não existia mais o romance grosso. Que o mundo de hoje não permitia mais o romanção, como Montanha Mágica, como Guerra e Paz. 115 O que se vê é um número imenso de bestsellers americanos enormes, Harry Potter e assim por diante. Nem isso, a diminuição do tamanho do livro por causa da falta de tempo da vida de hoje, nem isso acontece. Nem vai acontecer. Eu fico imaginando por exemplo, só por dar um exemplo arbitrário e extremo, porque podia achar muitos outros inclusive talvez a própria Alemanha, mas eu vou ficar na Suécia. Quando você pensa em Estocolmo, com pelo menos seis meses de escuridão, com uma televisão relativamente pobre, com entretenimento existente, tem teatro tem ópera, mas tem um limite para isso. O dia amanhece, vamos dizer as 11.00 horas e escurece as 14.00 horas. As pessoas ficam fazendo o que. Acabam lendo e entrando em melancolia. Porque morei em Berlim, que não é Estocolmo e senti a melancolia do inverno, a ausência do sol durante semanas seguidas me afetava. Eu imagino como não deve afetar quem mora lá a vida inteira. E a leitura na União Soviética antiga, a Russa hoje é tradicionalmente um país de grandes leitores. Talvez posso alegar que na União Soviética nem existia entretenimento, a não ser circo, ballet, filmes censurados, e peças censurados e livros, também censurados, mas de qualquer forma livros – e uma tradição literária de uma grandeza – tem Dostoiévski, tem Tolstoi, tem Gogot, tem esses escritores todos. Então eu acho que o romance está aqui para ficar e vai ficar. Acho eu. C.B.: Só tenho mais uma curiosidade. No Feitiço da Ilha do Pavão a Crescência fica com o Iô Pepeu no fim. É por amor ou porque quer herdeiros? J.U.R.: Eu não sei, você sabe. Eu nunca pensei nisso. Mas acho que ela se acaba rendendo um pouco a ele. Eu acho que ela acaba de certa maneira se sensibilizando à obsessão dele, que se torna uma espécie de amor. Porque ao final da conta, como podemos definir o amor? O amor para muitas pessoas não passa de um impulso egoísta. Você pode até argumentar, se for uma teórica polémica, que todo amor é uma forma de egoísmo. Pode argumentar. Claro que isso é sujeito a todo tipo de argumentação. Pode ter gente que discorde frontalmente. O amor é basicamente um dar e não tomar. Mas tem gente que só toma. Então no sentido muito lato de amor, vamos dizer, eu acho que chegou a haver amor de Crescência para Iô Pepeu no fim. Acho que ela foi seduzida pelo amor dele o pela obsessão dele por ela. C.B.: Muito obrigada. J.U.R.: Nada. 116 Bibliographie João Ubaldo Ribeiro Ribeiro, João Ubaldo, Vila Real, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1979. –, Interview mit Jorge Amado für die Zeitschrift Nova, undatiertes Manuskript aus der Biblioteca Juracyr Magalhães Junior Itaparica, wahrscheinlich 1979. –, Sargento Getúlio, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 20. Auflage, 1982. –, O sorriso do lagarto, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 5. Nachdruck, 1991. –, Ein Brasilianer in Berlin, Frankfurt a. 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