Das Erotische im Werk von João Ubaldo Ribeiro

Transcrição

Das Erotische im Werk von João Ubaldo Ribeiro
Das Erotische im Werk von João Ubaldo Ribeiro
Freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Grades einer
Magistra Artium
Eingereicht von:
Caroline Benzel
Eingereicht bei:
Freie Universität Berlin
Lateinamerikainstitut
1. Dr. Berthold Zilly
2. Prof. Dr. Víctor Farías
2
An dieser Stelle möchte ich denjenigen danken, die mich während meines Studiums
unterstützt haben. Ich danke meinen Eltern Barbara und Volker Benzel, meiner Großmutter
Vera Bodsch und meinem Patenonkel Manfred Hennig.
Estou muito agradecida à familia Weitmann que me hospedou em casa como se fizesse parte
da familia. Os meus agradecimentos também à Vera Follainde Figueiredo que me recebeu
carinhosamente no Rio e me ajudou a ordenar as minhas ideias e ao João Pedro Barboza que
me mostrou as belezas da ilha Itaparica ligando-as à obra e vida de João Ubaldo Ribeiro.
Foram igualmente importantes as indicações de João César de Castro Rocha sobre a evolução
da imagem do Brasil erotizado.
Quero ainda agradecer a João Ubaldo Ribeiro por me ter concedido uma entrevista muito
interessante e divertida.
Jamais teria coneseguido conhecer estas pessoas, se o meu professor Berthold Zilly não me
tivesse generosamente introduzido neste círculo dos amigos dele. Sem esse apoio, sem as
conversas e encontros durante o processo de criação, este trabalho seria bem diferente – para
pior. Por isso, muito obrigada professor!!!
Os meus agradecimentos ainda ao Luiz António da Souza e à Suzie Pires da Biblioteca da
Academia Brasileira de Letras pela ajuda simpática e generosa na pesquisa e às Editoras Nova
Fronteira e Objetiva por partilharem os seus clippings de jornais comigo.
And last but not least: Vielen Dank an meine unermüdlichen Korrekturleserinnen Jana Weydt,
Gitte Wöbbeking, Katrin Reinshagen und Ana Águiar!
3
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
S. 4
1.
S. 7
João Ubaldo Ribeiro, ein umstrittener Interpret Brasiliens
2.
Eine Diskussion des Erotikbegriffs
2.1 Was ist Erotik?
2.2 Erotik versus Pornographie
S. 13
S. 13
S. 18
3.
S. 20
Brasilien, Land der Erotik?
4.
Identitätstiftende Erotik in Viva o povo brasileiro
4.1 Literarischer und erotischer Kannibalismus
4.2 Die Mulattin als Ergebnis der Vergewaltigung
4.3 Die Mulattin als aktiv Handelnde
4.3.1 Maria da Fé: eine Amazone mit erotischen Bedürfnissen
4.3.2 Die erotische Macht der Sklavin
4.4 Der kolonialisierte Mulatte
S.
S.
S.
S.
S.
S.
S.
29
30
35
40
40
44
46
5.
Erotik als Gesellschaftskritik
5.1 Die Perversionen der Mächtigen in O feitiço da ilha do pavão
5.2 Karnevalisierte Erotik
S. 49
S. 49
S. 54
6.
6.1
Die Erotik des Bösen
Die Macht gesellschaftlicher Zwänge –
Homosexualität in O sorriso do lagarto
6.2 Die Erotik der Zerstörung in Diário do Farol
S. 60
S. 61
7.
Erotik der Körper und der Herzen
7.1 Verwandte Seelen
7.2 Happy End für die Liebe
7.3 Tragische Liebe
7.4 Autoerotik
S.
S.
S.
S.
S.
72
73
75
79
80
8.
8.1
8.2
8.3
8.4
Wollust – Sünde oder pornographisches Motiv?
Das Erotische als Verkaufsstrategie?
Die eingeschränkte Libertinage
Die ambivalente Macht der Libertine
Das Pornographische in A casa dos budas ditosos
S.
S.
S.
S.
S.
82
83
84
88
91
9.
Miséria e Grandeza do amor de Benedita –
Eine Parodie der Erotik Jorge Amados?
S. 94
10.
Abschließende Betrachtung
S. 98
S. 66
Interview mit João Ubaldo Ribeiro
S. 107
Bibliographie
S. 116
4
Einleitung
Das Erotische ist schon seit dem 16. Jahrhundert mit dem Bild Brasiliens verbunden
und wurde zu einem Teil der brasilianischen Selbstbetrachtung. Die Analyse des
Werkes eines einflußreichen zeitgenössischen Autors, wie João Ubaldo Ribeiro, der
sich intensiv mit dem Selbstverständnis Brasiliens beschäftigt, kann zeigen, welche
Bedeutung Erotik und Sexualität innerhalb des Identitätsdiskurses heute beigemessen
wird. Bei der Diskussion dieser Frage sollen Texte anderer brasilianischer Autoren,
sowie soziologische und kulturhistorische Forschungen hinzugezogen werden. Danach
wird untersucht, in welchem Verhältnis Ubaldo Ribeiros Bücher zu gängigen
Interpretationen und Strömungen stehen. Zudem muß beachtet werden, daß der Autor
innerhalb der brasilianischen Literaturwissenschaft umstritten ist, da ihm von einigen
Kritikern eine zu starke Marktorientierung vorgeworfen wird. Im Zuge dieser Arbeit
soll deshalb auch auf die Frage eingegangen werden, ob der Autor literarische Erotik
möglicherweise verwendet, um den Verkaufserfolg seiner Bücher zu steigern.
In meiner Magisterarbeit möchte ich untersuchen, auf welche Weise und zu
welchem Zweck João Ubaldo Ribeiro das Erotische einsetzt. Dafür werden
repräsentative Textstellen aus Viva o povo brasileiro (1984), O feitiço da Ilha do
Pavão (1997), Diário do Farol (2002), A casa dos budas ditosos (1999), O sorriso do
lagarto (1989) und Miséria e Grandeza do amor de Benedita (2000) analysiert. Die
frühen Romane, vor Viva o povo brasileiro werde ich nicht einbeziehen, da in ihnen
das Thema Erotik zwar vorhanden ist, aber noch nicht dominiert. Zudem würde deren
Analyse den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Aus denselben arbeitstechnischen
Gründen bleiben crônicas (Kolumnen) und Kurzgeschichten des Autors unerwähnt.
Die Erkenntnisse dieser Arbeit basieren nicht nur auf dem Studium und der
Analyse von Primär- und Sekundärliteratur, sondern auch auf einer Forschungsreise
nach Brasilien. Während der Aufenthalte in Rio de Janeiro, São Paulo, Salvador da
Bahia und auf Itaparica, konnte ich in zahlreichen Bibliotheken forschen, und meine
Ansätze mit brasilianischen Literaturwissenschaftlern diskutieren. Aufschlußreich war
auch das Interview, das der Autor mir freundlicherweise gewährte und das im Anhang
dieser Arbeit abgedruckt ist.
5
Im ersten Kapitel wird zunächst der Autor und sein Werk vorgestellt sowie darzulegen
versucht, warum der einst politische Schriftsteller heute bei manchen Kritikern als
Bestsellerautor verpönt ist.
Im zweiten Kapitel soll der Begriff Erotik in Abgrenzung zu Sexualität und
Pornographie diskutiert und eine brauchbare Definition für die vorliegende Arbeit
vorgeschlagen werden. Danach werde ich im dritten Kapitel die Art und Weise
erörtern, wie mit diesem Thema in Brasilien umgegangen wird und dabei vor allem
auf brasilianische Literatur und Bilddarstellungen über Brasilien eingehen.
Viva o povo brasileiro ist der Roman Ubaldo Ribeiros, in dem er sich am
dezidiertesten mit der brasilianischen Geschichte und der nationalen Selbstbetrachtung
befaßt. Im vierten Kapitel soll deshalb das Erotische in diesen Roman vor allem im
Bezug auf bekannte Motive der brasilianischen Identitätskonstruktion untersucht
werden, wie den Kannibalen, die Mulattin und den Mulatten.
Bei der Analyse von Viva o povo brasileiro stellt sich heraus, daß der Autor Erotik
auch in einer kritischen Funktion einsetzt, mit der gesellschaftliche Mißstände und
Charakterfehler der Figuren aufgedeckt werden können. Die gesellschaftskritische
Intention João Ubaldos scheint sich auch in anderen Romanen fortzusetzen. Im fünften
Kapitel wird deshalb geprüft, inwiefern er mit dem Erotischen in O feitiço da ilha do
pavão ähnliche Ziele verfolgt. Der Autor scheint sich bei der Darstellung von Erotik
auf perverse Praktiken zu konzentrieren, die in den Romanen O sorriso do lagarto und
Diário do Farol besonders schockierend erscheinen.
Im sechsten Kapitel werde ich deswegen zu klären versuchen, zu welchem Zweck
João Ubaldo diese Formen der Erotik einsetzt und ob die Grenzen der Pornographie in
diesen Büchern bereits überschritten sind. Bei der Lektüre des ubaldischen Werkes
scheint die körperliche Erotik ohne Liebesimpuls zu überwiegen. Im siebten Kapitel
soll daher der Versuch unternommen werden, die Liebesgeschichten aus Viva o povo
brasileiro, O feitiço da ilha do pavão und O sorriso do lagarto in ihrer Wirkung zu
erklären. Dabei wird auch die Autoerotik mancher Figuren betrachtet, da in deren
Phantasie der Liebespartner anwesend sein kann. Im achten Kapitel soll der als
pornographisch intendierte Roman A casa dos budas ditosos analysiert werden, um
festzustellen ob nach der getroffenen Definition tatsächlich pornographische Elemente
vorhanden sind. Zudem soll nach Hinweisen gesucht werden, die auf eine besondere
Marktorientierung des Autors in diesem Roman schließen lassen. Da das Buch
innerhalb einer Serie über die sieben Todsünden entstand, versuche ich
6
herauszufinden, ob das Erotische in diesem Roman besonders negativ bewertet
erscheint, oder doch eine befreiende Funktion haben könnte. Da die brasilianische
Kritik João Ubaldos Literatur mit dem Werk von Jorge Amado in Zusammenhang
bringt, wird im neunten Kapitel das Erotische des Romans Miséria e Grandeza do
amor de Benedita vor allem im Hinblick auf „motivos amadianos“ betrachtet. Im
zehnten Kapitel sollen die Erkenntnisse dieser Arbeit zusammengefaßt werden.
7
1.João Ubaldo Ribeiro, ein umstrittener Interpret Brasiliens
João Ubaldo Ribeiro (1941- ) gilt als einer der wichtigsten brasilianischen
Schriftsteller der Gegenwart, dessen Bücher im In- und Ausland hohe Auflagen
erzielen.1 Der aus Bahia stammende Autor wurde 1993 in die Academia Brasileira de
Letras aufgenommen, nachdem ihn sein Freund und bahianischer Landsmann Jorge
Amado (1912-2001) vorgeschlagen hatte. In Brasilien ist João Ubaldo Ribeiro jedoch
nicht nur als Literat bekannt, sondern auch als Journalist, der jeden Sonntag crônicas
in den Zeitungen O Globo und Estado de São Paulo veröffentlicht, weshalb er und
sein Werk einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind. Zudem wurden einige seiner
Romane fürs Fernsehen und Kino adaptiert.2
Als Höhepunkte seiner schriftstellerischen Karriere gelten die während der
Militärdiktatur (1964-1985) veröffentlichte Romane Sargento Getúlio (1971) und
Viva o povo brasileiro (1984). Für beide Bücher erhielt er im Erscheinungsjahr den
Prêmio Jabutí da Câmara Brasileira do Livro als bester Romanautor des Jahres.
Auch Ubaldo Ribeiro scheint diese beiden Bücher besonders zu schätzen, da es die
einzigen sind, die er selbst ins Englische übersetzt hat. Während der Militärdiktatur
erschien auch der Roman O setembro não tem sentido (1968) über die intellektuellen
Probleme des jungen Künstlers, sowie Vila Real (1979), der vom Überlebenskampf
der Bauern des Sertão handelt. In dieser Zeit betrachtet João Ubaldo sich als politisch
engagierten Autoren, wie er rückblickend (1987) in einem Interview erklärt.
„ (...) je n’ai jamais eu de vocation de militant et j’aurais fait un détestable
guérillero. Mais, en même temps, ce que j’écrivais était résolument très
orienté. Je pensais que je pouvais changer le monde, moi et tous mes amis de
ma génération,(...). Nous mêlions cynisme et engagement. “ 3
Gleichzeitig sind die ersten drei Romane Setembro não tem sentido, Sargento Getúlio
und Vila Real stark autobiographisch geprägt, sie sind eine „ sorte d’autobiographie
fantasmagorique“4, indem der Autor vor allem seine Kindheit in Sergipe und die
Position seines Vaters als Polizeichef verarbeitet.
1
Die Bücher Ubaldo Ribeiros wurden in folgende Sprachen übersetzt: Deutsch, Dänisch, Englisch, Finnisch,
Französisch, Hebräisch, Holländisch, Italienisch, Norwegisch, Russisch, Slowenisch, Schwedisch, Spanisch,
Ungarisch.
2
TV: O santo que não acreditava em Deus (Rede Globo, 1993), A maldita (Rede Globo, 1995), O sorriso do
lagarto (Rede Globo, 1991), Danada de sabida (Rede Globo, 1994), O poder da arte e da palavra (Rede
Globo, 1994)
Kino: Sargento Getúlio (1983 mit Lima Duarte in der Hauptrolle)
3
Raillard, Alice, „Je suis le résultat d’une maturation”, in: La quinzaine littéraire, 1987, S.23.
4
Ibid., S.23.
8
In Viva o povo brasileiro versucht der Autor sich an einer Deutung der brasilianischen
Geschichte und der nationalen Selbstbetrachtung.
„Il me semble être le résultat d’une maturation. Je ne pense plus que je vais
changer le monde, mais que je vais contribuer à ce changement en
communiquant ma prise de conscience de la réalité brésilienne. Je ne
considère plus le livre comme … un fusil, mais comme une base sur laquelle
édifier quelque chose de nouveau ; comme une contribution à la connaissance
que nous prenons de nous-mêmes, en tant que Brésiliens et en tant que
personnes. Je ne pense plus uniquement en termes de Brésil, je pense au
monde, bien que je pense avant tout en termes brésiliens. “5
Der Blickwinkel des Autors hat sich vergrößert – die Schauplätze seiner Jugend
bleiben präsent, doch integriert er sie jetzt in einen gesamt-brasilianischen Kontext.
João Ubaldo behält seine kritische Grundhaltung gegenüber der herrschenden Klasse
Brasiliens, bemüht sich aber gleichzeitig um eine positive Affirmation der
brasilianischen Identität6, indem er denen eine Stimme gibt, die in der offiziellen
Geschichtsschreibung ignoriert werden, nämlich den Sklaven und Armen.
Indem der Autor die Standpunkte von Unterdrückern und Unterdrückten ironisch
gegenübergestellt, weist er auf den Leitsatz des Romans hin, „Não existem fatos, só
existem histórias.“7 Auch im Roman O feitiço da ilha do pavão (1997), der dreizehn
Jahre später veröffentlicht wurde, geht es um die Veränderung scheinbarer Tatsachen,
wenn einzelne Figuren die Zukunft der Pfaueninsel magisch verändern können.
Auffällig an beiden Romanen sind der ironische Erzählstil und die sehr offenherzig
beschriebenen erotischen Szenen. Sexualität und Erotik nehmen einen wichtigen Platz
im gesamten Werk des Autors ein: „I was always fascinated by the idea of writing a
pornographic book with some literary quality. This is a very difficult genre.“8
Eben diesen Versuch unternimmt Ubaldo Ribeiro mit dem Roman A Casa dos budas
ditosos, der in Portugal einen derartigen Skandal auslöste, daß zwei Supermarktketten
den Verkauf verweigerten.
5
Raillard, Alice, „Je suis le résultat d’une maturation”, in: La quinzaine littéraire, 1987, S.23.
„Kulturelle Identität, Bezeichnung für das gefühlsbeladene Selbstverständnis eines Individuums oder einer
sozialen Einheit, einem bestimmten unverwechselbaren kulturellen Milieu anzugehören, das sich in
gesellschaftlich-historisch erworbenen Eigenheiten wie Sprache, Werten, Sitten und Bräuchen und ähnlichem
von anderen Kollektiven unterscheidet. Im 20. Jahrhundert ist der Begriff der kulturellen Identität eng
verbunden mit den politischen Bestrebungen ethnischer Minderheiten in Europa, Asien und Nordamerika oder
ganzer Bevölkerungen in Afrika, Asien und Lateinamerika, sich von der kulturellen Bevormundung durch die
europäisch geprägten westlichen Kulturen zu befreien.“ In: Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional
2003.
7
Epigraph zu Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 7.
8
„Porno with redeeming value” in: Brazzil, April 1999, Internet.
6
9
Das Buch ist die fiktive Lebensbeichte einer Frau aus Bahia, die ihr Leben nur ihrer
erotischen Selbstverwirklichung gewidmet hat, und entstand 1999 als Teil einer Serie
über die sieben Todsünden. Schockierend wirkte auch der Roman Diário do Farol
(2002), der von einem Priester handelt, der nach schrecklichen Mißhandlungen in der
Kindheit seine Existenz dem Bösen verschrieben hat. Auch in O sorriso do lagarto
(1989) steht „das Böse“ thematisch im Mittelpunkt. Ein alkoholkranker Biologe
kommt einer Gentechnik-Testreihe auf die Spur, in der Menschen und Tiere gekreuzt
werden. „Das Böse“ manifestiert sich hier in skrupellosen Vertretern der
brasilianischen
Mittelschicht,
die
mittellose
Frauen
zu
Versuchszwecken
mißbrauchen.
Die Themen des ubaldischen Werkes sind äußerst vielfältig und haben doch die
Gemeinsamkeit, daß der Blick des Autors stets auf Brasilien gerichtet ist – keine
Selbstverständlichkeit bei einem so weitgereisten Mann. Selbst den Berlinaufenthalt
während
der
Wiedervereinigung
nutzte
er
später
kaum
literarisch.
Seine
schriftstellerische Auseinandersetzung mit Deutschland beschränkt sich auf die in der
Frankfurter Rundschau veröffentlichten Kolumnen9 und Anekdoten über deutsche
Verhaltensweisen.10 João Ubaldo Ribeiro interpretiert Brasilien nicht nur auf die
unterschiedlichsten Arten, sondern erfindet es immer wieder neu.
Die Betonung der Erotik, die Ubaldo Ribeiro selten euphemistisch sondern meist sehr
deutlich darstellt, wird ihm von manchen Kritikern als Exotismus11 angelastet.
„Existe um tipo de bestseller brasileiro para exportação, cuja fórmula básica
está na ambientação histórica e regionalista, onde o líbido aflora, mais forte
do que o poder e a religião, sobretudo nas mulheres (...). João Ubaldo Ribeiro
(...) nos dá um típico representante dessa literatura made for gringo, (...), com
paisagens exuberantes, costumes exóticos e tipos femininos calientes “12
Besonders Literaturwissenschaftler aus São Paulo und Rio de Janeiro werfen ihm vor,
Bestseller zu produzieren, deren literarischer Wert zweifelhaft ist. So wird er als ein
wenig origineller Nachfolger von Jorge Amado gehandelt, der ein exotisches
Brasilienbild produziert, um im Ausland Erfolg zu haben.13
9
Zusammengestellt in: Ribeiro, João Ubaldo, Ein Brasilianer in Berlin, 1994.
besonders auffallend in: Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 2000².
11
Exotismus ist eine Grundhaltung, die das Fremde als besonders positiv auszeichnet und Probleme
ausklammert. Vor allem zivilisationsmüde Europäer erliegen der Anziehung des Exotischen.
Vgl. Brockhaus – Die Enzyklopädie, Band 7, 1998, S. 23 f.
12
Monte, Alfredo, „João Ubaldo Ribeiro faz obra para estrangeiros”, in: A Tribuna, 1998.
13
Im Zuge meiner Recherchen wurde ich vor allem in den Universitäten von Rio de Janeiro und São Paulo mit
dem Vorurteil konfrontiert, daß João Ubaldo kein ernstzunehmender Schriftsteller sei, der Brasilien exotisiere,
von seinem Verlag gekauft worden sei und seit Sargento Getúlio kein gutes Buch mehr geschrieben habe. An der
Universidade de São Paulo fand ich nur eine Magisterarbeit über João Ubaldo Ribeiro.
10
10
Der Vergleich mit Jorge Amado erscheint durchaus berechtigt, auch wenn João
Ubaldo das stets abstreitet: „(...) como escritor não me vejo como herdeiro de Jorge
Amado - ele é único.”14 Beide Autoren sind literarische Populisten15, die das einfache
Volk und dessen Werte schätzen und gleichzeitig die Korruption und den moralischen
Verfall der herrschenden Klassen angreifen. Beide verwenden populäre Liedtexte,
Gedichte, Gebete und Rezepte, um die Volkskultur in ihren Romanen aufleben zu
lassen.
Im Gegensatz zu Jorge Amado ist João Ubaldo Ribeiro jedoch kein
Romantiker. Er schreibt zwar auch über exotische Schauplätze, sinnliche Frauen und
erotische Verwicklungen, doch bemüht er sich dabei stets um ironische Distanz.
Die Novelle Miséria e Grandeza do amor de Benedita (2000), die von dem
malandro16 Deoquinha und dessen Ehefrau handelt, erinnert zwar sehr an Amados
Romane Dona Flor e seus dois maridos (1966) oder A morte e a morte de Quincas
Berro d’água (1959), ist in der Grundhaltung des Autors jedoch spöttischer. Wenn
Ubaldo Ribeiro ein Nachfolger Jorge Amados sein sollte, dann vor allem im Bezug
auf dessen zweite Phase, die 1958 mit Gabriela, Cravo e Canela beginnt und in der
Amado den Humor entdeckt. Wenn João Ubaldo Ribeiro abstreitet ein Nachfolger
Amados zu sein, dann entweder aus Bescheidenheit, oder aber aus Gründen der
Eitelkeit. Schriftsteller und Dichter wollen originell sein und denken ungern über
fremde Einflüsse auf ihr Werk nach.
„To be enslaved by any precursor’s system, (…), is to be inhibited from
creativity by an obsessive reasoning and comparing, presumably of one’s own
works to the precursor’s. Poetic influence is thus a disease of selfconsciousness; (…)“17
Daß es Verbindungen und Übereinstimmungen zwischen dem literarischen Schaffen
der beiden Autoren gibt, ist eindeutig, auch wenn man die Auswirkungen dieses
gegenseitigen Einflusses noch genauer untersuchen müßte. Dafür spricht auch, daß
die Schriftsteller befreundet waren und auch privat über Literatur und Politik
diskutierten.18 Halten manche Kritiker den literarischen Populismus Amados19 und
14
Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 114 (dieser Arbeit).
„Im Populismus wird das Volk als Beispiel vorgeführt, mit einer Tendenz zur Mythisierung dargestellt,
einhergehend mit der Aufwertung der Arbeit und der heimatlichen Verwurzelung.“ In: Hess, Rainer:
Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten, 1989, S. 332.
16
Der malandro ist ein brasilianischer Schelm, der bei den Frauen beliebt ist und sich häufig von ihnen aushalten
läßt. Er vermeidet Arbeit und mogelt sich nicht selten mit krimineller Energie durchs Leben.
17
Bloom, Harold, The Anxiety of Influence, 1973, S. 29.
18
Vgl. zur Freundschaft der beiden: Ribeiro, João Ubaldo, Interview mit Jorge Amado, wahrscheinlich 1979.
In der Fundação da Casa Jorge Amado in Salvador gibt es einen Briefwechsel zwischen den beiden Autoren,
der jedoch der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich gemacht wurde.
19
Vgl. zum Populismus bei Amado: Galvão, Walnice Nogueira, Saco de Gatos, 1976.
15
11
Ubaldo Ribeiros für verwerflich, so wird João Ubaldo aber auch deswegen kritisiert,
weil er aus seinem Drang Geld zu verdienen keinen Hehl macht.
„Ora, eu escrevo por dinheiro. Felizmente, estou em boa companhia: Balzac,
Dickens, Faulkner, Dostoiévsky, todos eles eram profissionais. Neste caso,
somos uns mercenários. Umberto Eco diz que alguns escritores aspiram a
seguir o gosto popular, enquanto outros aspiram a criar seu próprio público.
Eu, com modéstia, coloco-me no segundo grupo. Ou seja, não quero curvar
minha espinha dorsal para seguir uma trilha popularesca, como uma
prostituta. Quero, é viver do meu trabalho, vendendo os meus livros, como
tenho feito até hoje, (…).“20
Es ist sicher legitim, diese Selbsteinschätzung des Autors vor allem mit Blick auf
Bestseller wie Diário do Farol und A casa dos budas ditosos anzuzweifeln, da deren
skandalöse Inhalte mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Verkaufserfolg abzielten.
Beide Bücher wurden von Verlagen in Auftrag gegeben und bei Nova Fronteira hat
Ubaldo Ribeiro inzwischen einen Exklusivvertrag bis 2010. Damit hat sich die
Zielsetzung des Autors möglicherweise geändert.
Ohne die direkte Bedrohung der Grundfreiheiten durch die Militärdiktatur
entwickelte er sich vom engagierten Schriftsteller immer mehr zum professionellen
Schreiber, der nicht aus einem inneren Drang heraus schafft, sondern um Geld zu
verdienen. Schreiben ist nicht mehr künstlerische Berufung, sondern ein Beruf. Was
jedoch nicht bedeutet, daß João Ubaldo seine sozialkritische Grundhaltung aufgegeben
hätte. Diese zeigt sich beispielsweise in der Selbstdarstellung des Autors, der sich dem
Volk stärker verbunden fühlt als den Eliten und sich in seinen crônicas und in
Interviews als einfachen Menschen präsentiert, der instinktiv schreibt. Tatsächlich
kommt er jedoch aus der oberen Mittelschicht, ist hoch gebildet und hat Jura,
Politologie und Verwaltungswissenschaften studiert. Sein Auftreten als Mann des
Volkes, „que não tem cara de escritor“21 der meist in Bermudas und mit Sandalen
herumläuft, ist vielleicht auch als Protesthaltung gegen die eigene Herkunft zu
erklären. João Ubaldo kann die Eliten Brasiliens in seinen Büchern so gelungen
kritisieren und karikieren, weil er sie genau kennt.
Geboren wurde der Autor 1941 auf der Insel Itaparica in eine wohlhabende und
kulturell interessierte Familie Der Vater Manoel Ribeiro, ein bekannter Jurist und
Polizeichef von Sergipe, maß der Ausbildung dieses erstgeborenen Sohnes besonderes
Gewicht bei, wobei er recht krude Erziehungsmethoden angewandt haben soll. Nicht
20
21
„Playboy entrevista João Ubaldo Ribeiro”, in: Playboy, April 1991, S.22.
Coutinho, Wilson, João Ubaldo Ribeiro, 1998, S.16.
12
unbedingt freiwillig las der junge João Ubaldo bereits im Alter von zehn Jahren
Homer und übersetzte portugiesische Texte ins Französische. In den Ferien schrieb er
Predigten des Padre Vieira ab und las Camões. Zur Lektüre seiner Jugend gehörten
zudem Montaigne, Rabelais, Shakespeare, Dostojewski und Joyce. Schon aufgrund
dieser klassischen Bildung wäre es sicherlich unpassend, João Ubaldo „nur“ als
Nachfolger Amados zu sehen. Möglicherweise liegt die Bandbreite der ubaldischen
Themen nicht an vermeintlichen Vorgaben seines Verlages, sondern an den vielen
literarischen Anregungen, die der Autor schon früh aufnahm.
João Ubaldo Ribeiro sieht sich selbst nicht in einer bestimmten literarischen
Tradition, erkennt aber die Einflüsse anderer Schriftsteller an. „Eu sou herdeiro, como
todo escritor, de uma tradição que me precedeu. Não fui eu quem inventou o
romance.”22 Zudem ist der Wahl-carioca23 ein Mann mit vielen unterschiedlichen
Interessen und einem abwechslungsreichen Lebenslauf. Ubaldo Ribeiro hat mehrere
Jahre im Ausland gelebt (USA, Portugal, Deutschland), Jura, Politologie und
Verwaltungswissenschaften studiert, die Militärdiktatur miterlebt, als Journalist
gearbeitet und an der Universität von Salvador (UFBA) Politologie unterrichtet.
Zudem ist er ein ausgewiesener Hobby-Biologe, der sogar schon ein Bakterium
entdecken konnte.
„Tenho interesses variegados sobre a vida em geral, o que leva muitos a
dizerem que meus livros são completamente diferentes entre si. Entretanto,
acho que as preocupações básicas são as mesmas. (…) Religiosas, humanistas
…Sei lá, preocupações com o destino da humanidade, com a injustiça, com a
discriminação, coisas assim.“ 24
Die charakteristischen Merkmale, die sich wie ein roter Faden durch das Werk
Ubaldos ziehen, scheinen also das sozialkritische Engagement, der Humor, die
Beschäftigung mit der brasilianischen Identität - und die erotischen Szenen zu sein.
22
Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 114 (dieser Arbeit).
Bewohner von Rio de Janeiro
24
„Playboy entrevista João Ubaldo Ribeiro”, in: Playboy, April 1991, S. 109.
23
13
2. Eine Diskussion des Erotikbegriffs
Bevor das Erotische im Werk Ubaldos analysiert wird, soll zunächst der Begriff Erotik
diskutiert und gegenüber der Pornographie abgegrenzt werden. Da sich schon die
griechische Mythologie mit diesem menschlichen Bedürfnis befaßt, wird zunächst
eine Interpretation des antiken Philosophen Platon (428-347 v. Chr.) wiedergegeben.
Im Anschluß werden die Annahmen des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund
Freud (1856-1939), dargelegt, da dessen Theorien über die menschliche Psyche und
Sexualität das Denken des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert haben.
Auch der französische Denker Georges Bataille (1897-1962) kann sich diesem
Einfluß nicht entziehen. Seine gewaltsame Interpretation der Erotik wird im
nachfolgenden Kapitel beleuchtet. Erotik ist aber nicht nur eine individuelle
Lebenserfahrung,
sondern
auch
Gegenstand
künstlerischer
und
literarischer
Betrachtungen. Daher soll versucht werden, einander abgrenzende Definitionen für
Pornographie und Erotik aufzustellen, an Hand derer sich die Romane Ubaldo
Ribeiros theoretisch fundiert interpretieren lassen.
2.1 Was ist Erotik?
Der Begriff Erotik kommt von Eros, dem griechische Gott der sinnlichen Liebe, der in
der frühen Mythologie (ab 2000 v.Chr.) als eine der Urkräfte der Natur, Sohn des
Chaos und Verkörperung der Harmonie im Universum galt, während er später als
leidenschaftlicher Sohn der Liebesgöttin Aphrodite angesehen wurde.
Der Philosoph Platon läßt im Gastmahl25 Aristophanes die Entstehung dieses
Liebesgottes erklären: In vergangenen Zeiten soll es drei Arten von Menschen
gegeben haben, Männer, Frauen und Androgyne, die beide Geschlechter in sich
vereinten. Als sie in ihrem Größenwahn die Götter herausforderten, trennte Zeus sie
zur Strafe in zwei Geschlechter. Seitdem suchen diese getrennten Androgyne, also die
heutigen Menschen, ihre passende Hälfte und umarmen sich in ihrem verzweifelten
Wunsch, wieder vereint zu sein. Der Eros entstand nach Platon also aus der Suche
nach körperlicher und geistiger Einheit. Dadurch bekommt er eine große Macht, denn
für Sekunden gelingt es ihm, die Götter herauszufordern und die Menschen
25
Vgl. Platon, „Das Gastmahl“, in: Hauptwerke, 1958, S. 113-142.
14
wiederzuvereinen. Weniger mystisch aber dennoch richtungsweisend waren im 20.
Jahrhundert die Erkenntnisse Sigmund Freuds für die Betrachtung menschlicher
Erotik. Der deutsche Mediziner war der erste, der die immense Bedeutung der
Sexualität für alle menschlichen Lebensbereiche und Lebensalter wissenschaftlich zu
beweisen suchte. Das gesamte soziale Zusammenleben und die daraus folgende
Kulturentwicklung seien allein durch die Kraft des Eros und dem gesellschaftlichen
Umgang mit ihm entstanden. Eros ist bei Freud mit dem Sexualtrieb gleichzusetzen,
der
die
Menschen
libidinös
aneinander
bindet
und
die
Bildung
von
Lebensgemeinschaften ermöglicht. Dieses Zusammenleben werde allerdings durch
den zweiten großen Trieb der Menschen, den Todes- oder auch Destruktionstrieb,
gestört. Die Kulturentwicklung ergibt sich schließlich aus dem Kampf zwischen Eros
und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb. Freud bezeichnet die Kulturentwicklung
deswegen als „Lebenskampf der Menschheit“.26
Diese beiden Triebe beherrschen nach Freud die Menschen seit ihrer Geburt,
werden aber durch Erziehung unterdrückt und umgeleitet, sublimiert. Der Trieb selbst
ist nach Freud jedoch ein rein organischer Vorgang. „Die Quelle des Triebes ist ein
erregender Vorgang in einem Organ, und das nächste Ziel des Triebes liegt in der
Aufhebung dieses Organreizes.“27 Durch die Unterdrückung des Sexualtriebes können
Perversionen und Neurosen entstehen, wobei Freud alle sexuellen Vorgänge, die nicht
der Fortpflanzung dienen, als Perversionen definiert. Er unterscheidet zwischen
normalen Perversionen (wie dem Küssen) und krankhaften Perversionen (wie
Fetischismus). Diese Perversionen werden zu Neurosen, wenn die betroffenen
Personen ihre Phantasien nicht ausleben, sondern unbewußt unterdrücken. „die
Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion.“28
Die Sublimierung des Sexualtriebs kann nach Freud auch positiv sein, wenn diese
Energie statt dessen für kulturell erwünschtes Schaffen eingesetzt wird. Dem
Freudschen Verständnis folgend, könnte man alle Handlungen als erotisch definieren,
die auf Lusterwerb ausgerichtet sind, um Unlust zu vermeiden. Die Ideen Freuds und
vielleicht auch Platons werden vom Philosophen Georges Bataille in seinem Werk
L’erotisme (1957) aufgegriffen. Für ihn ist Erotik der Versuch die Kontinuität29 der
Menschen wiederherzustellen, gegenüber der Unmöglichkeit den Tod zu überwinden.
26
Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, 2003, S. 85 f.
Ibid., S. 70.
28
Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2003, S. 68.
29
Die Begriffe Kontinuität und Diskontinuität werden in dieser Arbeit im Sinne Batailles verwendet. Kontinuität
ist die Verbindung, Verschmelzung, Einheit zu einem anderen Menschen, Diskontinuität die individuelle
27
15
Dieser Wunsch der Verschmelzung birgt aber auch immer eine zerstörerische Kraft.
„Im allgemeinen ist es der passive, weibliche Teil, der als konstituiertes Wesen
aufgelöst wird. Doch für einen männlichen Partner hat die Auflösung der
passiven Seite nur einen Sinn: sie bereitet eine Verschmelzung vor, in der sich
zwei Wesen mischen, die zum Schluß gemeinsam denselben Grad der
Auflösung erreichen. Die ganze erotische Veranstaltung ist auf eine
Zerstörung der Struktur jenes abgeschlossenen Wesens ausgerichtet, das der
Partner des Spiels im Normalzustand ist.“30
In der erotischen Begegnung geht es nach Bataille also um die Auflösung von
Strukturen, „jener Formen des sozialen, regelmäßigen Lebens, welche die ausgeprägte
diskontinuierliche Ordnung der ausgeprägten Individualitäten ausmachen, die wir
sind.“31 Laut Bataille ist auch die gewaltsame Erotik des Marquis de Sade (17401814) auf das Streben nach Kontinuität zurückzuführen, die dieser letztendlich im Tod
zu finden hofft. Diese Interpretation Batailles würde eine persönliche Bindung von
Sades Libertins zu ihren Opfern voraussetzten, die aber nicht vorhanden ist.
„Die Libertins sind grausam, weil Genuß nicht teilbar ist. Die Praxis der
Libertinage setzt eine völlige Gleichgültigkeit im Hinblick auf das Objekt des
Vergnügens voraus (…) Weil die Praxis der Libertinage das Fehlen jeder
Beziehung impliziert, wird sie vor allem als eine Erfahrung von Einsamkeit
erkennbar.“32
Nach Hugues Jallos Interpretation ist die Erotik für Sade, der den größten Teil seines
Lebens im Gefängnis verbrachte, nicht Mittel um die Einsamkeit aufzuheben. Im
Gegenteil mache Einsamkeit die ungehemmte Erotik, deren höchstes Ziel der eigene
Genuß sei, erst möglich. Der eigenen Gewalttätigkeit seien keine Grenzen gesetzt.
Deswegen könne Sadismus laut Jallo auch nicht als Gegenstück zum Masochismus
verstanden werden, denn nach Sacher-Masoch „findet das Verlangen nach
Unterwerfung mit einem regelrechten Vertrag in schriftlicher Form einen juristischen
Rahmen.“33 Masochisten lassen sich also quälen, weil sie selbst das so wollen, sie sind
ihrem eigenen Willen unterworfen und nicht dem des Quälenden. Batailles kritisiert an
Sade, daß dessen Version von Erotik die Möglichkeit der Zeugung und damit die
Entstehung von Leben ignoriere. Der Sinn der Erotik bestehe laut Bataille nicht darin,
Einsamkeit. „Zumindest an einem Punkt der Fortpflanzung hat es Kontinuität gegeben. Es gibt einen Punkt, an
dem das ursprünglich Eine übergeht in Zwei. Sobald zwei vorhanden sind, ist die Diskontinuität jedes der Wesen
wiederhergestellt. Aber der Übergang schließt zwischen den beiden einen Augenblick von Kontinuität ein. Das
erste stirbt, aber in seinem Tod zeigt sich der fundamentale Augenblick der Kontinuität zweier Wesen.“
In: Bataille, Georges, Die Erotik, 1994, S. 16.
30
Bataille, Georges, Die Erotik, 1994, S. 20.
31
Ibid., S. 21
32
Jallo, Hugues, D.A.F. Marquis de Sade – Eine Einführung, 1999, S. 56.
33
Ibid., S. 71.
16
die endgültige Kontinuität im Tod zu finden, sondern soviel Kontinuität zuzulassen,
wie es möglich ist, ohne zu sterben. Aber: „Die sexuelle Aktivität des Menschen ist
nicht notwendigerweise erotisch. Doch ist sie es stets dann, wenn sie nicht rudimentär,
wenn sie nicht einfach animalisch ist.“34 Erotik unterscheidet sich von der Sexualität
durch „ein vom natürlichen Zweck der Fortpflanzung und der Versorgung der Kinder
unabhängiges psychisches Bestreben.“35 Diese Definition gelte aber nur für die
körperliche Form der Erotik, die Bataille von der Erotik der Herzen unterscheidet.
Die Erotik der Herzen sei mit der Erotik der Körper eng verbunden, erblicke
doch „der Liebende unter glücklichen Umständen im geliebten Wesen die Totalität,
das heißt die Kontinuität des Seins.“36 Diese erotische Form der Liebe ist stets
intersubjektiv und einzigartig, liegen physische und psychische Schönheit doch im
Ermessen des Betrachters. Es ist fraglich, ob der Mensch sich durch die Erotik
wirklich als Individuum auflösen will, wie Bataille behauptet.
Unter Umständen könnte man auch das Gegenteil glauben, etwa daß die
Menschen den Tod durch die Zeugung von Nachkommen zumindest partiell zu
überwinden suchen. Nimmt man an, daß der Versuch den Tod zu überdauern
wichtiger Bestandteil der Erotik ist, so könnte eine Verbindung zwischen Kunst,
Literatur und Erotik bestehen. Indem Künstler und Literaten ihr Lebenswerk schaffen,
bleibt ein Teil von ihnen der Nachwelt erhalten – mitunter dauerhafter als bei der
Zeugung biologischer Nachkommen. Aber auch das Verhältnis der Rezipienten zu
einem Kunstwerk kann erotischer Natur sein, wenn man Freuds Ansatz folgt, der alles
als sexuell betrachtet, was dem eigenen Lusterwerb dient.
„A expressão artística se realiza em função de um mesmo impulso para a
totalidade do ser, para sua permanência além de um instante fugaz e para sua
união com o universo. A comunicação que se estabelece entre a obra de arte e
o leitor / espectador é nitidamente erótica. O prazer diante de uma obra de
arte não é, em primeira instância, intelectivo, racional, embora a razão possa
interferir através de julgamentos de valor, (...) . O primeiro contato entre o
espectador e o objeto artístico é sempre sensual: aquela obra nos agrada ou
nos desagrada, (...)”37
Problematisch an einer so weit gefaßten Erotik-Definition ist die Unmöglichkeit sie
einzuschränken. Demnach könnten alle sinnlichen Freuden als erotisch gelten: ein
heißes Bad, Essen, Musik, … Diese Verallgemeinerung des Erotik-Begriffs soll darauf
34
Bataille, Georges, Die Erotik, 1994, S. 32.
Ibid., S. 13.
36
Ibid., S. 289.
37
Castello Branco, Lúcia, O que é Erotismo, o.J., S. 12.
35
17
verweisen, daß es neben der Erotik der Körper möglicherweise auch eine reine Erotik
des Geistes gibt, die beispielsweise aus ästhetischem Lesegenuß entstehen kann.
Im engeren Sinn scheint Erotik ein unterschiedlich interpretierter Begriff für die
geistige Komponente des Liebeslebens, im Unterschied zur rein sexuellen,
körperlichen Vereinigung zu sein. Die Frage ist, ob Menschen sich wirklich in einen
totalen Zustand des Nicht-Denkens begeben können, ob es also wirklich geistlose
Sexualität gibt. Vielleicht ist nicht nur die Tatsache wichtig, ob gedacht wird, sondern
auch auf welche Art und Weise. Besteht die Erotik einer sexuellen Begegnung nicht
im Hinauszögern, der Vorfreude, der phantasievollen Ausgestaltung einer Situation?
Die Trennung zwischen Sexualität und Erotik bleibt verschwommen – sie gehören
zusammen und sind doch auch getrennt vorstellbar. Eine Situation kann auch ohne
sexuelle Handlung erotisch sein, einfach nur durch die Macht der Gedanken. Eine
Vergewaltigung hingegen gilt kaum als erotisch, sondern als Ausdruck sexueller,
animalischer Gewalt. Läßt sich auch für Erotik keine abschließende Definition finden,
könnte man zumindest jede literarische Darstellung menschlicher Sexualität (oder
Erotik), als Erotik bezeichnen. Denn beim Lesen einer erotischen Szene, muß man die
Phantasie aufbieten, um sich die Beschreibungen des Autors vorzustellen. Die
Literatur kann nicht nur vom reinen Geschlechtsakt leben. Ein Autor muß immer die
Voraussetzung für den Akt schaffen, die Personen einführen und eine Atmosphäre
kreieren. Der Autor hat keine Bilder, die für sich sprechen, er muß die Bilder im Kopf
erst mit Worten entstehen lassen. Durch diese geistigen Prozesse, wird jede
Darstellung menschlicher Sexualität zu Erotik. Literarische Erotik entsteht also nicht
nur durch die Kreativität des Autors, sondern auch die Phantasie des Lesers, der den
Text jedes Mal neu interpretiert.
Möglicherweise berücksichtigt der Autor sein Publikum schon beim Schreiben als
impliziten Leser, der zwar nicht real präsent ist, aber „die Gesamtheit der
Vororientierungen,
die
ein
fiktionaler
38
Rezeptionsbedingungen anbietet“
Text
seinen
möglichen
Lesern
als
verkörpert. Ein Schriftsteller gibt diesem
impliziten Leser Hinweise, wie der Text gelesen werden soll, was hinsichtlich der
literarischen Erotik auch bedeutet, daß der reale Leser Lebens- und Lusterfahrung
braucht, um sie gebührend zu würdigen.
38
Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens, 1976, S. 60 f.
18
2.2 Erotik versus Pornographie
Diese mentalen Prozesse finden aber nicht bei allen Darstellungen von Erotik
gleichermaßen statt. In einem Film können Sexualität und Erotik unvermittelt
dargestellt werden, ohne daß der Zuschauer sich allzu viel vorstellen muß. Gerade in
Pornofilmen bleibt für Phantasie wenig Raum, da die Kameras jegliches körperliche
Detail in Großaufnahme zeigen. Im Brockhaus werden folgende Merkmale der
Pornographie aufgeführt:
„extreme Kontextreduzierung, d.h. die Einschränkung aller Erfahrung auf
sexuelle
Erfahrung;
hoher
Explizitheitsgrad
der
Darstellung;
Instrumentalisierung der Darstellungsform als Mittel zur Intensivierung und
Vervielfachung sexueller Lust; Ausrichtung der Sexualität an der Häufigkeit
ihres Vollzugs; Entindividualisierung und Austauschbarkeit der beteiligten
Menschen. (…) sexuelle Fiktionen von Macht, Dominanz und Kontrolle sowie
von Kontrollverlust (v.a. der Frau); Anonymität der sexuellen Kontakte und
Fehlen von Gefühlen für den Partner; (…)“39
Nach diesen Merkmalen wären die Bücher Sades, durch die Entindividualisierung der
Opfer und der absoluten Macht der Libertins, bereits pornographisch und nicht mehr
erotisch. Die Schwierigkeit, die Texte anderer Autoren als pornographisch oder
erotisch einzustufen, besteht darin, daß nicht alle Schriftsteller so eindeutig Stellung
beziehen, wie Sade. Kann ein Roman auch dann pornographisch sein, wenn die Erotik
nur eine sekundäre Rolle spielt? Oder würden dann die geistigen Aspekte überwiegen
und damit die Entindividualisierung der Pornographie unmöglich machen?
Auch João Ubaldo Ribeiro hat Schwierigkeiten damit Erotik und Pornographie
begrifflich zu trennen. Er sieht die Definitionen in ihrer Abhängigkeit von
gesellschaftlichen Normen.
„Existiu um juiz da suprema corte americana que, decidindo sobre um caso de
pornografia, disse que não sabia definir pornografia, mas sabia distinguir
quando via. Eu sou um pouco assim, como ele. Há um limite entre pornografia
e erotismo, você pode dizer o bom gosto, mas o bom gosto também é uma
coisa muito relativa. Bom gosto para alguns é mal gosto para outros. Depende
de cultura, depende de tanta coisa, então eu não sei qual é essa distinção. Eu
tenho a impressão que no caso da minha distinção aqui, pornografia seria
extremamente gratuita - ou seja, o ato sexual, o devasso, o libertino, apenas
pelo ato sexual libertino - não como impulso que é socialmente controlado,
socialmente vigiado, socialmente policiado, socialmente valorado que eu acho
que o livro reflete.”40
39
40
Brockhaus – Die Enzyklopädie, Band 17, 1998, S. 61.
Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S.109 (dieser Arbeit).
19
Für den Schriftsteller liegt also dann Pornographie vor, wenn die Protagonisten sich
ihrer Sexualität hingeben, ohne in irgendeiner Form moralisch und gesellschaftlich
gezügelt zu sein. Pornographie wäre demnach ein Akt der Befreiung von
gesellschaftlichen Beschränkungen, sowie positiven und negativen Normen.
So versteht João Ubaldo die pornographischen Elemente in seinem Roman A casa dos
budas ditosos. Dieser Definitionsversuch läßt sich jedoch nicht auf die Unterscheidung
von Pornographie und Erotik im Allgemeinen anwenden. Etymologisch setzt sich
Pornographie aus den griechischen Worten ‚pornos’
41
(Prostituierte) und ‚grafo’
(Schreiben) zusammen. Pornographie ist also die Schrift über die käufliche Liebe, die
selbst zu merkantilen Zwecken verkauft wird. Pornographie und Prostitution gehören
auch heute noch zusammen, denn sowohl Prostituierte als auch Pornodarsteller/Innen
und Nacktmodelle verkaufen ihren Körper gegen Geld, wenn auch in unterschiedlicher
Form. Pornographie in Form von Zeitschriften, Büchern und Filmen wird nach
Angaben von Francesco Alberoni vor allem von Männern konsumiert.
Er bezeichnet Pornographie als ein Märchenland, in dem alle männlichen
Phantasien erfüllt werden. „Die pornographischen Helden sind deshalb auf
wunderbare Weise der Pflicht entbunden, Frauen aufzureißen und sich mit
Liebesvorspielen aufzuhalten. Kaum erblickt, sind die Frauen auch schon nackt und
disponibel.“42 Die Frauen seien dabei stets unterwürfig und sexuell verfügbar, die
Männer stark, dominant und sehr viril. Pornographie kann heute auch als
Gegenentwurf zur weiblichen Emanzipation verstanden werden.
„(…) é preciso aceitar e apoiar a situação de desigualdade social em que
vivemos para encontrar prazer nas relações desiguais entre patrão e
empregada (...), e é fundamental crer sobretudo na preservação do casamento
burguês, já que essas ousadias só têm lugar fora do lar e se constituem em
estratégias para ajudar a manter o matrimônio, a torná-lo menos
monótono.”43
Demnach wäre Pornographie eine literarische und filmische Gattung, die den Eros
ideologisch mißbraucht, nämlich um bestehende Machtstrukturen zwischen den
Geschlechtern und Klassen zu sichern. Für die Unterscheidung zwischen Erotik und
Pornographie wäre also nicht nur entscheidend, welche erotischen Handlungen in
welcher Deutlichkeit gezeigt werden, sondern auch, wie die Machtstrukturen verteilt
41
pornos ist wiederum ein Derivat von ‚pernemi’ (verkaufen)
Alberoni, Francesco, Erotik, 1991, S. 13.
43
Branco, Lúcia Castello, O que é erotismo?, o.J., S. 23f.
42
20
sind und ob möglicherweise Entwürdigung, Leiden und Schmerz eine Rolle spielen.
Erotische Literatur müßte also, wenn sie von der Pornographie abgegrenzt wird, eine
andere Zielsetzung haben und fragwürdige gesellschaftliche Normen eher in Frage
stellen als untermauern. Das würde der revolutionären Macht des Eros bei Platon und
Bataille entsprechen. Damit läge auch nahe, daß erotische Literatur in ihrer
revolutionären Funktion auch ironisch, satirisch und karnevalistisch sein kann.
Und tatsächlich haben seit den cantigas de escárnio e maldizer44, Dichter und
Schriftsteller immer wieder das Erotische benutzt, um die Heuchelei der Gesellschaft
anzuprangern und soziale Mißstände zu kritisieren. Der italienische RenaissanceDichter Aretino (1492-1556), der Portugiese Bocage (1765-1805) stehen ebenso in
dieser Tradition wie die Brasilianer Gregório de Mattos (1636-1695) und Bernardo
Guimarães (1825-1884) mit seinem O elixir do pajé (1883). Möglicherweise lassen
sich die Romane João Ubaldos auch in dieser Tradition sehen, was die Frage aufwirft,
ob das Erotische in seinem Werk existierende Herrschaftsstrukturen eher unterstützt
oder in Frage stellt.
3. Brasilien, Land der Erotik?
Im Jahr 1936 stellte ein von Europa desillusionierter Stefan Zweig (1881-1942)
Brasilien als das Land der Zukunft vor.45 Diese hoffnungsvolle Interpretation gehört in
Deutschland inzwischen der Vergangenheit an. Heutzutage gilt Brasilien als
Schwellenland mit großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen, aber auch als
Land des Karnevals, der Lebensfreude und der schönen sinnlichen Frauen. Diese
Vorstellung eines erotisierten Brasiliens beschränkt sich nicht auf Reisekataloge oder
Reportagen im Privatfernsehen. Auch Künstler, die sich in ihrem Werk mit Brasilien
beschäftigen, sehen oft nur den erotisierten Körper. So auch der englisch-argentinische
Photograph Christopher Pillitz in seinem Fotoband Brésil incarné, der nach eigenen
Angaben in der ganzen Welt photographiert hat, ohne auf vergleichbar sinnliche
Menschen zu stoßen.
„On m’a souvent demandé: pourquoi une étude sur la sexualité brésilienne ? La
réponse est courte : parce qu’elle est unique. À savoir que la mosaïque riche et
sensuelle du Brésil ne connaît aucune frontière, n’a pas de limites, ne respecte
aucune tabou, brise les règles en usage et ne recule devant aucun excès ; c’est
un pays où tout peut arriver e où tout arrive. Les notions conventionnelles de la
44
45
Sie bildeten die Kehrseite zum idealisierenden Minnekult, im Portugal des 13. und 14. Jahrhunderts.
Zweig, Stefan, Brasilien, Land der Zukunft, 1997.
21
moralité disparaissent tout simplement. Le chaos, le désordre et la violence sont
intrinsèquement liés à son expression sexuelle unique. (… )L’image populaire
que le Brésil a cultivée est illustrée par le Carnaval – un étalage coloré de
sensualité, de délire collectif et de jouissance. ” 46
Brasilien ist in diesem Fotoband ein Land der leicht bekleideten Körper, wie folgende
Beispielbilder belegen.
____________________________________________________________________47
_____________________________________________________________________
Christopher Pillitz photographiert Bikini-Schönheiten am Strand, Samba-Tänzerinnen
beim Karneval, Transvestiten in ihrer Show und Liebespaare in intimer Umarmung.
Dabei steht der schlanke, durchtrainierte Körper stets im Mittelpunkt. Die Umgebung
untermalt und steigert die Sinnlichkeit ohne vom Körper abzulenken. Zum gängigen
Brasilienbild gehört auch die Annahme: „La sensualité fait partie de la nature
brésilienne."48 Diese Sinnlichkeit ist dabei etwas Instinktives, Kreatürliches. Die
photographierten Menschen werden nicht in nachdenklicher Stille abgelichtet, sondern
im Moment scheinbar ungehemmter Sinnlichkeit festgehalten.
Verbreitet wurde dieses exotische, erotisierte Brasilienbild vor allem durch die
Bücher
Jorge Amados, die in über 40 Sprachen übersetzt wurden und die
Wahrnehmung Brasiliens im Ausland entscheidend geprägt haben.49 Der wichtigste
Roman ist in diesem Zusammenhang Gabriela, Cravo e Canela, der Jorge Amado
1958 auch in nicht-kommunistischen Ländern zum Durchbruch verhalf. Wie sich die
Verleger im Ausland die Protagonistin Gabriela und damit auch die brasilianischen
46
Pillitz, Christopher, Brésil incarné, 2000, S. 1.
Abbildungen aus: Ibid.
48
Ibid., Nachwort: S.5.
49
Ilana Seltzer Goldstein hat dieses Phänomen in ihrer Studie O Brasil best seller de Jorge Amado (2003)
untersucht.
47
22
Frauen vorstellen, zeigen die Einbände der ausländischen Editionen.50 Meistens
präsentieren sie eine leicht bekleidete, oder nackte Mulattin, die von Blumen und
Früchten umgeben ist.51
„Por exemplo, supomos que a Gabriela – mulher idealizada por Amado –
como fruto de uma voz masculina, expressa fantasia de um imaginário
masculino que a torna objeto de desejo, e ao passar ser filha do Brasil,
conseqüentemente modelo da mulher brasileira, pode ter levado consigo
caracteristicas da personagem amadiana, tais como inocência, alegria,
pecado, sedução, permissividade, enfim, uma mulher livre de regras e normas
sociais.“52
____________________________________________________________________53
_____________________________________________________________________
Diese Darstellung der Mulattin ist nicht neu, sondern hat in Kunst und Literatur über
Brasilien Tradition. Wir finden sie schon im 17. Jahrhundert bei dem holländischen
Maler Albert Eckhout (ca. 1610 – ca. 1665). Er kam um 1636 mit dem deutschen
Grafen Moritz von Nassau-Siegen nach Brasilien, der den Posten des holländischen
Statthalters in Pernambuco antrat.
Die Bilder, die Eckhout vermutlich nach seinem Aufenthalt 1641 von der
brasilianischen Bevölkerung (Männern und Frauen) anfertigte, hingen teilweise im
Gouverneurspalast des Grafen, hatten also repräsentative Funktion. Für das Thema
Erotik sind vor allem vier Bilder von verschiedenen „brasilianischen“ Frauen
interessant. Sie scheinen jeweils eine Gruppe aus einer streng hierarchisch geordneten
Kolonialgesellschaft zu verkörpern. Das Gemälde Tupuya Woman zeigt eine nackte
Indianerin mit abgerissenen menschlichen Gliedmaßen in der Hand, offensichtlich
50
Vgl. Aráujo Caldas, Sônia Regina, Gabriela, Baiana de todas as cores (2003) eine Magisterarbeit, in der die
Autorin die verschiedenen Titelillustrationen von Gabriela, Cravo e Canela in Brasilien und im Ausland
analysiert.
51
Die Umschlaggestaltung unterscheidet sich in Brasilien nicht wesentlich. Allerdings nehmen Brasilianer diese
Frauen nicht als Prototyp der Brasilianerin, sondern als typische baiana bzw. mulata wahr.
52
Aráujo Caldas, Sônia Regina, Gabriela, Baiana de todas as cores, 2003, S. 285.
53
Abbildungen aus Ibid.
23
eine Kannibalin, die ganz unten in der Hierarchie des Künstlers Eckhout steht.
Zivilisierter durch den Kontakt mit den Weißen ist die Tupinambá Woman, die
immerhin schon einen Lendenschurz und Früchte in ihrem Korb trägt. Das Kind auf
ihrem Arm beweist ihre Fruchtbarkeit und mütterliche sowie soziale Kompetenzen,
ebenso wie das Kind der African Woman, was die Frauen über die Kannibalin erhebt.
Allerdings richtet das Kind der Afrikanerin einen Maiskolben direkt auf den Schoß
der Mutter, was pejorativ als Symbol für die sexuelle Verfügbarkeit der schwarzen
Sklavin gedeutet werden kann. In ihrem Lendenschurz steckt eine Pfeife, was in der
holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts traditionell auf eine Prostituierte
hindeutet.54 Nur die Mameluca ist mit einem weißen Gewand vollständig bekleidet,
doch hebt sie ihr Kleid neckisch in die Höhe. Sie ist, wie Gabriela auf den
abgebildeten Buchtiteln, von exotischen Bäumen mit Früchten umgeben und trägt
einen Korb mit Blumen, ein typisches Attribut
der Flora, römische Göttin der
Blumen, des Gartens und der Liebe: „a favorite guise in which to depict courtesans,
especially in Italian Renaissance Painting.“55
____________________________________________________________________56
Tupuya Woman
Tupinambá Woman
African Woman
Mameluca
_____________________________________________________________________
Schwarze Frauen und Mulattinnen wurden als Sklavinnen sexuell ausgebeutet, wobei
letztere als besonders begehrenswert galten, weil sie den weißen Schönheitsidealen
eher entsprachen. Die rassistische Intention dieser „positiven Darstellung“ Eckhouts
wird durch die Abwertung der indigenen und schwarzen Frauen deutlich.
54
Vgl.: Parker Brienen, Rebecca, „Albert Eckhout and Frans Post: Two Dutch Artists in Colonial Brazil”, in:
Brazil:Body and Soul, 2002, S. 66.
55
Ibid., S. 65.
56
Vgl. Abbildungen in: Sullivan, Edward J. (Hg.), Brazil: Body and Soul, S. 95ff.
Diese Bilder wurden im Jahr 2000 im Guggenheim-Museum New York, im Zuge der Ausstellung Brazil: Body
and Soul ausgestellt. Dabei sollte durch eine Schau von barocken und modernistischen Werken eine
Interpretation der brasilianischen Selbst- und Fremdbetrachtung ermöglicht werden.
24
Gilberto Freyre (1900-1987) interpretiert in der sozialhistorischen Studie Casa grande
e senzala (1933) die sexuelle Energie der Portugiesen, die sich ohne Vorurteile mit
den Einheimischen paarten, als das Erbe eines Volkes, das sich selbst aus
verschiedenen Volksgruppen zusammensetzt - und das in der Gestalt der „moura
encantada“57, der verzauberten Maurin,
bereits eine dunkelhäutige Frau zum
erotischen Ideal erhoben hat. Seefahrer und Abenteurer fühlten sich fern der Heimat
frei von gesellschaftlichen Zwängen und wurden durch die unbekleideten,
unschuldigen Indianerinnen zusätzlich stimuliert.58 Dadurch wurde das neu entdeckte
Land schnell zu einem exotischen und erotischen Paradies stilisiert. Das Sprichwort
„Não existe pecado ao sul do equador“ stammt aus diesen enthusiastischen Anfängen
der Kolonialisierung.
Amerigo Vespucci (1454-1512) brachte die Sünde ins Paradies als er auch von
perversen sexuellen Riten und Kannibalismus schrieb. Dieser Darstellung Brasiliens
als Sodom und Gomorra, schlossen sich Schreiber wie André Thevet (1502-1590),
Jean de Léry (1516-1613) und Gabriel Soares de Sousa (ca.1540-1550-1592) an.
Innerhalb von hundert Jahren wurde aus dem Paradies eine christliche Vorstellung der
Hölle. „It was a vision centred on the question of sexual life, sensuality, and eroticism
no less than the obvious potential for economic exploitation an colonization.“59
Diese Interpretationen der Entdecker und Kolonisatoren, Brasilien mit Erotik zu
verbinden, wurde von den Brasilianern insofern übernommen, als die Frage der
miscigenação als grundlegend für die Entstehung der brasilianischen Gesellschaft
angesehen wurde. Dabei ging es zunächst vor allem um den sexuellen Akt der
Vermischung und erst später bei Gilberto Freyre auch um kulturelle Komponenten.
Die Darstellung der Indianer als primitive Wilde hat sicherlich auch zu der Abwertung
indianischer Frauen geführt. Wie auf den Bildern Eckhouts zu erkennen, entsprechen
nicht mehr Indianerinnen, sondern die Mulattinnen dem erotischen Ideal der
Kolonialherren. Auch in der Literatur hat das Motiv der sinnlichen Mulattin Tradition.
Gregório de Mattos (1636-1695), Aluísio Azevedo (1857-1913)60, Bernardo
Guimarães (1825-1884)61 und Manuel Antônio de Almeida (1831-1861)62 – sie alle
57
Freyre, Gilberto, Casa grande e senzala, 2002, S. 84.
Die Mauren lebten bis zu ihrer Vertreibung von 711- 1249 n.Chr. in Portugal und hatten einen großen Einfluß
auf die portugiesische Kulturentwicklung.
58
zu den Reizen der Índio-Frauen, siehe: A carta de Pero Vaz de Caminha (1500), 2000.
59
Parker, Richerd G., Bodies, pleasures, and passion, 1991, S. 14.
60
1890 in: O cortiço
61
1875 in: A escrava Isaura
62
1854 in: Memórias de um Sargento de Milícias
25
lassen sinnliche Mulattinnen in ihrem Werk auftreten, die stets sehr schön, lebhaft und
freizügig sind und weiße Männer um den Verstand bringen. Dabei wird das Motiv des
Kannibalismus insofern übernommen, als die romantischen Dichter sie stets als gute
Köchinnen schildern und ihre Reize metaphorisch mit Früchten vergleichen. Die
mulata wird comível, also eßbar im übertragenen, erotisierten Sinn des Wortes comer.
Teófilo de Queiroz Júnior hat in seiner Arbeit über die Mulattin in der brasilianischen
Literatur, folgende Eigenschaften herausgefiltert:
„Para sintetizar os dois pólos da avaliação corrente sobre a mulata,
podemos dizer que, de positivo, são reconhecidas suas habilidades
culinárias, via de regra, sua higiene, sua resistência física ao trabalho, sua
saúde, sua solidariedade, sua beleza perturbadora, sua sensualidade
irresistível, seus artifícios de sedução a que sabe recorrer, quando canta,
dança e se enfeita. Já a soma de seus defeitos é constituida por sua falta de
moralidade, por sua irresponsabilidade, por ela ser muita pródiga
sempre.“63
Gabriela ist die Königin der Mulattinnen, ungeschlagen in ihrem sinnlichen Charme,
ihrer Musikalität, der Freude am Tanzen und der Kunst Männer mit ihren
Kochkünsten und körperlichen Vorzügen zu erfreuen. Im Gegensatz zu den oben
genannten Schriftstellern meint Jorge Amado diese Charakterisierungen völlig positiv,
ohne die Unterlegenheit Gabrielas gegenüber weißen Frauen beweisen zu wollen.
„Selbst an sich negative Eigenschaften, wie z.B. unmoralisches Verhalten und
Triebhaftigkeit, wertet Amado positiv um. Sie erscheinen der Herkunft und
Kultur der mulata angemessen und damit begrüßenswert.“64
Damit folgt er dem Vorbild seines Freundes, dem Soziologen Gilberto Freyre, der in
den 30er Jahren die regionalistische Bewegung im Nordosten Brasiliens begründete.
Freyre hatte 1933 in Casa grande e senzala die bislang als negativ angesehene
„Rassenmischung“ positiv umgedeutet und vor allem den Einfluß von Indianerinnen,
Afrikanerinnen und mulatas auf die Herausbildung der brasilianischen Gesellschaft
betont. Er weist einschränkend darauf hin, daß die dunkelhäutigen Frauen in ihrer
Eigenschaft als Sklavinnen sexuell verfügbar waren und nicht aufgrund einer
„rassischen“ Prädisposition. Andererseits sind seine Beschreibungen der sinnlichen
Mulattinnen so enthusiastisch, daß dieser Einwand wenig Gewicht hat.65 Die
Vermischung von Menschen verschiedener Hautfarbe ist in Brasilien eine Realität.
63
Queiroz Júnior, Teófilo de, Preconceito de cor e a mulata na literatura brasileira, 1975, S. 76 f.
Rauh, Annette, Mulatas und mulatos als literarische Held/innen. Zum Romanwerk von Aluísio Azevedo und
Jorge Amado,1997, S. 138.
65
Vgl. Bocayuva, Helena, Erotismo à Brasileira – o excesso sexual na obra de Gilberto Freyre, 2001.
64
26
Deswegen ist es ganz verständlich, daß Schriftsteller, die sich mit der Frage der
nationalen Identität befassen, dieses Thema aufgreifen und die Figur der Mulattin als
Ergebnis dieser Vermischung, literarisch aufleben lassen. Problematisch sind die
stereotypen Merkmale, die diesen Frauen zugeschrieben werden. Sie bleiben eine
erotische Männerphantasie, Objekt einer positiven oder negativen Projektion. Die
Mulattin wird als literarisches Motiv mißbraucht, ohne selbst eine Stimme zu
bekommen. Dabei ist es sicherlich eine Ironie des Schicksals, daß gerade eine
Bevölkerungsgruppe, die in Brasilien diskriminiert wird, das Brasilienbild im Ausland
nachhaltig prägt. Dieses Ideal der freien Erotik das die Mulattin symbolisiert, ist aber
nur eine Spielart im komplexen sozialen Gefüge Brasiliens und gilt vornehmlich
außerhalb der Ehe. Moralische Wertungen gehören in einem katholisch geprägten
Land natürlich auch zu der Betrachtung von Erotik. Nach kirchlicher Auffassung ist
geschlechtliche Vereinigung nur innerhalb der Ehe erlaubt, und auch nur dann, wenn
Kinder gezeugt werden sollen. Hinzu kommt das patriarchale Erbe der
Kolonialgesellschaft, das auch im heutigen Brasilien noch vorhanden ist.
Wurden dunkelhäutige Frauen als Gespielinnen geschätzt, so wurden weiße
Ehefrauen und Töchter eifersüchtig bewacht. Die Familienehre hing vom Verhalten
der Frauen ab und war somit stets gefährdet. Während die Männer stark, tapfer und
untreu waren, sollten ehrbare Frauen im Gegenteil schwach, schön, häuslich und vor
allem keusch sein. Diese Ideale setzten sich in den erotischen Beziehungen fort,
Männer erobern und Frauen geben sich passiv hin. Die Frage ist, wie solch
unterschiedliche Erotik-Auffassungen innerhalb einer Gesellschaft nebeneinander
bestehen können. Eine mögliche Antwort haben Gilberto Freyre und Roberto da Matta
(1936-) geliefert, indem sie auf den großen kulturellen Unterschied zwischen Haus
und Straße hinwiesen66 – zudem bleiben die erotischen Beziehungen geheim. „Em
baixo do pano, tudo pode acontecer“. Dieses brasilianische Sprichwort deutet an, wie
Religion, Erotik und patriarchalische Geschlechterverhältnisse koexistieren können.
Alles ist möglich, solange niemand davon erfährt. Neben der Heuchelei, über die João
Ubaldo gerne schreibt, gibt es eine weitere Möglichkeit, wie erotische Freiheit trotz
der bestehenden Zwänge entstehen kann: beim Karneval, „when the silent, and
sometimes perverse, pleasures that occur within four walls escape their boundaries
and create a fully public world in which, like the private world of erotic ideology,
66
Vgl. Parker, Richerd G., Bodies, pleasures, and passion, 1991, S. 100.
27
anything is possible.“67 Diese Freiheit des Karnevals gibt es manchmal auch im
täglichen Leben durch die sacanagem, die spielerische Übertretung der bestehenden
Regeln. Dank dieser Freude an der Überschreitung wird Verbotenes zu etwas
Positivem umgedeutet.
„This interpretation is itself clearly immanent, of course, in the prohibitions
that define these other systems. (…) Indeed, in this model of sexual universe,
anything is possible, prohibition is itself prohibited, and even the most taboo
desires and practices can be seen as especially exciting.“68
Die einzigartige brasilianische Erotik, die Christopher Pillitz in seinem Fotoband
festhalten will, scheint tatsächlich zu existieren. Aber nur als Ergebnis der
Überschreitung von moralischen Regeln und Gender-Verhältnissen, als eine Form der
Erotik in einem komplexen sozialen Gefüge.
Die brasilianische Erotik bzw. das Sexualverhalten der Brasilianer war auch schon
Studienziel von quantitativen soziologischen Forschungen, wie in der 1983
erschienenen Studie Hábitos e atitudes sexuais dos brasileiros, die vom Instituto
Paulista de Pesquisa de Mercado in zwanzig brasilianischen Städten durchgeführt
wurde. In dieser Studie wurden Stadtbewohner, die lesen und schreiben konnten, über
ihre sexuellen Präferenzen befragt. Bezeichnenderweise gab ein Drittel der Befragten
an, schon einmal fremdgegangen zu sein (zumeist Männer), während gleichzeitig über
50 Prozent den Ehebruch kategorisch ablehnten. Ein Widerspruch, der die
Doppelmoral der brasilianischen Gesellschaft andeutet.
Bei der Interpretation solcher Studien sollte beachtet werden, daß die Interviewten
nicht unbedingt die Wahrheit sagen müssen, sondern die Antwort geben, die sie für
gesellschaftlich akzeptabel halten. Zudem besteht eine Diskrepanz zwischen dem
moralischen Gewissen, den Emotionen, der Phantasien und dem tatsächlichen
Verhalten. Siebzig Prozent der männlichen Befragten lehnten Homosexualität ab,
während über die Hälfte sich gegen Prostitution aussprach, was nicht bedeutet, daß sie
noch nie entsprechende Erfahrungen gemacht hätten. Bei diesen Ergebnissen sollte
auch bedacht werden, daß nur das Sexualverhalten von Personengruppen erforscht
wurde, die zu den sozialen Klassen A, B und C69 gehören. Damit bleiben 70 Prozent70
der brasilianischen Bürger unberücksichtigt.
67
Vgl. Parker, Richerd G., Bodies, pleasures, and passion, 1991, S. 146 f.
Ibid., S. 103f.
69
In soziologische Forschungen und Marktstudien wir die brasilianische Bevölkerung in Gruppen von A bis D,
manchmal auch E eingeteilt. Die Zuordnung zu diesen Klassen erfolgt nach einem Punktesystem, in dem
68
28
Erkenntnisse über die ärmsten Klassen der brasilianischen Bevölkerung stammen aus
kleineren Studien und der Berufserfahrung von Sozialarbeitern und Ärzten:
„ (…)a classe D governa-se pelos padrões mais tradicionais e arcaicos: a
mulher submete-se ao homem sexualmente, sem estar interessado em agradála; ela não se preocupa se isso lhe agrada ou não, tratando apenas de
desempenhar o seu papel; o homem, sempre que possível aborda outras
mulheres, não sendo raro que seja o iniciador sexual de suas próprias filhas
etc.”71
Das erotische Verhalten hängt also auch vom sozialen Umfeld ab, wobei die
Gegensätze in Brasilien besonders drastisch sind, und damit wohlmöglich auch die
Unterschiede im Sexualverhalten. Männer der Mittelschicht sind stärker bemüht, ihre
Partnerinnen erotisch zufrieden zu stellen, für 85 Prozent der befragten Männer war
der weibliche Orgasmus wichtig. Der Sexualforscher Flávio Gikovate vermutet indes,
daß diese Männer vor allem ihre eigene Männlichkeit beweisen wollen:
„o dar prazer à mulher, (…) passou a ser o mais recente requisito do
machismo; assim sendo o homem sente-se orgulhoso e sexualmente
competente quando é capaz de fazer sua parceira ter orgasmos;”72
Laut Freud ist Heuchelei aufgrund der Erotik eine ganz normale Entwicklung von
Kulturgesellschaften und dabei ist Brasilien keine Ausnahme. Allerdings gibt es
spezifische brasilianische Entwicklungen, wie den Karneval, den Gegensatz zwischen
casa e rua, die großen sozialen Unterschiede, rassistische Vorurteile, ausgeprägte
Geschlechterrollen
sowie
die
kirchlichen
Moralvorstellungen,
welche
der
brasilianischen Erotik eine besondere Note geben.
.
Bildungsstand, Lebenssituation, Einkommen und Besitz der Befragten bewertet wird. A steht dabei für die
besten Lebensumstände und D für die schlechtesten.
70
„Inicialmente, vale registrar que o Brasil é um país profundamente heterogêneo e desigual em todos os
sentidos. Como grande regra, do ponto de vista dos costumes e das condições de vida, colocam-se as classes A,
B e C de um lado – representando cerca de 1/3 da população – e a classe de de outro – composta de 2/3 da
população.“ In: Gikovate, Flávio, „Observações Acerca de Uma Pesquisa Sobre o Comportamento Sexual do
Brasileiro“, in: Hábitos e Atitudes Sexuais dos Brasileiros, 1983, S. 100.
71
Ibid., S. 100.
72
Ibid., S. 100.
29
4. Identitätsstiftende Erotik in Viva o povo brasileiro
Viva o povo brasileiro ist der längste und ambitionierteste Roman Ubaldo Ribeiros, er
selbst nannte es „o último dos livros que tem de escrever “.73 Es ist ein Buch über die
Geschichte Itaparicas, die der Autor exemplarisch für die Entstehung der
brasilianischen Nation erzählt. Schon in der Wahl des Titels zeigt er seine Intention,
einen Roman über das national-brasilianische Selbstverständnis zu verfassen. In dem
Werk existieren zwei gegensätzliche Auffassungen von Identität, da Volk und Eliten
sich unversöhnlich gegenüberstehen und nur die jeweils eigene Gruppe als
brasilianisches Volk ansehen. Das brasilianische Wir-Gefühl entsteht aus der
Ausgrenzung des jeweils anderen.
Einem ähnlichen Ansatz folgte auch Jorge Amado in seinem frühen Werk, als er
besonders im Bahia-Zyklus (Jubiabá (1935), Mar Morto (1936), Capitães da Areia
(1937)) die arme Bevölkerung zu einer solidarischen Leidensgemeinschaft erklärte,
die alle positiven Eigenschaften in sich vereinte.74 In Viva o povo brasileiro scheinen
zudem intertextuelle Bezüge zu Casa grande e senzala (1933) von Gilberto Freyre,
Iracema (1865) von José de Alencar, aber auch Macunaíma (1928) von Mário de
Andrade zu bestehen. Diese drei Autoren haben sich in unterschiedlicher Weise mit
der Entstehung der brasilianischen Nation beschäftigt und dabei stets die Erotik mit
einbezogen. Casa grande e senzala ist nicht nur eine sozialhistorische Studie, sondern
auch erotische Literatur, da Freyre eigene Erinnerungen in sein Buch einfließen läßt.75
Er sucht die Wurzeln der brasilianischen Gesellschaft in der Kolonialzeit und betont
die erotischen Freiheiten, die sich weiße Patriarchen erlauben konnten.
In dieser Zeit entsteht das Motiv der sinnlichen Mulattin, das Freyre um so
begeisterter aufgreift, als daß er als Sohn eines Plantagenbesitzers selbst ihrer
Faszination erlegen ist. Das gesamte Buch scheint eine Rechtfertigung seiner
erotischen Präferenzen zu sein. José de Alencar ist als romantischer Prosa-Dichter in
erotischen Schilderungen wesentlich zurückhaltender und versteckt sie hinter
Naturbeschreibungen.
In
seinem
Gründungsroman
Iracema,
macht
er
die
gleichnamige Indianerin zu einer Urmutter Brasiliens, nachdem sie das Kind des
73
Wyler, Vivian, „João Ubaldo Ribeiro e o último dos livros que „tem“ de escrever“, in: Jornal do Brasil,
30.09.1983.
74
Später änderte sich dieser radikale Ansatz Jorge Amados in ein sentimentales Nationalgefühl, das auch die
Eliten miteinschloß.
75
Ein Beispiel für die erotische Sprache Freyres: „O que a negra de senzala fez foi facilitar a depravação com
sua docilidade de escrava; abrindo as pernas ao primeiro desejo do sinhô-moço. Desejo não: ordem.”
In: Freyre, Gilberto, Casa grande e senzala, 2002, S. 372.
30
Portugiesen Martim geboren hat. Die Indianerin hatte sich in den Weißen verliebt und
die körperliche Vereinigung erzwungen, indem sie Martim mit einem Schlaftrunk
betäubte.
„No romance de Alencar, a sedução realizada por Iracema recorrendo à
beberagem oferecida a Martim, tem a função de isentá-lo de culpa no
episódio, de recalcar o sentido de violação implícito na relação conquistador /
terra conquistada, já que a figura da heroína indígena acaba sendo reforçada
muito mais com abnegação, receptáculo passivo das sementes da civilização
do que como parte ativa numa disputa de espaço.“76
Wenn, wie von Vera Follain behauptet, in Wahrheit der Portugiese Martim die
Indianerin Iracema kulturell unterwirft, ist es auch nicht verwunderlich, daß die
Geschichte tragisch endet. Martim liebt sein abenteuerliches Leben und die
portugiesische Heimat zu sehr, um sich wirklich auf Iracema zu konzentrieren, die
deshalb voller Traurigkeit stirbt. Ihr Sohn lebt jedoch weiter, als sichtbares Ergebnis
ihrer erotischen Vereinigung, die kulturell nicht gelingen sollte und so wird ein
Mestize zum Stammvater aller Brasilianer.
Ein Kind kultureller Gegensätze ist auch Macunaíma, der gleichzeitig in der
Gegenwart der Mythen und der Vergangenheit der Maschinen lebt. Diese vielen
Widersprüche machen ihn zum herói sem nenhum caráter - zum ironischen Prototyp
des Brasilianers, der sich vor allem durch sexuelle Energie auszeichnet. Das Erotische
in Macunaíma ist brutal, die Figuren lieben und schlagen sich, beißen sogar ganze
Körperteile voneinander ab. Das Erbe der Kannibalen ist in ihnen noch lebendig,
Macunaíma verschlingt seine Partnerinnen erotisch und nimmt ihre Erfahrungen in
sich auf. Mit Macunaíma hat Mário de Andrade die Idee eines Gründungsmythos
ironisch aufgegriffen und einen verantwortungslosen malandro zum Urvater Brasiliens
gemacht – Macunaíma ist das Negativ von Iracema.
4. 1 Literarischer und erotischer Kannibalismus
In Viva o povo brasileiro wird die brasilianische Geschichte neu gedeutet, indem die
Unterdrückten eine Stimme bekommen und damit die offizielle Geschichte
hinterfragen, die von den Eliten niedergeschrieben wurde. Der Roman beginnt mit der
Beschreibung eines Gemäldes, auf dem ein junger Soldat heldenhaft für die Heimat
stirbt und noch im Todeskampf eine patriotische Rede an die Möwen hält.
76
Figueiredo, Vera Follain de, „Viva o povo brasileiro e a vocação totalizante do romance latino-americano“, in:
Revista Brasil de Literatura, o.J, Internet.
31
Im Anschluß folgt die realistischere Version, die Geschichte eines jungen Fischers, der
nicht weiß warum und für wen er kämpft. Paßenderweise lebt in ihm die
brasilianische alminha (Seelchen) und damit wird er zum Symbol für die arme
Bevölkerung, die sich in ihrer Ignoranz opfern läßt. Diese brasilianische alminha, eine
Erfindung des Autors, lebt im Laufe der Jahrhunderte in den verschiedensten
Brasilianern und verinnerlicht so eine brasilianische Gesamterfahrung.
Mit solchen und ähnlichen Geschichten weisen Autor, Erzähler und die Protagonisten
immer wieder darauf hin, daß es keine geschichtliche Wahrheit gibt und der Roman
selbst nur eine Geschichte unter vielen ist: „toda a História é falsa ou meio falsa e
cada geração que chega resolveu o que aconteceu antes dela e assim a História dos
livros é tão inventada quanto a dos jornais, (…).“77 Dieses Vorher schöpft João
Ubaldo Ribeiro aus Geschichtsbüchern und der brasilianischen Literatur, die er
parodiert und damit auch bewertet. Er wird zum literarischen Kannibalen ganz im
Sinne des Manifesto antropófago78(1928) von Oswald de Andrade (1890-1954),
benutzt jedoch nicht ausländische Kultur, um sie zu etwas Brasilianischem zu
verarbeiten, sondern verschlingt das Brasilianische und kreiert dadurch etwas Neues.
Er erfindet die brasilianische alminha, die über die Jahrhunderte in verschiedenen
Figuren des Romans wiedergeboren wird. Die ersten brasilianischen Inkarnationen
dieser Seele sind verschiedene Tiere, Indianerinnen, der Alfares Brandão, bis sie eines
Tages zu Maria da Fé wird, der Heldin des Buches und Symbolgestalt für das
brasilianische Volk. Wichtig für die Interpretation des Romans ist auch die Inkarnation
der Seele im Menschenfresser Caipiroba, dem Sohn eines entlaufenen Sklaven und
einer Indianerin. Als die Jesuiten versuchen ihn zu missionieren, wird er verrückt und
entwickelt sich zu einem Kannibalen. Ein kulinarischer Genuß, den Caipiroba vorher
nicht kannte: Erst die Jesuiten bringen ihn auf die Idee Menschenfleisch zu essen.
Damit parodiert João Ubaldo die Berichte europäischer Chronisten über
Menschenfresser und die Europäer werden zu unfreiwilligen Gründungsvätern der
Anthropophagie. Tatsächlich ist umstritten, ob es in Brasilien
tatsächlich diesen
Brauch gegeben hat. Zwar wurde dies von Reisenden behauptet, doch waren ihre
Reiseberichte nicht immer glaubwürdig, weil sie teilweise voneinander abgeschrieben
77
78
Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 515.
Andrade, Oswald de: „O manifesto antropófago”, in: Obras completas, Bd.6, A utopia antropofágica, 1990.
32
haben.79 „No entanto não há, na história do Brasil, depoimento de alguém que
houvesse visto índio comer gente.“80
João Ubaldo Ribeiro treibt die Ironie und Komik der Situation noch weiter, als
Caipiroba die gefangenen Europäer nach portugiesischen Rezepten zubereitet, die
ebenfalls von den Jesuiten stammen. Später entdeckt der caboclo81 zudem, daß
Holländer wesentlich besser als Portugiesen schmecken, eine Anspielung auf die
Vorstellung, daß die Holländer als Kolonialherren eine bessere Zivilisation
hervorgebracht hätten. Die Anthropophagie wird zu einem karnevalistischen
Bankett.82 João Ubaldo treibt Technik und Motiv der Anthropophagie auf die Spitze,
indem er als literarischer Kannibale, der die brasilianische Geschichte und Literatur
verspeist und zu etwas Neuem verdaut, über Kannibalen schreibt. Gleichzeitig
ironisiert er zumindest die modernistische Interpretation der Anthropophagie. Nach
Auffassung der Modernisten sollte durch sie etwas Neues, genuin Brasilianisches
entstehen. Wie soll das möglich sein, wenn Europäer diese Praxis eingeführt haben?
Das modernistische Konzept des Kannibalismus beruht nach Ubaldo Ribeiros
Interpretation auf einer kolonialisierten Brasilienbetrachtung. Dennoch wird er mit
seiner Kritik an der Anthropophagie zum perfekten literarischen Kannibalen:
„Destruir para construir em cima. Deglutir para, de posse do instrumental do
„inimigo“, poder combatê-lo e superá-lo. Deglutir o velho saber, transformando-o em
matéria prima do novo.“83 Vu, die Tochter des caboclo, verspeist nicht nur
Menschenfleisch, sondern „vernascht“ auch den gefangenen Holländer Zinique, in der
doppelten Bedeutung des Wortes comer.
„Quando ela finalmente o pôs nu da cintura para baixo, ele estava imóvel,
pois tão logo esboçou a reação costumeira, ela lhe acertou os dedos
quebrados e amarrou a argola do nariz numa corda curta. (…) Vu levantou o
tronco ainda ajoelhada e (…) sentou-se em cima dele com um movimento só,
deu um gritinho e desatou a maior risada que jamais pensara poder dar.“84
79
vgl. Carneiro, J. Fernando: A antropofagia entre os indígenas do Brasil, 1946.
Holanda, Sérgio Buarque in: A antropofagia entre os indígenas do Brasil, 1946, S. 17.
81
caboclo bedeutet Halbblutindianer, der Autor benutzt sowohl die Schreibweise caboclo als auch caboco,
wobei letztere eine Varietät ist, die wahrscheinlich den Dialekt der Sprechenden verdeutlichen soll.
82
Im Karneval werden bestehende Werte vorrübergehend auf den Kopf gestellt. Nach Bachtin gehören zum
karnevalesken Denken: „Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes, sozusagen die Akte des
Körper-Dramas, Essen, Trinken, Ausscheidungen (…), Begattungen, Schwangerschaft, Niederkunft,
Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch den anderen Leib – alles
das vollzieht sich an den Grenzen von Leib und Welt, an der Grenze des alten und des neuen Leibes.“ In:
Bachtin, Michail, Literatur und Karneval, 1969, S. 17.
83
Friedman Maltz, Bina, Antropofagia e tropicalismo, 1993, S. 11.
84
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 52 f.
80
33
Vu, die im Roman durch ihre Nachkommen zu einer Urmutter Brasiliens wird,
verschlingt den Holländer sexuell und kulturell. Das erscheint deshalb wichtig, weil
Frauen oft symbolisch die Mutter Erde repräsentieren, die in einem Kolonialland von
vermeintlichen Entdeckern unterworfen wird. In diesem Fall wartet die Frau als
Symbol für die brasilianische Erde nicht darauf, unterworfen und befruchtet zu
werden, sondern ergreift selbst als Handelnde die Initiative.
Wie bereits erwähnt, wurde comer (essen) schon von romantischen Dichtern im
Sinne von possuir (besitzen) verwendet, indem sie die Mulattinnen euphemistisch mit
Früchten verglichen, die verspeist werden sollten. Ubaldo Ribeiro kehrt diese
Tradition um, indem eine Einheimische den weißen Holländer erotisch verspeist.
Dabei geht sie äußerst brutal vor und behandelt ihn wie ein gefangenes Tier. Wie ein
Zuchtstier hat er einen Ring in der Nase und wird an der kurzen Leine gehalten. Der
Holländer Zinique wird von Vu nicht als Mensch angesehen. Daß einem „zivilisierten
Europäer“, von brasilianischen „Wilden“ sein Menschsein genommen wird, ist
vermutlich eine weitere ironische Pointe des Autors. Hatten doch manche Theologen
zeitweise die Existenz einer Seele bei Indios und Afrikanern bezweifelt.
Forscher, die sich mit dem rituellen Kannibalismus in der Karibik befaßten, kamen
zu dem Ergebnis, daß manche Kannibalen die besiegten Feinde verspeisten, um
dadurch ihre besten Eigenschaften zu übernehmen.85 Im Fall von Vu und ihrem
Holländer geschieht genau das Gegenteil. Der Holländer wird unterworfen, im
sexuellen Sinne aufgefressen und sein Geist nimmt die Kultur des Kannibalen an.
Seine holländische Seele wird brasilianisch und manifestiert sich im Laufe des
Romans auf verschiedenen Candomblé-Veranstaltungen.86 João Ubaldo versucht hier
eine neue Interpretation der Anthropophagie, des Wortes comer und der dadurch
implizierten kulturellen Aneignung. Das Verschlingen im erotischen Sinne könnte
eventuell Batailles aggressiver Vorstellung von Erotik entsprechen, nach der die
„geschlossene Struktur“ des Partners, meist die der Frau, zerstört und aufgelöst wird.
Die Verbindung zwischen Grausamkeit und Sexualtrieb hatte schon Freud als
„kannibalisches Gelüste“87 bezeichnet, das der „Befriedigung des anderen,
ontogenetisch älteren großen Bedürfnisses dient.“88, der oralen Phase.89
85
vgl. Carneiro, J. Fernando: A antropofagia entre os indígenas do Brasil, 1946.
Candomblé ist ein afro-brasilianischer Kult, der aus den religiösen Mythen der afrikanischen Sklaven und dem
aufgezwungenen Katholizismus durch die Sklavenhalter entstand.
87
Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2003, S. 61.
88
Ibid., S. 61.
86
34
Die Verbindung zwischen Gewalt und Erotik erinnert aber auch an Macunaíma, den
Helden ohne Charakter, den Mário de Andrade als ironischen Prototyp des
Brasilianers erschuf.90 Ähnlich sind auch die eingeschränkten sprachlichen
Möglichkeiten Macunaímas und der Kannibalenfamilie, in diesem Fall von Caipiroba:
„forçando-o a mandar a mulher ficar quieta e a dar-lhe uns cachações para
que não tivesse um comportamento impróprio e incomodativo, também lhe
trazia uma satisfação misteriosa, tanto assim que às vezes perguntava à
mulher, logo após: teve coisa? Tive coisa, respondia ela, e ele ria satisfeito –
carrá-carrá-carrá! – dava um tapa na bunda dela.“91
Auch der Held ohne Charakter spricht meist in sehr kurzen, abgehackten Sätzen: „Tem
coisa.“92, „Ai! Que preguiça!“93 oder „Estou de mal“94.
Die sprachliche Ausdrucksweise der Figurenrede entspricht dem Bewußtseinszustand
der Indianer, die nur über einen eingeschränkten Wortschatz verfügen. Der Erzähler
distanziert sich hier jedoch nicht von der Figurenrede, sondern nähert sich teilweise
sogar an: „dava um tapa na bunda dela“, ohne sich jedoch völlig mit ihr zu
identifizieren.
Das
zeigen
Wendungen
wie
„comportamento
impróprio
e
incomodativo“, die einem gehobenen Sprachstil entstammen. Die teilweise sprachliche
Annäherung scheint aber darauf hinzudeuten, daß der Erzähler die Indianer nicht
verurteilt oder belehren will. Indem João Ubaldo Ribeiro die Erzähler- und
Figurenrede sprachlich den beschriebenen Zeiten und sozialen Status der Figuren
anpaßt, hat er zudem die Möglichkeit Stile anderer Autoren und Epochen zu
parodieren.
Durch diese einfache Sprache erscheinen Vu und ihr Vater besonders primitiv. Vu
versteht nicht, warum sie den Holländer berühren möchte, sie merkt nur, daß der
körperliche Kontakt angenehme Gefühle auslöst, ohne zu wissen daß dadurch Kinder
gezeugt werden. Ihre Reaktionen sind instinktiv und kreatürlich, sie nähert sich dem
Tier und der Natur. Die Kannibalin ist das Gegenteil einer edlen Wilden, das
89
Freud teilte die frühe sexuelle Entwicklung von Kindern (0-3) in zwei autoerotische Phasen ein. In der oralen
Phase lutschen und saugen Kinder nicht nur zur Nahrungsaufnahme, sondern auch um die erogenen
Mundschleimhäute zu reizen. In der analen Phase versuchen die Kinder hingegen die „erogene Reizbarkeit der
Afterzone auszunützen“ in: Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2000, S.88.
90
Ein Beispiel für die Darstellung von Erotik in Macunaíma: „O herói se atirou por cima dela para brincar. Ci
não queria. Fez lança de flecha tridente enquanto Macunaíma puxava de pajeú. (…) O herói apanhava.
Recebera já um murro de fazer sangue no nariz e um lapo fundo de txara no rabo. A icamiaba não tinha nem um
arranhãozinho e cada gesto que fazia era mais sangue no corpo do herói (…)“ in: Andrade, Mário de:
Macunaíma, 2001, S. 25.
91
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 53.
92
Andrade, Mário de, Macunaíma, 2001, S. 25.
93
Ibid., S.27
94
Ibid., S. 15
35
Gegenteil der schönen Iracema – ein Kontrast den Ubaldo Ribeiro möglicherweise
beabsichtigt hat, zumal auch Vu ihren weißen Krieger erotisch überwältigt. Die
Ursache ihres primitiven Daseins liegt allerdings in der Kolonisation, da ihr Vater
Caipiroba erst nach Ankunft der Jesuiten verrückt und aus seinem sozialen Umfeld
verbannt wurde. Deswegen ist nicht unbedingt der Indio als solcher primitiv, sondern
vor allem in seiner Eigenschaft als colonizado, womit in dem Roman der angeblich
positive Einfluß der Jesuiten in Frage gestellt wird.
4.2 Die Mulattin als Ergebnis der Vergewaltigung
Mulattinnen
werden
in
der
brasilianischen
Literatur
häufig
als
erotische
„Leckerbissen“ dargestellt, wobei ihre sexuelle Hingabe als positiv gilt. Sie sind aber
nicht nur Sinnbild des erotisierten Brasiliens sondern auch der brasilianischen
Identität. Die heldenhafte Mulattin Maria da Fé gilt als Inkarnation der brasilianischen
alminha und damit des brasilianischen Volkes: „O povo brasileiro somos nós“.95
Sie ist jedoch nicht die Frucht eines friedlichen Zusammenlebens der „Rassen“,
sondern wurde in einer Vergewaltigung gezeugt. Ubaldo Ribeiro schildert diese
Schändung aus der Sicht von Perilo Ambrósio, dem Baron von Pirapuama, der sich die
Vergewaltigungsszene der jungfräulichen Sklavin Vevé vorstellt und dabei
masturbiert. Diese Phantasie wird der Baron genauso umsetzen.
„E finalmente pegando a negrinha Vevé e, sem dizer uma palavra, atirá-la à
cama, abrir-lhe as pernas, deixar bem claro que não queria que se mexesse,
(...), deflorá-la de um só golpe, (...) enfiar-lhe tudo com um golpe rude que
quase a lançasse contra a cabeceira, (...) gozasse dentro dela, senhor
completo, (...).“96
Der Sadismus des angeblichen Helden der Unabhängigkeit wird nicht nur durch den
Akt an sich, sondern auch die brutale Sprache zum Ausdruck gebracht. Sie soll mit
einem Schlag (golpe) entjungfert werden und mit einem Schlag will er in sie
eindringen. Zudem soll sie gegen die Kopfstütze geworfen werden, wobei das Verb
lançar mit dem Wortstamm lança (die Lanze) verwendet wird. Durch die
etymologische Nähe zu einer Waffe ruft lançar gewalttätige aber auch phallische
Assoziation hervor.
95
96
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 564.
Ibid., S. 91.
36
Diese gewaltsame Erotik erinnert wieder an die Ausführungen Batailles, da Vus
„geschlossene Struktur“, ihr Körper zerrissen wird, damit der Vergewaltiger sich
durch seinen Orgasmus mit ihr vermischen kann. Durch diesen kurzen Augenblick der
Verschmelzung fühlt Perilo Ambrósio sich komplett und allmächtig. Macht und
Transgression sind seine Aphrodisiaka.
Die Frage ist, ob man im Falle einer Vergewaltigung überhaupt von Erotik
sprechen kann. Viele Vergewaltiger werden nicht primär von sexuellen Impulsen
angetrieben, sondern wollen vor allem Macht97 ausüben, indem sie eine andere Person
erniedrigen. Macht und Erotik gehen eine unheilige Partnerschaft ein, vielleicht könnte
man von einer pervertierten Form von Erotik sprechen. Möglicherweise sind hier aber
auch bereits die Grenzen der Erotik überschritten und es handelt sich um triebhafte
Sexualität, ausgelöst von dem Wunsch Macht auszuüben. Im Fall von Perilo Ambrósio
scheinen
beide
Antriebe,
Machthunger
und
körperliche
Bedürfnisse,
zusammenzugehören.
„(...) sentia que podia mijar em tudo o que quisesse, podia fazer qualquer
coisa que quisesse. (…) Sim, podia sair ali nu como estava, a glande como a
cabeça de um aríete irresistível, e podia fazer como que todos a olhassem e a
reverenciassem e ansiassem pela mercê de poder tocá-la e beijá-la.“ 98
Kurz vor und nach der Vergewaltigung definiert Perilo seine Macht nur über seinen
Phallus. Er möchte die ganze Welt schänden, indem er auf sie uriniert. Gleichzeitig
soll seinem göttlichen Phallus gehuldigt werden. Die sprachliche Gestaltung dieser
Phantasie ist den hochfliegenden Gedanken Perilos angemessen, die gleichzeitig in
ihrer Absurdität parodiert werden. Schließlich handelt es sich nicht um eine heilige
Reliquie, sondern um ein Geschlechtsteil. In der Vergewaltigungsszene wird eine
Handlung wiedergegeben, die gleichzeitig die Machtverhältnisse zwischen Herren und
Sklaven repräsentiert. Der Sklavenhalter vergreift sich an einer Sklavin, die passiv
bleiben und keine Lust empfinden soll. Die Szene ist in ihrer detaillierten
Beschreibung voyeuristisch angelegt und wirkt durch die Reproduktion der
Machtverhältnisse pornographisch. Es ist durchaus möglich, daß Leser, die eine
pejorative Einstellung gegenüber farbigen Frauen teilen, diese Darstellung als erotisch
anregend empfinden.
97
„ Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen
Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. (…) Alle denkbaren Qualitäten eines
Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer
gegebenen Situation durchzusetzen“ In: Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 1972, S. 28 f.
98
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 90.
37
Andererseits ist Perilo Ambrósio eine derart negative Figur, daß er kaum Sympathien
auslöst. Der Baron hat seinen Titel durch Mord und Verrat erschlichen, indem er einen
Sklaven während der Unabhängigkeitskämpfe tötet und mit dessen Blut eine
Verwundung vortäuscht. Dem Zeugen seiner Tat schneidet er die Zunge heraus.
Um sich die väterlichen Ländereien anzueignen, verleugnete der „Held der
Unabhängigkeit“ seine eigene Familie als Vaterlandsverräter, zumal er sie tödlich
haßt.
„Lembrou, como de hábito sentindo o peito ofender-se e doer a solidão pesada
da injustiça, que o pai ameaçara (...) expulsá-lo da vila e da fazenda, ao vê-lo
atacar uma das irmãs com um chuço de assar porque ela se apossara primeiro
de um pedaço de carne distante mas cobiçado. Não tinha como alcançar
aquela salpresa a resplender entre maxixes e jilós na outra ponta da mesa, (...)
Então não cabia fazer nada, a não ser, com os olhos de uma baleia ferida,
voar por cima daquele intolerável abismo entre ele e o pedaço de carne, e
antes que a irmã mordesse o que era dele, transfixar-lhe a mão com o chuço
preto e gorduroso. (...), o pai arrancou-lhe a lasca de carne entre os dentes em
meio a uma chuva de tabefes, (...), jamais, agora que fora ingratamente
magoado, existirá em toda a Terra carne suficiente para matar a fome por
aquele pedaço usurpado e arrancado à força de seus dentes desesperados.”99
In dieser satirischen Szene wird der wahre Charakter des angeblichen Helden
offengelegt. Ein erwachsener Mann haßt seine Familie und insbesondere die eigene
Schwester wegen eines Stückes Fleisches. Die unermeßliche Gier von Perilo wird ins
Groteske übersteigert, etwas scheinbar Wertloses wird zum Antrieb für seine Rache.
Die satirische Intention des Autors wird auch durch die parodistisch verwendete
hohe Stilebene deutlich, die einem Heldenepos angemessen erscheint. Der
Bewußtseinsstrom der Figur Perilo vermischt sich mit Einwürfen des Erzählers, wenn
dieser Perilo beispielsweise mit einer „baleia ferida“ vergleicht. Damit ironisiert
Ubaldo Ribeiro zudem die edle, offizielle Version, die der Baron gerne über seine
Familiengeschichte erzählt: „Entre a Pátria e a família, (…), Deus há sempre de me
dar forças para escolher a primeira, eis que vale mais o destino de um povo que a
sina de um só.“100 Durch die komplizierte Wortwahl und die Satzstellung wird die
pompöse Eitelkeit des Barons betont, der fast selbst an seine Lügen glaubt. Diese
patriotische Sentenz macht den Baron noch lächerlicher. Die Allmachtsphantasien
dieses Mannes sind besonders empörend, weil sie die Phantasien eines grausamen
Kindes sind, das durch bösartige Schlauheit zu Geld und Einfluß gekommen und
damit zur Elite des unabhängigen Brasiliens aufgestiegen ist.
99
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 21.
Ibid., S. 35.
100
38
Die unermeßliche Freßgier des Barons ist aber auch psychologisch interessant, weil sie
auf eine mögliche orale Fixierung hinweist, die laut Freud zu Sadismus führen kann.
Zu Zeiten der Psychoanalyse hätte der Baron vielleicht keine Frauen vergewaltigt,
sondern wäre in psychologische Behandlung gekommen.
Auch der Name Perilo, der in Schreibweise und Lautbild aus perigo
(Portugiesisch: Gefahr) und périle (Französisch: Gefahr) zusammengesetzt ist, läßt
von dieser Figur nichts Gutes erwarten. Der Zuname Ambrósio ist vermutlich eine
weitere spöttische Anspielung Ubaldo Ribeiros, denn ambrósios heißt auf Griechisch
„zu den Unsterblichen gehörend, göttlich“, woher auch der Name der Unsterblichkeit
verleihenden Götternahrung Ambrosia herrührt.101 Die Göttlichkeit des Barons
existiert zwar nur in dessen eigener Phantasie, gleichzeitig paßt seine Freßgier zu der
Nahrungsbedeutung von Ambrósia. Unsterblichkeit hat ihm der Name nicht verliehen,
denn die Sklaven vergiften den Baron aus Rache für seine Verbrechen.102 Was für
Auswirkungen die brutalen Phantasien des Barons haben, wird an der Textstelle
deutlich, in der die Vergewaltigung aus Vevés Perspektive geschildert wird.
Wie auch an anderen Stellen des Romans, werden die Blickwinkel der Mächtigen und
Machtlosen gegenüber gestellt.
„Chorou muito tempo na mesma posição, chorou por muitas razões, às vezes
todas juntas, às vezes cada uma por seu turno, teve raiva de sentir pena de si
mesma, principalmente teve raiva por sentir vergonha, porque haveria de
sentir vergonha, quando não tinha feito nada? (…) Suja, muito suja, suja de
todas as maneiras, doída, tão doída, ela abraçou a si mesma, sozinha, tão
sozinha, sozinha tão sem remédio, e ficou dormente.“103
In dieser erlebten Rede vermischen sich die Beschreibungen des Erzählers mit
denjenigen der Figur. Diese „Doppelstimme“ wird zur „psycho-narration, das heißt
zur bildhaften Erzählung von Bewußtseinszuständen (…), die von der Handlungsfigur
selbst nicht versprachlicht werden (können).“104 Die beiden Stimmen verbinden sich
zu einem Sprachstrom, die nur durch die unterschiedlichen Stilebenen der Figurenund Erzählerstimme unterscheidbar sind, auch wenn die Erzählerstimme sich teilweise
dem Sprachniveau der Figur anpaßt.105 Der Erzähler sortiert Vevés Gedanken und
schildert ihre nach Außen sichtbaren Reaktionen. Dadurch wird die allumfassende,
101
vgl. Duden, Lexikon der Vornamen, 2004, S. 42.
Einen Tod, den auch die weißen Sklavenhalter in Alejo Carpentiers (1904-1980) El reino de este mundo
(1949) ereilt.
103
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 135.
104
Vogt, Jochen, „Grundlagen narrativer Texte“, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, 1997², S. 304.
105
z.B. Anpassung der Erzählerrede an die Stilebene der Figur: „principalmente teve raiva por sentir vergonha“,
hohe Stilebene: „porque haveria de sentir vergonha?“
102
39
seelische und körperliche Verzweiflung von Vevé deutlich und kontrastiert hart mit
den brutalen Allmachtsvorstellungen des Perilo Ambrósio.
Die Phantasie Ambrósios bleibt zwar pornographisch, doch verhindert die
Polyphonie106 der Stimmen, daß auch die Wirkung dieser Szene pornographisch wird.
Der Leser erfährt von der geplanten Schändung vor der eigentlichen Tat, weiß also
schon vor Vevé, was ihr widerfahren wird. Diesen Wissensvorsprung teilt sich der
Leser mit dem Vorarbeiter, der die Vergewaltigung organisiert. Dadurch wird der
Leser vom Voyeur zum Mitwisser und impliziert auch zu einem Komplizen, der ein
geplantes Verbrechen verschweigt. Er ist gezwungen wie in einem Film darauf zu
warten, daß das Unausweichliche passiert – eine unangenehme Lage, welche die
Empathie des Lesers für das Opfer verstärkt. Die Mißhandlung kommt schließlich
unerwartet, weil zunächst Vevés erotische Träumerei, das romantische Liebesspiel
zwischen zwei Walen beschrieben wird.
Der Gegensatz zwischen Vevés Träumen und der traurigen Wirklichkeit führt einmal
mehr Freyres euphemistische Formulierungen wie „formas sadistas de amor“107 ad
Absurdum. Nach der Vergewaltigung wird Vevé freigelassen und dem Schwarzen
Leléu übergeben, damit die Frau des Barons nichts von dem Übergriff erfährt. Die in
Casa grande e senzala beschriebene positive Annäherung zwischen Herren und
Sklavin findet nicht statt und auch der Nachwuchs ist unerwünscht.
João Ubaldo vermeidet nicht nur jegliche Romantisierung der Casa Grande,
sondern macht eine Annäherung zwischen Bevölkerung und Elite fast unmöglich. Das
Volk in diesem Roman entsteht aus der Distanz zwischen Herrenhaus und
Sklavenhütte und deshalb muß Maria da Fé als Hoffnungsträgerin der Unterdrückten
in Freiheit geboren werden. Sie verbringt in der Obhut Vevés und Leléus, der relativ
wohlhabend ist und sie wie ein Enkelkind behandelt, eine angenehme Kindheit und
Jugend. Sie erhält Unterricht auf einer Privatschule und lebt in einem priveligierten
Freiraum ohne ethnische Vorurteile. Maria da Fé weiß nicht, daß sie in der
Kolonialgesellschaft aufgrund ihrer Hautfarbe stigmatisiert wird. Das erfährt sie erst,
als weiße Männer sie vergewaltigen wollen und dabei ihre Mutter Vevé töten, die sie
verteidigt. Durch diese Tat verändert sich das Leben Marias von Grund auf. Sie
verliert ihre Naivität und erkennt die Ungerechtigkeiten der Kolonialgesellschaft.
106
Polyphonie = Mehrstimmigkeit, „Die Protagonisten des polyphonen Romans (…) vertreten unvereinbare
Standpunkte, deren Konkurrenz nicht durch eine übergeordnete Autoreninstanz entschieden wird.“
Martinez, Matias, „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, 1997²,
S.437.
107
Freyre, Gilberto, Casa Grande e Senzala, 2002, S. 377.
40
Sie ist deshalb nicht zufrieden, als Leléu die drei Mörder heimlich tötet. „(…) se os
homens morreram sem saber porque estavam morrendo, de pouco adiantara a
vingança.“108 Die Figur Maria da Fé ist also in doppelter Hinsicht das Ergebnis einer
Vergewaltigung. Sie wird durch eine Vergewaltigung gezeugt und erlangt durch eine
versuchte Vergewaltigung ihr soziales Bewußtsein. Ohne dieses Erlebnis und den Tod
ihrer Mutter wäre sie nie zu der Guerillera geworden, die sie zur Heldin des Romans
macht. Ribeiro entmystifiziert den Gründungsmythos der friedlichen Vermischung
der drei „Rassen“. Er betont die Brutalität der Weißen und schildert den Widerstand
der schwarzen Frauen. Aus diesen Gegensätzen wird dennoch die Lichtgestalt Maria
da Fé geboren, die zur Leitfigur der „Irmanidade do povo brasileiro“ aufsteigt.
4.3 Die Mulattin als aktiv Handelnde
Maria da Fé unterscheidet sich von anderen Mulattinnen der brasilianischen Literatur,
denn sie hat eine Vergangenheit und eine Zukunft. Marias Vorfahren können durch die
Seelenwanderung der alminha bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden, ein
Privileg das normalerweise Familien der Elite vorbehalten ist. Auch die
Lebensgeschichten der beiden Eltern sind bekannt, ebenso wie der Augenblick der
Zeugung. Maria da Fés Geschichte unterscheidet sich grundlegend vom Klischee der
sinnlichen Mulattin, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennt und auf ihren
sinnlichen, naiven Charme reduziert bleibt. Maria bekämpft die Ungerechtigkeiten
ihrer Gegenwart, um eine bessere Zukunft für das brasilianische Volk zu erwirken.
4.3.1 Maria da Fé: eine Amazone mit erotischen Bedürfnissen
Maria da Fé wird zur gefeierten Volksheldin, die mit Waffengewalt gegen die
Sklaverei kämpft, ohne jedoch unnötige Brutalitäten zu begehen. Im Gegensatz zu
früheren mulata-Beschreibungen zeichnet Maria da Fé sich nicht durch ihre Nähe zu
den Weißen, sondern die Hinwendung zu ihren schwarzen Wurzeln aus. Das tut sie
nicht in Ermangelung von Alternativen, sondern aus Überzeugung. Dank ihrer
Schulbildung und Leléus Unterstützung hätte sie sogar als Lehrerin arbeiten können.
Dennoch entscheidet sie sich für ein unkonventionelles Leben und wird zur
108
Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 371.
41
klassischen Verkörperung der Amazone, zur donzela guerreira109, ohne Mann an ihrer
Seite. Damit entspricht sie nicht dem bekannten Motiv der sinnlichen Mulattin,
obwohl Maria da Fé schön ist: „a figura alta (…), tão bonita (…), os olhos verdes“.110
Mit ihren grünen Augen ähnelt sie Jorge Amados Gabriela, doch das ist auch die
einzige Übereinstimmung. Sie ist attraktiv, wird aber nicht mit Früchten verglichen
oder aufgrund ihrer Kochkünste gelobt. Maria da Fé setzt nicht ihre körperlichen Reize
ein, sondern kämpft mit ihrem Verstand und Waffengewalt. Ihre Mitstreiter sind
zumeist Männer und sie muß sich in einer reinen Männergesellschaft durchsetzen. Aus
diesem Grunde meidet sie Abenteuer mit dem anderen Geschlecht.
„Se fosse homem, podia ter até várias mulheres, mas, sendo mulher, não podia
ter homem nenhum, exceto um que não quisesse mandar nela ou achar que a
tinha subjugado só porque a levara para a cama.”111
Maria da Fé ist sich bewußt, daß Erotik und Unterwerfung in einer patriarchalen
Gesellschaft zusammengehören. Als Anführerin kann sie nicht zulassen, daß ein Mann
glaubt, sie erotisch zu dominieren. Eine Frau kann scheinbar nur dann herrschen112,
wenn sie nicht als erotisch begehrenswert wahrgenommen wird. Obwohl Maria diese
Situation erkennt, versucht sie nicht die Geschlechterverhältnisse aktiv zu verändern.
Sie bekämpft die Sklaverei und nicht die Unterdrückung der Frau. Deswegen gibt
sie ihren erotischen Bedürfnissen nur heimlich nach, als ihrer Guerilla-Gruppe Patrício
Macário, ein Offizier der brasilianischen Streitkräfte in die Hände fällt. Patrício und
seine Kollegen werden mit einem Schlaftrunk betäubt, entwaffnet und nackt
ausgesetzt. Zuvor stattet sie aber Patrício einen Besuch ab.
„Entrou pouco depois, fechou a porta, lá estava ele, somente a cabeça
aparecendo entre as dobras do lençol, à luz fraquinha de uma lamparina de
caneco. (…) O coração disparando, o fôlego opresso, mas um bem-estar muito
grande por todo o corpo, curvou-se para ele, tão belo e forte dormindo igual a
um inocente e, bem devagar, levantou o lençol, desvelando-o como se temesse
acordá-lo. “ 113
In diesem Abschnitt wird das klassische Rollenverhältnis der Geschlechter im
Patriarchat umgekehrt. Maria da Fé kann den schlafenden Mann erotisch dominieren,
ohne selbst unterworfen zu werden. Im Unterschied zu anderen Mißbrauchsszenen des
109
Zum Motiv der Amazone vgl.: Galvão, Walnice Nogueira, A donzela guerreira, 1998.
Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 499.
111
Ibid., S. 396.
112
„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam
zu finden.“ In: Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 1972, S. 28 ff.
„Herrschaft ist ein Sonderfall von Macht“ in: Ibid., S. 541.
113
Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 404.
110
42
Romans nähert Maria da Fé sich ihrem „Opfer“ mit Respekt. Sie bewundert seine
Schönheit und hebt das Laken sanft an. Das Licht ist gedämpft und der Mann liegt
hilflos wie ein Kind, unschuldig, ausgeliefert. Dies ist eines der seltenen Beispiele, in
denen der Autor eine erotische Handlung nur andeutet und nicht genau beschreibt.
Ubaldo Ribeiro überläßt es der Phantasie der Leser sich vorzustellen, was Maria da Fé
genau macht, gibt aber eindeutige Hinweise: „ O que ela fez em seguida? Ninguém
sabe. O que se sabe é que ela saiu dali algum tempo depois com um ar quase maroto,
(…).“114 Man muß beim Lesen stets seine Vorstellungskraft mobilisieren, denn wie
detailliert eine Schilderung auch sein mag, immer gibt es Auslassungen die der Leser
mit eigenen Bildern ausfüllen kann. Auch der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz
erklärt den Unterschied zwischen Erotik und Sexualität aus der menschlichen
Phantasie.
„El erotismo es invención, variación incesante; el sexo es siempre el mismo. (…)
En todo encuentro erótico hay una personaje invisible y siempre activo: la
imaginación, el deseo.“115
Wenn man annimmt, daß Erotik sich von animalischer Sexualität vor allem durch
mentale Vorgänge unterscheidet, könnte eine Steigerung des geistigen Anspruchs auch
eine Steigerung der Erotik mit sich bringen. Durch derartige Auslassungen wird der
Leser in die Erotik der Szene miteinbezogen, was ihre erotische Wirkung steigert.
Deswegen wäre es unpassend, diese Szene als Vergewaltigung zu deuten, da die
sprachliche Gestaltung des Autors nicht auf eine solche Interpretation schließen läßt.
Zudem wird die Vorstellung eines Mißbrauchs von Männern normalerweise nicht
als besonders traumatisch empfunden. „Eine Vergewaltigung ist für den Mann eine
positive erotische Phantasie, (…)“116, zumindest wenn die Täterin eine schöne, junge
Frau ist. Wahrscheinlich spielt der Autor wieder auf den Gründungsroman Iracema
von José de Alencar an, denn auch die virgem dos lábios de mel gibt ihrem weißen
Krieger einen Schlaftrunk, um sich ihm körperlich zu nähern. Maria da Fé und
Iracema sind kriegerische Frauen, die nicht nur mit Waffengewalt kämpfen, sondern
auch um die Liebe. Durch diese Ähnlichkeit zu Iracema wird Maria da Fé noch einmal
als Symbolfigur des brasilianischen Volkes identifiziert. Dabei gelingt Maria da Fé,
was Iracema mißlang. Durch diese erotische Form von comer, macht sie Patrício zu
einem Teil des brasilianischen Volkes, von dem er sich als Sohn des angepaßten
114
Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 404.
Paz, Octavio: La llama doble,1995, S. 15.
116
Alberoni, Francesco, Erotik, 1991³, S. 76.
115
43
Mulatten Amleto entfernt hatte. Die brasilianische alminha lebt in Maria, die
gleichzeitig die Seele des caboclo Caipiroba war und die mysteriöserweise auch die
Seele des Holländers Zinique wurde.117 Die Seele Ziniques ist in Maria da Fé gefahren
und die Seele Vus in Patrício. Damit wird die Urgeschichte der Vergewaltigung
umgekehrt, denn Vu hatte einen Mann sexuell unterworfen und dadurch zum
Brasilianer gemacht. Auch Patrício fühlt sich nach seiner Begegnung mit Maria da Fé,
immer stärker dem einfachen Volk verbunden. Als Sohn des Aufsteigers Amleto gilt
er zwar offiziell als Weißer, hat aber in Wirklichkeit eine schwarze Großmutter. Durch
Maria findet er zu seinen Wurzeln zurück, öffnet seinen Geist für den Candomblé und
die Probleme des Volkes. Das Motiv der Mulattin, die Fremde ins brasilianische
Leben einführt, ist nicht neu.
„Die Funktion der Frauen ist es, Einwanderer in die brasilianische Kultur
einzuführen. Als mulatas scheinen sie dafür prädestiniert. Sie sind
Kulturträgerinnen (Afro-)Brasiliens und werden sogar zu Symbolen für dieses
Land und seine Kultur.“118
Allerdings initiiert Maria nicht einen Fremden in die brasilianische Kultur, sondern
hilft einem entfremdeten Brasilianer dabei, sich selbst zu finden. Dabei geht es um
mehr als folkloristische Elemente, wie Capoeira oder Karneval, nämlich um eine
grundlegende Selbstaffirmation. „Agora vou ensinar vocês a ter orgulho.“119 Teil
dieser Selbstentdeckung ist auch die Annäherung an das Übersinnliche, der Glaube an
Seelenwanderung und den Candomblé, im Gegensatz zur Logik der Kolonialherren.
Vertreter der weißen Elite können nicht Teil der Irmanidade do povo brasileiro
werden, dieses Privileg ist Armen, Sklaven und gebildeten Mulatten vorbehalten. Als
Volksheldin beugt sich Maria da Fé nicht den Hierarchien zwischen Männern und
Frauen, zwischen Regierung und Volk. Während sie die sozialen Ungerechtigkeiten
mit Waffengewalt bekämpft, unterläuft sie die Hierarchien zwischen den
Geschlechtern aber nur heimlich.
117
Möglicherweise handelt es sich hier um eine nicht beabsichtigte Konfusion des Autors, der selbst angab,
während des Schreibprozesses den Überblick verloren zu haben und versehentlich Namen vertauschte.
118
Rauh, Annette, Mulatas und mulatos als literarische Held/innen. Zum Romanwerk von Aluísio Azevedo und
Jorge Amado., 1997, S.135.
119
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 519.
44
4.3.2 Die erotische Macht der Sklavin
Maria da Fé ist nicht die einzige mulata, die gegen die Geschlechter- und
„Rassenhierarchien“ aufbegehrt. Die Sklavin Martina schafft sich ihre persönliche
Freiheit im erotischen Liebesspiel, für das sie die Liebhaber selbst aussucht. Den Sohn
des Hauses hat sie verführt und abhängig gemacht.120 „Não sei como é que tu faz uma
coisa dessas – (…) Um frangote desses que não te traz nada, branquinho, senhor
como qualquer outro, aproveitador como qualquer outro …“121, wirft ihr die Sklavin
Merininha vor.
„Ora, minha filha, tu acha que eu vou deixar de papar um meninozinho
limpinho, cheiroso e disposto, (…) tu não sabe o que eu boto ele para fazer.
(…) Come ele, como eu, minha filha … Ha-ha! Tu sabe que quem garrou foi
eu?“122
Martina ist zwar leichtlebig und oberflächlich, dennoch sind ihre Verführungskünste
äußerst amüsant. Für wenige Momente hört die Sklaverei auf zu existieren, wenn
Martina ihre weibliche Macht über den verschreckten weißen Jungen ausübt.
Die Mulattin macht den Herren zum Sexualobjekt, kommandiert ihn herum und
nimmt ihn überhaupt nicht ernst – er wird zum Sklaven ihrer dominanten Erotik: „tu
não sabe o que eu boto ele para fazer“123 Hier zeigt sich einerseits der befreiende
Aspekt der Erotik, die alle Menschen gleichmacht, Machtverhältnisse verschiebt oder
umkehrt. Andererseits wird auch die männliche Angst vor weiblicher, dominanter
Erotik thematisiert. Dabei ist es kein Zufall, daß es sich um eine Mulattin und einen
weißen Jungen handelt, denn diese Machtspielchen könnten auch in anderen
Konstellationen stattfinden.
In ihrer leichtfertigen Lebenseinstellung entspricht Martina den sinnlichen
Mulattinnen der Literatur, mit dem Unterschied, daß sie aktiv verführt und die Männer
nicht ernst nimmt. Jorge Amados Gabriela würde nie derart respektlos über ihren
angebeteten Nacib124 sprechen und intime Details ausplaudern. Normalerweise werden
solche Gespräche von Männern geführt und nicht von angeblich unterwürfigen
Sklavinnen. Der Autor versucht sicherlich nicht, die Grausamkeiten der Sklaverei zu
120
Möglicherweise spielt der Autor auf den Mythos von Xica da Silva an, die im 18. Jahrhundert den
Gouverneur von Minas Gerais João Fernandes de Oliveira verführte, und damit zu der mächtigsten Frau im
Bundesstaat wurde.
121
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 272.
122
Ibid., S. 272 f.
123
Ibid., S. 272.
124
in: Amado, Jorge, Gabriela, cravo e canela, 2001. Gabriela arbeitet als Köchin für den Syrer Nacib und ist
gleichzeitig seine Geliebte. Ihre kurze Ehe scheitert an Gabrielas Untreue, die ihn trotzdem von ganzem Herzen
liebt. Nach einer Bußzeit darf Gabriela in Küche und Bett von Nacib zurückkehren.
45
beschönigen, indem er eine glückliche Sklavin auftreten läßt. Martina hat nur einen
kurzen Auftritt innerhalb des Romans, sie bildet nur eine kleine Facette innerhalb der
ubaldischen Identitätskonstruktion. Weitaus bedeutsamer sind Maria de Fé und
Merinha, die nicht nur ihr Leben lang auf ihre große Liebe, den entlaufenen Sklaven
Budião wartet, sondern auch den verhaßten Perilo Ambrósio vergiftet.
Dadurch wird deutlich, daß Martinas vermeintlich unmoralisches Verhalten nicht
als allgemeine Charakterisierung farbiger Frauen zu gelten hat. João Ubaldo Ribeiro
benutzt zwar eine mulata als Symbol für das brasilianische Volk, doch meidet er
gängige Vorurteile. Dadurch, daß der Erzählerstil gelegentlich Elemente der erlebten
Rede enthält und die Frauen zudem in der direkten Rede selbst zu Wort kommen und
sich im Laufe ihrer Lebensgeschichte weiterentwickeln, hören sie auf Symbole zu sein
und werden zu Menschen. Natürlich wird Maria da Fé durch ihre Schönheit, ihren Mut
und Einfallsreichtum stark idealisiert, so wie auch Jorge Amado seine Gabriela in ihrer
sirenen-gleichen Wirkung auf Männer verklärte. Maria da Fé ist aber eher eine Heilige
als ein Sexsymbol. Zudem steht die sinnliche Anziehungskraft einer Frau bei João
Ubaldo nicht im Zusammenhang mit einer dunklen Hautfarbe, wie beispielsweise bei
Amado. Martina ist eine sinnliche mulata, ihre Verführungskünste unterscheiden sich
aber nicht wesentlich von denen anderen weiblichen Figuren im Werk João Ubaldos.
Stellt man Martinas Verführungsszene neben eine entsprechende Beschreibung aus
dem pornographischen Roman A casa dos budas ditosos, ergeben sich kaum
Unterschiede. Martina lockt den weißen Knaben folgendermaßen:
„ (...) e ele ficava sempre na saída do corredor, de mão na cintura para o
cotovelo esfregar no meu peito achando que não reparava, mas eu só
reparando e cada vez eu demorava mais nessas passadas e sempre que eu ia lá
dentro ajeitava o peito dentro do califom, subia assim, espie, bico pra cima
assim, pra quando passasse no braço dele, ele sentisse o peito descaindo ali e
às vezes eu fazia uma paradinha sem olhar para ele, ia e voltava o peito, tantan. Muito bem, numa dessas passadas, virei para ele e disse: por que não vai
me chamar de noite pra pedir um chá? (…) Disse assim, bem encompridado:
chaaaá.“125
Die Libertine aus A casa dos budas ditosos verführt ihren Jura-Professor mit ähnlichen
Methoden:
„Dei para ficar na sala depois da aula, sempre tinha uma pergunta, vários
perguntas, olhando direto nos olhos dele, que desviava a vista, mas eu firme.
(…) Ele estava curvado, com as mãos apoiadas na mesa, e então aparentando
estar toda sem jeito, deixei uns cadernos cair da mesa, (…) encostei na mão
125
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 273.
46
dele, que se fechava sobre a borda da mesa. Ele levou um susto e tirou a mão,
mas eu fiz pressão e minha saia chegou a subir um pouco, (…) depois fiquei
vermelha, (…)“126
Die ubaldischen Frauenfiguren setzen raffiniert ihre körperlichen Vorzüge ein und
nicht etwa ihren Intellekt. Der Körper ist die Waffe der weiblichen Verführung,
unabhängig vom Bildungsstand und der Epoche in der die jeweiligen Frauen leben.
Diese instinkt-betonte Darstellung beschränkt sich nicht auf Farbige, wie es in der
brasilianischen Literatur oft üblich war, sondern gilt auch für weiße Frauen der
Oberschicht. Diese Verführerinnen bilden jedoch nur eine Facette des Frauenbildes,
das Ubaldo Ribeiro in seinem Werk entwirft. Es wäre unfair zu behaupten, daß er
Frauen grundsätzlich auf den Körper reduziert. Wenn es um mehr als körperliche
Erotik, wenn es um Liebe oder eine wichtige Aufgabe geht, endet die Herrschaft der
Instinkte und die Frauen zeigen ihre Persönlichkeit. Dennoch tendiert der Autor dazu,
radikale Frauenpersönlichkeiten zu entwerfen, die sich, getreu dem klassischen
patriarchalen Schema, entweder der Heiligen oder der Hure annähern.
4.4 Der kolonialisierte Mulatte
In Viva o povo brasileiro werden zwei Familiengeschichten erzählt: die des Barons
von Pirapuama (Maria da Fés Vater), sowie die von Amleto Ferreira (Patrícios Vater),
eines unehelich aber frei geborenen Mulatten im Dienste des Barons. Perilo Ambrósio
schätzt Amleto als intelligenten Angestellten, verachtet ihn aber gleichzeitig als
Mischling. Nachdem der Baron von Sklaven vergiftet wurde, bringt Amleto die
Reichtümer des Barons an sich und steigt in die bessere Gesellschaft auf. Je
erfolgreicher er ist, um so weniger wird seine dunkle Hautfarbe wahrgenommen, bis er
schließlich in der Fremdwahrnehmung ganz zu einem Weißen wird.
Seine schwarze Mutter verleugnet er und legt sich einen falschen Stammbaum mit
englischen und französischen Vorfahren zu. Jeden Tag zwingt er seine Kinder, ihre
Nasen schmal zu streichen, das Haar zu glätten, sowie die Sonne zu meiden. Patrício
ist der einzige Nachkomme Amletos, der die Wahrheit über seine Herkunft zu fühlen
scheint und gegenüber den Embranqueamento-Methoden des Vaters rebelliert.
Mit solchen Schlichen gelingt es Amleto aber tatsächlich, weißer zu erscheinen, nicht
zuletzt durch seinen Reichtum, der ihn auch gesellschaftlich zum Weißen macht.
126
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 2000², S. 66 f.
47
Amleto sucht jedoch nicht seine Situation zu verbessern, um die weiße Gesellschaft in
irgendeiner Form kritisch zu unterwandern, oder aus Überlebenswillen, wie
beispielsweise Leléu (Maria da Fés Adoptiv-Großvater). Amleto verachtet wirklich
alle farbigen Menschen und damit letztendlich auch sich selbst.
„(…) a fala daqueles negros baleeiros, o som daquelas palavras que mais
pareciam ruídos dos matos e dos bichos, o jeito desempenado do arpoador, os
movimentos bailarinos dos outros pretos, tudo isso fazia com ele, (...) sentisse
o rosto frio, o coração batendo e a garganta estreitada de raiva, (...)”127
Bevor er reich wird und eine eigene Lebensgeschichte erfinden kann, schämt sich
Amleto, Sohn einer freigelassenen Schwarzen und eines englischen Seemanns zu sein.
Durch seine Bildung fühlt er sich den Sklaven überlegen, wird aber dennoch von den
Weißen diskriminiert. Sie betrachten ihn nicht als intelligenten, gebildeten Menschen,
sondern sehen nur die dunkle Hautfarbe, die ihn automatisch disqualifiziert. Die
Weißen verhalten sich ihm gegenüber genauso, wie er gegenüber den Schwarzen, er
bewegt sich innerhalb einer Hierarchie der Verachtung. Obwohl ihm die Sklaven
verhaßt sind, fühlt er sich zu schwarzen Frauen hingezogen, beispielsweise zu Vevé,
bevor sie vom Baron vergewaltigt wird.
„Amleto sentiu uma estremeção, a boca salgada, as virilhas quase estralando,
queria olhar os peitos dela, podia vê-los, pegá-los, fazer com eles o que
quisesse! (...) Devagar inicialmente, depois como se quisesse transformá-los e
massa de pão ou fundir com eles os dedos, apertou os peitos de olhos
fechados, curvou-se e chupou um e outro com toda a força, enchendo a boca
tanto quanto podia.”128
Vevé läßt diesen Mißbrauch völlig regungslos über sich ergehen, wehrt sich nicht,
zeigt aber ebenso wenig Zeichen von Erregung. Amleto hingegen bekommt schon
durch diese Berührungen einen Orgasmus. Ihn erregt es, eine Frau zu demütigen, von
der er sich gleichermaßen angezogen und abgestoßen fühlt. Amleto setzt seine
beschränkte Macht ohne Skrupel ein, um Sklavinnen sexuell zu mißbrauchen.
Er hat die aggressive Erotik der Weißen in ihrer Abhängigkeit von Erniedrigung
und Macht übernommen. Amleto ist in vieler Hinsicht eine Kopie des Barons, er
spricht pompös mit vielen lateinischen Zitaten, ist allerdings viel intelligenter. Er
vergreift sich sogar an derselben Frau, zeigt innerhalb der machistischen
Werteordnung aber nicht gerade seine männliche Stärke. Er schafft es in letzter
127
128
Ribeiro, João Ubaldo: Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 102.
Ibid., S. 102.
48
Konsequenz nicht, Vevé und damit einen Teil seiner eigenen Identität zu
vergewaltigen. Er ist eine widersprüchliche Persönlichkeit, in ihm finden sich die
Antagonismen der Sklavengesellschaft, die es Mulatten nur dann erlaubt sozial
aufzusteigen, wenn sie ihre schwarzen Wurzeln verleugnen.
Auch der Name Amleto deutet in Anlehnung an Shakespeares Hamlet nicht auf ein
glückliches Schicksal hin. Nachdem er sein Leben lang die eigene Herkunft
verleugnet, gelogen, gestohlen und sich selbst betrogen hat, verliert er im Alter
schließlich den Verstand. Er kann keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen, weil er eine
neurotische Furcht hat, eine Fliege zu verschlucken, was möglicherweise eine Folge
seines biologischen Reinheitswahns ist, da Fliegen oft mit Schmutz in Verbindung
gebracht werden. Die beiden großen Patriarchen des Romans werden von ihren
eigenen Taten eingeholt. Der Baron wird von seinen Sklaven vergiftet und Amleto
geisteskrank.129 Ähnliches widerfährt dem Schwarzen Leléu, der zwar nicht die eigene
Herkunft ablehnt, aber doch auf Kosten von Sklaven und armen Freigelassenen seinen
sozialen Aufstieg betreibt. Er macht ehemalige Sklavinnen zu Prostituierten und
verkauft Fisch zu Wucherpreisen. Zwar schlägt er den Weißen bei jeder Gelegenheit
ein Schnippchen, doch stellt er nie die Sklaverei selbst in Frage. Im Gegensatz zu
Amleto hat Leléu jedoch auf den „richtigen“ Weg zurückgefunden, als er Maria da Fé
zärtlich adoptiert. So wird zwar auch er im Alter verrückt, aber auf eine liebenswertere
Art. Er, der nie eine richtige Kindheit hatte, wird im Alter völlig infantil, und findet so
zu seiner verlorenen Unschuld zurück.
Indem João Ubaldo die Doppelmoral Amletos und seiner Umgebung aufdeckt,
befindet er sich in einer Tradition mit Aluísio Azevedo und Jorge Amado, die auch
schon die Figur des Mulatten benutzten, um soziale Mißstände aufzuzeigen.
Während Amado mulatos wie in Jubiabá (1935) idealisierte, gibt Azevedo seinem
Protagonisten in O mulato (1881) einen schwachen Charakter, den er genetisch aus
seiner Herkunft erklärt. Amleto ist weder ein positiver Held, der gegen die
Unterdrückung kämpft, noch wird sein schlechter Charakter biologisch abgeleitet.
Seine Skrupellosigkeit ist Ergebnis des sozialen Umfelds, in das er geboren wurde. Er
paßt sich den Begebenheiten der Gesellschaft an, indem er selbst weiß und damit
mächtig wird. Auffällig ist trotzdem, daß männliche Mulatten in Viva o povo
brasileiro nicht als ideelle Gründungsväter Brasiliens in Frage kommen.
129
Beides Schicksale, die an die Figuren der zwei großen Klassiker des magischen Realismus erinnern: der Tod
durch Vergiften in Alejo Carpentiers (1904-1980) El reine de este mundo (1949) und der verrückte Patriarch in
Cien años de solidad (1967) von Gabriel García Márquez (1928-).
49
5. Erotik als Gesellschaftskritik
João Ubaldo versucht in seinem längsten Roman nicht nur die Geschichte Brasiliens
neu zu deuten, sondern bietet auch verschiedene Interpretationen des nationalen
Charakters. Es gibt nicht ein brasilianisches Volk, sondern mehrere, je nachdem
welche Personengruppe über ein brasilianisches Wir-Gefühl räsoniert. Die
Plantagenbesitzer und späteren Bürger der Mittelschicht halten sich selbst für die
wahren Brasilianer – ebenso wie die Sklaven und Armen. Der polyphone Charakter
des Romans verbietet eine eindeutige Charakterisierung des brasilianischen Volkes.
Die Sympathie des Autors liegt jedoch bei den Schwachen, denn die Herrschenden
haben bei ihm immer negative Charaktereigenschaften und so konstruiert Ubaldo
Ribeiro die Irmanidade do povo brasileiro aus einer Polemisierung zwischen
Unterdrückten und Mächtigen. Zu dieser mystischen Bruderschaft, die das Volk
repräsentiert, gehören diejenigen, die ihre Unterdrückung erkannt haben und für ihre
Freiheit kämpfen. Das können Sklavinnen sein, die ihren Herren vergiften, aber auch
Soldaten, die über die wahren Härten des Krieges sprechen, oder eben Maria da Fé,
die sich zur Leitfigur dieser Bewegung entwickelt. Diejenigen, die nicht zu dieser
Bruderschaft gehören, werden dem Leser als dumm, arrogant und grausam vorgeführt.
Diese Eigenschaften dehnen sich auch auf ihr Sexualverhalten aus, oder werden durch
dieses erst deutlich. João Ubaldo charakterisiert seine Figuren oft über diese intimsten
Momente, nackt vor den Augen des Autors und der Leser. Eine Vorgehensweise, die
sich in den meisten Romanen wiederholt.
5.1 Die Perversionen der Mächtigen in O feitiço da ilha do pavão
Indem Ubaldo die gewaltsame, psychopatische Erotik von Perilo Ambrósio schildert,
übt der Autor auch Gesellschaftskritik. Der als Held gehandelte Baron ist in
Wirklichkeit ein Vergewaltiger, Ubaldo Ribeiro verbindet das Höchste mit dem
Niedrigsten, „castigat ridendo moris“, er bestraft die Sitten mit dem Gelächter.
„Por seu caráter denunciador, a sátira é essencialmente paródica, pois
constrói-se através do rebaixamento de personalidades (…), instituições e
temas que, segundo as convenções clássicas, deveriam ser tratados em estilo
elevado.“130
130
Cavalcanti Nuto, João Vianney, „Grotesco e Paródia em Viva o povo brasileiro”, S. 3 in: Revista Brasil de
Literatura, (Internet).
50
Dabei benutzt der Autor häufig die sexuellen Vorlieben seiner Figuren, um das
tatsächliche Verhalten einer Person an ihren eigenen Werten zu messen. In O feitiço
da ilha do pavão sind alle Mitglieder der so genannten Elite – Lehrer, Priester und
Offiziere – in ihrem Sexualverhalten pervers.131 Die Pfaueninsel ist eine fiktive Insel,
auf der während der Kolonialzeit eine utopische Gesellschaftsordnung entsteht. Die
Sklaverei wird vom Capitão Cavalo, dem offiziellen Vertreter der portugiesischen
Krone abgeschafft, während ausgerechnet im quilombo132 schwarze Menschen
versklavt werden. Dort hält ein größenwahnsinniger Afrikaner kongolesischer
Abstammung, nach dem Vorbild europäischer Königshäuser Hof. Mit dieser
ironischen Konstellation betont der Autor, daß die nach Brasilien eingeführten
Afrikaner aus verschiedenen Völkern stammten und sich nicht unbedingt miteinander
solidarisch fühlten. Der Sohn des Capitão Cavalo, Iô Pepeu, lehnt jegliche
Verantwortung ab und hat vor allem das Ziel, mit möglichst vielen Frauen zu schlafen.
Die rechtschaffenen Bürger der Insel sind über die unmoralischen Zustände
entsetzt und vertreiben die nackten Indios aus der Stadt, da sie angeblich die
herrschende Sittenlosigkeit mit verursachen. Zusätzlich wird die Inquisition auf die
Insel geholt, um die moralische Ordnung wiederherzustellen. Als die tugendhafte
Entrüstung der Bürger nachläßt, fällt ihnen ein, daß sie selbst auch Opfer der
Inquisition werden könnten. Einer von ihnen ist der Schulmeister José Joaquim Moniz
Andrade:
„Acaso alguns meninos e meninas com quem ele achava já ter estabelecido
sólida cumplicidade falariam sobre o que faziam com ele, sabendo que ele
nunca os havia forçado e que participavam de bom grado, como numa
brincadeira na rua? (...) o que o mestre-escola fazia era ir desenvolvendo aos
pucos um rol de pretextos e manobras a fim de que certos alunos e alunas de
que era preceptor particular baixassem as calças, para serem chibatados
levemente por ele, entre uma apalpadela ou outra. Jamais passaram disso, a
não ser que se considere como tal o fato de que, depois de algum tempo
chibatando os alunos, o mestre passava a pedir retribuição, baixando por seu
turno as calças para que os vergastassem, só que, ao contrário do que ele
fazia, com toda a força que quisessem. Algumas gerações de
assivissojoemapaenses já haviam passado por essas experiências e muitas
delas já eram compostas de senhoras e senhores casados, uns poucos dos
quais, mesmo depois de crescidos, tinham procurado o mestre para umas
trocas de chibatadas. “133
131
Laut Freud sind alle sexuellen Handlungen, die nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet sind,
Perversionen. In diesem Fall sind jedoch krankhafte Perversionen gemeint, durch die andere Menschen zu
Schaden kommen.
132
quilombos waren Siedlungen entlaufener Sklaven, die ab dem 17. Jahrhundert vor allem im Nordosten
Brasiliens entstanden.
133
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.232.
51
In dieser erlebten Rede versucht der Schulmeister sein eigenes Verhalten zu
rechtfertigen und wirkt dadurch um so lächerlicher. Die Komik seiner Rechtfertigung
wird durch die sehr gewählte Sprache erhöht, die seine niedrigen Taten als bedeutend
und edel erscheinen lassen. Der relativ lange Abschnitt wirkt wie eine offizielle
Ansprache mit umständlichen Wendungen und euphemistischen Formulierungen. Nur
die unterstrichenen Textstellen befassen sich wirklich mit dem Geschehenen. Indem
Ubaldo Ribeiro einer Figur masochistische Neigungen zuspricht, wird sie herabgesetzt
und lächerlich gemacht. Auch hier geht es dem Autor darum, das öffentliche Bild von
Personen anhand ihrer sexuellen Geheimnisse zu entwerten.
Die masochistischen Episoden werden aber nicht detailliert geschildert, der Leser
wird nicht zum voyeuristischen Beobachten gezwungen. Der Schulmeister erinnert
sich seiner vergangenen Sado-Maso-Erlebnisse, gleichzeitig ist seine Rede durchzogen
von Selbstrechtfertigungen. Dadurch haben die Leser einen intellektuellen und
gefühlsmäßigen Abstand zu diesen Geschehnissen und können darüber lachen. Das
Verhalten des Schulmeisters hat auch Auswirkungen auf seine Frau:
„(...) Dona Maria Joana, mulher do mestre-escola, (...), não indigava se
falariam, antes se saberiam. O negro Serafim não podia falar e, se pudesse,
certamente não contaria, era muito leal e tinha em jogo a boa vida que levava.
Incendiada pelos desejos que não derivavam satisfação de ter um marido
sempre às voltas com as musas, os clássicos e as chibatadas de que ela já
tinha conhecimento fazia bastante tempo, Dona Maria Joana escolhera
Serafim para amante. Bonito negro, alto e espadaúdo, era cego, surdo e mudo
de nascença. (...) Dona Maria o seduziu numa noite que o marido resolveu
varar até o dia em seu sótão, no preparo de um importante documento. Não
falou nada, apenas pegou-o pelo pulso e o levou para a cama. E, desse dia em
diante, sempre aproveitou as mais oportunidades de encontrar-se com
Serafim, achando até mesmo que, como no caso das chibatadas em relação a
ela, o marido também sabia e não se importava, talvez até gostasse de que o
rapaz a servisse e o deixasse livre para a consecução de sua obra.“134
Ebenso wie ihr Mann nutzt Dona Maria Joana ihre Stellung aus, um sich mit einem
Schwächeren sexuell zu amüsieren. Auch sie versucht sich moralisch zu rechtfertigen,
ist dabei aber weniger verlogen als ihr Ehemann, indem sie ihr aktives Vorgehen bei
der Verführung Serafims betont. Zudem ist sie Opfer ihres Ehemannes, der die
erotischen Bedürfnisse seiner Frau vernachlässigt. Die Bürger der Pfaueninsel halten
sich selbst in ihren erotischen Eskapaden an gesellschaftliche Hierarchien, indem sich
134
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.232 f.
52
jeder einen hierarchisch niedriger stehenden Sexualpartner sucht. Erotik besteht
innerhalb dieser Strukturen vor allem aus Machtmißbrauch. Es ist schon sehr zynisch,
daß eine Frau der Gesellschaft sich an einen schwarzen, taubstummen und blinden
Hausdiener hält. Das Motiv der sexuell frustrierten „alten Jungfer“, die sich an
Schwächeren vergreift, findet sich auch bei Jorge Amado. In Capitães da Areia (1937)
treibt ein alterndes Fräulein mit dem verkrüppelten Sem-Pernas, der immerhin noch
ein Kind ist, ein makabres Liebesspiel. Jorge Amado hatte João Ubaldo 1979 in einem
Interview von einer ähnlichen Erfahrung erzählt: „Sim, D. Marieta, solteirona,
católica, muito rígida. Essa, sim, ia me dar banho e ficava me pegando, me
masturbando.“135 Diese solteironas gehören als unglückliche Erbinnen des
Patriarchats zu der Vorstellungswelt über brasilianische Frauen.
Indem João Ubaldo das Verhalten der Dona Maria Joana schildert, parodiert er
gleichsam ihren Mann, der seiner Aufgaben in der patriarchalen Gesellschaft nicht
nachkommt, nämlich seine Frau sexuell zufrieden zu stellen. Ein weiteres Beispiel für
männliche Unzulänglichkeiten ist die besonders markante Figur des Polizeichefs
Mestre-de-Campo José Estevão Borges Lustosa, der sich auch gerne der Wolf von São
João nennt. In seinem an Irrsinn grenzenden Größenwahn erinnert er stark an Perilo
Ambrósio. Er sieht sich selbst als zukünftigen Diktator der Insel, der die
Sittenlosigkeit eindämmt und straffe militärische Disziplin durchsetzt. Doch auch er
muß sich den Erinnerungen an seine Taten stellen, nämlich homosexuellen
Handlungen.
„Sim, era verdade. Como homem, mas era verdade. Sempre como homem!
Jamais lhes virara o traseiro nem lhes tocara os bagos. Sempre os punha de
quatro e os enrabava como homem, ainda dando-lhes umas mordidas fortes no
cogote e nas costas e baixando-lhes umas boas dúzias de palmadas nos
quartos. Sim, sempre como homem e, depois, não tinha com eles chistes nem
intimidades. Dizia-lhes sempre que lhes tinha ido aos cus porque lhe apetecia
e porque assim prestavam algum serviço na terra e que tratassem de calar a
boca e não tomar ousadias com ele, do contrário não viveriam para repetir a
história. E não contava nos dedos as vezes em que, ao mandar um deles
embora, fazia-o à custa de xingamentos destinados a pô-los em seu lugar e
debaixo de umas boas apalpadas com os lados de espadagão.“136
Wieder reißt João Ubaldo einer gesellschaftlichen Respektsperson die Maske herunter,
indem er ihre intimsten Geheimnisse verrät. Daß ein Soldat als Vertreter der
Männlichkeits-Kultur homosexuell ist, scheint eine weitere ironische Spitze des
135
136
Ribeiro, João Ubaldo, Interview mit Jorge Amado, wahrscheinlich 1979, S. 7.
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.231.
53
Autors zu sein. Der Polizeichef rechtfertigt seine Neigung, indem er seine
Männlichkeit hervorhebt, die sich vor allem durch Brutalitäten auszeichnet: „mordidas
fortes, palmadas, xingamentos, apalpadas com os lados de espadagão”. Zudem betont
er mehrfach, stets der aktive Part gewesen zu sein: „Sempre como homem”. Diese
Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Homosexualität entspricht der
traditionellen Deutung in Brasilien, seit den Zeiten kirchlicher Inquisition.137 Jenseits
kirchlicher
Einmischung
wurde
diese
Unterscheidung
noch
verstärkt
und
Homosexualität nur als verwerflich für denjenigen angesehen, der sich passiv hingibt,
also den „Part der Frau“ übernimmt, während der Aktive nicht als homosexuell gilt.
Auch Gilberto Freyre, der selbst erotische Erfahrungen mit Männern gemacht haben
soll, weist in Casa grande e senzala sowie Sobrados e mucambos auf
gleichgeschlechtliche Erotik zwischen Sklavenhaltern und Sklaven, sowie innerhalb
indigener Stämme hin.138
Trotz dieser brasilianischen Toleranz gegenüber aktiver Homosexualität, scheint
der Polizeichef von seinen eigenen Beteuerungen nicht vollständig überzeugt zu sein,
da er sehr oft betont als Mann gehandelt zu haben. Nimmt man an, daß sich die Figur
in diesem inneren Monolog selbst belügt, würde das einer modernen, europäisierten
Auffassung von Homosexualität entsprechen, die jede sexuelle Handlung zwischen
gleichgeschlechtlichen Partnern als homosexuell und damit möglicherweise als
verwerflich deutet. In diesem Fall würde nicht unbedingt die erotische
Handlungsweise des Offiziers kritisiert, sondern daß er sie sogar vor sich selbst
heuchlerisch leugnet. Zudem benutzt er seine Stellung als Offizier, um seine
untergebenen Soldaten zu mißbrauchen. Auch dadurch gleicht er dem Vergewaltiger
Perilo Ambrósio. Das sündige Treiben der Bürger bleibt den Inquisitoren nicht
verborgen und als Padre Tertuliano von den Übergriffen des Polizeichefs auf die
Soldaten erfährt, ruft er ihn sogleich zu sich.
„O padre gostava de militares graduados e enérgicos e não pudera sopitar a
atração que sentira pelo mestre-de-campo, ao tomar conhecimento da história
de Domitilio e Cosme. (...) Também ele queria ser dominado como os
milicianos, queria ser possuído por um militar voluntarioso e enérgico. De
uniforme, sim, de uniforme, sonho que sempre acalentara e que nunca julgara
poder vir a seu alcance. “139
137
Vgl. Vainfas, Ronaldo, „Moralidades brasílicas: deleites sexuais e linguagem erótica na sociedade
escravista”, in: História da Vida Privada no Brasil, 1997, S. 234 f.
138
Vgl. Freyre, Gilberto, Casa grande e senzala, 2002, S. 187/188, S. 204-205, S. 240; Freyre, Gilberto,
Sobrados e mucambos, 1977, S. 154, S. 194 f.
139
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.260.
54
Auch die Kirche verliert demnach ihre Glaubwürdigkeit als moralische Instanz.
Anstatt dem Militär ins Gewissen zu reden, nutzt der Priester die Gelegenheit, um
seine passiven homo-erotischen Phantasien auszuleben.
„Deitado de bruços numa camilha de forro aveludado, padre Tertuliano, com
a batina levantada até quase o pescoço, olhava para trás, onde se postava com
a expressão severa o mestre-de-campo, vestido em sua túnica marcial, mas nu
da cintura para baixo. – Ordens, meu comandante! – disse o padre, com as
pernas juntas e o corpo retesado. – Levanta este cu! À traseira! – ordenou o
mestre-de-campo e imediatamente após, num só movimento ágil, o padre ficou
de quatro, para ser quase de pronto penetrado com energia pelo mestre, (...) e
continuou a dar ordens, como se estivesse à frente de uma batalha.“140
Innerhalb einer Szene gibt Ubaldo Ribeiro Militär und Kirche der Lächerlichkeit preis.
Denn die beiden Männer schlafen nicht einfach miteinander, sondern tun das in ihrer
Eigenschaft als Priester („vestido em sua túnica marcial“) und Militär („como se
estivesse em frente de uma batalha“). Vielleicht spielt er damit auf die unrühmliche
Verbindung zwischen den Spitzen von Militär und Kirche zu Beginn der
Militärdiktatur (1964-1985) an, indem er diese Partnerschaft zweier Männerbünde
über die Homosexualität parodiert. 141 Gleichzeitig benutzt João Ubaldo ein bekanntes
Klischee, denn daß es unter katholischen Priestern häufig zu homosexuellen
Handlungen kommt, ist eine landläufige Vorstellung. Er persifliert die Heuchelei der
herrschenden Klasse, die über andere urteilt, ohne den eigenen moralischen
Ansprüchen gerecht zu werden.
Ob auch Homosexualität an sich verurteilt wird, kann an dieser Stelle nicht
abschließend bewertet werden. Es erscheint zumindest auffällig, daß Sympathieträger
nicht homosexuell sind und daß Ubaldo zwischen passiver und aktiver Homosexualität
keinen moralischen Unterschied zu machen scheint. Auch in O sorriso do lagarto gibt
es homoerotische Szenen zwischen moralisch sehr fragwürdigen Figuren.
.
5.2. Karnevalisierte Erotik
Treue Frauen, die einen einzigen Mann lieben und erotisch monogam sind, werden in
den Büchern Ubaldo Ribeiros als Ideal dargestellt. Erwartungsgemäß kommen diese
positiven Heldinnen meist aus dem Volk, während Frauen der herrschenden Klasse
aufgrund geheimer Perversionen oder ihrer übertriebenen Moral parodiert werden. Die
einzige wirklich keusche Frau in O feitiço da ilha do pavão ist die Gattin des
140
141
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.259.
João Ubaldo Ribeiro schreibt auch in Diário do Farol über einen Priester der mit den Militärs kollaboriert.
55
Polizeichefs, Dona Felicidade. Obwohl ihr Name Glück bedeutet, kann sie diese
Glückseeligkeit zumindest nicht in der Erotik finden. Sie rühmt sich, beim ehelichen
Beischlaf noch nie Vergnügen empfunden und sich ihrem Mann noch nie nackt
gezeigt zu haben. Erst nachdem der Indio Balduino mit Iô Pepeus Hilfe das
Trinkwasser der Stadtbevölkerung vergiftet hat, sitzen die beiden sich magenkrank
und unbekleidet auf ihren Nachttöpfen gegenüber.
„(...) estavam ambos sentados em seus penicos, pois, para minorar sua aflição,
dispunham de vários deles, todos ricamente esmaltados e decorados. Tinha
sido o efeito da água a razão para os ulos tresvariados de Dona Felicidade,
acompanhados por diversos, menos esgoelados, de seu marido, sons estes
agora substituídos por outros, emitidos de parte do corpo, que não a boca,
mas antes o seu oposto. Não era hábito do casal sentar-se nos penicos face a
face e o intendente sustentava publicamente que macho não caga nem mija
sentado, no máximo agachado, mas nesse transe a premência vencera decoro
e convicções, e Dona Felicidade, que se gabava nas confissões de jamais ter
sentido prazer algum em estar com homem e de nunca ter-se mostrado a ele na
claridade, agora chorava de dor e vergonha, (...)“142
In dieser karnevalistischen Szene werden die lustfeindliche Einstellung von Dona
Felicidade und der Männlichkeitswahn ihres Mannes ins Lächerliche gezogen. Laut
Bachtin werden durch das karnevaleske Lachen bestehende Werte, Normen und
Institutionen in Frage gestellt. Dieses Lachen charakterisierte Bachtin als
gemeinschaftlichen, teils vulgär-obszönen und von einer Betonung der Leiblichkeit
und Sinnlichkeit begleiteten Akt. Im karnevalesken Denken spielen Extremitäten und
Leibesöffnungen eine wichtige Rolle.143
In diesem Absatz betont João Ubaldo den Gegensatz der Leibesöffnungen: „que
não da boca, mas antes do seu oposto.“ Durch den gehobenen Sprachstil, mit dem
gewählten Vokabular und der poetisierten Satzstellung wirkt die Situation noch
grotesker. Die Sprache des Autors ist ebenso übertrieben wie die emaillierten
Nachttöpfe. Hat Ribeiro in Viva o povo brasileiro bereits karnevaleske Techniken im
Zusammenhang mit Erotik eingesetzt, so ist O feitiço da ilha do pavão ein durch und
durch karnevalistischer Roman.144 Die gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Insel
142
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.78.
Vgl. Bachtin, Michail, Literatur und Karneval, 1969.
144
Roberto da Matta spricht von der „Karnevalisierung des Lebens“, wenn die gesamte Existenz von
karnevalesken Werten durchdrungen ist, was weitreichende politische und kulturelle Folgen hat. Eine positive
Grundeinstellung zu allem Lebendigen und Natürlichen, eine alegria, die auch in aussichtslosen Situationen
nicht kapituliert, einen Sinn fürs Groteske und Mehrdeutige, den Hang zur permanenten Krönung und
Entkrönung von Personen und Institutionen und schließlich auch eine Vorliebe für Transvestismus und
Bisexualität, zeichnen das karnevalisierte Leben aus. Vgl. Matta, Roberto da: Carnavais, malandros e heróis –
para uma sociologia do dilema brasileiro, 1990.
143
56
sind völlig umgekehrt. Der portugiesische Adelige treibt die Abolition voran, während
ein Kongolese im quilombo ein Königreich ausruft und weiterhin Sklaven hält. Die
Elite gibt sich heimlich sexuellen Perversionen hin, während die Außenseiter der
Gesellschaft die Zukunft der Insel retten. Durch die Entdeckung eines Zeitlochs
gelingt es einer Frau die die Verbannte genannt wird, sowie dem Exil-Deutschen
Hans, dem Capitão Cavalo und Crescência, die freiheitliche Utopie der Insel zu
bewahren. Immer wenn einer von ihnen das Zeitloch betritt, erscheint ein Pfau am
Horizont und schlägt ein Rad. Ist das Rad beendet, so befindet sich die Insel bereits in
einer neuen Zukunft. Die Verschwörer probieren verschiedene Zukunftsversionen aus
und entscheiden sich für eine, in der die Sklaven des quilombo sich selbst befreien.
Dieses Rad des Pfaus könnte einerseits für das Rad der Zeit stehen, andererseits
aber ein weiteres Symbol für die karnevalistische Utopie der Insel sein, denn während
des Radschlagens steht die Welt auf dem Kopf. In
den verschiedenen
Zukunftsversionen variieren die Regierungsformen und Herrscher, ein weiteres
Zeichen der Karnevalisierung. Wer heute König ist, kann morgen Bettler sein.
Angetrieben wird die Handlung des Romans vor allem durch Iô Pepeus sexuelle
Leistungen und Probleme. Entsprechend expressiv wird er im zweiten Kapitel
eingeführt.
„A ela sem pena! – bradou uma voz de mulher, por trás do madeirame de uma
janela do andar de cima da Casa dos Degraus.
-Mais alto! Mais sentimento! Mais sinceridade!
-A ela sem pena ! Sem pena! Mais sentimento!
-Sim, ai, vem de lá! A ela sem pena! (…)
-Sim! Assim! Vou comer-te toda. Desalmada! Ai que te atocho até os
gorgomilos, malvada! Olha-o cá, olha-o bem! Gostas! Enlouqueces quando o
tocas? É o teu bonifrate querido, todo teu, podes viver sem ele? Vês como se
empina por ti! Que queres que ele faça? A ela sem pena, a ela sem pena, anda
lá, não esperes que te peça! (…)
Vou trespassar-te, vou misturar-me contigo perversa! Ai que me matas! Ai que
te mato! Ai que morro, levanta essa periquitona, levanta esse meio do mundo,
isto cá é o meio do mundo, ai, levanta, vai, arreganha-mo lá, ai que morro, ai
que me matas!“145
In diesem Textabschnitt erlebt der Leser die erotische Vereinigung zwischen Iô Pepeu
und Vitória. Dabei bleibt der Erzähler außerhalb des Raums und die direkte Rede Iô
Pepeus entspricht genau dem, was auch die anderen Frauen des Hauses hören. Der
Leser muß sich die Handlungen zu diesen enthusiastischen Ausrufen selbst vorstellen
und wird animiert, seine erotische Phantasie zu entfalten. Durch die vulgäre
145
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.19f.
57
Ausdrucksweise und die vielen Ausrufezeichen impliziert der Autor jedoch, daß die
beiden voller Leidenschaft agieren – gleichzeitig könnten sie aber auch voller
Leidenschaft schauspielern, denn die Handlungen werden nicht beschrieben, die Tür
des Zimmers ist verschlossen und die Ausrufe erscheinen sehr theatralisch, fast
operettenhaft. Dennoch wird mit wenigen Worten eine erotisch Gesamterfahrung
beschrieben, indem Iô Pepeu sich mit der Frau vermischen will und ihr Geschlecht
zum Mittelpunkt seiner Welt erhebt. Die enthusiastischen Laute werden von denen im
Haus arbeitenden Frauen trocken kommentiert:
„Se dessa vez não emprenhar, não emprenha mais nunca. (...) Desde ontem
que eles estão na safadagem. Se fosse Nana, já tava com pelo menos dois no
bucho, com tanta cocação.“146
Das Treiben der Beiden wird nicht als skandalös empfunden, sondern unter
praktischen Gesichtspunkten diskutiert. Sie wissen, daß die Geliebte vor allem mit Iô
Pepeu schläft, um sich seine finanzielle Unterstützung zu sichern.
Diese Form des Konkubinats hat (nicht nur) in Brasilien Tradition und existiert
teilweise bis heute, wenn mittellose Frauen sich von reichen Männern aushalten
lassen, ohne dabei als Prostituierte zu gelten. Durch Vitórias Kalkül bekommt Iô
Pepeus Enthusiasmus etwas Groteskes. Seine Leidenschaft wird offenbar nicht
erwidert, denn sie gehorcht ohne Eigeninitiative. Während er seinen Gefühlen
lautstark Ausdruck verleiht, antwortet sie nur mit den Worten „A ela sem pena!“ Alle
Frauen der Insel kennen Iô Pepeus sexuelle Präferenzen und wissen, daß er nur mit
einer Frau schlafen kann, wenn diese „A ela sem pena!“ schreit. Grund dafür ist Iô
Pepeus Angst vor Frauen, die erst durch diese drei Worte verschwindet.
„Que palavras, malditas palavras, cravadas em seu miolo tão indelevelmente,
desde aquela tremenda primeira ocasião em que a negra Sansona, uma das
preferidas de Capitão Cavalo e três vezes maior que Iô Pepeu, puxou-o para
uma esteira e, com as feições assustadoramente transfiguradas e a voz
parecendo lhe sair dos peitos enormíssimos, tirou-lhe a roupa, apalpou-o
todo, mordeu-lhe o pescoço, alisou-lhe a bunda e abriu diante dele as coxas
poderosas, gritando: - A ela sem pena! Nesse dia e em todos outros em que
esteve com Sansona, o medo só passava depois que ela fazia essa exortação
com entusiasmo, o que, aliás, lhe ocorria naturalmente. Quando ele levou
Esmeraldina para os matos, achando que dessa feita não sentiria medo, teve o
mesmo pavor, até que lhe veio à mente pedir que ela dissesse as palavras de
Sansona. Milagrosamente, o medo se desfez, mas ele se tornou para sempre
escravo dessas palavras e, de certa maneira, escravo da obsessão por
Crescência, que tinha o poder de não dizê-las.“147
146
147
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.20.
Ibid., S.34.
58
Für eine solche Angst vor Frauen würde man eine psychologische Erklärung erwarten,
wie beispielsweise Mißhandlungen durch die Mutter oder frühen Liebeskummer.
Ubaldo Ribeiro bleibt jedoch karnevalistisch, indem er die groteske Leibesfülle der
negra Sansona betont, die den Zeitpunkt der erotischen Initiation Iô Pepeus bestimmt
hatte. Diese Eigeninitiative deutet wieder auf das Fehlen hierarchischer Strukturen und
die Macht des Karnevals hin.
Die karnevalistische Grundhaltung zeigt sich auch in der Charakterisierung Iô
Pepeus. Er ist ein klassischer Nichtsnutz, der nur an sein eigenes Vergnügen, also an
Erotik denkt und sich ausschließlich über seine sexuellen Leistungen definiert.
Aufgrund seiner stets drohenden Impotenz ist er aber auf die Mithilfe der Frauen
angewiesen, die ihn nach allen Regeln der Kunst betrügen und manipulieren. „Corno é
Iô Pepeu, que pensa que as mulheres é só dele e ainda dá sustento a elas. Casa de
chão de lajota e telhado amouriscado não é todo mundo que tem, não.“ 148 Das würde
ihn innerhalb einer patriarchalen Gesellschaftsordnung zu einer Witzfigur machen, in
der karnevalistischen Welt der Pfaueninsel wirken seine Fehler aber liebenswert.
Zudem bestraft er sich mit seiner Potenz-Besessenheit selbst, denn er verkennt, daß
Crescência die einzige Frau ist, die es wirklich gut mit ihm meint – obwohl sie sich
weigert die drei potenzspendenden Worte auszusprechen.
Iô Pepeu versteht nicht, daß durch diese Weigerung Crescências die eigentliche
Erotik entsteht. Nur sie beschäftigt seine Gedanken und nur bei ihr kann er seine
körperlichen Bedürfnisse nicht sofort stillen. Bei anderen Frauen geht es nur um
Sexualität,
bei Crescência wird aus dem rein körperlichen Bedürfnis auch eine
sentimentale, intersubjektive Bindung. Ironischerweise bedeutet der Name Crescência
„Wachstum“ und ist etymologisch gesehen dem Potenzproblem Iô Pepeus
entgegengesetzt. Auch in seiner Namensgebung ist eine Anspielung auf seinen
steigenden und schrumpfenden Phallus enthalten. Sein Name erinnert an das
Kinderspielszeug iôio, das an einer Schnur immer wieder hoch und runter gezogen
wird. Dieses menschliche Jojo, Iô Pepeu, will sein Problem durch die Einnahme eines
Potenzmittels lösen, das er von dem Indianer Balduino bekommt. In seiner
Verzweiflung und Unvernunft mißachtet er die Warnungen des Indianers, trinkt zu
viel und wird zur „sex-machine“.
148
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.21.
59
„Pois então. Foi Santa, foi Naná, foi Vitória, foi Das Dores, foi Eulâmpia, foi
Nazinha, foi quem apareceu. (...)
Talvez mais um golinho. Pronto, só mais um golinho, uma bicadinha. Duas.
Pronto. (...), passou a chamar as mulheres uma por uma. Nas últimas vezes, já
não conseguia terminar, todo esfolado e encharcado de suor. Não, aquilo
podia não querer baixar, mas ele lhe daria um descanso de qualquer jeito, ou
melhor, daria um descanso a si mesmo. Não era possível passar o tempo
naquele vuque-vuque, isso só podia fazer mal. Mas, havendo desobedecido tão
cabalmente às recomendações de Balduino, não conseguiu ter um bom dia.
(…)Viu uma mulazinha castanha e achou-a irresistível, com seus olhos negros
pestanudos, seu couro macio e luzidio, suas ancas bem proporcionadas e sua
cauda cerdosa e vibrátil, a qual, certamente já acostumada por outros moços,
se arredou nervosamente para um lado, assim que ele subiu num toco, baixou
as calças e começou a penetrá-la. Dessa vez gozou e se derreou sobre os
quartos dela, que continuou parada, como se compreendesse a situação.“149
Auch hier zeigt der Autor seinen Sinn fürs Groteske. Iô Pepeus Verhalten, das unter
normalen Umständen abstoßend wirken würde, erscheint in diesem Fall nur komisch
und absurd. Nachdem er mit vielen Frauen geschlafen hat, vergreift er sich schließlich
an einer Mauleselin, die ihm mit ihren langen, schwarzen Wimpern unwiderstehlich
erscheint. Die größten Tabubrüche werden auf dieser karnevalisierten Insel zu einem
heiteren Spaß. Inspiriert wurde João Ubaldo möglicherweise von dem erotischironischen Gedicht O elixir do pajé (1883) von Bernardo Guimarães:
„graças ao santo elixir
que herdei do pajé bandalho,
vai hoje ficar em pé
o meu cansado caralho!
(…)
Este elixir milagroso,
o maior mimo na terra,
em uma só gota encerra
quinze dias de tesão…
(…)
dá tal força e valentia
que só com uma estocada
põe a porta escancarada
do mais rebelde cabaço,
e pode em cento de fêmeas
foder de fio a pavio,
sem nunca sentir cansaço …“150
Durch diese intertextuelle Referenz wird einmal mehr die satirische Intention Ubaldo
Ribeiros deutlich. Das Erotische dient in O feitiço da Ilha do pavão vor allem dazu,
149
150
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do pavão, 1997, S.85f.
Guimarães, Bernardo, „O Elixir do Pajé“ in: Poesia Erótica e Satírica, 1992, S. 55 ff.
60
groteske, satirische Situationen zu kreieren. Gleichzeitig fällt auf, daß der Roman in
seinem inhaltlichen Aufbau karnevalistisch angelegt, aber nicht völlig von der
Karnevalisierung durchdrungen ist. Gerade das perverse Verhalten der Bürger ist nur
scheinbar lustig, denn mögen ihre Vergehen auch in einem heiteren, komischen
Tonfall erzählt werden, sind sie dennoch ernste Fehltritte, die auf dem sexuellen
Mißbrauch von Schwächeren beruhen. Der Autor scheint von dem Ansatz der
Karnevalisierung nicht völlig überzeugt zu sein, vielleicht weil ihm der Karneval
selbst auch keine Freude bereitet, wie er in einer seiner crônicas behauptet.
„Hoje já desisti, mas parte considerável da minha existência foi dedicada a tentar
gostar brincar de carnaval. (…) Deve ser porque só consigo é ir ficando triste,
ficando triste e aí volto para casa, numa melancolia besta que a mim mesmo me
irrita.“151
Vielleicht war auch O feitiço da ilha do pavão ein Versuch, den Karneval zu mögen,
der an der negativen Einstellung gegenüber den elitären Bürgern gescheitert ist.
6. Die Erotik des Bösen
Im den Romanen Ubaldo Ribeiros finden erotische Begegnungen nur selten zwischen
gleichberechtigten
Gefährten
statt.
Häufig
wirken
sich
gesellschaftliche
Machtverhältnisse auch auf das Intimleben der Figuren aus, wodurch die Verbindung
zwischen Macht und Erotik verdeutlicht wird.
Eine Analogie die sich nach Ansicht des Autors auch in der Alltagssprache zeigt.
„Existe uma forma de , existe alguma analogia entre poder e dominação e o
ato sexual. Existe realmente. Até em expressões vulgares. Como se diz em
várias línguas, inclusive português, uma palavra chula: „Eu vou foder você.“
Ou seja: „Vou dominar você, vou eliminar você“.“152
João Ubaldo betont und übersteigert diese dominierende Form der körperlichen
Vereinigung
in
seinen
Büchern,
indem
er
vor
allem
außergewöhnliche
Sexualpraktiken beschreibt. Die Lust der Mächtigen im Werk Ubaldos, konzentriert
sich dabei nicht auf die „normale“ Vereinigung, sondern auf sadomasochistische
Praktiken und homosexuelle Handlungen, die von manchen Teilen der brasilianischen
Gesellschaft verurteilt werden. Die erotische Lust entspringt also der Möglichkeit,
andere Menschen zu etwas Verbotenem zu zwingen, also die moralischen und
151
152
Ribeiro, João Ubaldo, „Alô, massa tijucana!“, in: Arte e ciência de roubar galinha, 1998, S. 223.
Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 113 (dieser Arbeit).
61
körperlichen Grenzen des „Opfers“ zu überschreiten. Dabei wollen die Handelnden
sich nicht mit den Unterworfenen vereinigen, sondern sie beherrschen.
Die Lust an der Macht hat die Lust an der verbindenden, intersubjektiven Erotik
abgelöst. Da O feitiço da ilha do pavão ein heiteres Buch ist, spielt Ubaldo Ribeiro
nicht alle Möglichkeiten durch, die aus der Verbindung zwischen Macht und Erotik
entstehen. Die letzten Konsequenzen dieser Allianz zeigt er hingegen in O sorriso do
lagarto und Diário do Farol, in denen sich die Lust an der Macht bis zur Befriedigung
des Tötungstriebs steigert. Die Überschrift „Erotik des Bösen“ erscheint deswegen
angebracht, weil der Autor in verschiedenen Interviews153 erklärt hatte, er wolle mit
O sorriso do lagarto ein Buch über „das Böse“
154
schreiben, das sich in manchen
skrupellosen Vertretern der brasilianischen Mittelschicht widerspiegle. „Die Erotik
des Bösen“, soll also als die Erotik böser Menschen verstanden werden, die im Falle
des Priesters in Diário do Farol auch etwas Böses bezwecken. Die Figur Ângelo
Marcos hingegen ist vermutlich vor allem durch die Unterdrückung seiner erotischen
Neigungen zu dem bösen Menschen geworden, der er in O sorriso do lagarto ist.
6.1 Die Macht gesellschaftlicher Zwänge –
Homosexualität in O sorriso do lagarto
O sorriso do lagarto ist nach Aussage des Autors ein Roman über „das Böse“, über
die herrschende Klasse Brasiliens, die das eigene Volk verachtet und ausbeutet.
Ein Thema, das schon in Viva o povo brasileiro eine Rolle spielt und diesmal in das
Brasilien der Gegenwart übertragen wird. Ângelo Marcos ist ein typischer Vertreter
der oberen Mittelschicht, ein reicher, opportunistischer Politiker, der durch seine
rassistischen und sexistischen Reden auffällt. Er ist mit Ana Clara verheiratet, die er
regelmäßig betrügt und um die er sich erst bemüht, als ein Tumor in seinem Anus
diagnostiziert
wird
und
er
Todesängste
aussteht.
Nach
der
notwendigen
Strahlentherapie zieht das Ehepaar sich auf die Insel Itaparica zurück, wo sich Ana
Clara in den Fischer und Biologen João Pedroso verliebt. João findet heraus, daß auf
der Insel mittellose schwarze Frauen künstlich mit Affensperma befruchtet wurden
und daraufhin Zwitterwesen zur Welt brachten. Er ist von der Monstrosität dieser Tat
153
João Ubaldo Ribeiro, „Je voudrais faire un roman sur le Mal, le Mal générique, le Mal politique, le Mal
social. Le mal transparent dans l’attitude d’une grande partie de la classe dominante brésilienne: elle méprise
notre pays, elle déteste ce qu’il est, ce que nous sommes et, couvre toutes les violences (…).“ In : Raillard, Alice,
„Je suis le résultat d’une maturation”, in: La quinzaine littéraire, Nr. 484, 1987, S. 23.
154
„Böse, das, das dem Guten entgegengesetzte, dem Sittengesetz höhnende, schlichtweg Verwerfliche. Ursache
von Leid und Unglück in der Welt.“ In: Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003.
62
entsetzt und versucht, die Öffentlichkeit zu informieren. Die Hintermänner dieser
Versuche sind jedoch zu mächtig, und der Biologe kann keine Beweise vorlegen.
Gleichzeitig wird das Verhältnis zwischen Ana Clara und João Pedroso immer
leidenschaftlicher, sie verlieben sich ineinander und wollen ein neues Leben beginnen.
Bevor es dazu kommen kann, läßt Ângelo Marcos den Geliebten seiner Frau vom
Profikiller Boaventura ermorden.
‚Boa’ heißt auf Portugiesisch ‚gut’, und ‚ventura’ soviel wie ‚Glück, gutes
Schicksal’. Die positive Bedeutung des Namens wird pleonastisch verdoppelt und
wirkt damit um so zynischer. Auch der Name ‚Ângelo’, also Engel oder Götterbote,
läßt nicht auf den wahren Charakter von Ângelo Marcos schließen. Er könnte
höchstens ein gefallener Engel sein, eine Inkarnation Satans, des Bösen. Diese
Interpretation würde seinem gewissenlosen Verhalten und der Intention Ribeiros, über
„das Böse“ zu schreiben, entsprechen. Mit dem Profikiller Boaventura, dem
„Todesengel“, den Ângelo Marcos anheuert, hat er schon seit Jahren ein
homosexuelles Verhältnis.
„Lembrava todos os encontros, (...), lembrava, lembrava como achava lindo
que ele, parecendo buscar algo vital sem o qual morreria, lhe baixasse com
impaciência a cueca (...) e o chupasse ronronando baixo com os olhos
fechados, (...) até que com aquele jeito inesquecível, ele ficou de quatro e
pediu para ser penetrado. Recordou em pormenores insuportáveis como gozou
tão intensamente naquele dia, enfiado nele até mais não poder e mordendo-lhe
o pescoço e pedindo-lhe que virasse o rosto para ser beijado e deitando em
cima dele sem sair de dentro dele e masturbando-o em tanta sincronia que
gozaram juntos aos gritos e gemidos, sem querer desgrudar um do outro.“ 155
Wie aus dieser Textstelle ersichtlich wird, fühlt Ângelo Marcos wahre Leidenschaft,
wenn er sich mit Boaventura paart, ohne seine Männlichkeit beweisen zu wollen.
Allerdings sind diese Erinnerungen mit Schuldgefühlen belastet, er findet sie
unerträglich aber gleichzeitig sehr aufregend. Interessanterweise werden diese
Begegnungen nie in Echt-Zeit beschrieben, sondern immer aus der indirekten Rede
der Erinnerungen. Das deutet an, wie sehr den Politiker seine Liebe zu Männern quält.
Zudem erinnert er sich stets wider Willen dieser eigentlich glücklichen Momente,
wenn ein bestimmter Reiz die Erinnerung auslöst. Scheinbar grundlos beginnt Ângelo
Marcos auf Spatzen zu schießen. Wie sich herausstellt, hat er Freude am Töten und
bringt erregende Nachmittage damit zu, bis dieses sadistische Hobby zu einer
zwanghaften Obsession wird. Grund für diese Faszination ist die Leidenschaft für
155
Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 185.
63
Boaventura, der seine Karriere als bezahlter Mörder auch mit diesem scheinbar
„harmlosen Vergnügen“ begann. Indem Ângelo Marcos die Vögel tötet, versucht er in
Wirklichkeit, seinem Geliebten näher zu sein. Diese Erkenntnis dringt auch zu Ângelo
Marcos durch, als er nach einem Schiffsausflug mehrere Spatzen im Müll picken sieht.
Die Erinnerung an Boaventura überkommt ihn, und er muß sich übergeben. Kurz
zuvor hatte er seinen Freunden die Geschichte des Killers erzählt.
„- E o pistoleiro era veado? – Era. O pior tipo. O que hoje se chama
entendido, bichona enrustida, desses que andam com mulher e com homem,
para mim é o tipo mais nojento que existe. Eu sou um homem de mente aberta,
é difícil encontrar um cara mais liberal do que eu, mas esse negócio de
veadagem eu não aceito, não aceito mesmo, é uma coisa instintiva, é um
negócio que não consigo controlar, é raiva mesmo. Quando eu penso num
cara dando o rabo ou, pior ainda, chupando outro – só cuspindo, me dá
náusea pensar -, quando eu penso nisso me dá uma espécie de revolta, eu tento
até me dominar, mas não consigo. Tudo veado é mau-caráter, além disso.“ 156
In dieser vorgeblichen Haß-Tirade spiegelt sich die Heuchelei, aber auch die Tragik
Ângelo Marcos’ wider, der in Wirklichkeit seine eigene Geschichte erzählt.
Gleichzeitig fällt auf, daß er zwischen aktiver und passiver Homosexualität zu
unterscheiden scheint, eine Auffassung, die in Brasilien weit verbreitet ist.
In seiner Beziehung zu Boaventura hingegen, empfindet er gerade die passive
Unterwerfung als Beweis ihrer perfekten erotischen Partnerschaft: „Orgulhava-se
disso na cama, por assim serem amantes completos, em vez de, como antes lhe
parecia que ia acontecer, ele nunca ser possuído (…).“157 Darin offenbart sich der
Unterschied zwischen öffentlicher Moral und tatsächlichem Handeln, ein Widerspruch
der so weit führen kann, daß Menschen sich selbst belügen. Durch die ständige
Verdrängung seiner eigentlichen Neigung wird er zu einem Sadisten und
Frauenhasser. Er züchtigt gerne Frauen während des Geschlechtsakts, kann diese
Vorliebe aber nur bei seinen Konkubinen und Prostituierten ausleben, weil die Ehefrau
Ana Clara diese Gewalttätigkeiten nicht zuläßt.
„Grande trepada, a negrinha, cada vez melhor. Bimbada completa, em tudo
quanto é buraco. Que rabo!(…) encara qualquer coisa, até umas porradinhas,
(…). E dureza suficiente para enrabar a putinha, aquela bunda sensacional.“158
In diesem inneren Monolog haben die Leser an Ângelo Marcos’ Bewußtseinsstrom
teil, der über seine farbige Konkubine nachdenkt. Das Fehlen ihres Namens und die
156
Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 169.
Ibid., S. 186.
158
Ibid., S. 205 f.
157
64
Bezeichnung als „Grande trepada“, „putinha“, „negrinha“ verweisen auf die
Verachtung, die Ângelo Marcos für diese Frau empfindet. Er diskriminiert sie nicht
nur als weibliches Wesen, sondern vor allem auch als Farbige, was sich zudem über
die vulgäre Sprache wie „buraco“ und „bimbada completa“ äußert. Seine geringe
Meinung vom weiblichen Geschlecht erstreckt sich auch auf seine Ehefrau, die er nur
als Gastgeberin für seine politischen Empfänge braucht.
„Mulher não tem a cabeça muito segura, é um ser instinitivo, funciona muito
mais na base hormonal e animal do que na base intelectual, não há exeção,
quem pensa o contrário quebra a cara. (...) Mulher é fêmea, (…) depois
gente.“159
Obwohl Ângelo Marcos im 20. Jahrhundert lebt, benutzt er noch Argumente des 19.
Jahrhunderts, indem er vermeintliche biologische Fakten benutzt, um Frauen
abzuwerten. Damit entwirft Ubaldo Ribeiro ein düsteres Bild der Männer der
Mittelschicht, die noch in den patriarchalen Strukturen der letzten beiden Jahrhunderte
zu leben scheinen. Eine besonders erschreckende Version, da es sich bei dem Sprecher
um eine einflußreiche Persönlichkeit mit Universitätsabschluß handelt.
Als Ana Clara ihren Macho-Ehemann betrügt, erklärt er dieses unmoralische
Handeln vor allem aus ihrem Dasein als Frau, von der man nichts Besseres erwarten
könne. Interessanterweise läßt er nur den Liebhaber ermorden und nicht die treulose
Ehefrau, was sich wohl aus seinem mangelndem Interesse für sie erklärt. Daß ihr
Mann sie nicht liebt, hat Ana Clara schon lange bemerkt: „os homens, no fundo, só
gostam de homem mesmo.“160 Ihr alter Ego das Heteronym161 Suzanne Fleischmann,
das sie für ihre Tagebucheinträge verwendete, sagt es in deutlicheren Worten:
„sustento que ele é veado, sempre sustentei, e não tem coragem de encarar a
realidade.“162 Deswegen fühlt Ângelo Marcos sich von seinem angeblichen Freund
fast stärker betrogen als von seiner Frau. „João Pedroso! Pondo-lhe chifres, metendo
em sua mulher, ela lá embaixo dele de pernas abertas, talvez até sendo enrabada“163
159
Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, S. 241.
Ibid., S. 51.
161
Der Begriff wird hier nach dem Vorbild des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa (1888-1935)
verwandt, der sein lyrisches Ich in verschiedene Heteronyme aufspaltete, die er als selbständige poetische
Individuen mit fiktiver Biographie sowie spezifischer Thematik und Stilistik auffaßte.
162
Ibid., S. 349.
163
Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, S. 304.
160
65
Normalerweise bezieht sich der Ausdruck pôr chifres auf die Frau, sie ist es, die dem
Gatten Hörner aufsetzt.164 Da sich Ângelo Marcos als Homosexueller aber in
Wirklichkeit für Männer interessiert und aus seiner Sicht nur diese ein moralisches
Bewußtsein haben, läßt er João Pedroso töten. Seine Ehefrau sieht er als Teil seines
Besitzes und deswegen ärgert ihn der Betrug.
In seiner Phantasie malt er sich eine Situation aus, in der seine Frau von João
Pedroso sexuell dominiert wird, „talvez até sendo enrabada“ und läßt damit seine
Fixierung auf Analverkehr durchscheinen. Ângelo Marcos wird von João Ubaldo als
Opfer und Täter zugleich beschrieben. Er erscheint als Opfer einer vorgeblich
liberalen Gesellschaft, die in Wirklichkeit Abweichungen von der Norm mißbilligt.
Somit wird nicht unbedingt die Homosexualität des Politikers kritisiert, sondern die
Tatsache, daß er diese verschleiern muß. Andererseits wird er durch die Ermordung
João Pedrosos und seiner abwertenden Einstellung gegenüber Farbigen und Frauen zu
einem Täter. Die Wirkungsweisen von Macht und Erotik vermischen sich bei ihm auf
zweierlei Weise. Zum einen benutzt Ângelo Marcos seine gesellschaftliche Stellung
und sein Geld dazu, um Frauen körperlich und seelisch zu unterwerfen. Er schlägt
Prostituierte und zwingt Ana Clara nach João Pedrosos Verschwinden bei ihm zu
bleiben, weil sie finanziell auf ihn angewiesen ist. Obwohl sein Reichtum ihm Macht
verleiht, wird seine individuelle, homosexuelle Erotik durch die Macht der
Gesellschaft ausgegrenzt und unterdrückt.
Seine Ehe und die Vertuschung der Homosexualität beruhen auf gesellschaftlichen
Zwängen des modernen Brasiliens, die einerseits dem katholischen Erbe entspringen,
bestimmte Praktiken als Sünde zu verdammen, und sich andererseits von dem
patriarchalen Männlichkeitsbild ableiten lassen. Die in gewisser Hinsicht tolerantere
Einstellung eines Gilberto Freyre, scheint zumindest in Ubaldo Ribeiros
Brasilienbetrachtung des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu gelten. Der Tradition, die
Liebe zwischen Männern als Sünde zu sehen, entspricht auch die Vorstellung, daß nur
Männer dieser Minderheit den HIV-Virus übertragen. So behauptet der Mediziner
Ângelo Marcos allen Ernstes, daß eine Ansteckung nur beim Analverkehr möglich sei.
Deswegen läßt er beim letzten Treffen nicht zu, „que Boaventura o penetrasse, porque
164
Der Anthropologe Richard G. Parker hatte brasilianische Männer zu diesem Ausdruck befragt: „It`s the
mulher who makes a cuckold … Even if it was my best friend who fucked with her, you know, it wasn`t him who
made a corno out of me, no. I would call him a „son of a bitch“ – but she was the one who betrayed me. (João)
Indee, the mulher herself can be described as a cornoateira or, loosely translated, a specialist in the art of
cuckoldry; and the threat posed by the cornoateira seems to be understood in Brazilian life as an almost everpresent danger.“ In: Parker, Richerd G., Bodies, pleasures and passions, 1991, S. 49.
66
agora tinha medo.“165 Möglicherweise vermeidet er diese Form der Vereinigung aber
auch aufgrund seines Tumors, den er zynischerweise im After hat, also dem Bereich,
der Ângelo Marcos in moralische Gewissensbisse stürzt. Dieser Tumor könnte das
greifbare Ergebnis dieses inneren Kampfes sein, da Geschwüre gemeinhin auch mit
seelischen Problemen und Verdrängungsvorgängen in Verbindung gebracht werden.
Damit würde Ubaldo Ribeiro möglicherweise in Anlehnung an Freud den Einfluß des
Erotischen (und dessen Verdrängung) auf alle Lebensbereiche der Menschen betonen.
Gleichzeitig wirkt ein Tumor in einem solch sensiblen Bereich äußerst grotesk und
karnevalistisch, denn die niedere Körperlichkeit dieser Krankheit kontrastiert mit dem
über die Maßen gepflegtem Erscheinungsbild, und der gesellschaftlichen Stellung des
Politikers. Ângelo Marcos ist nicht der einzige Homosexuelle, der in den Büchern
Ubaldos derart spöttisch und schadenfroh vorgeführt wird. Der Koch des Politikers
entspricht dem Bild des weibischen, affektierten, schwulen Mannes und auch in
O feitiço da ilha do pavão hat das Verhältnis zwischen Priester und Offizier eine
lächerliche Note. Der einzige, der nicht auf diese klischierende Art und Weise
beschrieben wird, ist der Profikiller Boaventura, auch wenn er kaum eine positive
Figur ist. Andererseits gehört der Beruf des Profikillers sicher nicht zu den als typisch
angesehenen Berufen Homosexueller166, wobei auch seine Lebensgeschichte das
Ergebnis einer lebenslangen Verdrängung sein könnte. Jedenfalls zeigen auch in O
sorriso do lagarto korrupte Vertreter der Mittelschicht ein auffälliges Sexualverhalten,
während sich die positiven Figuren des Romans, João Pedroso und Ana Clara
„normal“ verhalten, ohne sadistische Spielereien oder Vorlieben für das eigene
Geschlecht. Hier stellt sich die Frage, ob der Autor möglicherweise unbewußt die
Homosexuellenfeindlichkeit der von ihm kritisierten Gesellschaft übernimmt, zumal
er auch nicht zwischen aktiven und passiven Handlungen unterscheidet.
6.2 Die Erotik der Zerstörung in Diário do Farol
Diário do Farol (2002) ist ein dunkler, zynischer Roman, über einen Priester der seine
Lebensbeichte ablegt, um, wie der Ich-Erzähler selbst erklärt, das Dasein möglichst
vieler Menschen mit seinen Ideen zu vergiften. Durch die von Ubaldo Ribeiro
gewählte Form, den gesamten Roman aus der Perspektive des psychopatischen
165
166
Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 335.
In dem James-Bond-Film: Diamonds are forever (1971) gab es allerdings ein homosexuelles Killer-Pärchen.
67
Priesters zu erzählen, fehlt die ironische Distanz zur Figur, die andere Bücher João
Ubaldos ohne Ich-Erzähler auszeichnet. Diário do Farol handelt von einem Jungen,
der als Kind von seinem Vater gequält wurde und deswegen beschließt „böse“ zu
werden. Der Geist seiner Mutter, die vom Vater angeblich ermordet wurde, begleitet
ihn als unsichtbare Stimme um Rache zu fordern.167 Er soll den Vater und dessen neue
Frau, die Schwester der toten Mutter ermorden. Die Ausführung dieser Verbrechen
wird zum einzigen Lebensinhalt des Erzählers. Im Priesterseminar, in das er
gezwungen wird, erwirbt er die Fähigkeiten die seine Rache ermöglichen, nämlich die
zu Betrug, Manipulation und Erpressung.
In den Ferien wendet er seine Erkenntnisse an und vergiftet die neugeborenen
Halbgeschwister, um den Vater zu bestrafen. Im Seminar wird der Erzähler durch
seine Skrupellosigkeit immer einflußreicher, er scheut sich nicht einmal, manchen
Priestern sexuell gefügig zu sein, was der Ich-Erzähler in geschäftsmäßiger Sprache
berichtet.
„(…) decidi que seria ativo quando se oferecesse a oportunidade e, embora
fazendo pequenas concessões, sem jamais praticar felação ativa ou ser
penetrado (…). Pegar no membro de um padre, ou mesmo masturbá-lo, me
eram, apesar da minha repulsa, aceitáveis em último caso. Também deixei que
gozassem entre minhas coxas, mas só quando isso se fazia incontornável. (…)
Possuir um padre, fosse pela boca ou pelo ânus, não me dava tanto asco,
embora eu me opusesse aos beijos na boca que as vezes me queriam dar. E
também dei muitas palmadas, tapas e surras de cinturão num deles, que depois
ficava de quatro e me pedia para penetrá-lo com violência, enquanto lágrimas
lhe escorriam dos olhos encantados.“ 168
Das Motiv der homosexuellen und masochistischen Priester kommt bereits in O feitiço
da ilha do pavão (1997) vor. Neu sind jedoch der kühle, distanzierte Ton und die
sachliche, nicht-obszöne Sprache, die der Autor für erotische Handlungen vorher nie
verwendete. Wendungen wie „felação ativa“, „pegar no membro“, „possuir“, sind
Begriffe, die der Autor in A casa dos budas ditosos (1999) ausdrücklich vermied.169
In dieser Textstelle versucht der Autor wohl nicht, eine erotische Stimmung
hervorzurufen, sondern ermöglicht den Lesern Einblicke in die kalte Psyche des
Erzählers. Wie in seinen anderen Romanen auch, schafft der Autor eine spezielle
167
Die Parallelität zu Shakespeares Hamlet ist unverkennbar. Der Onkel Hamlets (Bruder seines Vaters),
Claudius, tötet Hamlets Vater, den König von Dänemark. Nach dessen Tod heiratet Claudius die Witwe und
wird selbst König. Der Geist des toten Königs erscheint Hamlet und fordert Rache. In Diário de Farol wird statt
dessen die Mutter ermordet – von ihrem Mann in Komplizenschaft mit ihrer Schwester.
168
Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 59 f.
169
Zu der Schwierigkeit erotische Szenen auf Portugiesisch zu schreiben, vgl.: Benzel, Caroline, Interview mit
João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 107 (dieser Arbeit).
68
Sprache für seine Figur, nur daß diesmal ein ganzes Buch auf den Gedanken und
Erlebnissen einer Person beruht. Grund für die Kälte der Sprache ist das
grundsätzliche Desinteresse des Erzählers an diesen Praktiken: „Em primeiro lugar,
deve haver algo distorcido em minha libido, pois o sexo em si nunca exerceu, coma
exeção do caso de Maria Helena, grande atração sobre mim.“170
Maria Helena ist die einzige Frau, in die der Erzähler sich zu verlieben glaubt.
Ansonsten benutzt er Erotik nur, um Macht über Andere zu erlangen und sie nach
Möglichkeit zu erniedrigen. So bereitet es ihm besondere Freude, junge Verlobte zu
verführen, die zu ihm in die Beichte kommen, obwohl er sie wegen ihrer aufgesetzten
Keuschheit verachtet.
„Descobri especial prazer em entereter-me sexualmente com as noivas. (…)
Claro que lhes mantinha a virginidade vaginal, mas, de resto, fazia tudo com
elas e me dava extraordinário prazer vê-las na rua, de mãos dadas com os
noivos e trocando carícias discretas com eles.“171
Dieselben Frauen, die sich ihrem Priester hingeben, verlangen von ihren Verlobten
daß sie Prostituierte aufsuchen, um ihre Libido auszuleben. Ein Verhalten das der
Erzähler versteht, „mas que, como disse, faz parte da estupidez humana.“172 Der IchErzähler kritisiert also die Heuchelei bei Anderen, obwohl er sie selbst mit voller
Absicht praktiziert. Die bekannte Ironie des Autors scheint durch, wenn der Erzähler
behauptet, der Allgemeinheit einen Dienst zu erweisen, weil diese Frauen in Zukunft
schneller zu Oral- und Analverkehr bereit sind.
Die Beweggründe des Erzählers sind jedoch nicht erotischer Natur, weder im
physischen noch im psychischen Sinn der Erotik. Er bezieht seine Lust aus der Macht,
die er über die Frauen ausübt, indem er sie animiert, entgegen ihrer Prinzipien zu
handeln. Bei einem dieser Abenteuer lernt der Priester Maria Helena kennen, die
einzige Frau in die er glaubt verliebt zu sein. „Não posso negar que ela era realmente
especial, na sua sensualidade extrema, acobertada pela aparência inocente.“173
Maria Helena weist jedoch den Heiratsantrag des Erzählers zurück, dessen Liebe sich
daraufhin in Haß verwandelt. Lebensinhalt sind fortan die Ermordung seines Vaters
und die Vergeltung an Maria Helena, deren tragisches Schicksal sich schon in ihrem
Namen andeutet. Es ist vermutlich kein Zufall, daß der begeisterte Homer-Leser João
Ubaldo eine wunderschöne Frau Helena nennt. Hatte doch die Entführung Helenas
170
Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S.137.
Ibid., S. 143.
172
Ibid., S. 143.
173
Ibid., S. 158.
171
69
durch Paris in Homers Ilias den Trojanischen Krieg verursacht. Auch in diesem Fall
löst Helena einen kleinen Krieg aus, nämlich einen persönlichen Rachefeldzug, der sie
und ihre nächste Umgebung betreffen wird. Der Priester bekommt durch die
Militärdiktatur die Gelegenheit zur Vergeltung, da Maria Helena in eine linke
Bewegung eintritt, die der ehemalige Liebhaber infiltriert und an die Militärs verrät.
Im Zuge dieser geheimen Operation läßt er sich foltern, um glaubwürdiger zu
erscheinen und quält auch andere. Dabei entdeckt der Erzähler seine wahre erotische
Neigung.
„Há uma beleza especial na tortura, embora eu não possa explicar isto a você:
ou você tem sensibilidade para isso, ou não tem, problema grotescamente seu.
(…) Ah, que descobertas, que transes, que prazer misterioso me arrepiando
desde as entranhas, em ver aquelas relações de amor entre os torturadores e
os torturados, (…) havia, ouso dizer, quase orgasmo, pelo menos em mim.“174
Die schwärmerische Begeisterung für die Schönheit der Folter steht im krassen
Gegensatz zur neutralen Sprache, die der Erzähler für seine homoerotischen
Erfahrungen einsetzte. Der Sinn jeder Erotik liegt für den vorgeblichen Priester in der
Zerstörung des Anderen, in der absoluten Transgression, wie schon Sade sie
propagiert hat. Die Unterwerfung und Zerstörung eines Menschen, der Moment in
dem die „geschlossene Struktur“ aufgebrochen wird, sind im Sinn von Bataille, das
Ziel dieser pervertierten Form der Erotik. Die Lust, Macht auszuüben, steigert sich bis
in die Lust an der Folter und am Töten. Der Erzähler selbst zitiert Sade und die
Geschichte der O. von Pauline Réage als beispielhaft für sein Erotikverständnis.
Zwar wird in der Geschichte der O. niemand getötet, doch baut sich auch dort
ein erotisches Spannungsverhältnis zwischen Folterer und Gefolterten auf. Diese
Verbindung existiert bei Sade nicht unbedingt, da in seinen Büchern ausschließlich die
Libertins regieren, die sich nicht für die Gefühle ihrer Opfer interessieren. O. dagegen
läßt sich aus Liebe zu ihrem Freund mißbrauchen und vergewaltigen. Möglicherweise
wollte der Autor mit diesem intertextuellen Vergleich seinen Erotik-Ansatz in Diário
do Farol rechtfertigen, auch wenn der Vergleich zu diesen Klassikern der erotischen
Literatur gewagt erscheinen mag. Diese Anspielungen unterstreichen jedoch den
Ansatz des Autors, die zerstörerische Kraft der Erotik im Spannungsfeld zwischen
Lebens- und Destruktionstrieb literarisch umzusetzen. Nachdem der Priester die linke
Gruppierung verraten hat, erbittet er sich die Gunst, Maria Helena und ihren Mann
174
Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 260.
70
selbst zu töten. Zuvor läßt er sie in einer Folterzelle fesseln, um sie gemeinsam mit
einem Kollegen vergewaltigen zu können.
„Ainda de pé diante dela, levantei a batina e, com meu membro ereto, também
lubrifiquei-o e meti nela com força e paixão. – Oh, meu amor, que bom, que
bom – dizia eu, enquanto lhe apertava o pescoço não o suficiente para matála, mas para deixá-la atordoada, outra técnica que a práctica me havia
ensinado. – Estou quase gozando aqui dentro mesmo, em vez de em sua cara.
Mas contive o orgasmo e parei diante dela, com a cabeça de meu sexo tão
próxima quanto possível do seu rosto, que não podia virá-lo de todo para o
lado como tentou. Entre palavras carinhosas e algumas novas bofetadas, me
masturbei diante da cara dela e ejaculei abundantemente em seus lábios
inutilmente cerrados. Logo mandei que a amarrassem de barriga para baixo,
como o marido – Meu amor, minha vida, minha linda – disse eu. – Eu sempre
quis meter em todos os buracos do seu corpo e ainda tenho tesão suficiente
para meter nessa bundinha maravilhosa.“175
Auch in diesem Abschnitt assoziiert der Erzähler brutale Gewalt mit Liebe und
Leidenschaft. Eine Angewohnheit, die der Erzähler durch die Torturen der Kindheit
entwickelt haben könnte, indem er die Mißhandlungen des Vaters unbewußt zu
Liebesbeweisen umdeutete. Auch bei der Charakterisierung dieses Priesters versucht
João Ubaldo eine psychologisch denkbare Figur zu entwerfen, indem er
Kindheitserlebnisse mit dem Verhalten des Erwachsenen verknüpft.
Nach der Vergewaltigung ermordet der Priester seine beiden Opfer, Maria Helena
und ihren Mann. „(…) vou deixar que o companheiro aqui mate seu bosta de marido e
eu mesmo estrangulo você. Foi o que fiz, (...) e ela (...), deu o último suspiro
aconchegada amorosamente em mim.“176
Die Grausamkeit und Perversion des Priesters widersprechen jeder Moral, und
wahrscheinlich ist er wahnsinnig, da er glaubt, mit dem Geist seiner toten Mutter zu
sprechen. Dennoch löst der Roman sehr ambivalente Gefühle aus, da die
Darstellungen und Meinungen des Erzählers nicht relativiert werden. Es fehlt die
Polyphonie der Stimmen, die Ubaldo Ribeiros übrige Romane kennzeichnen.
Der Leser wird in die Rolle des Voyeurs gezwungen, wenn der Ich-Erzähler die
Folterungen und Vergewaltigungen darstellt. Obwohl der Autor eine mögliche
psychologische Erklärung für das Verhalten des Priesters entwirft, bleibt ein gewisses
Unbehagen bei der Lektüre dieses Romans bestehen. Durch den Wahnsinn des
175
176
Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 299 f.
Ibid., S. 300 f.
71
Erzählers wirken die Schilderungen seiner schrecklichen Kindheit nicht glaubwürdig.
Auch das Motiv der grausamen Stiefmutter ist schon zu abgenutzt, als das es den
Leser wirklich berühren könnte. Um so eindringlicher wirken die Beschreibungen der
Folterungen, da es sich hier um Begebenheiten handelt, die zumindest in ähnlicher
Form während der Militärdiktatur wirklich vorgekommen sind.
Gefesselte, vergewaltigte Frauen sind ein beliebtes Motiv in der Pornographie und
es fällt auf, daß der Erzähler nur die Vergewaltigung Maria Helenas in allen
Einzelheiten wiedergibt. Die Szene ist eindeutig pornographisch, da Machtstrukturen
reproduziert und aus der Sicht des Priesters als positiv dargestellt werden. Bevor er die
Frau schließlich tötet, ejakuliert er noch in ihr Gesicht, was ebenfalls eine
pornographische Handlung ist, die eine Frau erniedrigt. Durch die Foltersituation ist
die Macht des Erzählers total und er nutzt sie bis zum Ende, indem er sein Opfer tötet.
João Ubaldo Ribeiro hat in Diário do Farol die Idee einer Erotik der Zerstörung zu
Ende gedacht und diese in politische Zusammenhänge eingebettet, denn die
Folterungen werden erst durch die Militärdiktatur ermöglicht
Zwar sind die
Verbrechen des Erzählers nicht politisch motiviert, doch wird er von den Militärs
unterstützt, was wiederum die Verkommenheit eines Regimes zeigt, das solchen
Menschen die Möglichkeit gibt, ihre sadistischen Neigungen auszuleben.
Wie schon der Autor Alec Mellor 1949 in La torture feststellte, gibt es „vor allem
zwei Hauptursachen für die alt-neue Seuche: die Entstehung totalitärer Staaten und
die moderne Kriegführung mit ihrem Zwang zu schnellen nachrichtendienstlichen
Erkenntnissen.“
177
Allerdings foltert und vergewaltigt der Erzähler für den eigenen
Lustgewinn und behauptet nicht einmal, nach Erkenntnissen zu suchen. Den Schergen
des Regimes bleibt keine noch so zweifelhafte Entschuldigung, sie foltern, um zu
foltern. Am Ende des Romans tötet der Erzähler schließlich auch den Vater und zieht
sich danach auf eine einsame Insel zurück. Sein Lebenswerk ist vollbracht und
möglicherweise begeht er nach der Niederschrift seiner Geschichte Selbstmord. „Mas
também é possível que não. De qualquer forma é bom lembrar que, mesmo eu morto,
alguém como eu sempre poderá estar perto de você.“178
Mit diesen Worten schließt der Roman und enthüllt möglicherweise die Intention
des Autors, darzulegen, daß bösartige, perverse Menschen, die schwere Verbrechen
begangen haben, oft ein ganz normales Leben führen. Das hat gerade die Geschichte
177
178
Cziesche, Dominik „Die Geißel der Götter“, in: Der Spiegel, 2004, Nr. 36, S. 98.
Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 302.
72
Brasiliens gezeigt, da viele Schergen der Militärdiktatur unerkannt und unbestraft
weiterleben konnten. Falls der Autor beim Schreiben des Romans eine solch kritische
Absicht hegte, so ist diese nicht wirklich aufgegangen, denn dafür ist die Handlung zu
wenig
nachvollziehbar
und
die
perversen,
erotischen
Darstellungen
zu
pornographisch. Neben den bereits erwähnten Textstellen hat der Autor auch
voyeuristische Szenen eingebaut, die den Handlungsverlauf in keiner Weise
vorantreiben. So fängt der Erzähler beispielsweise ein Verhältnis mit einer
masochistischen Mulattin an, nachdem er sie mit einem anderen Priester beobachtet
hatte.
„Sem que eu lhe dissesse nada, prendeu minha batina na faixa da minha
cintura, baixou-me as calças, fechou os olhos e, sem tocar no meu pênis
chupou-me, devo admitir com grande proficiência, (...) descobri que a língua
dela era um órgão sexual poderoso como me dava imenso prazer em
esbofeteá-la e sentir que ela entrava em êxtase a cada golpe, bem como, (...),
quando eu, puxando sua cabeça pelos cabelos retirava meu pênis de sua boca
e, com um movimento brusco, a trazia de volta.”179
Auch an dieser Stelle wird die männliche Macht des Erzählers über eine unterwürfige
Frau demonstriert, auch hier handelt es sich also um Pornographie, die allerdings nicht
wie die Folterbeschreibungen in einen politischen Zusammenhang gebracht wird.
Möglicherweise sollte der Roman eine ähnliche Provokation darstellen, wie A casa
dos budas ditosos, ein Buch das einen großen Verkaufserfolg erzielte. Das wäre ein
gefährlicher Versuch, denn Vergewaltigungen, Folterungen und entwürdigende
Darstellungen von Frauen sollten einem seriösen Autor nicht als Verkaufsstrategie
dienen.
7. Erotik der Körper und der Herzen
Die Liebe ist eines der wichtigsten und beständigsten Themen der Weltliteratur und
wird von João Ubaldo, dessen Werk voller Erotik ist, dennoch selten behandelt.
Erstaunlich, wenn man bedenkt, daß Liebe und Erotik als ebenso verwoben gelten, wie
Erotik und Sexualität180. Für Octavio Paz gehören alle drei Komponenten zusammen:
„Por el cuerpo, el amor es erotismo y así se comunica con las fuerzas más
vastas y ocultas de la vida. Ambos, el amor y el erotismo – llama doble – se
179
Ribeiro, João Ubaldo, Diário do Farol, 2002, S. 245 f.
Zur Unterscheidung zwischen Erotik und Sexualität siehe Kapitel 2.1 in dieser Arbeit. Danach entscheidet
sich Erotik von Sexualität durch ein über das Körperliche hinausgehendes psychisches Bedürfnis.
180
73
alimentan del fuego original: la sexualidad. Amor y erotismo regresan siempre
a la fuente primordial, a Pan y su alarido que hace temblar la selva.“181
In João Ubaldos Romanen kommt diese doppelte Flamme selten vor, nur die Erotik
brennt und nährt sich aus der Sexualität, während die Liebe182 traurig qualmt.
Die Figuren Ubaldo Ribeiros sind voller sexueller Perversionen, doch lieben können
sie nur selten. Das liegt vermutlich daran, daß der Autor erotische Darstellung oft als
Kritik an den Handelnden verwendet. Vielleicht liegt diese Trennung zwischen Erotik
und Liebe auch an der Zeit, in der João Ubaldo lebt. In den meisten modernen
Gesellschaften ist das Erotische kommerzialisiert und zu einem Konsumartikel
geworden, eine Entwicklung, von der auch Brasilien nicht verschont geblieben ist.
Hier soll nun analysiert werden, wann und zu welchem Zweck der Autor die von
Bataille so genannte Erotik der Herzen einsetzt, und ob er dabei einem bestimmten
Muster folgt.
7.1 Verwandte Seelen
Zunächst bleibt festzustellen, daß aufrichtige Liebe in den Büchern Ubaldo Ribeiros
stets mit Hindernissen verbunden ist. Damit befindet er sich in einer langen
literarischen Tradition,183 denn das Thema Liebe scheint vor allem interessant zu sein,
wenn eine Liebesbeziehung Gegner und Hindernisse hat.
„Das Motiv gewinnt seinen Reiz nicht nur durch die mögliche Darstellung
einer intimen Begegnung zweier Liebender, sondern vor allem durch die
Gefahr, die die heimliche Zusammenkunft mit sich bringt.“184
Der Alltag glücklicher Liebe ohne Komplikationen verspricht kaum Spannung und ist
nur eingeschränkt für die literarische Gestaltung geeignet. Auch aus diesem Grund
mag der Shakespeare-Bewunderer João Ubaldo das Motiv der unglücklichen Liebe
ausarbeiten, wie im Fall von Maria da Fé und Patrício Macanário.
Zwei getrennte Seelen treffen sich nach Jahrhunderten wieder, und doch stehen sie
auf verschiedenen Seiten. Das Motiv des herkunftsbedingten Liebeskonflikts, das
beispielsweise auch Romeo und Julia (1595) beherrscht, wird hier von einem
181
Paz, Octavio: La llama doble, 1995, S. 207.
Liebe wird hier als heftige emotionale Zuwendung zu einem anderen Menschen verstanden.
183
Beispiele für Liebesbeziehungen mit Hindernissen in: Shakespeare, William, Romeo und Julia (1595);
Alencar, José de, Iracema (1865) ; Amado, Jorge, Cacau (1933); García Márquez, Gabriel, El amor en los
tiempos del cólera (1985); Queirós, Eça de, O primo Basílio (1878); Lawrence, D.H., Lady Chatterley’s Lover
(1928); etc.
184
Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur, 1976, S. 454.
182
74
Familienkonflikt zu einem sozialen Problem abgewandelt. Maria da Fé und Patrício
stehen nicht nur auf verschiedenen Seiten, weil sie eine Aufständische und er ein
Soldat ist, sondern auch weil ihre Lebensgeschichten zwei grundsätzlich
unterschiedliche Erfahrungen der Mischlingsbevölkerung repräsentieren. Patrício ist
ein Nutznießer der Anpassung seines Vaters und Maria da Fé ein Symbol des
Widerstands. Die Liebe der beiden nähert diese unterschiedlichen Lebensentwürfe an.
„Que orgulho sentia de estar ali com ela, de partilhar sua esteira, de ser
amado por ela! Orgulho porque jamais houvera mulher tão bela em parte
alguma e ele não podia descrever esse orgulho, que lhe vinha quando notava
os olhos dela fixos nele, (…). Pois ele também a amava, com tanta intensidade
que às vezes se assustava, (…).“185
Dies sind Pátricios Gedanken nach einer gemeinsamen Liebesnacht mit Maria da Fé,
die nicht genauer beschrieben wird, möglicherweise weil diese wahrhafte Liebe über
eine körperliche Anziehung hinausgeht. Zudem erinnert die Geschichte der beiden
Seelen von Maria da Fé und Patrício stark an die von Platon niedergeschriebene
Legende des Eros, der sich ergänzenden Hälften.
Zunächst gibt es in Viva o povo brasileiro nur eine brasilianische alminha,
nämlich die des caboclo Caipiroba. Erst durch die Verbindung zwischen seiner
Tochter Vu und dem Holländer Zinique, entsteht durch dessen Akkulturation eine
zweite brasilianische Seele. Die beiden Seelen lieben sich aufgrund ihres
ursprünglichen Verwandtschaftsverhältnisses, als Vater und Tochter. Die Seelen, die
sich in Patrício und Maria da Fé wieder erkennen, können als Spiegelbild der
platonischen Androgyne nur einen kurzen Augenblick vereint bleiben. Auch aufgrund
dieser seelischen, fast inzestuösen Beziehung, könnte der Autor die körperlichen
Aspekte dieser Liebe ausgelassen haben.186
Patrício ist nach seiner Liebesnacht von der Notwendigkeit des Widerstandes
überzeugt und möchte sein früheres Leben aufgeben, um sich Maria da Fé
anzuschließen. Auf diese Weise drückt João Ubaldo vielleicht einmal mehr seine
Sympathie für die Irmanidade do povo brasileiro aus, denn nach Elizabeth Frenzel
muß die Entscheidung eines Opfers „für die Seite fallen, der vom Autor das größere
185
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 508 f.
Im Übrigen ist die Geschichte der verschiedenen brasilianischen Seelen äußerst verworren, was vielleicht
auch durch die orale Überlieferungstradition der Indianer und der schwarzen Sklaven begründet ist. Ribeiro
imitiert die mündliche Form der Geschichtserzählung, die sich ständig verändert und dadurch auch
widersprüchlich ist. Aus dem entführten Holländer Heike Zernike, macht die orale Tradition beispielsweise den
caboclo Sinique, einen Freund des Menschenfresser Caipiroba.
186
75
Recht (…) zugesprochen wird, (…).“187 Gleichzeitig wird die patriarchale
Geschlechterhierarchie umgekehrt, da ein solches Opfer normalerweise von einer Frau
erwartet wird. Maria da Fé nimmt das Angebot ihres Geliebten jedoch nicht an, sie
will ihr Leben ganz dem Kampf für die Freiheit widmen – eine Entscheidung die sie
einerseits heroisiert, andererseits einem Keuschheitsgelübde nahe kommt. Maria da Fé
beugt sich einem Schicksal, das in ihrem Namen „Maria vom Glauben“ bereits
angedeutet wurde. Aufgrund der Namensgebung könnte man versucht sein, die
Geschichte von Maria da Fé und Patrício mit der biblischen Geschichte von Maria und
Josef zu vergleichen188, denn auch die Mulattin wird ein keusches Leben führen.
Bei dieser einmaligen Liebesvereinigung zeugt Patrício einen Sohn, von dem er
aber erst nach dem Tode Marias erfährt. Dieser Sohn wird allerdings nicht zu einem
Propheten, der das Schicksal des brasilianischen Volkes verändert, noch zum Hüter
wichtiger Geheimnisse. Er übergibt die magische Kiste, in der die Mysterien der
Irmanidade do povo brasileiro enthalten sind dem Vater, was vielleicht bedeuten soll,
daß diese Erkenntnisse nicht übertragbar sind, sondern von jeder Generation selbst
entdeckt werden müssen.189
7.2 Happy End für die Liebe
Nicht immer ist die Liebe in Viva o povo brasileiro solch symbolischer Natur. Bei
dem anderen Liebespaar des Romans, Merinha und Budião, die beide gegen die
Sklaverei aufbegehren, gibt der Erzähler Gedanken und Handlungen Budiãos beim
Liebesspiel recht genau wieder.
„Às vezes ele sentia vontade de deixar de existir, de entrar por aquelas
gordurinhas, (...) de se misturar, se misturar e então pararem, então virarem
parte do chão, unidos de uma vez por todas, sem nada falar, nada mexer, (...)
os dois uma planta, uma árvore, (...). Enfiou a cara no sovaco dela, aspirou
como se fosse morrer sem ar se não o fizesse, (...) – Me dá força – disse ele,
encostando a cabeça e a cara no lugar do amor, abrindo-lhe a racha delicada
187
Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur, 1976, S. 468.
Nur daß der Geliebte nicht Josef heißt, sondern als Patrício an die römischen Patrizier erinnert. Eine
Übereinstimmung, die der Vater Amleto sicher gewollt hat, um die angebliche Verbindung der Familie zur
europäischen Kultur zu untermauern. Gleichzeitig heißt ‚patrício’ auch Landsmann, was auf die Verbindung
Patrícios zum brasilianischen Volk verweist.
189
Für diese Interpretation würde auch das Ende des Romans sprechen. Nach dem Tod Patrícios öffnen Diebe
die Kiste und lösen damit ein apokalyptisches Szenario aus, die Geheimnisse entweichen und Brasilien wird mit
Blut übergossen. Die Mysterien der Kiste sind die sozialen Ungerechtigkeiten und Verbrechen, die vom großen
Kapital und den Amerikanern verbrochen werden. Lösungsvorschläge sind nicht enthalten und künftige
Generationen müssen eigene Anstrengungen unternehmen.
188
76
com dois dedos, encostando ali o pescoço e abraçando-a pelos joelhos. (...) ele
quis entrar e lá ficar, abrigado em baixo do Grande Umbigo.“190
Wieder vermischt João Ubaldo die Gedanken der Figur mit der Rede des Erzählers, so
daß man glaubt, am Gedankenfluß der Person teilzuhaben, obwohl Handlungen
beschrieben werden. Dabei zeigt sich in dieser Textstelle, daß der Autor durchaus in
der Lage ist, ein erotisches Liebesspiel ohne Vulgaritäten und voyeuristische Elemente
zu entwerfen. Die respektvolle Benennung intimer Körperstellen, wie „lugar de amor“
und romantische Vorstellungen wie „os dois uma planta, uma árvore“ betonen die
Verliebtheit Budiãos und schließen eine voyeuristische Lesart, die sich nur auf das
Körperliche konzentriert, aus. Hier zeigt sich der Eros in seiner schönsten Form, dem
Streben nach ewiger Einheit, wie Platon ihn im Gastmahl interpretiert hatte.
Gleichzeitig erscheint Merinha als Urmutter allen Lebens, denn Budião möchte
mit seinem ganzen Körper in diesen Schoß, der für ihn zum Mittelpunkt der Welt
wird, eindringen und dort verweilen, Diese Interpretation würde auch die
ungewöhnliche Großschreibung der Worte „Grande Umbigo“ erklären. Die großen
Anfangsbuchstaben stellen eine Verbindung zu „Deus“ her, der in romanischen
Sprachen meistens mit einem Großbuchstaben beginnt. Die erotische Liebesbeziehung
wird so zu einer Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Sein stilisiert, eine
Bedeutung die auch schon der Philosoph Georges Bataille der Erotik zuschrieb.
Gleichzeitig fühlt Budião sich eins mit der Natur, denn er würde sich am liebsten
gemeinsam mit Merinha in einen Baum verwandeln. Der Augenblick des Glücks
währt jedoch nur kurz, da Budião sich auf eine wichtige Mission begibt, die ihn zehn
Jahre lang von Merinha fernhalten wird, die dennoch auf ihn wartet.
Als er ein Jahrzehnt später nach vielen Abenteuern zurückkehrt, ist ihre Liebe
ungebrochen. Vielleicht ist dieser Zeitraum eine Anspielung auf die zehn Jahre, die
Odysseus brauchte, um nach Ende des Trojanischen Krieges zu seiner Frau
zurückzukehren.191 Mit seiner Heimkehr ist das kämpferische Leben Budiãos jedoch
nicht beendet, da er als entlaufener Sklave gefangen und gefoltert wird, bevor Maria
190
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 280 f.
Für diese Interpretation würde die Affinität Ribeiros zu Homer (zwischen 750-650 v.Chr.) sprechen. Zudem
gibt es in Viva o povo brasileiro weitere Textstellen, die auf die Ilias hinweisen könnten. Das Eingreifen der
Orixás (afrikanische Gottheiten, die in Brasilien in die synkretistische Religion Candomblé aufgenommen
wurden) in der Schlacht von Tuiuti, erinnert an die griechischen Gottheiten der Ilias.
(Diese intertextuelle Referenz könnte ebenfalls den Os Lusíadas (1572) von Camões (1524-1580) gelten, in
denen römische Götter auftreten, oder aber Jorge Amado, der seinen Figuren auch übersinnliche Hilfe
zukommen ließ.)
191
77
da Fé ihn befreit. Auch Odysseus konnte sich auf Ithaka nicht sofort zur Ruhe setzen,
sondern mußte zuvor die Freier seiner Frau Penelope töten. Erst nach diesem letzten
Abenteuer kann Budião / Odysseus die Liebe genießen.
In den bislang acht erschienenen Romanen João Ubaldo Ribeiros kommt es nur ein
weiteres Mal zu einem „Happy End“ für die Liebenden. Auch in O feitiço da ilha do
pavão, das der Autor als livrinho bezeichnet, können Crescência und Iô Pepeu sich
letztendlich im Liebesglück vereinen.
„– A ela sem pena - disse ela. – A ela sem pena! Ah, quem estava distraído
nessa hora afirma que a tarde se iluminou de rosa e carmim, o ar se perfumou
e toda a orla da ilha do Pavão faiscou. Não se sabe se isso é verdade, mas
parece que sim, porque passaram um tempo infinito um dentro do outro e
gozaram como ninguém nunca gozou neste mundo, atravessando a longa noite
abraçados e amantes, nada ruim podendo alcançá-los.“192
Auch hier erscheint der Liebesakt als ein mystisches Erlebnis, das nicht nur die
Liebenden betrifft, sondern die ganze Insel erstrahlen läßt – eine romantische
Überhöhung, die durch die rosa Farbgebung der Umwelt, der Duftbeschreibung und
dem Flimmern, zu Kitsch193 wird, womit der Autor möglicherweise dieses glückliche
Ende parodiert.
Die Vereinigung von Crescência und Iô Pepeu ist der Realität entrückt, nachdem
sie durch Iô Pepeus Impotenz während des ganzen Romans mit sehr irdischen
Problemen zu kämpfen hatten. Allerdings entscheidet Crescência erst, sich Iô Pepeu
mit allen Konsequenzen hinzugeben, als sie erkennt, daß sie Nachkommen braucht,
die das Geheimnis des Zeitloches bewahren können. Eine Überlegung, die in einer
patriarchalen Gesellschaft normalerweise der Mann anstellen müßte. Die Utopie der
Insel scheint gewahrt, da es eine Chance für die folgenden Generationen gibt, das
Schicksal der Pfaueninsel zu bestimmen, eine Möglichkeit die den Figuren in Viva o
povo brasileiro verwehrt blieb. Die pessimistische Zukunftsvision des Autors in
seinem längsten Roman liegt möglicherweise nicht nur daran, daß er sich auf
historische Tatsachen beruft, sondern auch, daß er während der Militärdiktatur
veröffentlicht wurde. In beiden Büchern handelt die zentrale Liebesgeschichte aber
von einem weißen Mann und einer farbigen Frau, die mit ihrer erotischen Vereinigung
192
Ribeiro, João Ubaldo: O feitiço da Ilha do pavão, 1997, S. 33.
„Kitsch zeigt meist einen Hang zur Gefühlsbetonung, zu einer übertriebenen Romantisierung, zur
Verniedlichung und zum Dekorativen, gibt die Wirklichkeit verzerrt, stark vereinfacht oder ungenau wieder, will
sich mit klischeehaften, falschen oder übertriebenen Gefühlen beim Publikum einschmeicheln und zielt auf einen
unausgebildeten, unkritischen Geschmack.(…) Mit der Bezeichnung „Kitsch” ist ein ästhetisches Qualitätsurteil
verbunden, das abwertend und häufig auch provokativ gemeint ist.“ In: Microsoft® Encarta® Enzyklopädie
Professional, 2003.
193
78
neues Leben zeugen.194 Während Maria da Fé und Patrício sich aufgrund ihrer
Seelenverwandtschaft tatsächlich lieben, ist die Liebe zwischen Crescência und Iô
Pepeu weniger eindeutig, wie der Autor selbst bestätigt.
„O amor para muitas pessoas não passa de um impulso egoísta. Você pode até
argumentar, se for uma teórica polêmica, que todo amor é uma forma de
egoísmo. (...) O amor é basicamente um dar e não tomar. Mas tem gente que
só toma. Então no sentido muito lato de amor, vamos dizer, eu acho que
chegou a haver amor de Crescência para Iô Pepeu no fim. Acho que ela foi
seduzida pelo amor dele ou pela obsessão dele por ela.“195
Diese Interpretation des Autors widerspricht zwar der romantischen Gestaltung der
Szene, entspricht jedoch dem Charakter der Figuren, die man sich kaum als Liebespaar
vorstellen kann. Crescência ist schön, intelligent und zielstrebig, während Iô Pepeu
sich ausschließlich über seine sexuellen Leistungen definiert. Vielleicht verliebt Iô
Pepeu sich im Laufe des Romans in Crescência, weil nur sie seinem Verlangen Einhalt
gebietet und dadurch einzigartig wird. Nur mit ihr erfährt Iô Pepeu Erotik in einer
Verbindung aus Liebe und Sexualität.
Das Verhalten der Figur Crescências wird zum Ende des Romans jedoch
undurchsichtig. Der Leser konnte eigentlich annehmen, daß sie in Iô Pepeu verliebt
sei, da sie schließlich ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihn aus dem quilombo zu
retten. Als jedoch der Capitão Cavalo andeutet, sie solle eine lebenslange Bindung mit
seinem Sohn Iô Pepeu eingehen, erscheint sie nicht besonders begeistert. „Crescência
adivinhou que Capitão Cavalo gostaria de que ela tivesse filhos com Iô Pepeu e sentiu
um arrepio.”196 Dieser Schauder, den Crescência erlebt, kann angenehm sein, oder
auch nicht, weswegen ihre Gefühle ein Geheimnis bleiben.
Sie scheinen für das Verständnis des Romans auch nicht wichtig, weil der Autor
sich insgesamt mit der psychologischen Ausgestaltung der Protagonisten zurückhält.
In O feitiço da ilha do pavão treffen wir auf typisierte Figuren, wie den homosexuellen
Soldaten und Priester, den masochistischen Lehrer, die perverse alte Jungfer, die
weisen Außenseiter, den verrückten Despoten, den Taugenichts und Schelm, sowie die
jungfräuliche Geliebte. Dabei wird Crescência zwar nicht psychologisch greifbar
194
Dabei fällt auf, daß zwar die Zeugung von Kindern thematisiert wird, nicht jedoch die Erziehung und das
Heranwachsen. Kinder spielen in den Romanen João Ubaldos kaum eine Rolle, mit Ausnahme von Diário do
Farol, da das bösartige Verhalten des Priesters auf seine Kindheitserlebnisse zurückzuführen ist.
195
Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 115 (dieser Arbeit).
196
Ribeiro, João Ubaldo, O feitiço da ilha do paãvo, 1997, S. 302.
79
dargestellt, aber als intelligente, wißbegierige Frau idealisiert, die zudem auch noch
ein keusches Leben führt. Zudem wird sie mit ihrer Mutterschaft für Nachkommen
sorgen, die das Geheimnis der Insel bewahren, sie wird zur Urmutter dieser
Bewegung, was sich bereits in ihrer Namensgebung angedeutet hatte.197
7.3 Tragische Liebe
Der Roman O sorriso do lagarto spielt zwar auch auf einer Insel, doch gilt hier die
Macht des Bösen und nicht die der Utopie. Vielleicht nimmt deswegen die
Liebesgeschichte zwischen João Pedroso und Ana Clara ein tragisches Ende.
Im Unterschied zu O feitiço da ilha do pavão ist in diesem Roman die Liebe der
Protagonisten nachzuvollziehen, da neben ihren Handlungen und dem sozialen Umfeld
auch ihre Gedanken und Stimmungen geschildert werden. Der Leser erlebt, wie die
beiden sich kennenlernen, flirten und schließlich intim werden. Sie haben eine
wahrhaft erotische Beziehung miteinander, die auf Gegenseitigkeit beruht und die
auch ihre Gedanken beschäftigt.
„Toda molhada, só de pensar. Notara porque estava sem calcinha e, ao
rodopiar pelo simples prazer de girar a saia rodada, viu uma manchinha nela.
Tocou-se, estava alagada. Bem, não tinha por que surpreender-se, já que
ficara mesmo numa excitação inenarrável, sentada com as coxas apertadas e à
beira de gozar pensando nele. Ah, não queria mudar o vestido, tinha que ser
este vestido e sem calcinha, para que ela desfrutasse daquela linda cara que
ele certamente faria, uma espécie de susto maravilhado, uma espécie de careta
divina, quando lhe enfiasse a mão por baixo da saia e ela se revelasse antes do
momento esperado, pronta para ele, pronta!“198
Als sie nur noch aneinander denken können, wird aus einer Affäre eine große Liebe.
Ana Clara will sich scheiden lassen und damit ihr privilegiertes Leben aufgeben. Ihr
Mann weiß dieses gemeinsame Glück zu verhindern, indem er João von Boaventura
ermorden läßt und die Leiche im Meer versenkt. Ana Clara ahnt die Tat ihres Mannes,
ohne sie beweisen zu können und ekelt sich künftig vor Meerestieren.
In einem Streit mit ihrem Mann verliert sich auch noch das Kind von João Pedroso
und wird deswegen verrückt - sie erleidet eine Persönlichkeitsspaltung. Fortan gibt es
Ana Clara und Suzanne Fleischmann, die ursprünglich nur ein Heteronym für ihre
197
Crescência von ‚crescer’ = ‚wachsen’, kann also in doppelter Hinsicht interpretiert werden. Zum einen als
ironische Anspielung auf Iô Pepeus Potenzproblem und zum anderen als fruchtbarer Name für eine künftige
Mutter.
198
Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 199.
80
schriftstellerischen Versuche war. Nur indem sie ihre alte Persönlichkeit weitgehend
abstreift, kann sie weiterhin mit Ângelo Marcos zusammenbleiben, von dem sie
finanziell abhängig ist.
Der Tod Joãos deutet sich bereits in seinem Charakter an, daß er kurz nach der
Erfüllung seines Liebesglücks ermordet wird, paßt zu seinem lebenslangen Scheitern.
Gleichzeitig sollte man nicht vergessen, daß mit dieser tragisch endenden
Liebesgeschichte gleichzeitig auch ein Ehebruch verbunden ist. Ein Topos, der in der
Weltliteratur traditionell bestraft wird, wie beispielsweise in Gustave Flauberts (18211880) Madame Bovary: moeurs de province (1857), oder in Theodor Fontanes (18191898) Effi Briest (1895). Allerdings arrangiert Ubaldo Ribeiro das Motiv des
Ehebruchs so überspitzt, daß die Ermordung nicht unbedingt als gerechte Rache,
sondern auch als Kritik an dem männlichen Ehrbegriff verstanden werden kann.
Ângelo Marcos ist homosexuell und hat seine Frau vor allem aus Prestigegründen
geheiratet. Daß er dennoch Rache übt, erklärt sich nicht aus seiner verletzten Liebe,
sondern nur aus niederen Beweggründen wie verletztem Stolz und der Lust am Töten.
7.4 Autoerotik
Die erotischen Darstellungen João Ubaldos sind häufig voyeuristisch angelegt, vor
allem, wenn Masturbationsszenen und die dazugehörenden Phantasien geschildert
werden. Perilo Ambrósio masturbiert beispielsweise, während er sich die
Vergewaltigung Vevés vorstellt, ebenso wie Ângelo Marcos, wenn er an seinen
Geliebten Boaventura denkt.
In diesen Fällen beschreibt der Autor vor allem die Phantasie der Männer, jedoch
nicht die entsprechenden Handlungen. Die Direktheit der Gedanken bringt den Leser
dabei häufig in die Nähe des Voyeurismus’, ebenso wie bei weiblichen MasturbationsPhantasien, bei denen der Autor nicht nur die Vorstellungen, sondern auch die
konkreten Handlungen beschreibt. Die Schwägerin Patrícios masturbiert in Viva o
povo brasileiro, während sie an ihren Schwager denkt:
„Pensou novamente no Tico.(Anm. der Verf.: Patrício) (…) Entrou na
banheira, a água estava bem quente, como ela gostava. Abriu as pernas e
sentiu que, misturando-se à água, seu próprio caldo escorria, (…). Esticou o
braço um pouco para trás, pegou a escova (…), tomando cuidado para não se
machucar, enfiou em si o cabo com um gemido ronronado. Quase no mesmo
81
instante, enquanto o coração se acelerava (…) gozou tão longamente que
pensou que ia morrer.“199
Die Erotik dieser Szene ergibt sich nicht aus der Phantasie der Figur sondern aus ihrer
konkreten Handlung. Der Autor beschreibt sehr detailliert, wie Henriqueta sich
Vergnügen verschafft, auch biologische Details („seu próprio caldo escorria“) werden
nicht ausgespart. Henriqueta wird in einer intimen Situation, im Badezimmer
beobachtet, Autor und Leser werden zu versteckten Voyeuren. Interessant ist dabei die
Verbindung zwischen sexuellen Bedürfnissen und der Phantasie der Masturbierenden.
Dadurch wird ihre Handlung menschlich und erotisch und hebt sie von einer rein
mechanischen Handlung ab. Auch Ana Clara masturbiert, während sie ihren Geliebten
João Pedroso erwartet.
„Puxando para o lado o vestido, que estendera sobre a cama, deitou de pernas
abertas e começou a masturbar-se com ambas as mãos, uma apertando o
púbis e a outra esfregando o médio e o indicador em movimentos rápidos e
curtos. Virando a cabeça para um lado e para outro cada vez mais depressa,
gemendo alto e abrindo a boca como se toda a musculatura da face houvesse
endurecido naquela posição, gozou uma vez e logo duas e três, terminando por
rolar na cama com um soluço gutural, até parar de lado, os joelhos dobrados,
as mãos ainda entre as coxas juntas.“200
Auch diese Masturbationsbeschreibung ist sehr detailgetreu, fast wirkt sie wie eine
erotische Anleitung für Frauen, so wie die männliche Phantasie sie diktieren mag. Der
Eros wirkt in diesem Fall auf zweierlei Weise. Der Autor beschreibt die sinnlichen
Gedanken im Kopf Ana Claras und wie sie diese Spannung körperlich umsetzt.
Durch die detaillierte Beschreibung kann der Leser sich die Szene genau vorstellen
und
als
erotisch
empfinden.
Im
Gegensatz
dazu
wird
männlichen
Masturbationshandlungen in der Regel wenig Platz eingeräumt. Ângelo Marcos
erotische Begegnungen mit Boaventura werden auf drei Seiten beschrieben, gefolgt
von einer kurzen Masturbation.
„Desceu a mão para a braguilha, abriu o zíper. Não, só o ziper não, tiraria a
bermuda e a cueca. Tirou a camisa também e se masturbou imaginando uma
tesão indestrutível, em que gozariam por todos os buracos e pontos do corpo
um do outro, mas não conseguiu retardar o orgasmo como queria e esguichou
com tanta força que algumas gotas quase lhe chegam ao queixo.“201
199
Ribeiro, João Ubaldo, Viva o povo brasileiro, 2000³, S. 508.
Ribeiro, João Ubaldo, O sorriso do lagarto, 1991, S. 203.
201
Ibid., S. 188.
200
82
Die Betonung liegt hier nicht auf der Masturbation sondern der Vorbereitung und dem
Ergebnis, der Ejakulation. Die Selbstbefriedigung wird schnell und desinteressiert
beschrieben, der Autor scheint mit Vorliebe die Autoerotik weiblicher Figuren mit
voyeuristischen Details einzufangen. Daneben dienen diese intimen Momente auch
dazu, die wahren Neigungen der Protagonisten zu erfahren, denn in diesen
Augenblicken denken sie an die Menschen, die sie wirklich begehren. Diese Fähigkeit
die Vorstellungskraft für erotische Gefühle einzusetzen gehört nach Octavio Paz zu
den Merkmalen menschlicher Erotik.
„En el acto erótico intervienen siempre dos ó más, nunca uno. Aqui aparece la
primera diferencia entre la sexualidad animal y el erotismo humano: en el
segundo, uno o varios de los participiantes puede ser un ente imaginario. Sólo
los hombres y las mujeres copulan con íncubos y súcubos.“202
Wahre Erotik als Verbindung zwischen Geist und Körper gibt es in João Ubaldos
Romanen also dann, wenn die Protagonisten verliebt sind und / oder masturbieren.
Allerdings kann diese Erotik auch zu Pornographie werden, wenn die Figuren sich
gleichzeitig die Erniedrigung einer anderen Person vorstellen oder herbeiführen.
8. Wollust – Sünde oder pornographisches Motiv?
A casa dos budas ditosos erschien 1999 in der Serie Plenos Pecados des Verlages
Objetiva, in der die sieben Todsünden, also Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz,
Völlerei und Wollust, von jeweils verschiedenen Autoren behandelt wurden.
João Ubaldo weigerte sich, die Todsünde Trägheit zu übernehmen, um nicht das
Klischee des faulen baiano zu bedienen und so entstand A casa dos budas ditosos als
Auftragsarbeit über die Todsünde Wollust. Da Ubaldo diese Aufgabe übernommen
hat, stellt sich bei der Lektüre des Romans die Frage, ob der Autor selbst Wollust auch
als Sünde ansieht. Falls er Wollust und Erotik in seinem Roman kritisch erörtern
wollte, so wurde er zumindest nicht so verstanden. In Portugal weigerten sich die
Supermarktketten Continente und Pão de Açúcar aus moralischen Gründen, das Buch
202
Paz, Octavio, La llama doble, 1995, S. 15.
83
zu vertreiben, obwohl beide Märkte Erotikfilme in ihrem Sortiment führen. Der Text
scheint auf manche Leser also ausgesprochen schockierend zu wirken.
Der Ausgang dieses Skandals war für den Autor positiv, da die Reaktion der
Supermärkte in der portugiesischen Presse heftig debattiert wurde, was die
Verkaufszahlen in die Höhe schnellen ließ.
8.1 Das Erotische als Verkaufsstrategie?
Obwohl das Erotische in den meisten Büchern Ubaldo Ribeiros einen wichtigen Platz
einnimmt, ist A casa dos budas ditosos der einzige Roman, der beinahe ausschließlich
von diesem Thema handelt. Durch den erwähnten Skandal in Portugal wurde der
Verkauf des Buches überproportional gesteigert. Es ist anzunehmen, daß der Autor
diese heftige Reaktion aus Teilen des Publikums gewollt und provoziert hat: „Enfim,
sexo sempre mexe muito com as pessoas.“203 Zudem läßt er kaum ein Tabu aus:
Inzest, Orgien, Sodomie, Homosexualität bei Frauen und Männern, Bisexualität,
Ehebruch, offene Ehen, Lolita-Nymphchen, all diese umstrittenen Praktiken, Motive
und Einstellungen gehören zu den Themen dieses Romans.
Dabei fällt auch auf, daß Ubaldo Ribeiro ein Buch über Erotik ausgerechnet aus
der Perspektive einer Frau schreibt. Möglicherweise wollte er sich mit diesem
Kunstgriff der feministischen Kritik entziehen und der Gefahr entgehen, Frauen zu
Sexualobjekten zu reduzieren. Der Autor selbst begründet seine Entscheidung mit der
Unmöglichkeit über Erotik in der dritten Person zu schreiben:
„Tanto assim que quando eu resolvi usar recursos pornográficos nesse
livrinho, eu escolhi de propósito um truque para pôr na primeira pessoa. Para
evitar amardilhas como „tocou no seu sexo”, para não ter que usar essas
palavras literárias que não soam bem. Então pondo na primeira pessoa era
mais fácil usar o palavrão, usar linguagem que se ouve mais na rua. Mais
natural digamos, mais espontânea.“204
203
204
Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo, 2004, S. 108 (dieser Arbeit).
Ibid., S. 107 (dieser Arbeit).
84
In demselben Interview betont er auch seine engen freundschaftlichen Beziehungen zu
verschiedenen Frauen, die es ihm ermöglicht haben sollen ein tieferes Verständnis für
die weibliche Erotik zu entwickeln. Dieses Verständnis mag auch aus der Tatsache
resultieren, daß der Autor bereits in dritter Ehe verheiratet ist.
Neben diesen arbeitstechnischen Erklärungen könnte es weitere Gründe für die
Wahl einer weiblichen Erzählerin geben. Denn in einem patriarchal geprägten Land
wie Brasilien konnten Autor und Verlag durchaus erwarten, daß ein Roman über eine
hemmungslos wollüstige Frau, einerseits gemischte Reaktionen hervorruft, aber vor
allem die Neugier potentieller Leser/Innen weckt. Laut João Ubaldo waren viele
Frauen von dem Roman begeistert, denn nie zuvor hätte er so viele Reaktionen von
Leserinnen erhalten.205
Manche Frauen glaubten sogar, die Erzählerin existiere tatsächlich, womit sie einer
weiteren Marketingstrategie erlagen. João Ubaldo Ribeiro hatte in einem kurzen
Vorwort behauptet, daß ihm eine anonyme Frau ihre Lebensbeichte auf Band
gesprochen habe, damit er sie transkribieren und veröffentlichen könne.
Damit benutzt er einen ähnlich literarischen Trick wie Choderlos de Laclos mit
seinen Les liaisons dangereuses206 der vom Verlag durch den Klappentext und gezielt
lancierte Zeitungsartikel unterstützt wurde. Dieses Geheimnis um eine unbekannte
Frau, hat den Absatz des Buches vermutlich ebenfalls gesteigert.
8.2 Die eingeschränkte Libertinage
Das Vorwort des Autors mag ein literarischer Trick gewesen sein, um den Verkauf des
Buches zu fördern, doch gibt er seinen Lesern die Möglichkeit, diesen zu
durchschauen. Gleich zu Beginn der Geschichte löst João Ubaldo das vermeintliche
Rätsel der Autorenschaft, wenn die Ich-Erzählerin, die sich selbst eine Libertine nennt,
den Titel ihrer Erinnerungen diskutiert. „O título que ia botar era „Memórias de uma
libertina“, mas não vou mais botar, é bom gosto de mais para esse povo que nunca
leu Choderlos de Laclos,“207 Mit dieser literarischen Anspielung auf Les liaisons
205
Ibid., S. 108 (dieser Arbeit).
Allerdings hatte Choderlos de Laclos seinen Briefroman 1782 anonym veröffentlicht, was einerseits die
Glaubwürdigkeit der Briefe, andererseits aber auch den Skandal erhöhte. Der Autor schildert die
Machenschaften zweier Libertins, der Marquise von Merteuil und des Vicomte von Valmont, die in den
aristokratischen Salons des Ancien Régime skrupellos Unschuldige verführen. In der Annahme das menschliche
Verhalten sei rational erfassbar, beginnen sie einen Wettstreit der Intrigen und Verführungskünste. Dabei führen
sie als Forscher der Erotik regelrechte psychologische Experimente durch.
207
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 20.
206
85
dangereuses, die ebenfalls von einem Mann geschrieben wurden, verweist Ubaldo auf
sich selbst als Autoren. Zudem nennt er in seinem Vorwort die Initialen der
geheimnisvollen Libertine, CDL, was ebenfalls dem Namen Choderlos de Laclos
entsprechen könnte. Durch diese Referenz wird auch das Konzept der Libertinage
angedeutet, das die Erzählerin in diesem Werk vertritt. Wie die Figuren von Choderlos
de Laclos hat auch sie ihr Leben der Erotik gewidmet, um ihre eigenen Gelüste zu
erfüllen. Für dieses Ziel verführt sie auch Unschuldige und treibt mit ihnen
psychologische Spiele. Eine Libertinage-Konzeption nach dem Vorbild Sades gehört
nicht in ihr Repertoire: „Acho que tenho um traço sádico, não sadismo físico, (…)
Considero meu sadismo psicológico muito mais interessante, (…).“208 Die Libertins
des Marquis de Sade stehen außerhalb gesellschaftlicher und moralischer Bindungen,
ihre Lust entsteht aus der Zerstörung der Anderen.
João Ubaldos Libertine bleibt aber innerhalb der Gesellschaft, sie ist nicht völlig
frei, denn obwohl sie viele Tabus bricht, unterwirft sie sich zumindest scheinbar den
sozialen Normen. So wird sie jahrelang ihre Jungfräulichkeit bewahren, obwohl sie
das überhaupt nicht möchte. Später kommt sie sogar auf die Idee, das Hymen operativ
wiederherstellen zu lassen, um als Jungfrau heiraten zu können. Zudem erklärt sie den
Lesern, wie eine Frau dem Mann vorspielen sollte, sexuell völlig unerfahren zu sein,
damit er sie nicht verachtet. Wenn die Frau sich nicht verstellt, können die Folgen fatal
sein:
„Abriu a braguilha dele e deixou que o pau dele pulasse fora. Era a primeira
vez que o via assim, cara a cara, e ficou quase hipnotizada, se sentindo como
nunca se sentira antes, uma falta de fôlego, uma ânsia, uma vontade de
agarrar tudo de uma vez, as costas fibrilando de alto para baixo. Daí para pôr
o pau dele na boca foi um instante e aí acabou o namoro. Ele de repente
empurrou a cabeça para trás e deu um murro nela. (…) Que era que ela
estava pensando? Em que puteiro aprendera aquilo? Achava que mulher dele
era para fazer aquela coisa nojenta, própria das mais baixas prostitutas? (…)
Nunca mais a beijaria na boca, não queria chupar homem nenhum por
tabela.“209
In diesem Abschnitt werden die gesellschaftlichen Zwänge, denen zumindest
„ehrbare“ Frauen im erotischen Bereich unterworfen sind, rekonstruiert, andererseits
wird auch die Macht des Phallus betont, der die Frau zu instinktiven Reaktionen
verführt. Diese fiktive Szene soll vermutlich in den 1950er Jahren in Salvador spielen,
eine Zeit in der die Unterdrückung der brasilianischen Frau ausgeprägter war als heute.
208
209
Ibid., S. 84.
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 62.
86
Die Reaktion des Verlobten steht auch stellvertretend für die Doppelmoral eines
Frauenbildes, nach dem nur Prostituierte keinen erotischen Beschränkungen
unterworfen sind, während Ehefrauen ihre soziale Stellung mit dem Verzicht auf
erotische Erfüllung bezahlen. Eines der Hauptthemen in A casa dos budas ditosos ist
neben der Erotik, wie so oft im ubaldischen Werk, die Heuchelei. Dabei enthüllt der
Roman einerseits die Heuchelei der Männer, die Frauen mit zweierlei Maß messen und
die der Frauen, die sich verstellen müssen, um gesellschaftlich zu überleben.
Allerdings ist die Verstellung der Figuren in diesem Roman nicht so zynisch wie in
Viva o povo brasileiro oder O sorriso do lagarto, sondern wirkt eher unterhaltsam, wie
der locker-ironische Stil der Erzählerin unterstreicht.
„Vários namorados meus, inclusive meus dois noivos, eu já mulher completa
desde priscas eras, achavam que eu era virgem e diziam abertamente que não
tinham preconceito, más só casariam com virgens.“210
Solche Aussagen werden von der Erzählerin mit Humor und sportlichem Ehrgeiz
aufgenommen, sie erteilt „lições de anti-hipocrisia aplicada, usando, a força dela
contra ela, como dizem que fazem os lutadores de jiu-jítsu“.211
Diese Lektion besteht darin, Männer glauben zu lassen, völlig unerfahren zu sein:
„Pegar no pau de forma que ele pense que é a primeira vez (…): nunca tomar
a iniciativa e, apenas na terceira ou quarta tentativa, deixar, tudo relutante e
pudica, que ele puxe sua mão. (…) Sexo anal, a mesma coisa etc. etc. Oh, é a
primeira vez, devagar tá? Grandes atrizes se perdem todos os dias.“212
Auch aus Szenen wie diesen läßt sich der große Erfolg dieses Romans bei Frauen
erklären. Hier wird die Dominanz der männlichen Welt ins Lächerliche gezogen, wenn
Frauen sich scheinbar diesen Werten unterwerfen, aber tatsächlich völlig anders
handeln.
Einerseits
könnten
solche
Verhaltensweisen
als
unmoralisch
und
heuchlerisch gewertet werden. Andererseits entsprechen sie einer sehr brasilianischen
Form des Widerstandes - einer Art von cordialidade213, die eine direkte
Auseinandersetzung aus Höflichkeit vermeidet, aber dennoch jeden nach eigenem
Gutdünken handeln läßt.
Möglicherweise entspricht die Erzählerin einer weiblichen Form des malandro,
der sich mit geschickten Lügen durchs Leben trickst. Wie dem malandro ist auch der
210
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 35.
Ibid., S. 36.
212
Ibid., S. 36 f.
213
In Anlehnung an das Konzept des homem cordial von Sérgio Buarque de Holanda (1902-1982): „Já se disse,
numa expressão feliz, que a contribuição brasileira para a civilização será de cordialidade – daremos ao mundo
o „homem cordial“. (...) Além disso a polidez é, de algum modo, organização de defesa ante a sociedade.“
In: Holanda, Sérgio Buarque de, Raízes do Brasil, 2003, S. 146 f.
211
87
Erzählerin ihr eigenes Vergnügen sehr wichtig, nie arbeitet oder studiert sie ernsthaft,
sondern verführt statt dessen ihre Professoren. Im Gegensatz zum malandro gehört die
Erzählerin jedoch der brasilianischen Elite an, ihre Familie besitzt eine Fazenda und
finanzielle Sorgen kennt sie nicht. Die Grundeinstellung, sich mit einem jeitinho214
durchs Leben zu mogeln, teilt sie aber mit dem brasilianischen Schelm. Für
Außenseiter
scheint
dieser
versteckte
Widerstand
die
einzig
mögliche
Überlebensstrategie zu sein. Die Zwänge der Gesellschaft sind jedoch nicht die
einzigen Beschränkungen, denen die Libertine sich beugen muß. João Ubaldo Ribeiro
hat in verschiedenen Zeitungsinterviews betont, daß seine Meinungen nicht mit denen
der Erzählerin übereinstimmen.215 Dafür gibt es bereits im Roman Hinweise, denn der
Libertine sind nicht nur moralische, sondern auch biologische Grenzen gesetzt.
Zum einen ist die Erzählerin steril, sie kann und will auch keine Kinder
bekommen. Als Lebensentwurf eignen sich ihre Erzählungen also nicht, denn die
Abenteuer der Libertine spielen in der Vergangenheit und ohne Kinder hat sie auch
keine Zukunft. Zudem ist sie bei der angeblichen Niederschrift des Manuskriptes
bereits krank und wartet auf ihren Tod. Sie hat ein Aneurysma im Gehirn, wird also
ebenso schnell und plötzlich sterben, wie sie gelebt hat. Eine glückliches Altern mit
Enkelkindern oder Kindern ist ihr nicht vergönnt, sie konzentriert sich auch mit 68
Jahren noch völlig auf die Befriedigung ihrer erotischen Bedürfnisse und hat sich
menschlich nicht weiterentwickelt – dadurch wirkt sie wie ein Kind, das nur seinen
egoistischen Impulsen nachgibt ohne dabei aber unsymphatisch zu erscheinen.
Allerdings soll sie vermutlich auch keine realistische Figur sein, denn wie eine
einzige Frau diese erotischen Leistungen vollbringen kann, ist nicht nachzuvollziehen.
Auch deswegen steht sie wohl für eine Gesamterfahrung, für die Akkumulation der
gedachten erotischen Erfahrungen vieler Menschen, die sich in der Libertine
manifestieren. Die Ich-Erzählerin ist die personifizierte Wollust, in ihr stecken alle
positiven und negativen Möglichkeiten der Erotik, eine Interpretation die auch die
Erzählerin in ähnlicher Form andeutet:
„(…) eu encarnei todas as deusas do amor, todas as diabas desabridas que
povoam o universo, a Luxúria com suas traiçoeiras sombras coleantes e seus
214
Zum brasilianischen jeitinho, vgl.:Barbosa, Lívia, O jeitinho brasileiro : a arte de ser mais igual que os
outros, 1992; Matta, Roberto da, Carnavais, Malandros e Heróis, 1990.
„Dar um jeito, fazer o necessário para uma coisa se conseguir; facilitar; arranjar as coisas com habilidade e
especialmente com a boa vontade de um pequeno esforço.“ In: „Dicionário de Morais“, 1945, Bd. 6, S. 16.
215
„Carrego nas costas o sentimento de culpa cristão e confesso que me causou certo desconforto descrever
algumas passagens da vida sexual da senhora do livro.“ In: Filho, Antônio Gonçalves: „As safadezas de dona
CLB“, in: A Notícia, 15.4.1999, anexo.
88
estandartes imorais, seu chamado a devassidão, à dissipação e à entrega a
todos os gozos de todos os matizes até chegar à morte lasciva, eu era a
Luxúria integral, baixada ali para reinar como um espírito imisericordioso e
invencível, (…).“216
Als Göttin oder Teufelin der Wollust scheint die Erzählerin mehr zu sein als eine Frau,
die sich gesellschaftlichen Zwängen beugt. Wenn sie sich der Wollust ohne Rücksicht
hingibt, besiegt sie alle Einschränkungen und Normen und wird dadurch ebenso
mächtig wie gefährlich – eine Gefahr, die tödlich enden kann („morte lasciva“), denn
menschliches
Zusammenleben
ohne
gesellschaftliche
Übereinkünfte
würde
unweigerlich in Chaos führen. Die Erzählerin ist trotz ihrer Einschränkungen eine
Libertine, die immer wieder ihre erotische Macht benutzt, um bestehende Tabus und
Normen zu brechen.
8.3 Die ambivalente Macht der Libertine
Mit Hilfe ihrer erotischen Ausstrahlung gelingt es der Erzählerin meist, ihren Willen
durchzusetzen
und
die
hierarchisierten
Geschlechterverhältnisse
scheinbar
umzukehren. Dabei verfolgt sie keine revolutionäre oder politische Absicht, denn ihr
einziges Lebensziel ist die Befriedigung ihrer erotischen Bedürfnisse, weshalb sie sich
auch nicht scheut, ihre gesellschaftliche Stellung auszuspielen, um Schwächere zu
mißbrauchen – womit sie die sozialen Hierarchien stützt.
Ihr erstes erotisches Opfer ist ein schwarzer Junge, auf der Fazenda ihres Großvaters,
„(...) era somente um dos negrinhos da fazenda, naquele bando de escravos
que meu avô tinha. Não eram escravos oficialmente, mas de fato eram
escravos, e a maior parte vivia satisfeita, fazendo filhos e enrolando o meu
avô.“217
Die
Kritik
der
Erzählerin
beschränkt
sich
auf
das
Infragestellen
der
Geschlechterverhältnisse soweit sie ihre erotische Selbsterfüllung betreffen. An
sozialen Fragen wie Armut oder Rassismus ist sie nicht interessiert, da sie zur weißen
Elite gehört und somit auch nicht betroffen ist.
Ein soziales oder politisches Engagement würde zudem der Libertinage
widersprechen, denn es geht dabei nicht um Freiheit für alle, sondern um Freiheit für
den Libertin. Die Libertinage ist ein egoistischer Ansatz, der die Probleme anderer
216
217
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 82.
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 28.
89
ignoriert. Scheinbar ohne ihr Vorgehen zu beschönigen, erzählt die Libertine den
Lesern wie sie sich mit dem Jungen verabredet, ihn dabei energisch schlägt und droht
daß ihr Großvater ihn kastrieren lassen werde, wenn er ihr nicht gehorche. Als er
pünktlich am vereinbarten Treffpunkt mit einer Erektion erscheint, ist sie nicht erfreut.
„(…) como era que aquele negrinho, aquele projeto de negrão, aliás, sabia
que tinha sido chamado para sacanagem?. E se eu quisesse somente pegar
passarinhos, mostrar a ele os livros e lhe ensinar algumas letras do alfabeto?
(…) Então veio o estupro, um inegável estupro. (…) Chupe aqui, disse eu, que
não sabia realmente que as pessoas se chupavam, foi o que posso descrever
como instintivo. Falei com energia e puxei a cabeça dele para baixo pela
carapinha e empurrei a cara dele para dentro de minhas pernas, a ponto de
ele ter tido dificuldade em respirar. Não me incomondei, deixei que ele
tomasse um pouco de ar e depois puxei a cabeça dele de novo e entrei em
orgasmo nessa mesma hora e deslizei para o chão.“218
Die Beschreibung dieser Vergewaltigungsszene könnte als pornographisch gelten,
werden hier doch bestehende Machtstrukturen übernommen. Möglicherweise finden
manche Leser die Unterwerfung des schwarzen Jungen erregend – und zwar nicht weil
die Frau dominant ist, sondern der Unterworfene eine dunkle Hautfarbe hat. Die Szene
erinnert an das von Gilberto Freyre beschworene Zusammenspiel zwischen dem
Sadismus der Herren und dem angeblichen Masochismus der Sklaven und wirkt
ebenso verharmlosend. Denn obwohl der Junge sich damit in Lebensgefahr begibt,
gefällt ihm das Spiel letztendlich und die beiden werden es noch jahrelang fortführen.
Die Macht der Erzählerin beschränkt sich nicht nur auf ihren Status als Enkelin
des Besitzers, sie ist auch durch ihre aggressive Sexualität mächtig. Gleichzeitig
könnte dieser erotische Übergriff aber auch eine positive, männliche Phantasie sein,
denn der Junge befindet sich bereits in einem Zustand der Erregung und wird von
einem sehr schönen Mädchen überfallen. Solche intendiert pornographischen
Beschreibungen durchziehen das ganze Buch – sie werden auch nicht in irgendeiner
Form relativiert, da die Libertine ausnahmslos die einzige Erzählerin bleibt. Die
pornographischen Sequenzen vermischen sich zudem mit gesellschaftlichen
Tabubrüchen219, wie beispielsweise das inzestuöse Verhältnis zu ihrem Onkel.
„Bem, eu não estava pensando nisso, quando tio Alfonso me sentou no colo e
ficou de pau duro, eu ainda devia ter uns doze ou treze anos e o filho da puta
ficou de pau duro comigo no colo, mas eu deixei. Não sei o que deu em mim,
mas deixei e me mexi bastante em cima do pau dele, (...). Começou então a
escravidão dele. (...) era só dizer que ia contar tudo a tia Regininha (...) que
218
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 30 f.
In fast allen Gesellschaftsformen wird Inzest als sittliche Schranke anerkannt, auch wenn die Definition von
Inzest in den verschiedenen Gesellschaften variieren kann.
219
90
ele ficava às portas da morte, quase apoplético. Apliquei até a tortura da
gravidez nele, anunciei o atraso de umas regras, só para sacanear ele.“220
Die Libertine scheint schon in ihrer Kindheit eine ausgewachsene Frau gewesen zu
sein, die instinktiv die Geheimnisse der körperlichen Erotik kennt. Wie bei dem
schwarzen Jungen reagiert sie auch bei ihrem Onkel intuitiv, ihre Begabung zur
Wollust ist angeboren und wird nicht gesellschaftlich geformt. Zugleich scheint sie auf
den ersten Blick Vladimir Nabokovs (1899-1977) Lolita zu ähneln, doch diese
Ähnlichkeit beruht nur auf dem jugendlichen Alter der Erzählerin. Die Libertine wird
nicht zu einem Opfer ihres Onkels, und ihre Beziehung bleibt ohne tragische Folgen
für sie selbst - nicht sie wird unter diesem Mißbrauch leiden, sondern der Onkel, den
sie mit ihren Reizen und psychologischem Geschick regelrecht versklavt. Der
Tabubruch des Onkels wird mit einem anderen Tabu beantwortet, mit der frühreifen
Sexualität der Libertine, ein Spiel, das im Zusammenhang mit Kindesmißbrauch etwas
gefährlich anmutet. Möglicherweise versucht der Autor auch den moralischen Verfall
anzudeuten, den eine völlig zügellose Erotik mit sich bringen könnte.
Die Erzählerin, die sich selbst als wunderschön beschreibt, weiß genau, wie sie
Männer und Frauen zu verführen hat. Experimente wie die beiden Libertins der Les
liaisons dangereuses hat sie dabei nicht nötig. Die Erzählerin muß keine Lehrjahre
durchmachen, „nasci sabendo“221. Sie findet bei allen ihren Opfern die Schwachstelle
und nutzt diese gnadenlos aus:
„(…) eu sempre enloqueci os homens que queria enlouquecer, decifro todos,
sei dos que gostam de entrevisões indefinidas, dos que sucumbem a um porte
erguido, de todos os arquétipos que podem surgir neles, eu sei, tenho talento e
estudei, aprimorei esse talento.“222
Der Autor zeichnet das Bild einer Femme fatale der niemand widerstehen kann und
die viele Männer ins Unglück treibt, wie den Onkel in den Tod durch Herzversagen.
Die Darstellungen der Erzählerin sind ambivalent, einerseits amüsiert sie durch ihre
offenherzigen Erzählungen, andererseits führt sie andere Menschen ins Verderben:
„L’image de la femme comme un être ambigu, belle, mais d’une beauté parfois
mortelle, reflète l’ambivalence de l’homme envers la femme, une ambivalence
„reconnue dans toutes les cultures“ selon Jean Molino. Examinons à présent
comment cette double attitude d’attirance et de répugnance, de désir et peur,
(…). “223
220
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 85 ff.
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 32.
222
Ibid., S. 72 f.
223
Bulver, Kathryn M., La Femme-démon - Figurations de la femme dans la littérature fantastique, 1995, S. 38.
221
91
Diese Ambivalenz zwischen Furcht und Faszination, Spaß und Sünde zieht sich durch
den gesamten Roman. Im Laufe ihres Lebens verführt die Libertine unzählige Frauen
und Männer, auch nachdem sie bereits verheiratet ist, da der Ehemann ihre Einstellung
teilt. Gemeinsam besuchen sie Orgien, nehmen Kokain, tauschen Partner und führen
eine vollkommen freie Ehe. Der Mann kennt alle Eskapaden seiner Ehefrau, die nicht
nur eine inzestuöse Beziehung zu ihrem Onkel unterhielt, sondern auch zu ihrem
Bruder, der wohl die große Liebe ihres Lebens war.
„(...) ele tinha tudo, tudo, tudo, ele me comeu de todas as formas que ele quis,
e eu também comi ele, eu adoro meu irmão, (...) ele era minha referência e
meu parceiro básico, meu macho e minha fêmea, ele me deixava molhada
todas as vezes que me tocava, ele anunciava que ia gozar em mim como um
césar em triunfo, me elogiava antes, durante e depois, o pau dele pulsava em
minha boca antes de ele gozar, (...) o único que soube ser tudo, macho, puto,
fêmea, descarado, sádico, masoquista, mentiroso, verdadeiro, lindo, feio,
disposto, preguiçoso, lindo, lindo, lindo, lindo, meu irmão Rodolfo“224
Die wahre, komplementäre Liebe, in der sie ihre zweite Hälfte sucht, findet die
Erzählerin nur in ihrem Bruder, so als ob sie nur vereint ein vollständiges Wesen
wären. Nach Elisabeth Frenzel wurde diese Form des Inzests in der Weltliteratur am
häufigsten ausgearbeitet.
„Am breitesten entwickelt wurde der Geschwisterinzest, der häufig mit
Sympathie gehandelt wird und in dem die Suche nach einem gleichwertigen
Partner ihre auf gleichen Erbfaktoren beruhende Erfüllung zu finden
scheint.“225
Die liebevolle Begeisterung der Libertine für ihren Bruder weckt tatsächlich
Sympathien, die vom Autor vermutlich nicht geteilt werden, denn der Bruder stirbt bei
einem Autounfall. Obwohl der Autor pornographische Elemente intendiert, bleibt das
Thema Sünde stets präsent, da moralische Wertungen durch den Handlungsverlauf
erkennbar werden. Die größten Tabubrüche werden stets mit dem Tod der Komplizen
bezahlt. Mit dem Ableben des Bruders und des Onkels sind beide Inzest-Partner der
Libertine gestorben. Auch der Ehemann lebt nicht so lang wie die Libertine, was den
gemeinsamen Lebensentwurf frühzeitig beendet.
Inzest und Ehebruch sind nach Auffassung christlicher Moral Sünden und werden
in dem Roman durch das Ableben der Beteiligten sowie der Kinderlosigkeit der
Erzählerin bestraft.
224
225
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 96.
Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur, 1976, S. 404.
92
8.4 Das Pornographische in A casa dos budas ditosos
Der Roman ist voller pornographischer Elemente, wie die gewaltsame Verführung des
schwarzen Jungen bereits zeigt. Dabei entsteht die Pornographie durch die Betonung
der gesellschaftlichen Macht der weißen Libertine. Häufig wird in dem Buch aber
auch die männliche Dominanz akzentuiert, eine weitere Möglichkeit um Pornographie
zu erzeugen. Ein Beispiel dafür ist die Entjungferung der Erzählerin durch ihren
Jura-Professor, den sie über Monate zu verführen sucht und der dem Autor João
Ubaldo Ribeiro verblüffend ähnlich sieht.
„Óculos de tartaruga, que ainda não tinham entrado na moda como depois,
magrinho no ponto certo, bundinha fornidinha, voz bem modulada, sabia tudo
de Penal e outros direitos, era educadíssimo, era da esquerda (...). Um jeito
entre acanhado e sardônico, facilidade de falar bem sem afetação, um rosto
expressivo e franco e, óbvio, bigode.“226
An dieser Stelle erlaubt der Autor sich wohl den kleinen Scherz, seine eigene Person
im Roman auftreten zu lassen, denn auch er hat eine solche Brille, einen Schnauzbart,
eine tiefe Stimme und hat ebenfalls Jura studiert. Der Professor erfüllt die
Voraussetzungen, um der „deflorador“ der Erzählerin zu sein, die eine bestimmte
Phantasie verfolgt, die sie aus einem Buch über sexuelle Aufklärung kennt.
„E então chega o momento tão ansiado. Sem pronunciar uma palavra, ele
fecha a boca da donzela com um beijo decidido entre seus bigodes másculos,
insinua seus quadris, delicada mas firmamente, entre as coxas dela e dirige a
glande inturgescente para o hímem então trémulo e lubrificado pelos fluidos
naturais da vagina. Resoluto, ele se assegura, às vezes com a ajuda das mãos,
de que está no ponto certo e então, ela dá um gemido abafado, entre a dor e o
prazer da fêmea que finalmente cumpre o seu destino biológico, penetra-a com
um só impulso vigoroso, abre-lhe mais as pernas, inicia um movimento de vaie-vem profundo e , finalmente, derrama-lhe nas entranhas o morno líquido
vital, sem o qual ele não é nada, ela não é nada.“227
Die altmodische und euphemistische Sprache dieser Aufklärungsliteratur wirkt
heutzutage lächerlich. Die Stärke des Mannes wird übermäßig betont und die Frau vor
allem als biologisches (nicht denkendes) Wesen dargestellt. Interessanterweise ist dies
nicht nur die Entjungferungsphantasie der Erzählerin, sondern auch deren
Masturbationsphantasie. Einerseits scheint die Geschlechterhierarchie übermäßig
betont zu werden, was den pornographischen Charakter dieser Beschreibung
226
227
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 64.
Ibid., S. 60.
93
unterstreicht. Andererseits könnte der Autor auch diese Art der Aufklärungsliteratur
ironisieren, die versucht, biologische Vorgänge euphemistisch zu beschreiben und
dennoch zur Masturbations-Vorlage wird.
Ein weiterer pornographischer Aspekt des Buches deutet sich in der übertriebenen
Phallus-Fixierung der Erzählerin an. Ihr Leben und das der anderen Frauen kreist
instinktiv um den Phallus des Mannes. Die Freundin ist „hipnotizada“ als sie das erste
Mal das Geschlecht ihres Verlobten erblickt und die Erzählerin beschreibt ihre
Geliebten in allen körperlichen Vorzügen, wie auch ihren Bruder.
„(…) tinha um pau lindíssimo, delicado e ao mesmo tempo afirmativo e mais
duro que a consciência da Alemanha, (…) umas virilhas de cheiro inebriante,
(…)“228
(…)até aquele pau grossão se enfiava todo em mim – ninguém me venha com
essa história, (…) de que pau pequeno não faz diferença, claro que faz, um
pau bem dimensionado preenche apropriadamente a mulher e é um visual
estimulante e excitante, nada desse negócio de pau pequeno.“229
Die Härte eines männlichen Geschlechts mit dem Gewissen Deutschlands zu
vergleichen, ist ein sehr lustiger und satirischer Einfall. Mit solchen sprachlichen
Kapriolen nähert Ubaldo Ribeiro die pornographischen Bilder des Romans einer
geistigen Form der Erotik an, indem er nicht nur die Sinne sondern auch den Geist
stimuliert. Die Darstellungen in A casa dos budas ditosos sind teilweise
pornographisch, aber gleichzeitig auch intelligent, was zeigt, daß auch ein
pornographisches Buch literarische Qualitäten ausweisen kann.
Ähnlich auffällig wie die Phallus-Fixierung der Erzählerin sind auch die
detailgetreuen Beschreibungen des Oralverkehrs. Mehrfach betont sie, daß Frauen die
Samenflüssigkeit eines Mannes unter keinen Umständen ausspucken dürfen.
„(…) é uma selvageria, um sinal de baixa extração, falta de formação, de
classe, de cultura, de sofisticação. Cuspir o esperma só é admissível ou
quando se quer insultar um homem ou quando se quer pô-lo no seu lugar:
você pode ser bom para eu me distrair chupando seu pau, mas não é bom
suficiente para eu engolir sua seiva, me recuso a devorá-lo, não dou às suas
células essa intimidade com as minhas. Eu sou maluca.“230
Die Libertine philosophiert über Dinge, über die normalerweise niemand spricht und
erteilt ihnen eine neue Wertigkeit. Dadurch wird die Lektüre des Buches amüsant
wenn auch nicht unbedingt glaubwürdig. Daß eine Frau sich wirklich so genau mit den
körperlichen Bedürfnissen des Mannes auseinandersetzt und diese sogar übernimmt,
228
Ribeiro, João Ubaldo, A casa dos budas ditosos, 1999, S. 95.
Ibid., S. 100
230
Ibid., S. 101.
229
94
ist nicht sehr wahrscheinlich. Wenn man sie jedoch als die personifizierte Wollust
versteht, schließt das natürlich auch die männliche Erotik mit ein.
9. Miséria e Grandeza do amor de Benedita –
Eine Parodie der Erotik Jorge Amados?
Die Novelle Miséria e Grandeza do amor de Benedita erschien im Jahr 2000 zunächst
nur als e-Book im Internet und wurde damit zu einem Novum auf dem brasilianischen
Buchmarkt. Neu war zwar die Vermarktung des Buches, nicht jedoch die Thematik,
die stark an die humoristischen Bücher Jorge Amados erinnert. Benedita ist eine
„santa mulher“, die auf der Insel Itaparica lebt und mit dem promiskuitiven,
schelmischen Ehemann Deoquinha Jeque Ruço verheiratet ist. Deoquinha ist ebenso
verantwortungslos wie Amados komische Helden Vadinho231 und Quincas232. Wie sie
stirbt er fern seiner Ehefrau in den Armen einer Anderen „em posição de combate“233.
Grund für seine libidinöse Energie ist die Radioaktivität der Insel Itaparica, die dazu
führt, daß Mensch und Natur in einem wahren Sinnesrausch leben.
„A radioatividade possa ser talvez a maior responsável pela justificada fama
da ilha de altamente favorecer a propensão pela libidinagem. (…) Se já é forte
e ousada pela própria natureza, aí então se formam os melhores machos e
fêmeas do globo terrestre, assim confirmando todo visitante, sem até hoje
nenhuma exceção. Bem certo que outros fatores não podem ser desprezados,
entre os quais a alimentação especialista na produção dos fluidos, hormônios,
feromônios e demais humores responsáveis pelos centros mentais e corporais
da boa cenosidade. (…) E a verdade é que a animalidade da ilha se comporta
igual aos homens e mulheres e não se pode olhar para lugar nenhum da ilha,
sem que não se dê o flagrante em algum bicho, miúdo ou grande, asa ou sem
asa, passando a vara numa fêmea da mesma espécie, ou mesma de outra
espécie (…)Porém as plantas da ilha se comportam com o mesmo vigor
amoroso do homem e do animal e algumas até envergonham seus donos, a
231
aus: Amado, Jorge, Dona Flor e seus dois maridos (1966) / Vadinho genießt das Leben in vollen Zügen und
betrügt seine Frau Dona Flor bei jeder Gelegenheit. Nachdem er im Karneval stirbt und seine Frau noch einmal
heiratet, kehrt er als Geist zurück, um sie weiterhin erotisch zu beglücken. Dadurch hat sie zwei Ehemänner:
einen für die Sicherheit und den anderen für die sinnliche Liebe.
232
aus: Amado, Jorge, A morte e a morte de Quincas Berro d´Água (1959) / Quincas hat seine Familie verlassen
um als Vagabund zu leben. Als er stirbt, nehmen seine Saufkumpane die Leiche mit auf eine letzte Tour, in der
Annahme Quincas würde noch leben.
233
Ribeiro, João Ubaldo, Miséria e grandeza do amor de Benedita, 2000, S. 10.
95
ponto de ter gente que não permite certos pés de pau em seus quintais ou
jardins, para não dar mau exemplo às crianças (…). Umas plantas que (…)
mal passam de quatro palmas de altura e já estão se exibindo mais do que os
turistas do clube francês (…). Para não falar nas mangueiras, que ninguém
aqui pode fazer pomar de manga raça pura, porque todos os pés fornicam com
todos e promovem uma misturação descomedida, (...).“234
João Ubaldo Ribeiro entwirft ein exotisch-erotisches Paradies, in dem Menschen,
Tieren und Pflanzen in einem fruchtbaren Rausch zusammenleben. Seine Sprache mit
ihren langen fließenden Sätzen scheint selbst orgiastisch überzuquellen. Ubaldo
Ribeiro gibt zahlreiche Beispiele für die extreme Fruchtbarkeit der Insel. Durch diese
offensichtlichen Übertreibungen will der Autor vermutlich seine ironische Distanz zu
dieser paradiesischen Vision andeuten. Er ironisiert seinen eigenen Text, indem er den
Exotismus, der ihm so oft vorgeworfen wird, bis ins Maßlose steigert.
Indem er die Pflanzen zu erotischen Subjekten macht, vermag er menschliches
Verhalten über die Fauna ausdrücken, ohne sprachlich zu klischieren. Die Vorstellung
eines erotischen Inselparadieses bleibt aber ein exotisches Stereotyp, selbst wenn er es
auf dem Umweg über die Fauna und Flora beschwört. Es ist Ubaldos erster Roman,
indem er, wenn auch parodistisch, das Bild eines erotisierten Brasiliens und vor allem
Bahias entwirft, was diesem Text eine regionalistische und lokal-patriotische Färbung
gibt, ohne das man ihm jedoch insgesamt als Regionalisten bezeichnen könnte: „(…)
é que o brasileiro não se dá valor e o nordestino é visto com desdém, embora mal
sabendo eles que nós é que desdenhamos deles (…)“235 Die paradiesischen
Verhältnisse auf Itaparica gelten allerdings nicht für alle Insulaner, sondern nur für die
Männer. Die Frauen müssen sich ihren Wünschen beugen, und falls sie verheiratet
sind treu bleiben – eine weitere ironische Spitze des Autors.
„A mulher da ilha faz tudo o que ela quer e ninguém precisa explicar a ela que
o que ela quer não pode passar do limite do que o marido quer que ela queira,
contando que ele cumpra a obrigação do homem. A obrigação do homem é
sustentar, dar bom serviço de marido e ser respeitado pela comunidade.“ 236
Die Ehefrau Deoquinhas, Benedita, scheint eine solch ideale Ehefrau zu sein, die
ihrem Mann treu ergeben ist, stets zur Kirche geht und ihm wegen seiner
außerehelichen Abenteuer keine Szenen macht. Dennoch versucht Deoquinha
Rücksicht auf seine Frau zu nehmen und betrüg sie „nur“, wenn sie in Salvador, fern
234
Ibid., S. 14.
Ribeiro, João Ubaldo, Miséria e grandeza do amor de Benedita, 2000, S. 16.
236
Ibid., S. 23.
235
96
der Insel, zur Beichte geht. Auch für seinen illegitimen Sohn César Augusto will
Deoquinha heimlich gefälschte Papiere besorgen, damit er Priester werden kann.
Der örtliche Geistliche verlangt jedoch, daß Deoquinha und Benedita den Jungen
adoptieren und zudem in ihr Haus aufnehmen. Damit beginnen die Irrungen und
Wirrungen der Erzählung, die ähnlich absurd sind, wie die verschiedenen Tode des
Quincas Berro d’Água. Deoquinha befürchtet, seine Frau könnte diesem Ansinnen
nicht zustimmen und überredet ihre Schwester Cadinha ihn zu unterstützen. Für diese
Hilfe muß er sie nicht nur mit Geld und Immobilien bezahlen, sondern ihr auch
körperlich zu Diensten sein. Cadinha ist eine häßliche alte Jungfer, die von ihrem
Verlobten nach 22 Jahren verlassen wurde und deswegen nicht nur Männer haßt,
sondern auch ihre verheiratete Schwester Benedita. Sie genießt also die Macht, die sie
über Deoquinha ausüben kann und zwingt ihn zu regelmäßigem Beischlaf und
Liebesschwüren:
„Impunha apenas duas condições, uma ditada pela dignidade, outra
comandada pela caridade. A primeira era a de que ele doravante a procurasse
com regularidade, pois não era uma qualquer para ser usada e abandonada
como um traste, não se podia admitir situação tão desdourante. A segunda era
de que, ao possuí-la, não contivesse mais o seu ardor (…) principalmente
exclamando a intervalos amiudados „Leocádia Maria, meu grande amor,
Leocádia, minha vida!“ No que ele, já desbaratado também concordou. Mas
teve dificuladae em cumprir a missão até o fim, pois, apesar do pau-deresposta, sua ferramenta principal parecia não responder à presença desnuda
e insinuante de Cadinha (…) Felizmente a fé tudo pode e uma oração
fervorosa ao bom santo São Gonçalo, que sempre estendeu uma mão a quem
fornica por justo motivo, o auxiliou no último momento e ele, os olhos
fechados e sem cesser de gemer „Leocádia Maria, meu grande amor“,
consumou operosamente a conjugação.“237
Wie so oft in den Büchern Ubaldos wirkt die beschriebene Bettszene nicht erregend,
sondern komisch und grotesk. Besonders lächerlich erscheint der Opfergang
Deoquinhas, da er sich als völlig überflüssig erweist. Seine gottesfürchtige Ehefrau
nimmt einen Jungen, der Priester werden will, nämlich mit Freuden in ihr Haus auf.
Diese Idylle wird durch die Ankunft eines deutschen Seemanns gestört der glaubt,
in der besten Freundin Beneditas eine Prostituierte zu erkennen, ein Schock den die
Freundin
nicht
überlebt.
Die
aufgebrachten
Inselbewohner
wollen
den
verleumderischen Ausländer lynchen, werden jedoch von Benedita aufgehalten,
obwohl der Deutsche auch sie für eine Prostituierte hält. Kurz darauf erfährt Benedita
von dem Tod ihres Mannes und auch hier erscheint ihre Reaktion exemplarisch. Sie
237
Ribeiro, João Ubaldo, Miséria e grandeza do amor de Benedita, 2000, S. 83 f.
97
lädt die Geliebten und alle unehelichen Kinder ihres Mannes zur Totenwache ein, was
die Inselbewohner vollständig von der edlen Gesinnung und Heiligkeit Beneditas
überzeugt. Nur die Schwester Cadinha durchschaut ihr doppeltes Spiel:
„Era forçada a reconhecer, que grande mulher era Benedita, que mulher
esperta, que mulher que sabia viver! Porque Leocádia tinha certeza de que a
história do alemão era verdadeira; (…). Tanto tinha que seu olhar se moveu e
ela confirmou, num dos filhos lourinhos do casal, as feições exatas do padre
Nicola, o conselheiro espiritual de Benedita na Bahia. E todos os outros, tão
diferentinhos entre si, só um ou outro se parecendo e assim mesmo não com
Deoquinha, mas com a mãe. Pensando bem, podia até ser mais fácil achar
filhos verdadeiros de Deoquinha na rua do que em casa, (…).“238
Mit diesem überraschenden Ende wird die Handlung der Novelle auf den Kopf
gestellt. Benedita, die als fromme, leidende Ehefrau galt, entpuppt sich als eine
lebensfrohe, durchtriebene Lebenskünstlerin, und Deoquinha, der malandro und
Ehebrecher, als gehörnter Ehemann, womit sich die einleitenden Worte des Erzählers
als falsch erweisen: „(…) não havendo na ilha nenhum corno homem de verdade, só
os cornos mesmos que nasceram para isso, e assim mesmo a maior parte deles é de
fora.“239 Der Leser wird von dieser Entwicklung völlig überrascht, da nichts auf dieses
Doppelleben Beneditas hinweist, die stets nur aus der Sicht von anderen beschrieben
wird, was sich schließlich als eine irrige Charakterisierung erweist.
João Ubaldo Ribeiro hat mit Miséria e Grandeza do amor de Benedita ein
unterhaltsames, leichtes Buch, ohne großen Anspruch geschaffen. Er setzt routiniert
Ironie, Parodie und Hyperbel ein, und verwendet aus seinen Büchern bereits bekannte
Motive der Volkskultur, wie das der alten Jungfer oder des malandro. Gleichzeitig ist
Benedita die erste Prostituierte im Werk João Ubaldos und sie erinnert stark an
Amados Tereza Batista240, aber auch an Dona Flor, die zwei Ehemänner hatte. Im
Gegensatz zu Dona Flor leidet Benedita aber nur scheinbar an den Eskapaden ihres
Ehemannes. Sie ist auch keine der herzensguten, aber trotzdem stigmatisierten
Prostituierten, wie Jorge Amado sie gerne entwarf. Benedita
verinnerlicht
drei
Frauenrollen, die in patriarchalen Strukturen normalerweise getrennt sind. Sie ist
Heilige, Hure und Mutter in einer Person, ohne ihre Pflichten in irgendeiner Form zu
vernachlässigen. Vielleicht wollte Ubaldo Ribeiro mit diesem Buch Amado
parodieren, indem er ähnliche Figuren einführte, die Geschichte aber ironisch
abwandelte.
238
Ibid., S. 133.
Ribeiro, João Ubaldo, Miséria e grandeza do amor de Benedita, 2000, S. 22.
240
Vgl. Amado, Jorge, Tereza Batista Cansada de Guerra, 1996.
239
98
Zum ersten Mal
hat João Ubaldo innerhalb eines Romans ein erotisiertes
Brasilienbild entworfen, das durch den Ausgang des Buches noch verstärkt wurde denn die Frauen auf Itaparica scheinen wirklich so erotisch und fruchtbar zu sein, wie
in den Naturbeschreibungen angedeutet. Gleichzeitig hat die Lebensführung Beneditas
durchaus emanzipatorische Züge, da sie sich in jeder Hinsicht selbst verwirklichen
kann. In Miséria e Grandeza do amor de Benedita bedient und ironisiert João Ubaldo
das Klischee des erotischen Bahias gleichermaßen – in einer ambivalenten Mischung
aus liebevoller Zuneigung und Spott.
10. Abschließende Betrachtungen
Fragestellung
Im Zuge dieser Magisterarbeit sollte untersucht werden, zu welchem Zweck und
auf welche Weise João Ubaldo Ribeiro das Erotische in seinem Werk einsetzt. Die
Formulierung dieser Fragestellung ergab sich aus der Annahme, daß Erotik zum
Selbst- und Fremdbild Brasiliens gehört und es auf der Hand liegt, daß ein
zeitgenössischer Autor dieses Klischee aufgreift.
Diskussion des Erotik-Begriffs
Um festzulegen welche Textstellen in Ubaldo Ribeiros Werk als erotisch zu gelten
haben, wurde zunächst der Erotik-Begriff unter Berufung auf Platon, George Bataille
und Sigmund Freud diskutiert. Laut Bataille unterscheidet Erotik sich von
animalischer Sexualität dadurch, daß sich in ihr ein psychisches Grundbedürfnis des
Menschen ausdrückt, nämlich das Streben nach Einheit, um die individuelle
Einsamkeit zu überwinden. Diese Vereinigung (Kontinuität) sei stets mit Gewalt
verbunden, da eine Verschmelzung nur stattfinde, wenn zuvor die „geschlossene
Struktur“ des Partners zerstört werde.
Weniger gewaltsam ist die Interpretation Platons, der den Eros aus einem positiven
Streben nach Vereinigung erklärt, das aus einer früheren Einheit von Mann und Frau
im Wesen der Androgyne, die von Zeus getrennt worden seien, herrühre. Dadurch
entstehe aus dem Eros eine revolutionäre Kraft, da die Menschen mit ihrer Suche nach
Gesamtheit den Willen der Götter herausforderten. Freud verwendet einen weiter
99
gefaßten Erotikbegriff, indem er alle Handlungen als erotisch definiert, die auf
Lusterwerb ausgerichtet sind, um Unlust zu vermeiden. Erotik scheint sich von
Sexualität vor allem durch mentale Vorgänge zu unterscheiden – wobei es sich nach
Bataille dabei auch um egoistische Impulse und gewalttätige Phantasien handeln kann.
Erotik ist bei Bataille nicht unbedingt ein positiver Wert, wie man aufgrund der
Unterscheidung zwischen Erotik und Sexualität im normalen Sprachgebrauch
annehmen könnte. Da es unmöglich schien den Begriff Erotik abschließend zu deuten,
wurde zumindest jede literarische Darstellung menschlicher Sexualität als erotisch
definiert. Jeder Leser muß seine Vorstellungskraft anwenden um literarische Erotik zu
erfahren, was die Grundvoraussetzung der Erotik, das menschliche Denken,
automatisch einschließt.
Erotik in Abgrenzung von Pornographie
Pornographie wurde in Anlehnung an Lúcia Castello Branco als eine Gattung
definiert, die durch ihre Darstellungen bestehende Machtgefälle zwischen den
Geschlechtern und Klassen bestätigt und dabei auch Entwürdigung und Leiden zur
Schau stellen kann. Dadurch würden auch Texte des Marquis de Sade, die Bataille
noch als eine Form der Erotik ansieht, zu Pornographie. Erotik sollte im Gegenteil
fragwürdige Normen eher in Frage stellen, was der revolutionären Kraft des Eros bei
Platon entspräche. Aufgrund dieser Unterscheidung sollte bei der Textanalyse vor
allem darauf geachtet werden, ob die erotischen Darstellungen gesellschaftliche
Hierarchien eher untermauern oder in Zweifel ziehen.
Erotisches Brasilien?
Um nachzuweisen daß ein erotisiertes Brasilienbild auch außerhalb der Werbung
existiert, wurden ein Photoband des Engländers Christopher Pilitz, sowie
Buchumschläge von Jorge Amados Gabriela, cravo e canela als Beispiele angeführt,
da in beiden Fällen der sinnliche Körper im Mittelpunkt steht. Bei der Suche nach
Ursachen für diese erotisierte Brasilienbetrachtung stellte sich heraus, daß dieses
Klischee schon seit Jahrhunderten existiert. Pêro Vaz de Caminha hat bereits 1500 in
seinem Brief an Manuel I. die Vorstellung eines erotischen Paradieses voller nackter
Indianerinnen geprägt, während spätere Chronisten das Land zu einer tropischen Hölle
voller Kannibalen erklärten. In beiden Fällen stand jedoch die Nacktheit der Indianer
100
im Mittelpunkt, die entweder als paradiesische Unschuld oder als höllische Unzucht
interpretiert wurde.
Mit Beginn der afrikanischen Sklaverei lösten Afrikanerinnen und Mulattinnen die
indianischen Frauen als erotische Ideale ab, möglicherweise auch, weil sie in ihrer
Körperkraft für die Sklaverei geeigneter schienen. Zudem entsprachen die Mulattinnen
den Schönheitsidealen der Weißen, und konnten in ihrer Eigenschaft als Sklavinnen
sexuell ausgebeutet werden, während die Indianer durch das Eingreifen der Jesuiten
nicht versklavt werden durften. Dadurch wurden die Mulattinnen im Laufe der
Jahrhunderte zu einem erotischen Ideal, das zum Symbol für die „Rassenmischung“
und eine vermeintlich freie Erotik Brasiliens wurde. Gilberto Freyre hat in Casa
grande e senzala die positiven Aspekte der vorher pejorativ betrachteten miscigenação
betont und feiert ebenso wie später Jorge Amado die sinnliche Mulattin als Ideal.
Selbst Autoren die nicht explizit mulatas in ihrem Werk auftreten lassen, betonen
erotische Aspekte bei der Entstehung einer brasilianischen Nation, so der Romantiker
José de Alencar mit seinem Gründungsroman Iracema, wie auch Mário de Andrade
mit
seinem
arbeitsscheuen
Erotomanen
Macunaíma,
der
von
einer
fast
kannibalistischer Sexualgier erfüllt ist. Nicht zufällig gilt dieses Werk als der
wichtigste Prosatext im Sine der Anthropophagie.
Die Vorstellung einer enthemmten Erotik bildete aber nur eine Facette innerhalb
eines gesellschaftlichen Gefüges, das auch von kirchlichen Moralvorstellungen,
ausgeprägten Geschlechterrollen und rassistischen Tendenzen geprägt ist.
Erotik und Identität in Viva o povo brasileiro
João Ubaldo Ribeiro befaßt sich in seinem literarischen Schaffen stets mit dem
eigenen Land, weshalb man annehmen durfte, daß er das Erotische in die
brasilianische Identitätskonstruktion einbeziehen würde. Durch die Analyse eines
Textkorpus aus seinem Gesamtwerk sollte ersichtlich werden, wie dieser einflußreiche
zeitgenössische Autor die Erotik hinsichtlich der brasilianischen Selbstbetrachtung
heute wertet.
Wie in Kapitel vier dargestellt, erscheint der Zusammenhang zwischen Erotik und
Identität besonders deutlich in Viva o povo brasileiro, einem Roman in dem sich der
Autor dezidiert mit der brasilianischen Geschichte und Kultur auseinandersetzt und
sich offensichtlich auf Klassiker der brasilianischen Literatur wie Iracema,
Macunaíma und Casa grande e senzala bezieht. Mit der Figur der Kannibalin Vu, die
101
einen gefangenen Holländer im erotischen Sinne des Wortes comer verspeist und ihn
dadurch akkulturiert, wird das Motiv der passiven Mutter Erde und des starken
Kolonisators umgekehrt, wie es noch in Iracema beschrieben wurde.
Der Kannibalentopos spielt offensichtlich auf modernistische Autoren wie Mário
de Andrade an, die im Sinne des Manifesto Antropófago241 aus der kannibalistischen
Verwertung europäischer Kultur, eine genuin brasilianische erschaffen wollten. Für
eine solche Interpretation sprechen zudem Übereinstimmungen zwischen der
Redeweise
der
ubaldischen
Kannibalen
und
der
Macunaímas,
sowie
die
gewalterfüllten Erotikdarstellungen in beiden Werken. Gleichzeitig scheint der Autor
die Idee der Anthropophagie ironisieren zu wollen, da er die Jesuiten zu unfreiwilligen
Gründungsvätern dieser Tradition erkor.
Das Motiv der sinnlichen Mulattin, die in der brasilianischen Literatur auch als
Sinnbild Brasiliens gilt, findet sich auch in Viva o povo brasileiro in abgewandelter
Form. Ubaldo Ribeiro macht Maria da Fé zu einer Symbolfigur des brasilianischen
Volkes, ohne ihr jedoch eine besondere Sinnlichkeit zuzusprechen. Der Autor scheint
statt dessen die Brutalität der brasilianischen miscigenação betonen zu wollen, da
Maria da Fé in physischer und psychischer Hinsicht aus einer Vergewaltigung geboren
wurde. Wie ihre Vorgängerin Vu, unterwirft sie ihrerseits einen Mann erotisch und
macht ihn so zu einem Teil des brasilianischen Volkes, während sie ihr eigenes
Selbstwertgefühl als Mulattin behauptet. Die Figur Maria da Fé erscheint als ein
Gegenentwurf zu Gilberto Freyres Buch Casa grande e senzala, in dem Freyre die
sexuelle Ausbeutung der Sklavinnen verharmlost und ihnen eine besondere
Sinnlichkeit zugesprochen hat.
Damit lag nahe, daß Ubaldo das Erotische auch kritisch einsetzen würde,
beispielsweise in Mißbrauchsszenen, welche die Niedertracht des jeweiligen Täters
und der Sklaverei offenlegen. Wegen der polyphonen Struktur des Romans werden
solche Begebenheiten aus der Sicht von Opfern und Tätern geschildert, wobei letztere
Beschreibungen
teilweise
pornographisch
und
voyeuristisch
wirken.
Im
Gesamtkontext wurde der Roman jedoch nicht als pornographisch bewertet, da stets
Opfer- und Täterstandpunkte gegenüberstehen.
Erotische Liebe, die Octavio Paz mit einer doppelten Flamme vergleicht, die sich
aus der Sexualität nährt, gibt es in diesem Roman nur zwischen Maria da Fé und
241
Andrade, Oswald de, „Manifesto antropófago“, in: Obras completas, Bd. 6, A utopia antropofágica, 1990.
102
Patrício, sowie Merinha und Budião. Während die körperliche Vereinigung zwischen
Maria da Fé und Patrício nur angedeutet wird und damit der Phantasie des Lesers
Raum gibt, betont der Erzähler im Fall von Budião und Merinha die Sehnsucht nach
Verschmelzung und Einheit.
Nur positive Figuren aus dem Volk scheinen liebesfähig zu sein, während die
Mitglieder der Eliten das Erotische stets mit Machtmißbrauch und Gewalt verbinden.
Erotische Liebe, gibt es in späteren Werken João Ubaldos nur noch zwischen Ana
Clara und João Pedroso (O sorriso do lagarto), sowie möglicherweise zwischen
Crescência und Iô Pepeu (O fetiço da ilha do pavão). Diese Liebesbeziehungen sind
voller Widrigkeiten und enden selten glücklich. Maria da Fé und Patrício müssen ihr
Leben getrennt verbringen, ebenso wie Merinha und Budião. João Pedroso, der glaubt
in Ana Clara seine wahre Liebe gefunden zu haben, bezahlt diesen Ehebruch mit dem
Tod, woraufhin sie den Verstand verliert. Nur die Geschichte zwischen Iô Pepeu und
Crescência scheint glücklich zu enden, die der Autor allerdings so kitschig darstellt,
daß er diesen Ausgang möglicherweise ironisieren will.
Viva o povo brasileiro als Grundform späterer Bücher
Viva o povo brasileiro scheint auch im Bezug auf die Erotik das wichtigste Buch
des Autors zu sein. Hier finden sich alle Formen der Darstellungen des Erotischen, die
auch in Ubaldos späterem Werk vorkommen. So steht die Vergewaltigung Vevés
durch Perilo Ambrósio für eine zerstörerische Erotik, die der Autor meist Mitgliedern
der Elite zuschreibt, die ihre Lust aus der Erniedrigung Schwacher ziehen. Die
Wirkung dieser Szene ist ambivalent, denn der Autor enthüllt nicht nur die Heuchelei
einer Gesellschaft, die Vergewaltiger als Helden feiert, sondern er bestätigt auch die
herrschenden Machtverhältnisse und appelliert an den Leser als Voyeur.
Dadurch gerät
er in die Nähe der Pornographie. Ubaldo Ribeiros Methode,
negative Figuren über ihre erotischen Verhaltensweisen zu charakterisieren, läßt sich
auch in O feitiço da ilha do pavão beobachten. Dieses Vorgehen überspitzt der Autor,
indem er allen Mitgliedern der bürgerlichen Elite Perversitäten zuschreibt. Die grotesk
und komisch wirkenden Übertreibungen, die er dabei verwendet, wirken
karnevalistisch im Sinne von Bachtin. Dafür spricht auch die Betonung der
Körperlichkeit, vor allem des Erotischen, sowie die intertextuelle Ähnlichkeit mit dem
erotisch-satirischen Gedicht Elixir do pajé von Bernardo Guimarães. Gleichzeitig
103
mißtraut der Autor aber der Macht des Karnevals, denn die erotischen Eskapaden der
Bürger wirken nur im ersten Moment lustig, sind es bei längerem Nachdenken aber
gewiß nicht.
Die Verbindung zwischen Macht, Gewalt und Erotik wird besonders in Diário do
Farol deutlich, und ist vielleicht deswegen das ambivalenteste Buch João Ubaldos.
Mag auch die Grundhaltung des Autors seiner Figur gegenüber kritisch anmuten, so
sind die gewalttätigen, voyeuristischen und damit pornographischen Szenen dennoch
schwer zu ertragen. Sowohl in Diário do Farol als auch in O feitiço da ilha do pavão haben die Opfer der Gewalt keine Stimme, wodurch der pornographische Eindruck
bestehen bleibt. In Diário do Farol kann man vermuten, daß der Autor, der den
Roman auf Bestellung seines Verlages Nova Fronteira geschrieben hat, mit diesen
Darstellungen einen Skandal verursachen wollte, wie es ihm bereits mit A casa dos
budas ditosos gelungen war. Auch in dieser fiktiven Lebensbeichte überwiegen
pornographische Darstellungen, die sich beispielsweise in der übermäßigen Betonung
männlicher Potenz und Stärke, sowie der sexuellen Unterwerfung eines schwarzen
Jungen ausdrücken.
Ebenso voyeuristisch angelegt sind in der Regel Masturbationsszenen von Frauen,
wie beispielsweise die von Patrícios Schwägerin in Viva o povo brasileiro. Ihre
Handlungen werden ebenso detailliert beschrieben, wie die Ana Claras in O sorriso do
lagarto, in dem Augenblick als sie ihren Geliebten João Pedroso erwartet.
Wohingegen die autoerotischen Handlungen von Männern offensichtlich keiner
genaueren Beschreibung würdig sind. Allerdings werde erotische Phantasien von
Männern und Frauen gleichermaßen geschildert, da sie Aufschluß über ihre wahren
erotischen Neigungen geben.
Homosexuelle Figuren
Die Liebe zwischen Männern scheint der Autor, vielleicht unbewußt, kritisch zu
sehen – jedenfalls haben homosexuelle Figuren stets einen schlechten Charakter, wie
beispielsweise Priester und Polizeichef in O feitiço da ilha do pavão, die durch ihre
sexuelle Vereinigung den eigenen moralischen Grundsätzen nicht gerecht werden.
Mag der Autor in diesem Fall auch eine parodistische Wirkung intendieren, so ist dies
in O sorriso do lagarto und Diário do Farol nicht der Fall. Ângelo Marcos und der
Profikiller Boaventura (O sorriso do lagarto) sind sehr negative Figuren, obwohl
Ubaldo die gesellschaftlichen Beschränkungen betont, denen sie aufgrund ihrer
104
Neigung ausgesetzt sind. Und auch die homosexuellen Priester in Diário do Farol, die
Kinder zum Geschlechtsverkehr zwingen, erwecken nicht gerade Sympathien. João
Ubaldo scheint sich denselben gesellschaftlichen Moralvorstellungen zu beugen, die er
sonst hinterfragt. Der Autor selbst gibt an, vor allem die Verbindung zwischen Erotik
und Heuchelei aufdecken zu wollen:
„ (...) a hipocrisia me irrita muito. Talvez se reflete nos meus livros. E o sexo é
uma fonte de hipocrisia muito grande. Eu me lembro, esse negócio de
hipocrisia me choca tanto, (...). E aí de vez em quando eu surpreendo um
homosexual relutante fazendo guerra contra homosexuais, quando eu sei que
ele é. Vejo, não só ele como elas também. Vejo as pessoas tomando atitudes
que são aparentemente hipócritas e ai de certamente é capaz desse tipo de
preocupação aparecendo nos meus romances. Mas não é intencional. Vai
aparecendo.“242
Der Gesamteindruck den die Darstellungen homosexueller Männer in João Ubaldos
Texten hinterlassen, bleibt dennoch ambivalent, denn sie sind nicht nur Opfer der
Gesellschaft sondern eben auch Heuchler, Mörder und Frauenhasser.
Frauenfiguren
Auch die Frauenfiguren des Autors scheinen eine widersprüchliche Wirkung
hervorzurufen. Zwar ironisiert João Ubaldo die patriarchalen Strukturen der
brasilianischen Gesellschaft und entwirft starke Frauen wie Maria da Fé (Viva o povo
brasileiro) oder Crescência (O feitiço da ilha do pavão). Doch bei näherem Hinsehen
stellt sich heraus, daß die beiden nicht nur klug und willensstark, sondern auch keusch
sind und ihr Leben einer höheren Aufgabe widmen – der Mutterschaft und der
Zukunft des Volkes – womit sie sich dem patriarchalen Frauenbild der Heiligen und
Mutter nähern. Der Name gibt Maria da Fé (Maria vom Glauben) bereits die Aura
einer Heiligen, während Crescência (Wachstum) die Mutterrolle schon im Namen
trägt. Obwohl die beiden Protagonistinnen aufgrund ihrer keuschen Lebenshaltung
idealisiert werden, sind sie durchaus erotisch aktiv wenn sie den richtigen Mann
gefunden haben – eine erotische Selbstverwirklichung bleibt ihnen also nicht
verwehrt. Gleichzeitig wirken erotisch besonders aktive Frauen in den Büchern João
Ubaldos häufig bedrohlich, sie scheinen den in der Weltliteratur dämonisierten
Femmes fatales zu entsprechen, die ihre Opfer ins Unglück stürzen.
242
Benzel, Caroline, Interview mit Joõo Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 113 (dieser Arbeit).
105
Die Libertine (A casa dos budas ditosos) setzt ihre Erotik ebenso gnadenlos ein
wie die Sklavin Martina (Viva o povo brasileiro), die beide in der Kunst der
Manipulation und Verführung geschult sind. Während die aggressive Erotik Martinas
nur angedeutet wird erscheint die Libertine als Inkarnation der gefährlichen,
unheilbringenden Wollust, da ihre männlichen Partner diese Ausschweifungen
allesamt mit dem Leben bezahlen. Zudem ist die Libertine steril, kann also keine
Mutter werden und nähert sich dadurch noch mehr der patriarchalen Vorstellung einer
Hure, die Lust ohne Fortpflanzung verspricht. Die einzige Frau, die aus diesen
Strukturen auszubrechen vermag, ist Benedita, die ein offizielles Leben als Heilige
und Mutter führt und gleichzeitig heimlich als Prostituierte arbeitet. Vermutlich wollte
João Ubaldo mit dieser überspitzten Darstellung das patriarchale Frauenbild, das in
Brasilien noch zu existieren scheint, ironisieren – obwohl er es in anderen Romanen
reproduziert. Diese drei genannten Typen von Frauen werden aber nicht nur durch ihr
Sexualverhalten charakterisiert, sondern auch durch ihre Klassenzugehörigkeit. Vor
allem Frauen der Elite sind promisk und stürzen die Männer ins Unglück, während die
Frauen des Volkes monogam sind und hehre Ziele verfolgen.
Populistisch?
Damit dreht João Ubaldo die Sehweise Jorge Amados um, der dem Volk eine
besonders freie Erotik zusprach. Die Vertreter des Volkes sind in João Ubaldos
Romanen meist erotisch zurückhaltend, währen die Eliten als pervers dargestellt
werden. Allerdings scheint João Ubaldo Ribeiro nach Viva o povo brasileiro dem
Volk den Rücken gekehrt zu haben, da die meisten Protagonisten seiner folgenden
Werke aus der oberen Mittelschicht stammen und keinen Kontakt zum einfacheren
Volk unterhalten. Während der Autor in seinen Zeitungschroniken durchaus
Begebenheiten des täglichen Lebens außerhalb elitärer Kreise schildert, bleibt das
Volk in den nachfolgenden Romanen unberücksichtigt.
Vielleicht deutet sich hier die Marktorientierung des Autors an, die ihm von
manchen kritischen Literaturwissenschaftlern vorgeworfen wird. Er schreibt für die
Mittelschicht über die Mittelschicht und korrupte Eliten - und erhöht den möglichen
Verkaufserfolg zusätzlich mit voyeuristischen und pornografischen Szenen, wie in A
casa dos budas ditosos und Diário do Farol. Beide Bücher mögen auch kritische und
ironische Textstellen enthalten, doch scheinen sie in ihrer thematischen und
106
sprachlichen Gestaltung sehr auf einen Skandal ausgerichtet zu sein. Eine solche
Marktorientierung würde auch der Selbsteinschätzung Ubaldos entsprechen, der sich
1987 mit Rückblick auf Viva o povo brasileiro noch als politisch engagierten Autor
definierte und 1991 gegenüber dem Playboy betonte, vor allem Geld verdienen zu
wollen. Nach Viva o povo brasileiro versucht der Autor nicht mehr, die brasilianische
Bevölkerung positiv darzustellen, sondern kritisiert vor allem die Eliten, ohne
Lösungen vorzuschlagen.
Erotisches Paradies?
Obwohl die sexuellen Begegnungen, die ohne Liebe zustande kommen,
überwiegen, erscheint Brasilien nicht als das erotische Paradies der gängigen
Klischees. Ubaldo Ribeiro zeigt die Zwänge und die daraus resultierenden
Heucheleien der Gesellschaft zu genau, als das dieser Eindruck entstehen könnte.
Auch Deoquinha muß in Miséria e Grandeza do amor de Benedita für seine Taten
büßen, indem er von der häßlichen Schwester seiner Frau erpreßt wird. Und selbst die
Libertine in A Casa dos budas ditosos ist nicht wirklich frei. Sie widmet sich zwar mit
aller Kraft ihrer Lust, vermeidet dabei aber den gesellschaftlichen Skandal.
Eine vollständige Libertinage scheint in Brasilien nicht möglich zu sein.
Tatsächlich ist die befreiende Wirkung der Erotik im gesamten Romanwerk Ubaldo
Ribeiros eher flüchtig. João Pedroso wird ermordet, Maria da Fé lebt getrennt von
Patrício, Benedita ist eine heimliche Prostituierte und Iô Pepeu bindet sich schließlich
doch an Crescência. Die erotische Freiheit der ubaldischen Figuren beschränkt sich
auf kurze Augenblicke, sie sprengen niemals offen die bestehenden Strukturen,
sondern allenfalls heimlich, ohne wirklich etwas zu verändern.
Der Leser kann sich nur in Ausnahmefällen mit den Figuren identifizieren, denn
ihre Geschichten sind entweder unerfreulich oder sie enthüllen eine derartige Bosheit,
daß man sie nur ablehnen kann. Das Brasilien João Ubaldos ist ein Land voller
pervertierter Erotik, voller Machtmißbrauch, unterdrückter Triebe und ständiger
Heuchelei, kein Land in dem man leben möchte.
107
Wenn man João Ubaldo also erotischen Exotismus vorwerfen möchte, so wird
Brasilien in seinen Romanen nicht zu einem erotischen Paradies, sondern zu einer
Version der Hölle: „Só existe pecado ao sul do equador“.243
Interview mit João Ubaldo Ribeiro am 08.04.04
Caroline Benzel: Acha que o erotismo tem um papel importante na sua obra?
João Ubaldo Ribeiro: Nunca pensei nestes termos. Nunca pensei em erotismo a não
ser nos budas ditosos que foi realmente uma coisa feita para isso. Mas o resto não,
nunca pensei não.
C.B.: Acha que A casa dos budas ditosos é mais um romance erótico ou pornográfico?
J.U.R.: Eu não sei. Ele usa pornografia mas eu não acho que seja propriamente uma
obra pornográfica. Ele tem outras pretensões. Ele tem a pretensão da crítica social, a
crítica de costumes. É evidente que ele usa pornografia. Eu acho que você deve dar
uma olhada no programa da peça. Tem uma carta que uma moça culta me escreveu e
uma crítica muito interessante na Folha de São Paulo.
C.B.: Mas então acha que o livro tem um lado pornográfico ou não?
J.U.R.: Eu não sei. Escrever pornografia na verdade me pareceu sempre muito difícil.
Eu sempre tive um certo fascínio. Nunca gostei de pornografia realmente. Já li,
especialmente quando jovem – pelo interesse sexual mesmo. Tenho 63 anos, e sou de
um tempo onde a repressão era muito maior do que hoje. Não há nem comparação.
Hoje é Sodom e Gomorra em relação ao que era em minha época. Então a gente lia o
que podia, havia livritos e essas coisas. Mas depois de já maior nunca tive muito
interesse em pornografia. Li assim um pedaço ou outro. Mas sempre achei um gênero
difícil de escrever. Porque muito facilmente fica repetitivo. E é difícil dizer na terceira
pessoa. Eu acho muito difícil em português.
243
Eine Abwandlung des Sprichwortes: „Não existe pecado ao sul do equador“.243
108
Tanto assim que quando eu resolvi usar recursos pornográficos nesse livrinho, eu
escolhi de propósito um truque para pôr na primeira pessoa. Para evitar amardilhas
como „tocou no seu sexo“, para não ter que usar essas palavras literárias que não soam
bem. Então pondo na primeira pessoa era mais fácil usar o palavrão, usar linguagem
que se ouve mais na rua. Mais natural digamos, mais espontânea. Mas eu usei
elementos pornográficos intencionais. Não quis fazer só um romance pornográfico.
Quis fazer uma coisa que tivesse mais. Não quis fazer nenhuma mensagem redutora
do mundo, nem um grande livro. Quis sair da mera pornografia. Mas é evidente que
tem o seu aspeto e seu conteúdo pornográfico. E tem gente que só viu a pornografia. A
maioria dos leitores ao que eu saiba gostou. O livro foi um sucesso muito grande – a
peça também. Mas alguns não gostaram. Eu vi gente reclamando, dizendo que era uma
coisa inútil, pornográfica, suja. Enfim, sexo sempre mexe muito com as pessoas.
Era natural que isso acontecesse. Ia contar uma coisa mas acabei me esquecendo e
me lembrei agora. Uma vez quando estive no Canada num cocktail, num evento
literário – e aí conheci uma escritora baixinha, gordinha, já uma senhora, não muito
velha, mas uma senhora. Começamos uma conversa, e perguntei se era romancista. E
ela disse, „eu escrevo pornografia“. Aí eu fiquei curioso, conversei com ela. E pensei,
ainda vou escrever um livro pornográfico, mas não levei isso muito à sério. Nem tinha
esse projecto de escrever um livro pornográfico, nem semi-pornográfico. Mas acabei
de receber essa encomenda de uma editora que não era minha. E aí escrevi, tomei
parte na colecção.
C.B.: E porque escreveu de ponto de vista de uma mulher?
J.U.R.: Não sei, realmente não sei. Veio assim. Eu aceitei a encomenda meia
brasileiramente. Vou lhe explicar o que quero dizer com isso. Quem me telefonou foi
um dos diretores da Objetiva, da editora que publicou Os budas ditosos. E ele me disse
que estava fazendo essa coleção e que tinha pensado logo em mim. Aí disse, tudo
bem.
Mas pensei que era uma coisa vaga. Aí ele disse, que tinha pensado em eu fazer a
preguiça. Mas recusei, que como baiano não queria saber nada de preguiça. E a única
coisa que me veio a cabeça foi a luxúria. Nem sei todos os pecados mortais de cor.
Talvez eu saiba, mas teria que fazer um esforço. Mas também não dei muita
importância. Achei que era um projeto vago, uma dessas coisas que chamei de
brasileiras, que nunca fariam, ou fariam daqui em anos. Mas eles mandaram um
contrato para mim e – um adiantamento - o que é mais importante ainda. Assinei o
contrato e uma semana depois me vi diante do compromisso já afirmado de fazer um
livro sobre aquele assunto.
E comecei a pensar do meu jeito habitual, porque não planejo muito. Começo pelo
título e vou escrevendo. E nessa época sei da origem do título, que raramente eu sei.
Por acaso tinham me dado um livro ruim, que se chamava História do sexo ou uma
coisa assim, em inglês. E lá entre essas coisas a mulher mencionava a existência de
uma tal casa, „The House o the joyous budas“. Traduzi esse título e o pus sem saber o
que ia acontecer depois.
E fiz essa brincadeira, que não sei porquê, foi levada muito a sério. Até ontem me
fizeram essa pergunta – o livro já saía há anos. Sempre invarialmente jornalistas e o
público que me encontram na rua me perguntam se é verdade que uma mulher me
mandou o manuscrito. Uma óbvia brincadeira literária antiga, que se faz desde que o
romance existe praticamente. Além se fazia quando o romance começou a existir
109
porque era uma coisa estranha, a existência de uma narrativa gratuita. As pessoas
diziam, achei isso dentro de uma garrafa, achei numa gaveta e assim adiante.
Eu fiz a brincadeira, achando que tudo o mundo ia ver que era uma brincadeira.
Mas levaram à sério. É curioso, é curiosíssimo que muitas pessoas; muitas não
algumas mulheres, algumas, e alguns poucos homens dizem a mim que vêm o
narrador masculino por trás daquela mulher. Mas ao mesmo tempo me perguntam, foi
a mulher mesmo que mandou? Se vissem que era um narrador masculino não me
perguntariam. Eles viram o narrador masculino porque sabem que foi eu quem
escreveu o livro. Porque a maioria das mulheres que leu o livro e me escreveu gostou.
Porque esse livro teve uma repercussão extraordinário entre as mulheres. Escritor
não costuma ver a reação do público, não é como ator ou um cantor, ou até um pintor
que vê a reação imediato. Um escritor, o livro dele se espalha, ele às vezes nem sabe
da reação de ninguém. A não ser por um crítico ou uma coisa e outra. Mas esse livro
obteve um sucesso extraordinário entre as mulheres. E elas me perguntam muito isso,
se foi uma mulher realmente ... Apesar de algumas dizerem que „é um homem, está na
cara que é um homem. Mas foi uma mulher que lhe mandou.“ Quer dizer ... Eu acho
que não parece um homem, mas, .... É porque as pessoas têm uma dificuldade de
acreditar que você é capaz de escrever sobre uma coisa que nunca experimentou.
Então às vezes até digo de brincadeira com os amigos, já dizia isso, no outro livro
meu, no Sorriso do lagarto – não sei se você leu?
O sorriso do lagarto tem cenas homossexuais fortes, tem uma cena pelo menos
homossexual forte. Aí perguntavam como você escreveu aquilo. Eu digo: „treinando
com os amigos.“ Treinava e chamava os amigos. Só posso responder isso. Porque se
eu fosse escrever um livro - aliás já fiz cena de parto, não na primeira pessoa, mas já
fiz uma cena de parto - no Viva o povo brasileiro tem uma cena de parto. Eu não
posso parir, é impossível que eu para, não tenho os instrumentos fisiológicos para
parir, é impossível. No entanto acho perfeitamente possível que, se tivesse na minha
frente esse desafio - digamos assim - eu acho que seria capaz de descrever na primeira
pessoa uma mulher tendo um filho. Talvez no máximo eu conversasse com uma mãe e
perguntasse um detalhe ou outro. O que é que você sentiu? Mas talvez nem isso. Eu
inventasse um jeito, não preciso parir.
Assim não preciso – nunca estive numa batalha e descrevo uma batalha no Viva o
povo brasileiro, a batalha Tuiuti, enfim nunca estive em nenhum desastre, nunca estive
em varias situações. Mas as pessoas acham que você se inspira assim ou você – tem
gente até hoje, tem na Bahia uma família é que eu não sei quem é, mas um sujeito veio
me dizer escandalizado, que eu tinha contado a história dessa família.
Que é um horror aquilo, que o pessoal está muito chocado comigo, que estava tudo
contado ali. Eu não faço a menor ideia que família é essa, mas é assim.
C.B.: Qual é para si a diferença entre pornografia e erotismo?
J.U.R.: É muito difícil de dizer, não é. Existe aquela velha frase de ..., eu esqueci o
nome dele, se eu procurasse na internet era capaz de achar, mas agora dá muito
trabalho . Existiu um juiz da suprema corte americana que, decidindo sobre um caso
de pornografia, disse que não sabia definir pornografia, mas sabia distinguir quando
via. Eu sou um pouco assim, como ele. Há um limite entre pornografia e erotismo,
você pode dizer o bom gosto, mas o bom gosto também é uma coisa muito relativa.
Bom gosto para alguns é mau gosto para outros. Depende de cultura, depende de
tanta coisa, então eu não sei qual é essa distinção. Eu tenho a impressão que no caso
da minha distinção aqui, pornografia seria extremamente gratuita - ou seja, o ato
sexual, o devasso, o libertino, apenas pelo ato sexual libertino - não como impulso que
110
é socialmente controlado, socialmente vigiado, socialmente policiado, socialmente
valorado que eu acho que o livro reflete.
Quando ela conta aquelas limitações a que ela é exposta, o fingimento que ela fez,
e a própria narrativa dela que já é chocante. Porque não se fala nessas coisas, porque
existe um tabu em relação a contar. Até hoje existe, nem eu nem você, nem ninguém
quem a gente conhece, talvez um ou outro maluco que você conheça ou eu conheça
contaria, a não ser um episódio ou outro, mas não contaria a sua vida sexual. Ninguém
contaria. Então já existe esse insólito na coisa.
C.B.: Acha que o erotismo pode ter uma função libertadora?
J.U.R.: Pode, não. Acho erotismo parte da vida. Sexo inclusivo é base do que se
considera uma ciência. Os psicanalistas consideram psicanalise uma ciência. E é uma
ciência em torno de sexo. Cuja pedra basilar é o instinto sexual no sentido mais lato da
palavra. Então, tanto assim que é algo que mexe com as pessoas universalmente e que
tem sido objeto, ao contrário de outras coisas - há sociedades, há culturas que já
celebrizavam, já de certa forma sancionaram o furto, dizem que o furto era permitido
por exemplo em Esparta, contando que o ladrão não fosse descoberto, o furto era
aceitado moralmente. Já houve pecados aceitados moralmente em outras culturas, mas
o pecado do sexo é sempre complicado. Esse é muito básico.
Qualquer cultura tem um elenco extraordinário de coisas relacionadas com sexo.
Até na linguagem de todo dia. Até nas associações mais grotescas que se podem fazer.
Como por exemplo, dizem, e acho que é verdade, que na Nova Inglaterra puritana nos
Estado Unidos no século XVII ou talvez no começo do século XVIII as pernas de
mesa, talvez nem se chamam pernas em outras línguas, mas as pernas das mesas eram
cobertas por panos para disfarçar a nudez das pernas da mesa.
Talvez umas das palavras para as quais mais existem eufemismos no mundo seja
dinheiro. Dinheiro é dinheiro, uma certa quantia, um valor especificado, uma moeda,
um pagamento, um desembolso. As pessoas têm pudor em dizer dinheiro. „Quanto
dinheiro você tem para mim aí?“ É: „Você já me pode fazer o pagamento? Você tem o
desembolso? Já lideram a verba? “ E assim por diante.
Mas o sexo ganha para isso. E o sexo é, em certas línguas pelo menos, a maior
fonte de tabuismo ou seja de expressões que não são utilizáveis na linguagem, no trato
social corrente, se relacionam com sexo. Até coisas que não são realmente sexuais no
sentido que envolve relações sexuais, mas envolve algo sexual. Por exemplo a
expressão „bloody“ em inglês, que hoje em dia é mais liberada, mas que até hoje não é
considerada uma expressão de bom gosto é „bloody“ porque tem a ver com
menstruação. „Bloody“ é uma coisa carregada.
C.B.: Teve que pesquisar muito para escrever A casa dos budas ditosos?
J.U.R.: Não pesquisei. O que está ali saiu da minha cabeça. Não há exatamente coisas
que eu li. O que eu pesquisei, mas assim muito superficialmente foram coisas mais
pedestres, mais bobas. Eu fui olhar na internet coisas de homossexuais que eu não
sabia direito como era, posições, para ver se não estava sendo um pouco fora da moda
e tal. Aí fui ver fotos de relações homossexuais entre homens e mulheres e homens e
mulheres, para ver como é que era, para ter uma ideia. Isso eu fiz, mas fiz pouco, não
fiz muito.
E grande parte do que tem no livro, não, só algumas das coisas, eu vivi como
solteiro. Eu já fui muito mulherengo, tive muita namorada, muitas amantes, enfim tive
aventuras, tive uma vida movimentada em certa época. Então certas coisas eu sei. E
111
sempre me dei bem com as mulheres, sempre tive amigas, sempre tive muito bom
relacionamento com as mulheres.
Eu sigo o conselho de um amigo meu que é engraçado. Eu tenho um amigo
baiano, que hoje já não está tão bonito assim porque já envelheceu, mas era bonito.
Mas não era por ser bonito que ele tinha sucesso com as mulheres. Porque outros
bonitos não têm. Mas ele tinha tradicional sucesso com as mulheres. Ele aparecia de
vez em quando com duas ou três lindas ao mesmo tempo. Lindas, amicíssimas, e ele
dormia com a maioria. Uma vez eu disse a ele, há muitos anos: „Adelmo, qual é o seu
segredo, deve ter alguma coisa.“ Ele disse: „Eu não tenho segredo nenhum. Mulher é
igual ao homem, o meu segredo é esse. Tudo que a gente pensa, elas pensam do jeito
delas. A gente só pensa sacanagem, e elas também só pensam sacanagem. É a mesma
coisa. E ai converso com elas de igual para igual, no começo elas desconfiam, depois
elas vêem que não estou querendo me aproveitar delas, sou apenas um amigo delas,
começam a conversar comigo como se fosse um amigo qualquer, outro homem
qualquer, e a maioria acaba dando para mim.“ Alguma nem dá. Mas outras dão, a
maioria dá, acaba dando e acabam ir para cama. Um belo dia tomar cachaça juntos,
fazer uma brincadeira, ir para uma festa, namora e daí dorme junto.
E eu sempre tratei mulher igual ao homem, não sei se é por isso. Sempre tive
muitas amigas mulheres. E muita coisa daí quem me disse foram mulheres. Eu digo
com tanta tranquilidade no livro uma coisa que e desmentida o tempo todo, inclusive
por mulheres, inclusive por especialistas, mas já não é tão desmentida como era, mas
ainda continua sendo desmentido é: o tamanho do membro sexual masculino não tem a
menor importância. Eu digo no livro, a personagem diz no livro que tem. Não é uma
importância fundamental, básica. Mas tem. Que a mulher prefere uma coisa de
tamanho adequado. Que o tamanho pequeneninho, se o sujeito for um bom sujeito, se
valia a pena, não tem assim essa importância toda, não destrói nem estraga. Mas que o
tamanho importa, importa. Tem seu papel. Eu digo isso, não por raciocínio meu,
porque amigas minhas me disseram:
„Não, não. Esse negócio de tamanho está certo, pode ser pequeneninho, mas
melhor e que tem um tamanho adequado, um tamanho sério, que satisfaça.“ Se é
grande e o sujeito é um débil mental um cretino um tosco, então ele fique com (Perdão
da palavra) o pau grande dele, para ele mesmo. Mas se ele é um sujeito simpático,
bonito, inteligente, atraente e agradável e tem pau grande melhor. Contando que não
seja descomunal, uma coisa monstruosa, isso também ninguém quer.
C.B.: Então acha que é um livro típico brasileiro, ou podia ser escrito em qualquer
parte do mundo?
J.U.R.: Não sei se podia ser escrito em todo o mundo. Acho difícil ser escrito na
Algéria, no mundo muçulmano e em certas culturas. Talvez na Alemanha, onde a
pornografia é muito mais sinistra do que no Brasil, muito mais envolta em segredos e
escuridão, em práticas terríveis, masoquismos estranhos, sadismos estranhos, recursos
estranhos. Então é uma coisa cultural. Não sei se seria. Mas acho que seria
compreensível na maior parte do mundo ocidental, sim.
C.B.: E o que achou da reação em Portugal? (Umas lojas não vendiam o livro)
J.U.R.: Se não me engano, foram os que chamam em Portugal de „grandes
superfícies“, são áreas que chamamos no Brasil de hipermercados. Dois grandes
superfícies, cadeias de Portugal - até já esqueci quais foram - uma delas era até
brasileira de origem, a Pão de Açúcar (que já não é brasileira) e outra, proibiram. Mas
112
não houve uma censura em Portugal, não foi o país que proibiu, inclusive isso não
existe em Portugal. Foram essas lojas que proibiram. Uma medida difícil de entender
porque eu fui a uma dessas lojas, e vi vários livros pornográficos, vi vídeos
pornográficos, pornográficos mesmo, coisa só para ver em motel sem nenhum, como
os americanos dizem „redeeming social quality“, que talvez o meu livrinho tenha. Não
tem nada disso, eu vi lá. Achei que foi algum funcionário que não gosta nada de
brasileiro. Sei lá.
Sei que foi um benefício muito grande publicitário que eles fizeram ao livro,
porque isto chamou uma atenção enorme. Houve protestos de portugueses. Tenho
muitos amigos em Portugal, já morei em Portugal, já escrevi em jornais portugueses. E
além de todo, os portugueses não são um povo medieval. Então muitos intelectuais
portugueses, mesmo sem ser para me defender, ficaram indignados com a proibição. E
houve uma reação. E essa reação despertou o interesse do público. E o livro vendeu
em Portugal, proporcionalmente muito mais do que no Brasil. Mas muito mais. Tenho
a impressão que venderam lá entre os 40.000 até os 70.000 exemplares. O que
significa muito mais do que os 200.000 que foram vendidos no Brasil, muito mais
proporcionalmente.
C.B.: Falando de Viva o povo brasileiro. Nesse livro também tem cenas eróticas. Acha
que um certo erotismo faz parte da formação da identidade brasileira?
J.U.R.: Não sei. Acho que o erotismo faz parte da formação de qualquer povo.
Processado da forma. Houve um tempo em que os romances francêses eram
considerados, para usar a expressão francesa „risqués“. Houve um tempo em que se
leu autores que hoje seriam perfeitamente inocentes. Como Anatole France, como
Guidemot Passant, em que se notava algum erotismo. Ou até Madame Bovary – e
assim por diante. Não sei, e existe o Marquês de Sade, existe uma tradição desse tipo
de literatura no ocidente inteiro.
C.B.: Mas voltando ao erotismo no Brasil. Quando li Viva o povo brasileiro fiquei
com a ideia que contraria as ideias de Gilberto Freyre em Casa Grande e Senzala. As
mulheres tem um papel muito mais ativo.
J.U.R.: Não sei. Talvez seja porque sou mais amigo das mulheres e tenho uma maior
identificação com elas. Gosto delas.
C.B.: Acha que o riso e o erotismo estão ligados?
J.U.R.: Não, necessariamente, não. Não pensei nisso não. E acho por exemplo que o
erotismo do Sorriso do lagarto – que tem muito erotismo, não só homossexual como
eu falei, mas heterossexual também – não tem nada de engraçado.
C.B.: Mas por exemplo em O feitiço da ilha do pavão?
J.U.R.: Ah esse é. Mas quis fazer um livro ... Quer dizer não quis fazer um livro, o
livro saiu assim.
C.B.: O nome do livro tem a ver com a Pfaueninsel em Berlim?
113
J.U.R.: Não, não. Depois é que me lembrei da Pfaueninsel. Mas não. Se tem é
inconsciente. Mas quando escrevi não me lembrei de jeito nenhum. Só depois que o
livro estava pronto.
C.B.: Mas o pavão tem um significado especial, tipo roda de tempo, ou alguma coisa
assim?
J.U.R.: Não, eu não pensei assim. Agora, a posteriori é possível dizer qualquer coisa.
É sempre possível, depois de o livro estar escrito, achar explicações maravilhosas,
racionais e tal, que podem ser verdadeiras ou não, pode ser fundamentadas ou não, eu
não sei.
C.B.: Isso é sempre o perigo quando se analisa uma obra. As vezes se vê coisas nas
quais o autor nem tinha pensado.
J.U.R.: Isso acontece muito.
C.B.: É possível que as vezes utilize o comportamento sexual das pessoas para
caraterizá-las ou para fazer uma crítica social?
J.U.R.: Não, às vezes, eu gosto de mexer. Porque eu realmente tenho uma, devo ter –
eu nunca fui um sacerdote anti-hipocrisia, nunca fui um cruzado anti-hipocrisia, mas a
hipocrisia me irrita muito. Talvez se reflete nos meus livros. E o sexo é uma fonte de
hipocrisia muito grande. Eu me lembro, esse negócio de hipocrisia me choca tanto,
que não esqueço de uma vez, há muitos anos aqui no Rio de Janeiro. Eu estava num
restaurante fechado, tinha sido fechado por um grupo de pessoas, que ficaram lá
sozinhas bebendo e fazendo isso o que vou dizer. Tinha uma moça jovem, bonita, uma
jovem senhora, cheirando cocaína na minha frente. Eu não posso cheirar cocaína,
mesmo se quisesse porque eu tenho uma aritmia cardíaca, e se eu cheirar posso dizer,
até logo Carolina, foi um prazer, te vejo na outra incarnação e caio duro. Posso não ter
nada, mas também posso ter um descompasso cardíaco que me mate.
Eu estava lá com ela. E ela falando comigo, com as fileiras da cocaína na frente
numa mesa. E ela falou: „Eu tenho um horror de esse negócio de cocaína de pó, não
suporto esse negócio. Isso não (cheirando cocaína) não leva a nada. As pessoas
cheiram esse negócio ficam conversando sobre sexo eu acho uma nojeira (cheirando
cocaína).“
E eu olhei para a cara dela assim. Uma coisa louca, fazendo na minha cara e
falando contra. E aí de vez em quando eu surpreendo um homossexual relutante
fazendo guerra contra homossexuais, quando eu sei que ele é. Vejo, não só ele como
elas também. Vejo as pessoas tomando atitudes que são aparentemente hipócritas e ai
de certamente é capaz desse tipo de preocupação aparecendo nos meus romances. Mas
não é intencional. Vai aparecendo.
C.B.: E os padres? Muitas vezes são os piores de todos nos seus romances?
J.U.R.: Às vezes são. Mas eu tenho um padre bom. Acho que tenho alguns. Mas tenho
pelo menos um padre bom, no Vila Real tem.
No Diário de Farol ele é só tecnicamente um padre, na realidade não é um padre.
C.B.: E acha que nos seus livros tem muita amor entre as pessoas?
114
J.U.R.: Não sei. Acho que no Sorriso do Lagarto existe um caso de amor entre a Clara
e o João Pedroso. Acho que no Viva o Povo Brasileiro existe amor, não só amor
sexual, amor romântico entre Maria da Fé e Patrício Macário, como existe o amor de
Leléu pela neta dele, que o modifica como pessoa. Eu acho que o amor existe nos
meus livros.
C.B.: Mas também tem muita sexualidade sem ser amor.
J.U.R.: Tem, tem.
C.B.: E falando de Diário de Farol, acha que existe uma relação entre sexo e poder?
J.U.R.: Acho que sim. Henry Kissinger dizia que o poder é afrodisíaco. Talvez exista.
Existe uma forma de, existe alguma analogia entre poder e dominação e o ato sexual.
Existe realmente. Até em expressões vulgares. Como se diz em várias línguas,
inclusive português, uma palavra chula: „Eu vou foder você.“ Ou seja: „Vou dominar
você, vou eliminar você“. Na realidade „foder“ quer dizer o ato sexual, não quer
mandar em ninguém nem dominar ninguém. Como „fuck you“ em inglês. Existe a
palavra „possuir“ no sentido de ter uma relação sexual. „Ele a possuiu.“ „Eu fui dele.“
Existe, eu acho.
C.B.: Você vê uma diferença entre o erotismo europeu e brasileiro? Como já disse,
que na Alemanha podia ser mais sinistro ....
J.U.R.: Acho que o sexo é influenciado culturalmente. Não vou dizer determinado.
Imagino que certas práticas sexuais são mais comuns, imagino, mas não posso ter
certeza. Porque as estatísticas sobre esse assunto são muito enganosas. Não posso
dizer que a prática do canibalismo, como para-sexual, talvez seja mais comum em
certas países da Europa, como na Inglaterra e a própria Alemanha.
Mas não posso dizer, de repente é. Simplesmente porque aí apareceu, e aqui não
aparece. Não sei. É muito comum, no Brasil é muito divulgado, por escandaloso, o
número grande de país que tem relações sexuais com as filhas. Especialmente no meio
rural, em áreas isoladas. Mas de repente você ouve coisas como o número enorme de
abusos sexuais para filhos nos Estados Unidos ou em outras culturas. Não sei se isso é
mais comum no Brasil, ou nos Estados Unidos ou na Alemanha ou na França. Ou se
há lugares onde não existe. Ou existe igualmente de várias formas em toda parte, não
sei.
C.B.: Agora uma pergunta mais geral. Você se vê numa tradição literária junto com
Jorge Amado, ou nem por isso?
J.U.R. : Não, eu me vejo como um herdeiro - não de Jorge Amado, ele não tem
herdeiro. Ele tem os herdeiros físicos dele, os filhos dele e descendentes deles. Mas
como escritor não me vejo como herdeiro de Jorge Amado – ele é único. Eu sou
herdeiro, como todo escritor, de uma tradição que me precedeu.
Não fui eu quem inventou o romance. Eu continuo escrever o romance. Porquê se
escreve o romance eu não sei. Desde que sou menino eu ouço e leio que o romance
acabou. Não existe mais. Mas continua se escrever o romance. Houve tempo em que
foi moda dizer isso, que não existia mais o romance grosso. Que o mundo de hoje não
permitia mais o romanção, como Montanha Mágica, como Guerra e Paz.
115
O que se vê é um número imenso de bestsellers americanos enormes, Harry Potter
e assim por diante. Nem isso, a diminuição do tamanho do livro por causa da falta de
tempo da vida de hoje, nem isso acontece. Nem vai acontecer. Eu fico imaginando por
exemplo, só por dar um exemplo arbitrário e extremo, porque podia achar muitos
outros inclusive talvez a própria Alemanha, mas eu vou ficar na Suécia. Quando você
pensa em Estocolmo, com pelo menos seis meses de escuridão, com uma televisão
relativamente pobre, com entretenimento existente, tem teatro tem ópera, mas tem um
limite para isso. O dia amanhece, vamos dizer as 11.00 horas e escurece as 14.00
horas. As pessoas ficam fazendo o que. Acabam lendo e entrando em melancolia.
Porque morei em Berlim, que não é Estocolmo e senti a melancolia do inverno, a
ausência do sol durante semanas seguidas me afetava. Eu imagino como não deve
afetar quem mora lá a vida inteira. E a leitura na União Soviética antiga, a Russa hoje
é tradicionalmente um país de grandes leitores. Talvez posso alegar que na União
Soviética nem existia entretenimento, a não ser circo, ballet, filmes censurados, e
peças censurados e livros, também censurados, mas de qualquer forma livros – e uma
tradição literária de uma grandeza – tem Dostoiévski, tem Tolstoi, tem Gogot, tem
esses escritores todos. Então eu acho que o romance está aqui para ficar e vai ficar.
Acho eu.
C.B.: Só tenho mais uma curiosidade. No Feitiço da Ilha do Pavão a Crescência fica
com o Iô Pepeu no fim. É por amor ou porque quer herdeiros?
J.U.R.: Eu não sei, você sabe. Eu nunca pensei nisso. Mas acho que ela se acaba
rendendo um pouco a ele. Eu acho que ela acaba de certa maneira se sensibilizando à
obsessão dele, que se torna uma espécie de amor. Porque ao final da conta, como
podemos definir o amor? O amor para muitas pessoas não passa de um impulso
egoísta. Você pode até argumentar, se for uma teórica polémica, que todo amor é uma
forma de egoísmo. Pode argumentar. Claro que isso é sujeito a todo tipo de
argumentação. Pode ter gente que discorde frontalmente. O amor é basicamente um
dar e não tomar. Mas tem gente que só toma. Então no sentido muito lato de amor,
vamos dizer, eu acho que chegou a haver amor de Crescência para Iô Pepeu no fim.
Acho que ela foi seduzida pelo amor dele o pela obsessão dele por ela.
C.B.: Muito obrigada.
J.U.R.: Nada.
116
Bibliographie
João Ubaldo Ribeiro
Ribeiro, João Ubaldo, Vila Real, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1979.
–, Interview mit Jorge Amado für die Zeitschrift Nova, undatiertes Manuskript aus der
Biblioteca Juracyr Magalhães Junior Itaparica, wahrscheinlich 1979.
–, Sargento Getúlio, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 20. Auflage, 1982.
–, O sorriso do lagarto, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 5. Nachdruck, 1991.
–, Ein Brasilianer in Berlin, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994.
–, O feitiço da Ilha do Pavão, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1997.
–, Arte e Ciência de roubar galinha – Crônicas, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1998.
–, Alô, massa tijucana!“, in: Arte e ciência de roubar galinha, 1998, S. 223-227.
117
–, Política – Quem manda, por que manda, como manda, Rio de Janeiro: Nova
Fronteira, 3. überarbeitete Auflage, 1998.
–, Viva o povo brasileiro, Lisboa: Dom Quixote, 3. Auflage, 2000.
–, A casa dos budas ditosos, Lisboa: Dom Quixote, 2. Auflage, 2000.
–, Miséria e Grandeza do amor de Benedita, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 2000.
–, O conselheiro come – Crônicas, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 2000.
–, Já Podeis da Pátria Filhos (e outras Histórias), Lisboa: Dom Quixote, 2002.
–, Diário do Farol, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 2002.
Über João Ubaldo Ribeiro
Benzel, Caroline, Interview mit João Ubaldo Ribeiro, 2004, S. 107‐115 (dieser Arbeit).
Bernd. Zilá, O caminho do meio – Uma leitura da obra de João Ubaldo Ribeiro,
Porto Alegre: Editora Universidade / UFRGS, 2001.
Boaventura, Silvia Miranda, A Imaginação Histórica: Inventário da América em
Cristôbal Nonato e Viva o Povo Brasileiro, Rio de Janeiro: UFRJ, 1999.
Ceccantini, João Luís C. T., Vida e paixão de Pandonar, o cruel de João Ubaldo
Ribeiro: Um estudo de produção e recepção, Assis: UNESP, 1993.
Carvalho, João Carlos de, As Estratégias Discursivas no Romance (A Narrativa e o
Negro em as Vítimas-Algozes e Viva o Povo Brasileiro), Rio de Janeiro: UERJ, 1993.
Coutinho, Wilson, João Ubaldo Ribeiro, Rio der Janeiro: Relume Dumará: Prefeitura,
1998.
Cunha, Eneida Leal, Estampas do Imaginário – Literatura, Cultura, História e
Identidade, Rio de Janeiro: PUC – Departamento de Letras, Tese de Doutourado,
1993.
Figueredo, Vera Follain de, „Viva o povo brasileiro e a vocação totalizante do
romance latino-americano”, in: Revista Brasil de Literatura, Internet:
www.rbleditora/revista. (05.05.04 um 10:25)
Filho, Antônio Gonçalves, „As safadezas de dona CLB”, in: A Notícia, 15.4.1999,
Anexo.
Große, Sybille, „João Ubaldo Ribeiro: Das Wunder der Pfaueninsel“, in : Lusorama,
46, Juni 2001, S. 66-69.
118
„João Ubaldo Ribeiro”, in: Cadernos de literatura brasileira, Nr. 7, 1999.
Martins, Wilson, „João Ubaldo Ribeiro: Um caso de popularismo literário“, in:
Iberoromania, Nr. 38, 1993, S. 62-69.
Monte, Alfredo, „João Ubaldo Ribeiro faz obra para estrangeiros“, in: A Tribuna,
13.01.98. (aus dem Clipping des Verlages Nova Fronteira)
Moreira, Osmar, As folhas venenosas do discurso, Salvador: Quarteto, 2002.
Nuto, João Vianney Cavalcanti, „Grotesco e paródia em Viva o povo brasileiro“, in:
Revista Brasil de Literatura, Internet: www.rbleditora/revista/artigos/grotesco.html.
Olivieri-Godet, Rita, „Stratégies narratives e identité culturelle dans les contes de
João Ubaldo Ribeiro“, in: Les voies du conte dans l’espace lusophone – CREPAL,
Nr. 7, 2000, S.145-160.
Pásta Júnior, José Antônio, „Prodígios de Ambivalência – Notas sobre Viva o povo
brasileira“, in: Les voies du conte dans l’espace lusophone – CREPAL, Nr. 7, 2000,
S.163-176.
Pires Germano, Idilva Maria, Alegorias do Brasil – Imagens de Brasilidade em
«Triste fim de Policarpo Quaresma» e «Viva o povo brasileiro», São Paulo :
Annablume Editora, 2000.
„Playboy entrevista João Ubaldo Ribeiro“, in: Playboy (Brasil), April 1991, S. 2125 / 109 – 113.
„Porno with redeeming value“, in: Brazzil, April 1999,
Internet: http://www.brazzil.com/p10apr99.htm (09.10.02 um 20:31).
Proença Filho, Domício (Hg.), Seletas João Uabldo Ribeiro, Rio de Janeiro: Nova
Fronteira, 2004.
Raillard, Alice, „Je suis le résultat d’une maturation“, Interview mit João Ubaldo
Ribeiro, in: La quinzaine littéraire – Número special: Ecrivains du Brésil , Nr. 484,
1987, S. 23.
Utéza, Francis, „João Ubaldo Ribeiro: Viva o povo brasileiro ou l’esprit de la
fraternité”, in: Quadrant, Nr. 16, 1999, S. 141-190.
Valente, Luiz Fernando, „Satíra e Anti-História em João Ubaldo Ribeiro“, in: Estudos
Lingüísticos e Literários, Nr. 10, 1990, S. 45-63.
Wyler, Vivian: „João Ubaldo Ribeiro e o último dos livros que „tem“ de escrever“, in:
Jornal do Brasil, 30.9.1983, Caderno B. (aus dem Clipping des Verlages Nova
Fronteira)
119
Weitere Autoren:
Alencar, José de, Iracema, Rio de Janeiro: Livros Técnicos e Científicos; São Paulo:
Editora da Universidade de São Paulo, 2. kritische Ausgabe von M. Cavalcanti
Proença, 1979.
Almeida, Manuel Antônio de, Memórias de um Sargento de Milícias, São Paulo:
Edições Melhoramentos, 5. Auflage, o.J.
Amado, Jorge, Cacau, Rio de Janeiro: Livraria José Olympio Editora, 3. Auflage,
1936.
Amado, Jorge, Brief an João Ubaldo Ribeiro vom 06.01.1980, unveröffentlicht, liegt
in der Biblioteca Juracyr Magalhães Junior Itaparica.
–, A morte e a morte de Quincas Berro d’Àgua, Mem Martins: Publicações EuropaAmérica, 2. Auflage, 1983.
–, Dona Flor e seus dois maridos, Mem Martins: Publicações Europa-América, 8.
Auflage, 1995.
–, Capitães da Areia, Rio de Janeiro: Record, 96. Auflage, 1999.
–, Gabriela, cravo e canela, Rio de Janeiro: Record, 85. Auflage, 2001.
–, Jubiabá, Rio de Janeiro: Record, 61. Auflage, 2003.
–, Tereza Batista cansada da guerra, Rio de Janeiro: Record, 1996.
Andrade, Mário de, Macunaíma – o herói sem nenhum caráter, Belo Horizonte – Rio
de Janeiro: Livraria Garnier, 32. Auflage, 2001.
Azevedo, Aluísio, O cortiço, Porto Alegre: P&M Editores, 1998.
–, O mulato, São Paulo: Editora Ática, 9. Auflage, 1990.
Bueno, Alexei, (Hg.), Antologia pornográfica: De Gregório de Mattos a Glauco
Mattoso, Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 2004.
Caminha, Pêro Vaz de, A carta de Pêro Vaz da Caminha, Lisboa: Mar de Letras,
2000.
Camões, Luís Vaz de, Os Lusíadas, Lisboa: Plátano Editora, 1998.
Carpentier, Alejo, El reino de este mundo, Barcelona : Seix Barral, 1967.
Coelho, Paulo, Onze minutos, Rio de Janeiro: Rocco, 2003.
Flaubert, Gustave, Madame Bovary : moeurs de province, Paris : Bordas, 1990.
Fonseca, Rubem, Diário de um fescenino, São Paulo: Companhia das letras, 2003.
120
Fontane, Theodor, Effi Briest, München : Goldmann, 1990.
García Márquez, Gabriel, Cien años de solidad, Madrid: Cátedra, 10. Auflage, 2000.
–, El amor en los tiempos del cólera, La Haban: Casa de las Américas, 1986.
Guimarães, Bernardo, A escrava Isaura, Mem Martins: Publicações Europa-América,
2. Auflage, o.J.
–, Poesia Erótica e Satírica, Rio de Janeiro: Imago Editora, 1992.
–, „Elixir do Pajé“, in: Poesia Erótica e Satírica, 1992.
Homer, Ilias Odysse, Essen: Emil Vollmer Verlag, o.J.
Laclos, Pierre Ambroise François Choderlos de, Die Gefährlichen Bekanntschaften
oder Briefe gesammelt in einer Gesellschaft und zur Belehrung einiger anderer
bekanntgemacht, Leipzig: Insel-Verlag, 1997.
Lawrence, D.H., Lady Chatterley’s Lover, Goldmann Verlag, 1988.
Nabokov, Vladimir: Lolita- a screenplay, New York: Vintage Books, 1997.
Mattos, Gregório de, Ausgewählte Gedichte, Berlin: Edition Lateinamerika, 1992.
Queirós, Eça de, O primo Basílio, Mem Martins: Publicações Europa-América, 2.
Auflage, o.J.
Reáge, Pauline, Die Geschichte der O., München: Herbig, 1975.
Rego, José Lins do, O moleque Ricardo, Rio de Janeiro: José Olympio, 2003.
Sade, Marquis de, Justine oder vom Mißgeschick der Tugend, München: Ullstein,
3. Auflage, 2002.
Shakespeare, William, Shakespeare Dramen, Berlin: Verlage Dressler / Henssel /
Mann / Weiss, 1946.
Erotik und Pornographie
Alberoni, Francesco, Erotik – Weibliche Erotik, männliche Erotik – was ist das?,
München: Piper, 3. Auflage, 1991.
Andreas-Salomé, Lou, Die Erotik – Vier Aufätze, Frankfurt a. M. / Berlin: Ullstein,
1992.
Bataille, Georges, Die Erotik, München: Matthes&Seitz, 1994.
–, La littérature et le mal, Paris: Gallimard, 1957.
121
Berna-Simons, Lilian, Das 19. Jahrhundert in Sigmund Freud – Eine Untersuchung
zu den Anfängen der Psychoanalyse, Hannover: Technische Universität, 1978.
Brecher, Paul, Christentum und Erotik - Versuch einer Klärung, Lörrach: MenzlVerlag Meersburg-Riedetsweiler, 1968.
Cliquet, Edgar, Sexo das artes: registro do obsceno, São Paulo: PUC – Comunicação
e Semiótica, 2000.
Caraco, Albert, L’ordre e le sexe, Lausanne: L’age d’homme, 1970.
Costa, Flávio Moreiro da, As 100 melhores histórias eróticas, Rio de Janeiro:
Ediouro, 2003.
Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen – Sexualität und Wahrheit 1, München:
Suhrkamp, 14. Auflage, 2003.
–, Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit 2, München: Suhrkamp,
12. Auflage, 2002.
Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M.: Fischer,
8. unveränderte Auflage, 2003.
–, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a. M.: Fischer, 7. unveränderte
Auflage, 2003.
Giddens, Anthony, A transformação da intimidade, São Paulo: Editora da
Universidade Estadual Paulista, 1993.
Heimann, H., Der Eros bei S. Freud – und seine Bedeutung für die Freudsche
Anthropologie, Tübingen: o.V., 1975.
Jallon, Hugues, D.A.F. Marquis de Sade – Eine Einführung, Düsseldorf: Parerga
Verlag, 1999.
Jurgensen, Manfred, Beschwörung und Erlösung – Zur literarischen Pornographie,
Bern: Peter Lang, 1985.
Lilar, Suzanne, A propos de Satre e de l’amour, o.O.: Gallimard, 1984.
Luhmann, Niklas, Liebe als Passion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982.
Marcuse, Herbert, Eros and Civilization - A philosophical inquiry into Freud, New
York: Vintage, 1962.
Marcuse, Ludwig, Obszön – Geschichte einer Entrüstung, München: Paul List
Verlag, 1962.
May, Rollo, Eros e repressão – Amor e Vontade, Pétropolis: Vozes, 1973.
122
Mayné, Gilles, Pornographie, Violence obscène, Érotisme, Paris: Descartes & Cie,
2001.
Moraes, Eliane Robert, Sade – A felicidade libertina, Rio de Janeiro: Imago Editora,
1994.
Morin, Violette, Majault, Joseph, Erotismo – Um mito moderno, Rio de Janeiro:
Bloch Editôres, 1967.
Ortega y Gasset , José, Über die Liebe, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1984.
Paiva, Andréa Carla Mousinho de, Eros e Thanatos – Nelson Rodrigues e Pedro
Almodóvar, São Paulo: PUC, Tese de mestrado, 2000.
Paz, Octavio, La llama doble: amor y erotismo, México: Editoral Planeta Mexicana,
1995.
Platon, Hauptwerke, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1958.
Platon, „Das Gastmahl“, in: Hauptwerke, 1958, S. 113-142.
Schmid, Wilhelm, Die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2000.
Schubart, Walter, Religion und Eros, München: Beck, 1966.
Streblow, Lothar, Erotik, Sex, Pornographie, München: Kindler, 1968.
Willemsen, Roger (Hg.), Das Tier mit den zwei Rücken – Erotika, Köln: Kiepenheuer
Witsch, 1990.
Erotik in Brasilien
Araújo Caldas, Sônia Regina de, Gabriela, baiana de todas as cores, Salvador:
UFBA, 2003.
Bocayuva, Helena, Erotismo à Brasileira – o excesso sexual na obra de Gilberto
Freyre, Rio de Janeiro: Garamond, 2001.
Branco, Lúcia Castello, O que é erotismo, São Paulo: Editora Brasiliense, o.J.
Chiara, Ana Cristina de Rezende, Leituras Malvadas, Rio de Janeiro: PUC –
Departamento de Letras, Doktorarbeit, 1996.
Crema, Roberto, „O Comportamento Sexual dos Brasileiros“, in: Pesquisa acerco dos
Hábitos e Atitudes Sexuais dos Brasileiros, 1983, S. 141-165.
Durigan, Jesus Antônio, Erotismo e Literatura, São Paulo: Ática, 1985.
Franconi, Radolfo A., Erotismo e Poder na Ficção Brasileira Contemporânea, São
Paulo: Annablume, 1997.
123
Gikovate, Flávio, “Observações Acerca de Uma Pesquisa Sobre o Comportamento
Sexual do Brasileiro” in: Hábitos e Atitudes Sexuais dos Brasileiros, 1983, S. 97-108.
Instituto Paulista de Pesquisas de Mercado, Hábitos e Atitudes Sexuais dos
Brasileiros, São Paulo: Editora Cultrix, 1983.
Lima, Joelma Varão, A mulher na obra de Jorge Amado, São Paulo: PUC,
Magisterarbeit, 1994.
Lapeiz, Sandra Maria, Moraes, Eliane Robert, O que é pornografia, São Paulo: Abril
Cultural: Brasiliense, 1985.
Matego, Guido, Sexo e poder, São Paulo: Editora Brasiliense, o.J.
Parker, Richard G., Bodies, Pleasures and Passions – Sexual Culture in
Contemporary Brazil, Boston: Beacon Press, 1991.
Pilitz, Christopher, Brésil incarné, o.O.: Atlantica, 2000.
Queirós Junior, Teófilo de, Preconceito de cor e a mulata na literatura brasileira,
São Paulo: Ática, 1975.
Rauh, Annette, Mulatas und mulattos als literarische Held/innen – Zum Romanwerk
von Aluísio Azevedo und Jorge Amado, Berlin: Freie Universität Berlin Lateinamerikainstitut, Magisterarbeit, 1997.
Vainfas, Ronaldo, „Moralidades brasílicas: deleites sexuais e linguagem erótica na
sociedade escravista“, in: História da Vida Privada no Brasil, 1997, S. 221 – 273.
Winckler, Roberto Carlos, Pornografia e Sexualidade no Brasil, Porto Alegre:
Mercado Aberto, 1983.
Karnevalisierung
Bachtin, Michail, Literatur und Karneval, München: Carl Hanser Verlag, 1969.
Bruhns, Heloisa Turini, Futebol, Carnaval e Capoeira – Entre as gingas do corpo
brasileiro, Campinas, SP: Papirus, 2000.
Da Matta, Roberto, Carnavais, Malandros e Heróis –Para uma Sociología do Dilema
Brasileiro , Rio de Janeiro: Editora Guanbara Koogan S.A., 1990.
Machado, Irene A., O romance e a voz: a prosaica dialógica de M. Bakhtin, Rio de
Janeiro: Imago Ed., São Paulo: FADESP, 1995.
Queiroz, Maria Isaura Pereira de, Carnaval brasileiro – O vivido e o mito, São Paulo:
Brasiliense, 1992.
Sebe, José Carlos, Carnalval, Carnavais, São Paulo: Ática, 1986.
124
Soihet, Rachel, A subversão pelo riso, Rio de Janeiro: Fundação Getúlio Vargas,
1998.
Brasilianische Geschichte und Identität
Andrade, Oswald de, „Manifesto antropófago“, in: Obras completas, Bd. 6, A utopia
antropofágica, Hg. H. de Campos u.a., São Paulo: Globo, 1990.
Barbosa, Lívia, O jeitinho brasileiro : a arte de ser mais igual que os outros. Rio
de Janeiro: Editora Campus, 1992.
Bosi, Alfredo, Dialética da colonização, São Paulo: Companhia das letras, 1992.
Brookshaw, David, Race and Colour in Brazilian Literature, Metuchen, NJ:
Scarecrow Press, 1995.
Carneiro, J. Fernando, A Antropofagia entre os indígenas do Brasil, Ministério da
Educação e Saúde: 1946.
Fernandes-Dias, José António B., “Reviewing Indigenous Arts“, in: Brazil:Body and
Soul, 2002, S. 66
Freyre, Gilberto, Casa-Grande e Senzala, São Paulo: Record, 2002.
–, Ordem e Progresso, Rio de Janeiro: Livraria José Olympio Editôra, 1962.
–, Sobrados e Mucambos, Rio de Janeiro: Livraria José Olympio Editôra, 1977.
Friedman Maltz, Bina, Antropofagia e Tropicalismo, Porto Alegre: Ed. Universidade
/ UFRGS, 1993.
Galvão, Walnice Nogueira, Saco de Gatos – Ensaios Críticos, São Paulo: Duas
Cidades, 1976.
–, „Amado: Respeitoso, Respeitável.“, in: Saco de Gatos – Ensaios Críticos, 1976,
S.13 - 22.
–, A donzela guerreira, São Paulo: Editora SENAC, 1998.
Holanda, Sérgio Buarque de, Raízes do Brasil, São Paulo: Companhia de Letras, 26.
Auflage, 1995.
Léry, Jean de, Frank Lestringant und Claude Lévi-Strauss, Histoire d’un voyage fait
en la terre di Bresil: 1578, Paris: Libr. Générale Française, 1996.
Matta, Roberto da, O que faz o Brasil, Brasil?, Rio de Janeiro: Salamandra Editora
Cultural, 1984.
125
Novais, Fernando A., História da vida privada no Brasil, 1, São Paulo: Companhia
das letras, 1997.
Ortaz, Renato, Cultura Brasileira e Identidade Nacional, São Paulo: Editora
Brasiliense.
Parker Brienen, Rebecca, „Albert Eckhout and Frans Post: Two Dutch Artists in
Colonial Brazil“, in: Brazil:Body and Soul, 2002, S. 62-74.
Ribeiro, Darcy, O povo brasileiro – A formação e o sentido do Brasil, São Paulo:
Companhia de Letras, 22. Auflage, 1995.
Schwarz, Roberto, O pai de família e outros estudos, Rio de Janeiro: Paz e Terra,
1978.
Seltzer Goldstein, Ilana, O Brasil best seller der Jorge Amado, São Paulo: Editora
Senac, 2003.
Sousa, Gabriel Soares de und Francisco Adolfo de Varnhagen, Tratado descritivo do
Brasil em 1857, São Paulo: Companhia Editora Nacional, 1971.
Sullivan, Edward J., (Hg.), Brazil: Body and Soul, New York: Guggenheim Museum,
2001.
Thevet, André, „Le Bresil et les brésiliens“, in: Les français en Amérique: pendant la
deuxième moitié du XVI siècle, Band 2, Paris: Press. Univ. de France, 1953.
Vespucci, Amerigo, Martin Fernández Navarette und Ana Maria R. de Aznar,
El Nuevo Mundo: viajes y documentos completos, Madrid: Alkal, 1985.
Zweig, Stefan, Brasilien ein Land der Zukunft, Frankfurt am Main: Insel, 1997.
Gender
Beauvoir, Simone de, Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau, Hamburg:
Rowohlt, 1968.
Bulver, Kathryn M., La Femme-démon – Figurations de la femme dans la littérature
fantastique, New York: Peter Lang Publishing, 1995.
Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.
Chaui, Marilena, Repressão Sexual, Editora Brasiliense, 7. Auflage, o.J.
Conboy, Kate, Nadia Medina und Sarah Stanbury, (Hg.), Writing on the body –
Female embodiment and feminist theory, New York: Columbia University Press,
1997.
Dworkin, Andrea, Men possessing women, New York: Perigee Books, 1981.
126
Lederer, Laura, Take back the night – Women on Pornography, New York: William
Morrow and Company Inc., 1980.
Ludewig, Karin, Die Wiederkehr der Lust – Körperpolitik nach Foucault und Butler,
Frankfurt a. M.: Campus, 2002.
Schaeffer-Hegel, Barbara, Säulen des Patriarchats – Zur Kritik patriarchaler
Konzepte von Wissenschaft – Weiblichkeit – Sexualität und Macht, Pfaffenweiler:
Centaurus – Verlags-Gesellschaft, 1996.
Literaturwissenschaft, Soziologie, Nachschlagewerke
Angulo, María-Elena, Magic Realism - Social Context and Discourse, New York /
London: Garland Publishing, Inc., 1995.
Arnold, Heinz Ludwig und Heinrich Detering, (Hg.), Grundzüge der
Literaturwissenschaft, München: Deutscher Taschenbuchverlag, 2. Auflage, 1997.
Bloom, Harold, The Anxiety of Influence – A theory of poetry, New York: Oxford
University Press, 1973.
Brait, Beth, Ironia em perspectiva polifônica, Campinas: Editora da UNICAMP,
1996.
Cziesche, Dominik, Uwe Klussmann und Erich Wiedemann, „Die Geißel der Götter“,
in: Der Spiegel, 36, 2004, S. 94 – 108.
Brockhaus – Die Enzyklopädie: in 24 Bänden, Mannheim: Brockhaus, 20. Auflage,
1998.
Duden, Lexikon der Vornamen, Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A.
Brockhaus AG, 2004.
Dicionário de Morais, in 12 Bänden, o.O.: Editorial Confluência, 1945.
Enciclopédia Brasileira Mérito, in 20 Bänden, São Paulo: Editôra Mérito, 1961.
Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur, Stuttgart: Kröner, 1976.
Hess, Rainer und Gustav Siebemann, Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für
Romanisten, Tübingen: Francke, 3.Auflage, 1989.
Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München:
Wilhelm Fink Verlag, 1976.
Martinez, Matias, „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“, in: Grundzüge der
Literaturwissenschaft, 1997, S, 430-445.
127
Mellor, Alec, La torture. Son histoire - Son abolition - Sa réapparition au XXè siècle,
Paris: Les Horizons Littéraires, 1949.
Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003. © 1993-2002 Microsoft
Corporation.
Ramos, Graça, Ironia à Brasileira- O enunciado irônico em Machado de Assis,
Oswald de Andrade e Mario Quintana, São Paulo: Editora Paulicéia, 1997.
Vogt, Jochen, „Grundlage narrativer Texte“, in: Heinz Ludwig Arnold, Grundzüge der
Literaturwissenschaft, 1997, S. 287-307.
Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1972.