SMS als Kommunikationsform der Vetrtautheit
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SMS als Kommunikationsform der Vetrtautheit
1 Text für: Ulrich Schmitz / Eva-Lia Wyss (Hgg): Briefkultur im 20. Jahrhundert. OBST 64, 2002. Gurly Schmidt / Jannis Androutsopoulos löbbe döch. Beziehungskommunikation mit SMS Abstract Der Beitrag diskutiert den Zusammenhang von SMS und Beziehungsgestaltung am Beispiel der authentischen SMS-Kommunikation einer Kleingruppe nach. Auf ethnografischer und gatungsanalytischer Basis wird gezeigt, wie verschiedene Beziehungsarten innerhalb der Kleingruppe durch eine jeweils spezifische Sprachgestaltung der Kurzmitteilungen konstituiert werden. Linguistische Schwerpunkte sind die Anredengestaltung sowie verschiedene Formen der Sprachvariation, die auf der Basis der Kontextualisierungstheorie als indirekte Mittel der Beziehungsgestaltung beschrieben werden. Einleitung Die interpersonale Kommunikation per SMS (Short Message Service) hat in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts eine erstaunliche Popularität erreicht. In kürzester Zeit entwickelte sich um den neuen Dienst eine besondere Kommunikationskultur, die sich in Sprüchesammlungen, Ratgebern, Wettbewerben usw. manifestiert. SMS ist vor allem unter Jugendlichen die gegenwärtig wichtigste Form schriftlicher interpersonaler Medienkommunikation und hat sich insbesondere als Medium des privaten Kontaktes, der Flirt- und Liebeskommunikation etabliert, worauf auch das Motto dieses Beitrags anspielt – löbbe döch, eine verspielte Verformung von 'liebe dich'. Die Kurzmitteilungen lassen sich zum Teil als die typische Briefform der Jahrhundertwende betrachten, andererseits geht die SMSNutzung weit über die des papiernen Briefs und der Email hinaus, ist viel spontaner, unmittelbarer und kontextgebundener. Erste Schritte einer linguistisch orientierten SMS-Forschung verfolgen Methodenkombinationen wie z.B. eine ethnografische Textanalyse (Androutsopoulos / Schmidt 2002) oder eine Verbindung sprachstruktureller Analyse und Nutzerbefragung (Schlobinski et al. 2001). Dabei lassen sich zwei empirische Schwerpunkte erkennen. Der erste stellt die Einschränkungen des Mediums in den Vordergrund und fragt nach ihren sprachlichen Auswirkungen. Im Fall SMS kristallisieren sich die geringe Zeichenmenge und die verhältnismäßig umständliche Texteingabe als solche Einschränkungen heraus; ihre sprachliche Auswirkung wird im öffentlichen Diskurs ganz allgemein als "Reduktion", "Verkürzung" oder "Verstümmelung" verstanden. Dem entspricht eine Art 2 "Reduktionslinguistik", die syntaktische und lexikalische Verkürzungsmuster in SMS-Nachrichten systematisch beschreibt und mit bekannten Mustern der Textellipse bzw. des Telegrammstils vergleicht. Dabei zeigt sich, dass syntaktische Reduktionen im SMS durchaus "grammatisch" sind, in einer hohen Verdichtung sowie in Verbindung mit Gesprächsellipsen vorkommen (Androutsopoulos / Schmidt 2002). Gleichzeitig sind neuartige Muster lexikalischer Reduktion festzustellen, etwa Abkürzungen und Initialbildungen bei Pronomen und Präpositionen (i für ich, b für bei), deren Reichweite wohl noch recht eingeschränkt ist (Schlobinski et al. 2001, Dürscheid 2002). Der zweite Schwerpunkt betrifft den Zusammenhang zwischen dem Sprachgebrauch und den Nutzungsbedingungen von SMS. Die Relevanz sprachstruktureller Analysen wird nicht bestritten, jedoch in einen größeren Zusammenhang gesetzt. Reduktionsphänomene werden aufgefasst als Teile von Schreibstilen, d.h. sozial und situativ spezifischen Spielarten des Sprachgebrauchs. Nehmen wir als Beispiel die Kurzmitteilungen (a) und (b), die zum gleichen Zeitpunkt entstanden sind und dieselbe Referenz (ein Fussballfinale) haben: (a) WO GUCKT IHR HEUTE DAS FINALE? (b) Finale wo? Ein rein struktureller Ansatz würde Beispiel (a) als syntaktisch vollständig, (b) hingegen als Ellipse bzw. nicht eindeutig rekonstruierbare Nominalkonstruktion klassifizieren. Ein ethnografisch informierter Ansatz zeigt jedoch auf, dass die Reduktion mit der Partnerkonstellation zusammenhängt, also pragmatisch bedingt ist. Beide Kommunikationen spielen sich an demselben Arbeitsplatz ab. Kurzmitteilung (a) richtet sich von einem jüngeren Mitarbeiter an den Chef, (b) stammt von eben diesem Chef und richtet sich an seinen engsten Freund und Mitarbeiter. Der Sender von (a) ist aufgrund des Statusunterschiedes und der geringeren Vertrautheit mit dem Adressaten darauf angewiesen, die vollständige Form zu bewahren. Die Partner von (b) sind hingegen seit Jahren vertraut und können somit ohne Konsequenzen auf einen reduzierten Schreibstil zurückgreifen. Der Reduktionsfall wird also nicht als medial determiniert verstanden, sondern als indexikalisch, d.h. als Verweis auf die spezifische Beziehung der Kommunikationspartner. In diesem Beitrag gehen wir dem Zusammenhang von SMS und Beziehungsgestaltung am Beispiel der authentischen SMS-Kommunikation einer Kleingruppe nach. Auf der Basis einer gattungsanalytischen Beschreibung (Androutsopoulos / Schmidt 2002) wird ein interpretatives und ethnografisches Vorgehen adoptiert. Während die Gattungsanalyse die Gruppe als ein relativ homogenes Ganzes behandelte, werden hier die Kurzmitteilungen desselben Korpus nach einzelnen Paaren aufgeschlüsselt. Unsere Analyse geht von der Tatsache aus, dass innerhalb der Kleingruppe 3 unterschiedliche Beziehungsarten vorhanden sind, und der Frage nach, wie sie sprachlich konstituiert werden. Linguistische Schwerpunkte sind die Anredengestaltung und verschiedene Formen der Sprachvariation, die als (indirekte) Mittel der Beziehungsgestaltung beschrieben werden. Wie im Beispiel löbbe döch, das eine Aussprache mit runden Lippen und einem Hauch kindlicher Zärtlichkeit abbilden soll, wird in den untersuchten Kurzmitteilungen die Schreibweise manipuliert, um Effekte zu erzielen, die im Mündlichen durch die Prosodie erreicht werden. SMS als Kommunikationsform der Vetrtautheit Anders als Schlobinski et al. (2001) begreifen wir SMS nicht als Textsorte, sondern als Kommunikationsform, d.h. eine Konfiguration medialstruktureller Eigenschaften, auf deren Basis in der sozialen Praxis Textsorten realisiert und Gattungen herausgebildet werden.1 Die Kommunikationsform SMS basiert auf dem Mobiltelefon, einem Übertragungsmedium mit geringer Speicherungskapazität, und verarbeitet grundsätzlich nur geschriebene Sprache. Die Kommunikation ist dialogisch und asynchron, die Anzahl der Kommunikationspartner auf 1:1 eingeschränkt.2 Welche Textsorten nun in dieser Kommunikationsform realisiert werden, und ob bestimmte Gebrauchsmuster zu Gattungen stabilisiert werden, ist eine empirische Frage. Döring (im Druck) wertet N=1000 Kurzmitteilungen nach den klassischen, sprechakttheoretisch fundierten Funktionskategorien der Textsortenlehre aus und kommt zum Ergebnis, dass die Kontakt- und Informationsfunktion dominieren. Nachrichten(segmente) mit Kontaktfunktion (54%) sind u.a. Verabredungen, Grüße, Sprüche, Beziehungsklärungen und Ankündigungen eines Medienwechsels, solche mit Informationsfunktion, vor allem "Lageberichte". Die meisten Kurzmitteilungen sind multifunktional, wobei Grüße in der Regel als Begleithandlungen auftreten. Aus der Sicht der Gattungstheorie ist die Herausbildung von SMS-Gattungen derzeit noch im statu nascendi. Androutsopoulos / Schmidt (2002) machen solche Gattungen von der spezifischen sozialen Konstellation abhängig und vertreten die These, dass gattungsähnliche Muster am ehesten im vorherrschenden Nutzungsrahmen der privat-informellen SMS-Kommunikation zu erwarten sind. 1 Zum Begriff der Kommunikationsform vgl. Holly (1996), zu den entsprechenden Kennzeichen von SMS vgl. Androutsopoulos / Schmidt (2002). 2 Damit ist SMS der E-Mail verwandt, mit dem Unterschied, dass letzteres auch eine 1:nKommunikation ermöglicht. Zum Vergleich von SMS und E-Mail vgl. Dürscheid (in Vorbereitung). Von der neueren und weit weniger verbreiteten Nutzungsform des "SMSChat" wird hier abgesehen. 4 Die Einstufung von SMS als Kommunikationsform der Vertrautheit bzw. Intimität wird von mehreren Studien unterstützt. Höflich / Rössler (2001) fragten N=197 Jugendlichen nach ihren bevorzugten Kommunikationspartnern für häufigen SMS-Kontakt. Es zeigt sich, dass 50% der Befragten Kurzmitteilungen mit dem Partner austauschen, 40% und 43% mit dem besten Freund/der besten Freundin, 26% mit anderen Freunden und Bekannten und lediglich 5% mit Eltern und Verwandten. Regelmäßiges "Simsen" ist demnach auf eine Kerngruppe gleichaltriger Adressaten eingeschränkt. Schlobinski et al. (1991) stellten N=150 Jugendlichen die Frage "Mit wieviel Personen schreibst du dir regelmäßig SMS?". Es zeigt sich, dass rund 75% der weiblichen und 60% der männlichen Befragten nur bis zu sechs regelmäßige Kommunikationspartner haben. Döring bringt aktuelle Studienergebnisse folgendermaßen auf den Punkt: "Die standardisierten Nutzen-Studien zeigen übereinstimmend, dass die private KontaktPflege durch Grüße, Glückwünsche und Verabredungen eine besonders wichtige Funktion der SMS-Kommunikation darstellt. Insbesondere Flirt und Liebesgrüße werden in den Umfragen hervorgehoben. [...] Der informelle Austausch mit emotional/expressiv/emphatisch positiver Tönung scheint insgesamt zu dominieren." (Döring im Druck, 7; kursiv im Original) Was Döring als "informelle[n] Austausch mit "expressiv ... positiver Tönung" bezeichnet, kann aus linguistischer Perspektive als konzeptionelle Mündlichkeit angesehen werden. Privatheit, Vertrautheit, Informalität und Dialogizität sind Basiskriterien für kommunikative Nähe im Sinne von Koch / Oesterreicher (1994) und lassen eine Orientierung an Vertextungsstrategien der gesprochenen Sprache erwarten, die durch bisherige Studien bestätigt wird: Konzeptionell mündliche Elemente wie z.B. informelle Grüße und Anreden, Diskurs- und Abtönungspartikeln, expressive Interjektionen und Lautmalereien, umgangsund gruppensprachliche Ausdrücke, Abbildung von Elisionen, Verschleifungen, Lautdehnungen etc. scheinen typische Kennzeichen von Kurzmitteilungen zu sein und machen zusammen mit syntaktischen und lexikalischen Reduktionen das Profil der "SMS-Sprache" aus (Androutsopoulos / Schmidt 2002, Schlobinski et al. 2001). Ganz allgemein betrachten wir SMS als einen Teil des individuellen oder gruppenspezifischen kommunikativen Haushalts, der im Alltagsleben neben direkter Interaktion, Mobil- und Festnetztelefon sowie E-Mail verwendet 5 werden kann.3 Im Rahmen einer (Zweier-)Beziehung kommen den Kurzmitteilungen unterschiedliche Funktionen zu. Die Beziehungseröffnung per SMS könnte z.B. bei anonymen Flirt-Nachrichten der Fall sein, in der hier untersuchten Gruppe ist sie jedoch irrelevant, da alle Partner "vorherige Erfahrung im kommunikativen Austausch" (Adamzik 1994, 364) miteinander haben. Auch der umgekehrte Extremfall der Beziehungsbeendigung ist im hier ausgewerteten Material nicht vorhanden.4 Die Hauptintention der Kurzmitteilungen liegt u.E. darin, bestehende Beziehungen stabil und konfliktfrei fortzuführen, etwa durch Verabredungen und "Lageberichte", wenn die Partner beruflich unterwegs sind. Der Austausch von Kurzmitteilungen in einem bestimmten Rhythmus kann sich zu einem Beziehungsritual entwickeln, dessen Unterbrechung einen Konflikt anzeigen bzw. einleiten kann. Durch SMS können aber auch wesentliche Beziehungsveränderungen vollzogen werden, etwa wenn Streitigkeiten oder Versöhnungen per SMS ausgetragen werden. Hier ein besonders markanter Fall aus unserem Material: Auf einer Geburtstagsfete sitzen sich zwei zerstrittene Freundinnen gegenüber und versuchen eine Annäherung per SMS. Die initiale Nachricht leitet die Versöhnung ein (Wortlaut: ich will dass du glücklich bist!), die reaktive Nachricht nimmt sie an (ich auch). Ob und inwieweit sich die SMS-Nutzung auf die Verwendung anderer (medial grafischer) Kommunikationsformen auswirkt, ist noch unklar. Nach Schlobinski et al. (2001) gaben nur 32% der Befragten an, nun weniger Briefe zu schreiben, bei mehr als 60% ist der Briefgebrauch unverändert geblieben. Allerdings bleibt die soziale Nutzung und funktionale Bandbreite der Kommunikationsform SMS noch wesentlich eingeschränkter als die des klassischen Briefs und neuerdings auch der Email (vgl. Kilian 2001, 63f.), und es ist durchaus denkbar, dass Kurzmitteilungen auch weiterhin für Privat-Vertrautes reserviert bleiben. Außerdem gerät der Vergleich zwischen Brief und SMS schnell an seine Grenzen, da letzteres auch auf neuartige Weisen verwendet wird, etwa zum "Anklopfen", für Momentaufnahmen oder Rezeptionsklatsch (vgl. Androutsopoulos / Schmidt 2002). Das angeführte Beispiel der Versöhnung per SMS zeigt sowohl die Grenzen des Vergleichs zwischen SMS und Brief, als auch die Relevanz einer Betrachtung, die nicht vom einzelnen Medium, sondern vom kommunikativen Haushalt einer Person bzw. Gruppe ausgeht. 3 Das Nutzungsverhältnis zwischen SMS und anderen Medien untersuchen Höflich / Rössler (2001), zum Konzept des kommunikativen Haushalts vgl. Günthner / Knoblauch (1994). 4 Ein gutes Beispiel hierfür wurde Ende 2001 bekannt, als Fotomodell "Nadell" ihre Kurzbeziehung zum Musikproduzenten Ralph Siegel medienwirksam per SMS beendete. 6 Sprache und Beziehung In einem Forschungsüberblick über Beziehungsgestaltung in Dialogen geht Adamzik (1994), Überlegungen Anderer aufgreifend, von einem alltagssprachlichen Konzept von Beziehung aus und definiert Beziehung als gedeutete Menge von Verhaltensweisen (361). Unter Beziehungskompetenz wird die Fähigkeit verstanden, "beobachtetes Verhalten als Beziehung zu deuten, es auf seine Angemessenheit hin zu beurteilen, ferner selbst Beziehungen einzugehen, zu verändern, abzubrechen" (ebd.). Ein Teil dieser Kompetenz ist die sprachliche Beziehungsgestaltung, d.h. das auf die jeweils spezifische Beziehung ausgerichtete Sprachund Gesprächsverhalten. Adamzik betont den "dynamischen Charakter der Beziehungsgestaltung in kommunikativer Interaktion" (363), da sie neben der sozialen Rolle auch von Faktoren wie der individuellen Rollengestaltung, psychischen Einstellungen zum Gegenüber und der aktuellen Tagesform mitbestimmt wird (365). Forschungen über linguistische Aspekte der Beziehungsgestaltung fasst Adamzik (367 ff.) in drei Gruppen zusammen: a) "konventionelle Ausdrucksmittel der Beziehungsdefinition" (367), darunter insbesondere Grußrituale und Anredeformen sowie bestimmte expressive Sprechhandlungen (Danksagungen, Entschuldigungen). Adamzik beschreibt diese Mittel als "Beziehungsrituale", die in paar- und gruppenspezifischen Konventionen verfestigt werden können. b) "Beziehungszentrierte Dialogtypen" (369), d.h. Texte und Gespräche, in denen die Beziehung(sgestaltung) im Vordergrund steht, insbesondere small talk, aber auch Liebeserklärungen, Konfliktgespräche bis hin zu Kontaktanzeigen. c) "Indirekte Formen der Beziehungsgestaltung" (371), die nach Adamzik nicht vollständig aufzulisten sind, denn "es geht hier im Grunde um den Stil der Rede insgesamt" (ebd.). Je nach Partner und Kontext "können potentiell alle möglichen Elemente und Ebenen des sprachlichen Ausdrucks von Relevanz sein" (ebd.). Beispielsweise können Elemente aus Fach- oder Gruppensprachen situationsspezifisch als Mittel der sozialen Annäherung oder Absonderung fungieren. Auf der Ebene der Gesprächsführung sieht Adamzik Phänomene wie Redeanteile, Sprecherwechsel und Themensteuerung als potenzielle indirekte Mittel der Beziehungsgestaltung. Als dritter Bereich nennt sie Sprechakte mit "beziehungsrelevanten Einleitungsbedingungen" (373), d.h. die Tatsache, dass bestimmte Sprechakte eine spezifische Beziehung oder beziehungsrelevante Sachverhalte voraussetzen. Diese drei Kategorien und ihre Untergruppen bieten ein deskriptives Raster, um die Beziehungsgestaltung durch SMS-Mitteilungen zu analysieren. Die Ausgestaltung einer Kurzmitteilung kann Schlüsse über die 7 zugrundeliegende Beziehung bzw. ihren momentanen Zustand zulassen. Umgekehrt können bestimmte Gestaltungsoptionen den Verlauf der Beziehung beeinflussen bzw. die Beziehung neu definieren. Das nachfolgende Vergleichsbeispiel veranschaulicht, wie Unterschiede in der Rahmung und Wortwahl der Nachrichten mit unterschiedlichen Beziehungen einhergehen. (1) "Hey Maus" Tussi HEY MAUS, AM 3.06. IS SCHÜTZENFEST UND SCHLÖSSCHENFEST. ICH VIELLEICHT DA, DU AUCH? Jutta Kann ich noch nicht sagen, viell. Bin in Eile + call you Bussi (2) "Hallo Nadine" Mirko HALLO NADINE, MEIN ANFANG IM GESCHÄFT IST GUT. NUR LEIDER GEHEN WIR GEMEINSAM ZU MITTAG. ABER ICH HOFFE, ES KLAPPT NOCH. GRUSS MIRKO Nadine Hi! Ich glaube diese Woche wird es dann wohl nix mehr. Aber vielleicht ja nächste. Grüßlis Nadine Der Dialog (1) findet zwischen zwei Freundinnen statt, die sich bereits gut kennen und mehrere Nachrichten ausgetauscht haben. Die Partner von (2) sind sich dagegen nicht vertraut, es handelt sich um einen Annäherungsversuch des Senders. Die unterschiedliche Beziehung ist an mehreren Stellen der Dialoge erkennbar: Das Ausmaß an konzeptioneller Mündlichkeit ist höher in (1), die Rahmung formeller in (2). Während Tussi und Jutta mit den Varianten Hey Maus und Bussi auskommen, benutzt Mirko die Optionen Hallo Vorname und Gruß Vorname, Nadine die informelleren Optionen hi und Grüßlis. Interessanterweise ist (1) nur als Ganzes, (2) in jedem Zug gerahmt, was mit der Beobachtung einhergeht, dass Nachrichten unter regelmäßigen Kommunikationspartnern sowie reaktive Schritte eines SMS-Dialogs sehr oft ungerahmt bleiben. SMS-Nutzung in der Kleingruppe Die hier untersuchte Kleingruppe setzt sich aus drei Frauen und zwei Männern in den Endzwanzigern zusammen. Es handelt sich um zwei Paare (Gerda und Roman, Tussi und Assi) und eine gemeinsame Freundin (Sara).5 Die fünf Personen unterhalten enge und mehrfache Beziehungen zueinander. Sie wohnen nah beieinander, verbringen ihre Freizeit 5 Es werden durchgehend Decknamen verwendet. Die Datensammlung wird detailliert in Androutsopoulos / Schmidt 2002 beschrieben. 8 miteinander, drei davon (Assi, Roman und Gerda) arbeiten auch beruflich zusammen, Roman und Gerda wohnen zusammen. Innerhalb dieser vertrauten Sphäre lassen sich zwei Beziehungstypen unterscheiden, nämlich Partner- und freundschaftliche Beziehungen, auf die wir weiter unten genauer eingehen werden. Aufgrund der Datensammlung "von innen" konnte die SMSKommunikation der Gruppe mehr oder weniger vollständig über mehrere Wochen hinweg dokumentiert werden.6 Auf dieser Basis ist es möglich, eine größere Anzahl an Kurzmitteilungen in der Art eines kommunikativen Netzwerks aufzuschlüsseln. Abbildung 1 veranschaulicht die Verteilung von 703 protokollierten Kurzmitteilungen in der Gruppe. Abbildung 1. Verteilung von 703 Kurzmitteilungen in der Kleingruppe 7 Anhand dieses Diagramms lassen sich einige Beobachtungen zur Struktur der gruppeninternen SMS-Kommunikation anstellen. Festzuhalten ist zunächst, dass Frauen weit mehr Nachrichten senden und empfangen als 6 Nicht auszuschließen ist, dass einige weitere Kurzmitteilungen nicht aufgezeichnet wurden, dennoch sind deutliche Tendenzen zu beobachten. Ein Grund für die Spitzenposition Gerdas dürfte mitunter die Tatsache sein, dass sie (in ihrer Doppelrolle als Forscherin und Gruppenmitglied) lückenlos protokolliert hat. 7 Aus den 934 Texten unseres Gesamtkorpus werden hier nur diejenigen behandelt, die von den fünf Mitgliedern der Kerngruppe verschickt werden. Um jeden Sendernamen herum steht die Anzahl der jeweils verschickten Nachrichten, die Pfeile zeigen die Adressaten, die Stärke des Pfeilstrichs zeigt die Anzahl der Nachrichten an (siehe Legende). Die nach außen weisenden Pfeile repräsentieren Nachrichten an Empfänger außerhalb der Kleingruppe, z.B. von Tussi an ihren Bruder Ricky. 9 Männer, und zwar insgesamt 80% des Materials. Gerda führt die Gruppe mit 229 Nachrichten, Sara verschickt 192 und Tussi 142, Roman 84 und Assi nur 56 Kurzmitteilungen. Der Befund stimmt mit Ergebnissen von Höflich / Rössler (2001, Tabelle 1) und Schlobinski et al. (2001, Abb. 18) über geschlechtsspezifische Unterschiede im SMS überein. Weiterhin ist dem Diagramm zu entnehmen, dass alle Beteiligten (bis auf Sara) sowohl Partner- als auch freundschaftliche Dialoge führen, wobei letztere quantitativ überwiegen. Assi und Roman verschicken mehr Kurzmitteilungen an Sara als an ihre Partnerinnen, Gerda und Tussi mehr Mitteilungen aneinander als an ihre Partner. Sara verschickt mehr an die beiden Männer als an die beiden Frauen. Dabei fällt auch die reduzierte Kommunikation der Gegenpaare auf. Innerhalb der freundschaftlichen Beziehungen lassen sich mehrere Untertypen differenzieren: eine Männerfreundschaft (Assi und Roman), zwei Frauenfreundschaften (Tussi, Sara, Gerda), zwei Gegenpaare und die flirtartige Beziehung von Sara zu den beiden Männern. Dass diese Konstellationen auch sprachlich anders ausgestaltet werden, ist zunächst auf thematisch-inhaltlicher Ebene ersichtlich und wird in Protokollnotizen8 so formuliert: – Männer reden über Fußball und Formel 1. – Frauen über Beziehungen und wie gern sie sich haben. – Paare lieben sich oder streiten sich. – Gegenpaare haben sich nicht besonders viel zu sagen. – Weitere Person (Sara) stört und flirtet mit Männern „hintenrum“, versucht gleichzeitig ein enges Verhältnis mit den Frauen zu bekommen. Im weiteren Verlauf möchten wir beziehungsspezifische Unterschiede in der Ausgestaltung der Kurzmitteilungen an einem konkreten Beispiel beleuchten. Dabei werden die oben angeführten Kategorien von Adamzik (1994) und Döring (im Druck) exemplarisch angewandt. Die SMS-Beziehungen von Tussi Mit 142 Kurzmitteilungen belegt Tussi den dritten Rang in der Häufigkeitsliste. Sie verschickt insgesamt 81 Nachrichten an ihre Freundinnen Sara und Gerda, 23 an ihren Partner Assi, sechs an Gerdas Freund Roman und 32 außerhalb der Gruppe, davon acht an ihren Bruder Ricky. In den 37 protokollierten Kurzmitteilungen der Partnerkommunikation zwischen Tussi und Assi ist die Beziehung prominentes Thema. Es gibt 8 Auszug aus Gerdas Protokoll im Rahmen der paarweisen Aufschlüsselung der Daten. 10 verhältnismäßig viel "Liebestalk" (Ausdruck der Beteiligten), d.h. Thematisierung des Begehrens nach dem Partner (Beispiel 3) und Liebesgrüße wie *LIEBE* oder hab dich lieb bis zum mond und zurück oder auch Kissenzimmer an Tigernase: ich liebe Dich! Darüber hinaus gibt es zwischen den beiden einige "Lageberichte" (Tussi ist oft auf Dienstreise), aber kaum Verabredungen. (3) "Achtung" Tussi (an Assi) Achtung ich hab das blaue Wunder9 heimlich programmiert - wundere Dich also nicht, wenn er Dich gleich ganz automatisch zu mir fährt (schon wieder Sehnsucht) Tussis Austausch mit ihren Freundinnen Sara und Gerda ist von einem weiteren Spektrum an Textsorten gekennzeichnet. Auch hier dominieren kontaktive Nachrichten, darunter viele Verabredungen (Beispiele 4 und 5), aber auch einige Liebesgrüße. Interessanterweise sind diese weniger ausgestaltet als die partnerschaftlichen, z.B. ich hab dich schon sehr lieb oder einfach hab dich lieb. Die drei Freundinnen gehen mit der Gestaltung ihrer SMS-Kommunikation ausgesprochen sprachspielerisch um: Sie weisen das größte Repertoire an Anreden auf, verwenden viel „emulierte Prosodie“ (Haase et al. 1997) wie z.B. Huhuuuuuuuuuuuu oder oggee für ‚okay’ sowie spezifische Ausdrücke wie Öl, eine durch die Wörterbuchfunktion des Mobiltelefons veranlasste Variante für okay (vgl. Beispiel 5 und 6). (4) "Wein trinken" Tussi Du, liebe Sara, ich heute Wein trinken tu. Grün??? Sara Na wenns denn schmecken tun tut – ich nehm nur Wick Day Med heute. Bssss! Tussi DICKES BESSERUNGSBUSSI Sara *SCHMATZ* (5) "halbe stunde" Gerda Du wollen dass ich kommen? halbe stunde? Tussi öl! Gerda YEAH! Hab auch noch bissl Rotwein. Beziehungszentrierte Dialoge kommen speziell zwischen Tussi und Gerda vor, die mit 125 Nachrichten die dichteste SMS-Interaktion haben. Im Zeitraum der Erhebung bildet der "Beziehungsstress" zwischen Gerda und Roman einen sich über mehrere Tage erstreckenden thematischen Strang: 9 "Blaues Wunder" ist ein gruppenspezifischer Ausdruck für Tussis blauen Wagen. 11 Gerda teilt einen Streit mit, Tussi fragt am nächsten Morgen nach dem Stand der Dinge nach (Beispiel 6), zwei Tage später teilt Gerda die Verbesserung der Lage mit (Beispiel 7). Im SMS-Austausch von Tussi und Roman taucht dieses Thema überhaupt nicht auf. Ohnehin ist die Kommunikation dieses Gegenpaars von geringer Dichte, ihre wenigen Dialoge betreffen Verabredungen mit anderen Gruppenmitgliedern (Beispiel 8). Allerdings sind diese Mitteilungen nicht formeller als der sonstige Ton der Gruppe, das Gegenpaar-Verhältnis zeigt sich im Fehlen von Interaktion und nicht zwingend in einem distanzierteren Stil.10 (6) "He Du" Tussi Gerda Tussi Gerda He Du, alles wieder öl bei Euch? leider nicht :'( Macht doch kein Scheiss. Kann ich Dir irgendwie helfen? Ich lieg im bett ist schon öl. Roman hat einfach keinen kopf (7) "Alles paletti" Gerda Huhuuuuuuuuuuuu. Alles paletti mit Roman, soweit. Wir haben uns wieder vertragen........ Tausend Küsse von Gerda Tussi YEAH! JUCHUUU! HURRA! WIR FREUN UNS GANZ DOLLE! (8) „Oggee“ ('okay') Roman Assi besuchen gehen? Tussi Oggee :-) Insgesamt ist festzustellen, dass sich die einzelnen Beziehungstypen in der kommunikativen Dichte einerseits, der Wahl und Ausgestaltung von Textsorten andererseits unterscheiden. Weitere Unterschiede betreffen das Anredeverhalten, das wir nun kurz besprechen werden. Hei rote Schwester: Die dynamische Anrede Anredeformen11 sind wichtige "konventionelle Ausdrucksmittel der Beziehungsdefinition" (Adamzik 1994, 367). Wyss (2000) beschreibt die Anrede als Ort der "Codierung von Intimität": Innerhalb einzelner (Liebes-) 10 Einen ganz anderen Ton schlägt wiederum die Kommunikation zwischen Tussi und Ricky, ihrem älteren, ca. 600 km entfernt lebenden Bruder an. Ihre vier protokollierten Dialoge bestehen aus auffallend langen Sequenzen, die z.T. mit einem Medienwechsel enden, vgl. Beispiel (9). 11 Darunter sind Kombinationen aus Grußwort, Anredenominal und manchmal auch weiteren Elementen zu verstehen, vgl. Wyss (2000) mit weiteren Hinweisen. 12 Beziehungen wird die Anrede reichhaltig ausgestaltet, diachronisch betrachtet spiegelt die Anredewahl in Liebesbriefen sozialen Wandel wider. An einem Email-Korpus zeigt Wyss auf, wie sich das Anredeverhalten eines Liebespaares zusammen mit dem Fortschritt der Beziehung von einem neutralen hin zum intim-verspielten Stil verändert. Auch in den Daten der Kleingruppe ist festzustellen, dass das Anredeverhalten paarspezifisch differenziert und hoch variabel ist. Ganz allgemein ist die in mehreren Paaren vorkommende Kombination [Hallo/Hi/Hey + Vorname] als unmarkiertes Anredemuster festzustellen, allerdings dominieren im Material okkasionelle Anreden. Am reichhaltigsten ist das Anredeverhalten der drei Freundinnen. Tussi z.B. adressiert Sara und Gerda mit einfachen Grußwörtern (huhu!, Hallöle, MOGGÄÄHN), Grußwort-Du-Kombinationen (Hey du, He Du, Hi Du!) oder Syntagmen aus Grußwort / lieb- + Nominal (Hey Sara, Du liebe Sara, Liebstes Saralein, Liebes Gerdalein, Hallo krankes Lazarussilein). Eine Kosenamen-Anrede (Hey Schnukiputzi) behält sie jedoch ihrem Partner vor. Die auffallendsten Kennzeichen der Anrede in den Daten sind ihre Abwesenheit einerseits, ihre okkasionelle, kontextspezifische Ausgestaltung andererseits. In der Gesamtheit betrachtet enthält das Korpus nur 26 initiale Anreden in einer Summe von 703 Nachrichten. Der Anteil steigt zwar erheblich, wenn nur dialogeröffnende Nachrichten ausgewertet werden; doch auch nach Paaren aufgeschlüsselt ist ein hoher Anredenanteil nur unter den Freundinnen anzutreffen, die beiden Männer unter sich und im Austausch mit Sara sowie die beiden Gegenpaare gehen mit der Anrede sehr sparsam um. Freilich ist es nach der bisherigen Diskussion wenig plausibel, das Fehlen der Anrede als Ausprägung kommunikativer Distanz zu interpretieren. Auch die Aspekte der Sprachökonomie bzw. des Textsortenwissens sind zwar relevant, jedoch u.E. nicht die ganze Erklärung der abwesenden Anrede.12 Unsere Vermutung ist in der Literatur kaum zu finden, aber der Alltagserfahrung mit elektronischen Medien durchaus vertraut: Das Fehlen der Anrede in schriftlicher interpersonaler Kommunikation kann ein Marker dichter Kommunikation sein.13 Eine privat-vertraute Beziehung, in der mehrmals wöchentlich oder sogar täglich kommuniziert wird, muss nicht ständig per Anrede definiert werden. Das Fehlen der Anrede lässt die einzelnen Dialoge als Glieder einer längeren ununterbrochenen Kette erscheinen. 12 Dürscheid (im Druck) stellt in ihren Daten 31 aus 45 Kurzmitteilungen ohne Begrüßungs- und Verabschiedungsformel fest und sieht dies nicht als Resultat sprachlicher Ökonomie, sondern als Anlehnung an die (ebenfalls oft anredelose) Gattung des privaten Notizzettels an. Schlobinski et al. (2001, 22) führen die syntaktische Gestaltung von SMSNachrichten zum einen auf vorhandenes Wissen über den Telegramm-Stil, zum anderen auf allgermeine Ökonomieprinzipien zurück. 13 Wyss (2000, 196) beschreibt das Weglassen der Anrede zugunsten kolloquialer Grußwörter als geschichtliche Entwicklung ab den 70-er Jahren, hier geht es uns vielmehr um den kompletten Wegfall von Eröffnungsmitteln unter synchroner Perspektive. 13 In ihren relativ wenigen Vorkommen in den Kurzmitteilungen der Gruppe ist die Anrede variabel und kontextspezifisch. Die Beteiligten verändern ihre Anredeformen gemäß dem Interaktionsthema bzw. dem Stand der Beziehung, ähnlich wie es Wyss (2000, 198, 202) für okkasionelle Kosenamen beschreibt. Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist Beispiel (9), bei dem die unmarkierte Form Schwester okkasionell zu rote Schwester expandiert wird. Dadurch setzt Ricky das Haarefärben seiner Schwester als Anlass des Dialogs relevant. Tussi geht in ihrer Reaktion nicht auf das Thema ein, doch Ricky spricht es explizit im dritten Zug an, woraufhin Tussis Haarfarbe in den nächsten zwei Zügen thematisiert wird. (9) "Rote Schwester" Ricky HEI ROTE SCHWESTER, SCHLÄFST DU SCHON? Tussi NE, SITZ AUF MEINER PLASTIK-BANK MIT MEINEN 2 BODYGUARDS14, TRINKE ROTWEIN. UND DU? Ricky WIRKLICH ROT? Tussi JA, ABER NICH CONNY-ROT, SONDERN SO KNALL HIMBEER ROT. KRIEG NUR KOMPLIMENTE. (wird fortgesetzt) Freilich fällt die kontextspezifische Anredegestaltung nicht immer spielerisch-expressiv aus. Der locker-vertraute Ton der gruppeninternen Anrede kann je nach Beziehungsstand rückgängig gemacht bzw. durch formellere Varianten ersetzt werden. So taucht Gerdas Anrede Lieber Roman nur in einer kritischen Phase des Beziehungsstreits auf trägt in ihrer Förmlichkeit dazu bei, die Kurzmitteilung als Teil des Streits zu kontextualisieren. Variation im Anredeverhalten ist also eine Möglichkeit der dynamischen Beziehungsgestaltung in der SMS-Interaktion. Abschließend soll nun gezeigt werden, wie weitere Formen sprachlicher Variation zur Beziehungsgestaltung herangezogen werden. Sprachvariation und Kontextualisierung Die Kontextualisierungstheorie geht davon aus, dass Interaktionspartner aktiv auf den Kontext einwirken, ihn gemeinschaftlich aufbauen und im Laufe der Interaktion verändern. 15 Kontextualisierungshinweise sind Mittel, die Kontexte konstituieren oder markieren, indem sie Kontraste zum vorher Gesagten herstellen. Die Interagierenden sind durch ihr gemeinsam geteiltes 14 "Bodyguards" sind die zwei Dackel von Tussi. Vgl. Beiträge in Auer / di Luzio (1992), eine gute Kurzeinführung bietet Augenstein (1998, 118-125). 15 14 soziokulturelles Wissen in der Lage, solche Hinweise zu erkennen und als Grundlage zur Interpretation aktueller Äußerungen heranzuziehen. Das Gros der Literatur diskutiert Kontextualisierung in direkter Kommunikation, der linguistische Schwerpunkt liegt insbesondere auf der Prosodie sowie auf Sprach- bzw. Varietätenwechsel (vgl. Auer / di Luzio 1992). Im Fall SMS haben wir es hingegen mit medial schriftlicher Kommunikation zu tun, die zur Konstruktion von Kontextualisierungshinweisen mit der Schreibweise arbeitet, etwa um spezifische Varietäten (z.B. Dialekt) und Modalitäten (z.B. aufgeregtes Sprechen) zu realisieren. Unser Blick auf die mikrostrukturelle Ausgestaltung von SMS-Nachrichten unterscheidet zwischen zentralen und peripheren Ressourcen. Leittendenzen im untersuchten Material sind die syntaktische und lexikalische Reduktion einerseits, die konzeptionelle Mündlichkeit andererseits. Beide Phänomenebündel sind an anderer Stelle beschrieben (Androutsopoulos / Schmidt 2002; Schlobinski et al. 2001), daher soll an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass sie sehr häufig vorkommen und von den Beteiligten als "normal", erwartbar betrachtet werden. Im folgenden interessieren die peripheren Ressourcen, die sich grob wie folgt zusammenfassen lassen: – Dialektelemente, und zwar feste Formeln (guts nächtle) wie frei formulierte Äußerungen (z.B. I MELD MI DANN WENN MEI HALS WIEDER ZSAMMEGEFLICKT ISCH!);16 – "Kindersprache", und zwar Repräsentationen phonologischer Vereinfachungen (bisu, hasu, söön, snell, sicken), grammatische Fehler und einzelne Ausdrücke, die von den Beteiligten als "kindliches Sprechen" wahrgenommen werden; – "Gebrochenes Deutsch", und zwar einzelne Äußerungen mit stereotypischen Wortstellungsmustern (z.B. DU GEHEN DISCO?, vgl. auch Beispiel 5); – Sprachverformungen, u.a. Wortneuschöpfungen "ungrammatische" Konstruktionen; – Medienreferenzen, die Nachrichtenteile oder ganzheitliche Nachrichten bilden, z.B. frei nach Janosch: Ich hab dich lieb, sagte der kleine Bär zum kleinen Tiger :) und (absichtlich) Diese Mittel sind zum einen weit weniger häufig als syntaktische Reduktionen, lexikalische Abkürzungen und konzeptionelle Mündlichkeit; im Gesamtkorpus von 934 Nachrichten belegen wir zwischen zehn bis 25 16 Freilich ist die Grenze zwischen „konzeptioneller Mündlichkeit“ und "Dialektelementen" fließend, relational und aus der Perspektive der Beteiligten zu ziehen: Was genau als „dialektal markiert“ gelten soll, hängt nicht nur von den strukturellen (graphematischen) Erscheinungsformen, sondern auch von idiolektalen bzw. gruppenspezifischen Normen ab und ist daher nur im Einzelfall zu bestimmen. 15 Vorkommen für jede Kategorie. Zum anderen haben sie eine jeweils spezielle Pragmatik, ihr Auftreten "hat etwas zu sagen", fällt mit spezifischen Handlungen zusammen und wird von den Beteiligten interpretiert. An zwei Beispielen möchten wir nun abschließend zeigen, wie in der SMSKommunikation der Kleingruppe Kontextualisierungshinweise aufgebaut werden, welche Kontraste sie erzeugen und welche Interpretationen sie nahe legen. Das erste Beispiel (10) zeigt, wie der Abschluss der Erhebungsaktion kontextualisiert wird. Die Äußerung Wia broddogolian nichmeh!!! ("Wir protokollieren nicht mehr") zirkulierte zunächst unter den Mitgliedern, wurde dann an die Forscherin verschickt und setzte der Datenerhebung ein Ende. (10) "Wia 23:19 23:20 23:21 23:29 23:29 broddogolian Assi Sara Assi Sara Assi Sara Assi Sara Roman Sara nichmeh!!!" ICH BIN ERSCHÜTTERT! *GG* ... UND FURCHTBAR BESOFFEN! *HICKS* Wia broddogolian nichmeh!!! Wia broddogolian nichmeh!!! Relational betrachtet hebt sich diese Äußerung vom lokalen Kontext wie von der individuellen Norm ihres Urhebers deutlich ab. Wichtigstes Merkmal ist der Austausch stimmloser durch stimmhafte Laute (Plosive, Velar) in protokol > broddogol, das Ergebnis kann als „Schwäbisch“ gelesen werden. Die Formen Wia und -ian sowie nich reflektieren phonetische Phänomene die bundesweit umgangssprachlich vorkommen (rVokalisierung, Assimilation und Tilgung im Auslaut) und -meh mutet fast schon kindersprachlich an. Für die Beteiligten ist die Äußerung durch ihre mehrfachen Markierungen unschwer als bewusste Verfemdung zu erkennen. Assi konstruiert also eine stilisierte Stimme für diese spezifische Handlung, und es fragt sich natürlich warum.17 Assi, so könnte man vermuten, spricht hier "aus dem Bauch"; der Wunsch, mit dem lästigen Protokollieren der Nachrichten aufzuhören, bricht aus ihm heraus; sein betrunkener Zustand, der in der vorangehenden Nachricht standardsprachlich angekündigt wurde, legt nun eine „derbe“ oder „breite“ Aussprache nahe; die Dialektanspielungen konstruieren einen Code des "einfachen Mannes", der dem standardsprachlichen Code der Forscherin entgegensteht. In jedem Fall wird eine überspitzte Verfremdung bewusst eingesetzt, um den Entschluss, der Erhebung ein entschlossenes Ende zu setzen, als unwiderruflich zu präsentieren. (11) "HABBICHBÖSEGEWESEN?" 17 Statt eine einzige Interpretation zu vertreten ist es u.E. interessanter, ein Inferenzspektrum nachzuzeichnen. Hier sind wir studentischen DiskussionspartnerInnen am Deutschen Seminar der Universität Zürich zu Dank verpflichtet. 16 Sara Assi Sara Assi Sara Assi Sara KUHHORNSOSCHÖNWARUMIHRNICHHIER? HABBICHBÖSEGEWESEN? ICH HAB EIN PROBLEM DAMIT, VON DIR DOOF ANGEMACHT ZU WERDEN UND DESWEGEN ISSES IN SO NER SITUATION BESSER WENN ICH LAND GEWINNE! WANN HAB ICH DICH DENN DOOF ANGEMACHT??? TREPPE, NACH DEM RENNEN OB ES SICH HIER WOHL UM EIN MISSVERSTÄNDNIS HANDELN KÖNNTE? BIN WIRKLICH TOTAL AHNUNGSLOS - BITTEBITTE GLAUB MIR DAS. KLAR GLAUB ICH DIR DAS. LASSEN WIR DAS DOCH :o) UFF :o)) Beispiel (11) zeigt einen Zusammenspiel zwischen "Kindersprache" und der Verarbeitung eines Missverständnisses auf. Sara, die zur Versöhnung finden will, beginnt ihre Kommunikation mit einer Äußerung, die für die Beteiligten als "Kindersprache" erkennbar ist: Im ersten Satz ist eine Kopulatilgung, im zweiten Satz ein falsches Hilfsverb festzustellen, weitere Kennzeichen der Mitteilung sind der Binnenreim im ersten Satz ("ihrnichhier") und die Schreibung ohne Spatium. All das wirkt zusammen als Simulation einer schnellen, kindlichen Sprechweise. Auch hier sieht man den Kontrast: Dies ist nicht der normale Code der Teilnehmerin, sondern eine Ausnahme, die konventionelle Assoziationen von Kindlichkeit strategisch ausnutzt: Indem Sara eine kindliche Stimme wählt, gibt sie zu verstehen, dass sie Assi gegenüber keine bösen Absichten hatte – einem Kind kann man ja nicht böse sein. Interessant ist die Fortsetzung der Interaktion: Assi teilt Saras Codewahl nicht, sondern reagiert im unmarkierten kolloquial-mündlichen Stil, dem sich auch Sara in ihrem zweiten Zug anschließt. Nach Assis Auskunft (Treppe, nach dem Rennen) wechselt sie in ein auffallend formelles, für Gruppeninteraktionen untypisches Register (ob-Frage, Modalisierung), das als Signal von Ernsthaftigkeit interpretierbar ist. Das letzte Nachrichtenpaar, das die Versöhnung explizit bestätigt, ist wiederum vom gemeinsamen Einsatz von Smileys gekennzeichnet. Man sieht also, wie die einzelnen Schritte des Versöhnungsgesprächs durch markant andere Variationsmuster gestaltet werden. Ausblick Realisierungen wie JUCHUUU! (Beispiel 7) oggee (8), broddogolian (10) oder habbichbösegewesen (11) haben interessante Implikationen für den Stellenwert von Graphie und Orthographie in der gegenwärtigen interpersonalen Medienkommunikation. Selbst wenn es sich bei der 17 untersuchten Kleingruppe um besonders kreative und versierte „Sprachfreaks“ handeln mag (so zumindest Döring 2002), sind Abweichungen von Normen geschriebener Sprache keinesfalls auf die Kurzmitteilungen dieser Kleingruppe eingeschränkt. Vielmehr haben wir es mit einer allgemeineren Tendenz zu tun, die Rechtschreibregeln in gattungsspezifischen Rahmen pragmatisch überwindet. Formen wie löbbe döch sind keine "Fehler", denn sie entstehen nicht aus Unkenntnis der richtigen Formen, im Gegenteil: Sie werden bewusst eingesetzt, um deren expressiven Grenzen zu überwinden. Auch nach Kilian "sind die Lautschreibungen in der computervermittelten Kommunikation nur zu einem geringen Teil Resultat der fehlenden Konventionen, zum größeren Teil hingegen Sprachspielereien, die ihren frechen Witz gerade aus dem Vergleich mit dem orthografischen Normgefüge ziehen" (2001, 75). Daher ist eine Sichtweise, die den Umgang mit Schreibung auf Rechtschreibung reduziert, auf der ganzen Linie unzureichend, um Variationsphänomene und ihre pragmatischen Motivationen im privaten Schreiben zu erfassen. Ein ethnografisch gestütztes Vorgehen allerdings ist in der Lage, solche "exotisch" anmutenden Formen als situativ motiviert zu betrachten, interpretativ zu kontextualisieren und in Verhältnis zu den zugrunde liegenden Beziehungsstrukturen zu setzen. Viele der in unserem SMS-Korpus festgestellten graphematischen Verfahren sind auch in traditionellen Formen privater und gruppenöffentlicher Schriftlichkeit vorhanden (Androutsopoulos 2000, Kilian 2001). Insbesondere Briefkommunikation war immer ein Ort für Überwindungen der normierten distanzsprachlichen Schriftlichkeit (Hess-Lüttich 1998, Kilian 2001). Bekannte Techniken des informellen Schreibens finden in den Neuen Medien neue Anwendungsfelder (Kilian 2001, 65) und können dort schnell zu neuen gattungsspezifischen Normen verfestigt werden. Was Haase et al. (1997) als "emulierte Prosodie" bezeichnet haben, ist nun längst in mehreren Bereichen informeller Schriftlichkeit geläufig und stellt in einzelnen Gruppen wie der hier untersuchten ein rekurrentes Mittel der Beziehungsgestaltung dar. Literatur Adamzik, Kirsten (1994): Beziehungsgestaltung in Dialogen. In: Fritz, Gerd / Franz Hundsnurscher (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen: Niemeyer, S. 357-374. Androutsopoulos, Jannis (2000): “Non-standard spellings in media texts: the case of German fanzines”, In: Journal of Sociolinguistics, 4:4, S. 514-533. 18 Androutsopoulos Jannis / Gurly Schmidt (2002): SMS-Kommunikation: Ethnografische Gattungsanalyse am Beispiel einer Kleingruppe. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik , 36 (im Druck). Auer, Peter / Aldo di Luzio (Hgg. 1992): The contextualization of language. Amsterdam: Benjamins. Augenstein, Susanne (1998): Funktionen von Jugendsprache. Tübingen: Niemeyer. Döring, Nicola (im Druck): 1x Brot, Wurst, 5Sack Äpfel I.L.D. – Kommunikative Funktionen von Kurzmitteilungen (SMS). In: Zeitschrift für Medienpsychologie, 3/2002. Dürscheid, Christa (in Vorbereitung): E-Mail und SMS – ein Vergleich. In: Dürscheid, Christa / Arne Ziegler (Hg.): Kommunikationsform E-Mail. Tübingen: Stauffenburg. Günthner, Susanne / Hubert Knoblauch (1994): Forms are the Food of Faith. Gattungen als Muster kommunikativen Handelns. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 4, S. 693-723. Haase, Martin / Huber, Michael / Krumeich, Alexander / Rehm, Georg (1997): Internetkommunikation und Sprachwandel. In: Weingarten, Rüdiger (Hg.): Sprachwandel durch Computer. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 51-85. Hess-Lüttich, Ernest W.B. (1999): „E-Epistolographie: Briefkultur im Medienwandel“. In: Hepp, Andreas / Rainer Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, 2. Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 273-294. Höflich Joachim R. / Patrick Rössler (2001): Mobile schriftliche Kommunikation – oder: E-Mail für das Handy. Die Bedeutung elektronischer Kurznachrichten (Short Message Service) am Beispiel jugendlicher Handynutzer. MS (Stand: 1. August 2001), Universität Erfurt. Holly, Werner (1997): Zur Rolle von Sprache in Medien. Semiotische und kommunikationsstrukturelle Grundlagen. In: Muttersprache 107 (1/97), S. 64-75. Kilian, Jörg (2001): Geschriebene Umgangssprache in computervermittelter Kommunikation. Historisch-kritische Ergänzungen zu einem neuen Feld der linguistischen Forschung. In: Beißwenger, Michael (Hg.) ChatKommunikation. Stuttgart: Ibidem, S. 55-78. Koch, Peter / Wulf Oesterreicher (1994): Schriftlichkeit und Sprache. In: Günther, Helmut / Otto Ludwig (Hg.) Schrift und Schriftlichkeit, Vol. 1, Berlin and New York: de Gruyter, S. 587-604. 19 Schlobinski, Peter et al. (2001): Simsen. Eine Pilotstudie zu sprachlichen und kommunikativen Aspekten in der SMS-Kommunikation. Networx 22. Online-Publikation, Universität Hannover. <http://www.websprache.net/ networx/docs/networx-22.pdf> Wyss, Eva Lia (2000): Intimität und Geschlecht. Zur Syntax und Pragmatik der Anrede im Liebesbrief des 20. Jahrhunderts, in: Elmiger, D. / Eva Lia Wyss (Hg.), Sprachliche Gleichstellung von Frau und Mann in der Schweiz. Ein Überblick und neue Perspektiven. Neuenburg (= Bulletin VALS/ASLA 72), S. 187-210.