Besprechungen Heft 5/Winter 2014/2015
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Besprechungen Heft 5/Winter 2014/2015
Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien Wien Heft 5 Winter 2014/2015 Coole Geschichten aus dem hohen Norden Finnland zu Gast bei der Frankfurter Buchmesse 2014 Liebe Leserinnen und Leser, intensiv wie selten zuvor werden derzeit die gesellschaftliche Bedeutung und die Aufgaben der öffentlichen Bibliotheken und Büchereien diskutiert. Die Suche nach einem zeitgemäßen Berufsbild beschäftigt Bibliothekarinnen und Bibliothekare praktisch über den ganzen Globus. Als Gründe für eine von vielen als notwendig angesehene Neuorientierung der Bibliotheken werden markante Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur ebenso angeführt wie gravierende Änderungen im Leseverhalten vor allem junger Menschen und die immer stärkere Verbreitung elektronischer Medien. Die in vieler Hinsicht vorbildlichen skandinavischen Bibliotheken betonen in dieser Situation durch eine Ausweitung der vor Ort verfügbaren Angebote die Rolle der Bibliotheken als Treffpunkt und Kommunikationszentrum. Finnland, dem ein Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe der Besprechungen gewidmet ist, nimmt dabei wie so oft im Bildungsbereich eine besondere Stellung ein. Die Büchereien Wien beschäftigen sich ebenfalls seit mehr als einem Jahr in einem breit angelegten Organisationsentwicklungsprozess offensiv mit allen diesen geänderten Umwelten und generell der Rolle der Büchereien Wien und ihrer Aufgabe in der Stadt. Keinesfalls ändern wird sich jedenfalls, dass wir weiterhin für Sie die besten Bücher, Musik CDs, DVD s, Konsolenspiele etc. auswählen und bereitstellen. Markus Feigl Bibliothekarischer Leiter der Büchereien Wien Der Finnland. Cool. Pavillon © FILI / Katja Maria Nyman Finnland. Cool. – so lautete der Titel des diesjährigen Gastlandauftritts in Frankfurt, der nach nur drei Jahren wieder ein nordisches Land zur weltweit wichtigsten Buchmesse bringt. Und das aus gutem Grund, denn genau wie in Island gibt es auch in Finnland eine spannende und lebendige Literaturszene, die hierzulande größtenteils unbekannt ist. Zwar sind einige große Namen der finnischen Literatur – Sofi Oksanen, Leena Lehtolainen, Taavi Soininvaara oder Arto Paasilinna – dem mitteleuropäischen Lesepublikum durchaus geläufig, darüber hinaus gibt es aber noch sehr viel Interessantes zu entdecken. Gelegenheit dazu gibt es zurzeit genug: Anlässlich der Frankfurter Buchmesse wurden rund 130 finnische Titel ins Deutsche übersetzt. Eine literarische Fundgrube. Finnland und Island haben noch mehr gemeinsam als die Lage im hohen Norden am Rande Europas. In beiden Ländern gibt es eine besondere Beziehung zum Geschichten erzählen und es wird überdurchschnittlich viel gelesen und geschrieben. Das zeigt sich schon an der Buchproduktion: Allein in Finnland erscheinen jährlich mehr als 13.000 Bücher, davon etwa 4.000 Neuerscheinungen. Damit gehören die Finnen zur Weltspitze – sie werden nur von den Isländern getoppt, die im Verhältnis zur Einwohnerzahl noch mehr Bücher veröffentlichen. Kalevala nacherzählt von Tilman Spreckelen Berlin: Galiani 2014. 193 S. Die Literatur hat in Finnland einen besonderen Stellenwert und ist selbstverständlicher Teil der Alltagskultur. Geschrieben wird in drei Sprachen – Finnisch, Schwedisch und Samisch – und Bücher genießen hohes Ansehen, ebenso Schriftsteller, die mitunter so prominent sind, dass sie nicht selten in den Klatschspalten der Boulevardpresse auftauchen. Auch das Lesen ist in Finnland ziemlich angesagt, was nicht zuletzt einem umfassenden und kostenlosen öffentlichen Bibliotheksnetz zu verdanken ist. Bibliotheken haben in Finnland eine lange Tradition, und der freie Zugang zu Informationen ist ein wichtiges Gleichberechtigungsprinzip der finnischen Kulturpolitik. Die Zahlen sprechen für sich: 80 % der Finnen nutzen Bibliotheksservices, 40 Prozent haben einen Bibliotheksausweis (im Vergleich dazu sind es in Österreich gerade mal 10 Prozent) 1 und die durchschnittliche Anzahl der Ausleihen pro Einwohner liegt bei gut 13 Titeln pro Jahr (in Österreich sind es knapp zwei Titel).2 So eine Leseförderung hinterlässt naturgemäß Spuren: Nicht umsonst erzielen finnische Schüler bei den PISA-Tests regelmäßig Höchstwerte. Auch für die Schriftsteller ist das Bibliothekswesen nicht unwesentlich, denn die Bibliotheksstipendien sind für viele eine wichtige Einnahmequelle. 3 Wirklich alt ist die finnische Literatur hingegen nicht. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Finnland, das jahrhundertelang politisch zu Schweden gehörte und von 1809 bis 1917 ein Teil von Russland war, eine eigenständige Literatur in finnischer Sprache. Davor wurde vorwiegend auf Schwedisch geschrieben und publiziert, der Sprache des Bildungsbürgertums. Die Spätromantik und die Abkoppelung von Schweden brachten neue Ideen und Impulse: plötzlich suchte man nach einer eigenen, nach einer finnischen Identität. Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatte ein junger finnischer Gelehrter namens Elias Lönnrot, der sich im Jahre 1828 auf den Weg machte, um in abgeschiedenen Gegenden Kareliens nach alten Liedern zu suchen. Dieses Liedgut wurde von KanteleSängern, einer Art Mischung aus Dorfweisen und Schamanen, mündlich überliefert und von Generation zu Generation weitergegeben. Für Lönnrot blieb es nicht bei dieser einen Reise; insgesamt unternahm er in mehreren Jahren elf Reisen, meist zu Fuß, zu Wasser oder sogar mit Skiern, um auch in die entlegensten Wald- und Seengebiete vorzudringen. Dabei legte er mehr als 20.000 Kilometer zurück und konnte etwa 65.000 Verse sammeln. Schon bald gelangte Lönnrot zu der Ansicht, dass die uralten Lieder miteinander verbunden und Teil einer großen Geschichte seien. Er begann, sie zu einer umfangreichen Verserzählung zusammenzufassen, die er Kalevala nannte. Das Epos berichtet von der Entstehung der Welt und vom ewigen Kampf Gut gegen Böse. Der größte Held der Geschichte ist der wackere alte Väinämöinen, ein mächtiger Zauberer, begnadeter Sänger und Erfinder der Kantele, der finnischen Zither mit fünf Saiten. Ihm zur Seite steht Schmied Ilmarinen, der die schönste Frau des Nordens begehrt und dafür den geheimnisumwobenen Sampo schmieden muss. Der Sampo ist ein nicht näher definierter magischer Gegenstand, eine Zaubermühle und eine Art heiliger Gral, der den Menschen Gutes und Wohlstand bringen soll. Allerdings wird er von Louhi, der bösen Hexe und Herrscherin des Nordlandes, aus Raffgier in einen Felsen gesperrt. Später machen sich Väinämöinen und Ilmarinen auf den Weg, um den Sampo zu rauben. Unterstützt werden sie dabei vom feschen Lemminkäinen, dem finnischen Casanova, vor dem keine Jungfrau sicher ist ... Die Kalevala gilt heute als finnisches Nationalepos und gleichzeitig als Grundstein der finnische Literatur. Elias Lönnrot war aber auch maßgeblich daran beteiligt, dass sich das Finnische, das bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast nur im Alltag der bäuerlichen Bevölkerung verwendet wurde, zu einer Kultursprache entwickeln konnte. Darüber hinaus hatten die mythologischen Helden der Geschichte auch identitätsstiftende Funktionen und übten einen großen Einfluss auf andere Künstler aus, wie zum Beispiel auf den Komponisten Jean Sibelius und insbesondere auf J. R. R. Tolkien, der sich reichlich am Sagenschatz der Kalevala bediente. Väinämöinen könnte nicht nur als Vorbild von Gandalf durchgehen, im Herrn der Ringe stößt man zuhauf auf Motive aus der Kalevala. 4 Besprechungen Winter 2014/15 Das Epos erschien in unterschiedlichen Versionen zwischen 1835 und 1849. Aus diesem Jahr datiert auch die Standardfassung mit 50 Gesängen und 22.795 Versen, die in 51 Sprachen übersetzt wurde. Die aktuellste deutsche Übersetzung stammt von Gisbert Jänicke und ist 2004 beim österreichischen Verlag Jung und Jung erschienen. Wer sich mit den Versen nicht unbedingt anfreunden möchte, kann unbesorgt die brandneue Prosaausgabe von Tilman Spreckelsen zur Hand nehmen. Der bibliophile Band ist bei Galiani in Berlin erschienen und wurde mit prächtigen Illustrationen von Kat Menschik versehen. Und falls jemand gar nicht lesen möchte, dann gibt es auch noch eine fulminante und höchst empfehlenswerte Hörbuchfassung, gelesen vom ehemaligen Burgschauspieler Markus Hering. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert erscheinen zahlreiche Romane auf der finnischen Bildfläche. Einer der berühmtesten aus dieser Zeit ist bis heute ein Klassiker: Sieben Brüder von Aleksis Kivi. Das 1870 veröffentlichte Buch gilt als der erste Roman in finnischer Sprache und wurde bis heute in über 30 Sprachen übersetzt. Pünktlich zur Buchmesse ist bei Jung und Jung eine neue Übersetzung erschienenen, ebenfalls von Gisbert Jänicke. Der humoristische Roman erzählt aus dem Leben von sieben Brüdern, allesamt kräftige und widerborstige Kerle, die eines Tages beschließen, den elterlichen Bauernhof und die Dorfgemeinschaft zu verlassen, um in die Wildnis zu gehen und in den Wäldern ein freies Leben wie die «Wolfswelpen» zu führen, ganz im Geiste von Rousseau. Sie erleben und überstehen zahlreiche Abenteuer und Katastrophen, werden aber letztendlich doch von der Zivilisation eingeholt und müssen wohl oder über lesen lernen, wenn sie als vollwertige Mitglieder ihrer Gemeinde anerkannt werden wollen. Der Clou von Kivis Roman besteht darin, dass die Ereignisse andauernd von den Brüdern kommentiert werden. Nicht die Abenteuer stehen im Mittelpunkt, sondern die Bemühungen der ungehobelten Typen, verbal mit Gott und der Welt fertig zu werden. Im ersten Roman finnischer Sprache wird also unablässig geredet. 4 Ganz schön stark für eine Nation, von der Bertolt Brecht einmal gesagt hat, dass sie «in zwei Sprachen schweigt.» In der Folge entstehen weitere Romane, die wie die Sieben Brüder vorwiegend auf dem Land angesiedelt sind, obwohl sie sehr oft von einem städtischen Publikum gelesen werden. Dazu gehören auch die Werke von Frans Emil Sillanpää, der 1939 als bislang einziger Finne mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Sein Roman Frommes Elend von 1919, der zuletzt auf Deutsch neu aufgelegt wurde, hebt sich in seiner Modernität ganz deutlich von all den anderen europäischen Bauernromanen jener Zeit ab. Sillanpää lässt seine Protagonisten in einer ländlichen Welt agieren, der alle Romantik fehlt und in der Armut, Hunger und Lebensgefahr allgegenwärtig sind, Solidarität unter den Ärmsten aber nicht zu finden ist. 5 Die moderne finnische Literatur ist sehr facettenreich. Wie in anderen Ländern gibt es neben anspruchsvoller Literatur auch ein breites Angebot an Krimis, Kinder- und Jugendliteratur sowie eine eigene Spielart der Science Fiction, die als Finnish Weird gelabelt wird. Darunter versteht man nordische Mythologie, gepaart mit beißendem Humor und einer Prise Horror, Fantasy und Surrealismus. Als stilistisches Paradebeispiel dieser Richtung gilt Johanna Sinisalos Troll: Eine seltsam bezaubernde Liebesgeschichte rund um ein mythisches Wesen. Das Buch ist im Jahr 2000 erschienen und hat zu einem regelrechten Boom der finnischen Phantastik geführt. Nicht selten bewegen sich diese Geschichten in realistischen Umgebungen, sind aber auf gewisse Weise bizarr, sodass sie sich klar von der traditionellen Erzählweise abgrenzen. «Fantastische Figuren, die nordische Sagenwelt, Mythologie und bizarre Erzählstränge bilden wichtige Elemente dieser fiktiven Literatur – eben ganz Finnish Weird, so Maria Antas, die Leiterin des literarischen Programms Finnland. Cool. bei der Frankfurter Buchmesse. 6 Die Finnen haben aber auch ein Faible für Historisches. Das mag daran liegen, dass das Land noch sehr jung ist; Finnland wurde erst 1917 unabhängig und hatte im Laufe des 20. Jahrhunderts einiges durchzumachen. Wie auch immer, historische Romane haben in Finnland Hochkonjunktur. Und das schon seit langem, denn als finnischer Auflagenkönig 5 Besprechungen Aleksis Kivi Sieben Brüder Salzburg: Jung und Jung 2014. 438 S. Frans Eemil Sillanpää Frommes Elend Berlin: Guggolz 2014. 285 S. Johanna Sinisalo Troll Suttgart: Klett-Cotta 2000. 264 S. Mika Waltari Sinuhe der Ägypter Köln: Bastei Lübbe 2014. 1102 S. Mademoiselle Chair © FILI / Katja Maria Nyman Sofi Oksanen Fegefeuer Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010. 395 S. Katja Kettu Wildauge Berlin: Galiani 2014. 141 S. gilt Mika Waltari, der Autor von Sinuhe der Ägypter. Dabei handelt es sich um eines der berühmtesten Bücher aus Finnland, wenngleich der darin behandelte Stoff herzlich wenig mit dem Land selbst zu tun hat und viele Leser gar nicht wissen, woher der Autor stammt. Trotzdem entwickelte sich die bewegende Geschichte eines ägyptischen Arztes zur Zeit der Pharaonen zu einem Klassiker des Genres. Auch die neueste Literatur aus Finnland beschäftigt sich gerne mit der Vergangenheit, wenngleich sie nicht so weit zurückblickt. Dafür wird die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, vor allem die Rolle Finnlands während und nach dem Zweiten Weltkrieg, zu einem großen Thema. Eines der aktuellsten Beispiele dafür ist Wildauge von Katja Kettu, ein Roman, der in Finnland für großes Aufsehen gesorgt hat. Erzählt wird die Geschichte einer Hebamme, die sich während des Zweiten Weltkriegs in einen in Lappland stationierten SS-Mann verliebt. Freiwillig und aus Liebe folgt sie ihm in ein Kriegsgefangenenlager und wird dort in grauenvolle Ereignisse verwickelt. An diesem Roman scheiden sich die finnischen Geister: die einen preisen die brillante Sprachkunst und die genialen Wortschöpfungen der nordfinnischen Autorin, die anderen stoßen sich an einem Tabuthema, das erst in jüngster Zeit literarisch aufgearbeitet wird. Noch vor kurzer Zeit wäre es, wie Katja Kettu selbst sagt, undenkbar gewesen über Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und finnischen Frauen zu sprechen, geschweige denn darüber zu schreiben. In ihrer Kindheit – Kettu wurde 1978 geboren – hätte es Andeutungen gegeben, Flüstereien, nicht mehr. Die Korrespondenz ihrer Großmutter brachte sie schließlich auf die Idee, einen Roman darüber zu schreiben und lieferte ihr das Vorbild für dessen weibliche Hauptfigur. 7 Jene historische Epoche ist auch die Zeit, in der die Romane des derzeit unbestrittenen Superstars der finnischen Literatur angesiedelt sind. Finnlands dunkle Königin titelte Die Zeit und platzierte Sofi Oksanen medienwirksam auf dem Titelblatt der Zeitung. Das kam nicht von ungefähr, denn die stets dunkel gekleidete Schriftstellerin mit den 6 Besprechungen Winter 2014/15 lilaschwarzen Dreadlocks war auf der Frankfurter Buchmesse omnipräsent und ist gegenwärtig das Aushängeschild der finnischen Literatur. Sofi Oksanens Thema ist die Geschichte Estlands, vor allem in der Zeit der Besatzung durch Nazis und Sowjets und in Bezug auf Widerstand und Kollaboration. Ihr zweiter Roman Fegefeuer wurde ein Riesenerfolg und brachte der schillernden Autorin den internationalen Durchbruch. Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet und in 43 Sprachen übersetzt – das ist absoluter Rekord für ein Buch aus Finnland. Derzeit arbeitet Sofi Oksanen an einer Tetralogie über die estnische Zeitgeschichte, deren dritter Band – Als die Tauben verschwanden – soeben erschienen ist. Dennoch versteht sie sich nicht primär als Autorin von historischen Romanen, vielmehr möchte Sofi Oksanen mittels historischer Stoffe auf aktuelle Probleme hinweisen. Das kann man der umtriebigen Autorin, die nebenbei auch noch Verlegerin ist und Bücherregale designt, auch durchaus glauben, denn Sofi Oksanen beteiligt sich aktiv an gesellschaftlichen und politischen Debatten. Auch einer der wichtigsten finnlandschwedischen Autoren des Landes, Kjell Westö, hat die Handlung seines neuesten Romans in der jüngeren Vergangenheit angesiedelt. Das Trugbild ist ein Porträt der zunehmend faschistisch geprägten Atmosphäre in Helsinki am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Für Aufsehen sorgte in Finnland besonders eine Sequenz des Romans, die von der Einweihung des Olympiastadions in Helsinki 1938 erzählt. Damals gewann der finnische Jude Abraham Tokazier den 100-Meter-Lauf. Gleichwohl setzte ihn das Kampfgericht auf den 4. Rang. Erst jetzt, nach 75 Jahren, korrigierte der Sportverband das Resultat und sprach Tokazier postum den Sieg zu. Man hatte 1938 nicht gewagt, angesichts der deutschen Prominenz auf der Tribüne einen Juden als Sieger auszurufen.8 Im Oktober 2014 wurde Kjell Westö für Das Trugbild der Literaturpreis des Nordischen Rates verliehen. Der Preis, den vor vier Jahren schon Sofi Oksanen für Fegefeuer erhalten hatte, gilt als wichtigste literarische Auszeichnung des Nordens und ist im Fall von Westö auch als Anerkennung für das Genre des finnischen historischen Romans zu verstehen. Dank der Buchmesse sind aber nicht nur viele exquisite Romane erschienen, sondern auch eine Vielzahl von Kinder- und Jugendliteratur, Graphic Novels, Comics und nicht zuletzt Anthologien mit Erzählungen und Kurzgeschichten, die einen raschen Einstieg in die finnische Literatur gewähren. Zwei davon sind besonders empfehlenswert: Alles absolut bestens bei mir, erschienen in der Edition Fünf, präsentiert zwölf Erzählungen von acht finnischen Autorinnen. Sie schreiben von finnischen Frauen aus hundert Jahren, von Frauen, die eigene Wege gehen, die einen Alleingang wagen und sich gegen gesellschaftliche Konventionen auflehnen. Das literarische Spektrum reicht von der Finnlandschwedin Solveig von Schoultz, einer angesehenen Autorin des 20. Jahrhunderts nach der ein finnischer Literaturpreis benannt wurde, bis hin zu Rosa Liksom, die auch im deutschen Sprachraum sehr bekannt ist und deren Bücher in 20 Sprachen übersetzt wurden. 27 weitere neue Erzählungen aus Finnland finden sich in der soeben erschienenen Anthologie Alles frisch, herausgegeben von Stefan Moster. Das Besondere an dieser Auswahl ist, dass sowohl prominente, als auch relativ unbekannte Schriftsteller, die zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurden, vertreten sind. Auch das Cover ist richtig cool, im wahrsten Sinne des Wortes: Ein junges Mädchen schwebt lesend in einem Eisloch, daneben ein Stapel Bücher im Schnee. Glücklicherweise hält der Inhalt des Buches, was das kongeniale Cover verspricht – im coolen Finnland gibt es eine Menge cooler Geschichten. Thomas Geldner Büchereiperspektiven 3 (2014) S. 16; http://derstandard.at/2000007118664 Gerald-Leitner-Wir-stellen-nicht-nur-Buecher-bereit 2http://finnlandcool.fi/?m=201402&lang=de 3http://finland.fi/public/default.aspx?contentid=160077&contentlan=33&culture=de-DE 4http://www.taz.de/!146079/ 5http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buchmesse/ehrengast-finnland/ literatur-aus-dem-buchmesse-gastland-finnland-13192484.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 6http://blog.buchmesse.de/2014/07/29/finnish-weird/ 7http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-11/schriftstellerinnen-rosa-liksom-katja-kettu-sofi-oksanen-finnland 8http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/finnischer-triumph-1.18414700 1 7 Besprechungen Alles absolut bestens bei mir Gräfelfing: Edition Fünf 2014. 174 S. Alles frisch Neue Erzählungen aus Finnland München: dtv 2014. 270 S. Besprechungen–Belletristik Septembernovelle Johan Bargum Macunaíma Der Held ohne jeden Charakter Mário de Andrade Mário de Andrade Macunaíma Der Held ohne jeden Charakter Aus dem brasilianischen Portug. Berlin: Suhrkamp 2013. 219 S. Milena Agus Die Welt auf dem Kopf Aus dem Ital. München: dtv 2013. 199 S. 2013 wurde Brasilien bereits zum zweiten Mal als Ehrengast zur Frankfurter Buchmesse eingeladen. Anlässlich dieses Auftritts ist eine ganze Reihe von Werken der brasilianischen Literatur ins Deutsche übersetzt worden, manche davon erstmals. Zu den bemerkenswertesten Neuauflagen dieses «brasilianischen Bücherherbstes» zählt Macunaíma. Der Held ohne jeden Charakter von Mario de Andrade (1893–1945). Dieses Buch, das als Hauptwerk des brasilianischen Modernismus bezeichnet wird, ist ursprünglich 1928 erschienen und 1982 erstmals ins Deutsche übersetzt worden. Seine Bedeutung für die brasilianische Literaturgeschichte ist nicht hoch genug zu schätzen, denn der Modernismus markiert den Übergang zu einer völlig neuen Form des Schreibens in Brasilien. Zuvor hatten sich die Autoren stets an den europäischen Vorbildern orientiert, nun gilt es, die eigene nationale Identität literarisch zu entdecken und zu definieren. Mario de Andrade bewerkstelligt dieses Vorhaben mit der Hinwendung zu den Mythen und Traditionen seines Landes, insbesondere zu jenen der indianischen Ureinwohner. In einem ganz eigenen, fast experimentell anmutenden sprachlichen Stil, der sich an der Ausdrucksweise der einfachen Menschen orientiert, kreiert er einen modernen Schelmenroman, der märchenhaft, schräg und äußerst komisch daherkommt. Macunaíma vom Stamm der Tapanhumas wird tief im brasilianischen Urwald geboren, wo er ein faules und sorgloses Leben lebt. Darüber hinaus stellt er allen möglichen Damen nach und vermählt sich letztendlich mit Ci, einer Amazonenkriegerin und Mutter des Urwalds. Sie schenkt ihm einen Glücksstein in Form eines Kaimans, der über besondere Kräfte verfügt. Doch der Talisman geht verloren und Macunaíma muss seine vertraute Umgebung verlassen, um den Stein wiederzufinden. Die Suche führt ihn in die Millionenstadt São Paulo, wo er mit den aberwitzigen Sitten der modernen Welt konfrontiert wird. In dieser «Welt der Maschinen», die trotzdem von allerlei mythischen Gestalten bevölkert ist, gibt es einen menschenfressenden Riesen, der den kostbaren Stein gefunden und durch dessen Zauberkraft zu einem reichen Industriemagnaten geworden ist. Das kann Macunaíma natürlich nicht auf sich sitzen lassen… Macunaíma ist kein einfaches Buch, man sollte sich Zeit nehmen und auf den Text einlassen. Ist der Zugang aber einmal gefunden, wird man mit einem prächtigen Kaleidoskop von Geschichten, Mythen und Poesie belohnt. Thomas Geldner Die Welt auf dem Kopf Milena Agus Schauplatz des Romans Die Welt auf dem Kopf von Milena Agus ist die Hafenstadt Cagliari auf Sardinien. In einem alten Patrizierhaus wohnen die Literaturstudentin Alice, der ehemals äußerst erfolgreiche amerikanische Geigenvirtuose Johnson und die Putzfrau Anna. Als Mr. Johnson von seiner Frau verlassen und Anna seine Haushälterin wird, entwickelt sich zwischen den sehr unterschiedlichen Bewohnern des Hauses eine tiefe Freundschaft und Verbundenheit, zwischen Mr. Johnson und Anna schlussendlich sogar Liebe. Für Alice sind diese Menschen ihre Familie, vor allem als Johnson Junior zusammen mit sei- nem Sohn Giovannino in das Haus einzieht, scheint ihr Leben eine glückliche Wendung zu nehmen. Milena Agus ist mit Die Welt auf dem Kopf ein kurzweiliger und leicht zu lesender Roman gelungen, der den/die LeserIn vor keine allzu großen geistigen Herausforderungen stellt; die 200 Seiten lassen sich mit ein bisschen gutem Willen in einem Zug durchlesen. Wer auf der Suche nach einer leichten Urlaubslektüre ist, wird mit diesem Roman durchaus zufrieden sein, Tiefgang darf man sich jedoch keinen erwarten. Die teilweise recht oberflächliche Zeichnung der Charaktere erschwert eine Identifizierung mit diesen und die klischeehafte Konstruktion der weiblichen Protagonistinnen (die sich vor allem um ihre sexuelle Wirkung auf Männer sorgen) wird Feministinnen vermutlich missfallen. Gleich vorweg, dieses Buch ist ein Glücksfall. Bereits nach wenigen Sätzen ist man mittendrin in einer Geschichte, die einen nicht mehr loslässt und einen ungeheuren Sog entwickelt. Dabei ist nicht einmal klar, um welches Genre es sich genau handelt. Ist es ein Krimi? Oder ein Liebesroman? Wahrscheinlich beides. Genauso undefinierbar wie das Genre sind die Protagonisten dieser Geschichte – und das macht sie auch so spannend. Erzählt wird von zwei älteren Herren, Olof und Harald, die gemeinsam eine Bootsfahrt durch die finnische Schärenlandschaft unternehmen. Doch nur Olof kehrt von dieser Reise zurück, Harald ist verschwunden. War es ein Unfall oder ein Verbrechen, vielleicht sogar Mord? Wenn ja, welchen Grund hätte Olof gehabt, dem bereits todkranken Harald etwas anzutun? Diese Fragen muss Olof im ersten Teil des Buches der Polizei beantworten. Während des Verhörs schildert er seine Sicht der Dinge und bald wird klar, dass die beiden durch eine Frau miteinander verbunden sind. Elin war viele Jahre mit dem bodenständigen Handwerker Harald verheiratet, bevor sie ihn für den smarten Banker Olof verlassen hat. Doch auch diese Beziehung ist nicht von Dauer, Elin wird nicht glücklich mit ihrem neuen Mann und kommt einige Zeit später bei einem Autounfall ums Leben. Im zweiten Teil des Buches erfolgt ein Perspektivenwechsel. Nun kommt Harald zu Wort, und zwar in einem Brief, den die Polizei im Segelboot gefunden hat. Und seine Version unterscheidet sich beträchtlich von der seines ehemaligen Nebenbuhlers… Es gibt Romane, die auf knapp hundert Seiten mehr erzählen als so manch dicker Wälzer. Septembernovelle ist so ein Buch: alle großen Themen der Literatur – Liebe und Tod, Schicksal und Religion – werden auf vergleichsweise wenig Seiten angesprochen ohne dass das Ganze überladen wirkt. Sehr reizvoll sind auch der kunstvolle Aufbau – manche Kapitel sind sehr kurz und wirken wie Prosaminiaturen –, die unterschiedlichen Erzählperspektiven sowie die klare und lyrische Sprache.Septembernovelle ist ein echtes literarischen Kleinod: poetisch, tiefgründig und unglaublich spannend. Der finnlandschwedische Autor Johan Bargum muss hierzulande noch entdeckt werden. Aber den Namen sollte man sich merken. Winter 2014/15 Hamburg: Mare 2014. 108 S. Thomas Geldner Das Fell der Tante Meri Theodora Bauer Drei Erzählstränge führen die LeserInnen durch eine Geschichte, die in den letzten Kriegsjahren in Wien beginnt und nach einer Zwischenstation in Chile in einem kleinen österreichischen Dorf in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts endet. Dort leben Tante Meri und Ferdl, die eigentlich in keinem Verwandtschaftsverhältnis stehen, dennoch erbt Ferdl nach dem Tod der «Tante» eine Menge Geld. Er beginnt daraufhin über die nicht sehr innige Freundschaft zwischen seiner ebenfalls bereits verstorbenen Mutter und Tante Meri nachzudenken. Die Gründe dafür werden in einer zweiten Handlungsebene dargelegt: Ferdls Mutter hat als junge Frau im Zweiten Weltkrieg einen hochrangigen SS-Offizier kennengelernt und eine Affäre mit ihm begonnen. Als sie in den letzten Kriegsmonaten schwanger wird, verschafft ihr der SS-Mann gefälschte Papiere und bringt sie mit dem neugeborenen Ferdl aufs Land. Dort treffen sie auf Tante Meri, die Ehefrau des SS-Offiziers, die sich fortan vor allem finanziell um die beiden Martina Bednar 6 Besprechungen Johan Bargum Septembernovelle kümmert. Den Ehemann und Geliebten sehen die beiden Frauen nach Kriegsende nicht wieder: mit einer neuen Identität hat er sich nach Chile abgesetzt und versucht dort Fuß zu fassen – davon berichtet die dritte Geschichte. Die allmähliche Zusammenführung der drei Erzählstränge liest sich spannend und kurzweilig. Die erst 1990 in Wien geborene Autorin Theodora Bauer präsentiert einen kunstfertigen, kritischen und unterhaltsamen Debütroman. Die LeserInnen werden von Kapitel zu Kapitel wissender und doch bleibt ihnen – wie auch dem Protagonisten Ferdl – eine endgültige Erklärung versagt, man wird dazu angehalten eigene Schlüsse zu ziehen. Vokabel wie «Löfferl», «Bub» und «Pyjama» erfreuen österreichische LeserInnen (auch wenn sich der Ausdruck «Pfütze» dazwischen schwindelt), am deutschen Buchmarkt würden sie wohl eher Erstaunen hervorrufen. Der umgangssprachliche Schreibstil ist Geschmackssache und erinnert unter anderem an den Krimistil von Wolf Haas. Das Fell der Tante Meri entzieht sich aber solchen Kategorisierungen, das Buch ist weder Heimatroman noch Österreich-Krimi; in jedem Fall ist es ein gelungenes Stück junge österreichische Literatur. Katharina Zucker 7 Belletristik Theodora Bauer Das Fell der Tante Meri Wien: Picus Verlag 2014. 199 S. Cold Hard Love Frank Bill suhrkamp nova cold hard love Frank Bill Stories Frank Bill Cold Hard Love Aus dem Amerikan. Berlin: Suhrkamp 2012. 268 S. Nadja Bucher Die wilde Gärtnerin Wien: Milena 2013. 349 S. In den Kurzgeschichten von Cold Hard Love geht es nicht gerade beschaulich zu: Gewalt und Mord sind an der Tagesordnung, es wird geprügelt, geschossen und gewürgt. Betrunkene Jäger und Polizisten, Süchtige und Gangster, Kriegsheimkehrer und Familienpatriarchen geben sich ein Stelldichein. In den Texten eskaliert ein Versicherungsbetrug ebenso wie der Streit um einen gestohlenen Hund oder ein Familienzwist schnell zu einer Gewaltorgie, Sicherheit und Hoffnung gibt es in der rauen Welt von Southern Indiana nicht. Cold Hard Love aus dem Jahr 2011 ist das jetzt übersetzte Debütwerk von Frank Bill, einem Vertreter der sogenannten Grit Lit (abgeleitet vom englischen gritty – wirklichkeitsnah, ungeschminkt, hart). Unter dieser losen Definition werden Texte subsumiert, die das harte Leben in den ländlichen, von Arbeitslosigkeit, Brutalität und Verfall geprägten, südlichen Gebieten der usa beschreiben. Auch Frank Bills Geschichten fügen sich in diesen Rahmen ein, seine Texte sind kurze, bewusst stilisierte Einblicke in eine grausame Welt. Die einzelnen Kurzgeschichten sind lose durch vorkommende Personen verbunden, die Gemeinsamkeiten sind jedoch vor allem thematischer Natur: dysfunktionale Familien und Beziehungen, unverarbeitete Kriegstraumata, die alles bestimmende Drogensucht und Armut sind omnipräsent und verknüpfen die Texte. Der Autor nimmt sich bei seinen Schilderungen kein Blatt vor den Mund, die Gewaltdarstellungen sind drastisch, tendenziell überzeichnet – ein Etikett, das sicherlich nicht nur die Sprache, sondern alle Facetten des Werks gut beschreibt. Für nicht allzu zart besaitete Leserinnen und Leser durchaus empfehlenswert. Bernhard Pöckl Die wilde Gärtnerin Nadja Bucher Sorj Chandalon Rückkehr nach Killybegs Aus dem Franz. München: dtv 2013. 312 S. In Die wilde Gärtnerin beschreibt die junge, aus der Poetry Slam-Szene bekannte Nadja Bucher Strategien zur Bewältigung der aktuellen Krise, in der die Politik das Primat über die Wirtschaft verloren hat. Man kann sich in den eigenen Garten zurückziehen, wie das Helen nach dem Unfalltod ihres geliebten Gefährten Leo getan hat, die Wohnung und Garten höchstens für einen Besuch bei ihrer Freundin Toni verlässt. Man kann aber auch Terroristin werden, wie Berta, die junge Frau, die in die Wohnung gegenüber von Helen ein. gezogen ist. Männer spielen in diesem Buch mit Ausnahme von Leo keine oder zumindest keine sympathische Rolle. In einem zweiten Erzählstrang schildert Nadja Bucher die Familiengeschichte Helens zurück bis in die k.u.k-Zeit; so ist das Buch auch ein klein wenig eine Geschichte Österreichs, gut recherchiert und packend geschrieben. Diese Autorin kann wunderbar erzählen: es ist keine hochliterarische Sprache, die Nadja Bucher verwendet, umso autentischer wirken ihre Dialoge und Milieuschilderungen. Ein ausgesprochen gut und leicht lesbarer Roman, nicht nur für leidenschaftliche GärtnerInnen, sondern auch für all jene, die sich auf unterhaltsame Art und Weise mit unserer aktuellen Wirtschafts- und Gesellschaftssituation und alternativen Lebensweisen auseinandersetzen wollen. Christian Jahl Rückkehr nach Killybegs Sorj Chandalon Der Franzose Sorj Chalandon berichtete als Journalist drei Jahrzehnte lang von internationalen Krisenherden und gilt als anerkannter Fachmann für den Nordirlandkonflikt; im vorliegenden Werk bearbeitet er das Thema belletristisch. 2006 kehrt der 81-jährige Tyrone Meehan an den Ort seiner Kindheit, Killybegs in Nordirland, zurück, wo er die Rache seiner Kameraden aus der ira erwartet. 1942, nach dem frühen Tod des Vaters, übersiedelt die Familie vom Land nach Belfast, wo der 17-jährige Tyrone einer Jugendorganisation der ira beitritt. Bedingungslos setzt er sich für die Anliegen der Bewegung ein und erkämpft sich schließlich einen Platz an der Führungsspitze. Doch 2006 wird der ranghohe Kämpfer als Spion des verhassten Gegners Großbritannien enttarnt. Der britische Geheimdienst mi5 erpresst den Iren mit einem dunklen Geheimnis aus dessen Kämpfervergangenheit. Mit diesem Ereignis möchte sich Tyrone in der ländlichen Abgeschiedenheit auseinandersetzen und seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen verständlich machen, wie und warum es zu seinem folgenschweren Verrat kommen konnte. Der Autor, der viele Jahre mit einem führenden ira-Kämpfer befreundet war, lässt seinen Protagonisten eine Rückschau auf ein Leben voller Höhen und Tiefen abhalten und eine durchwegs kritische Bilanz ziehen. Ergebnis ist eine sehr ehrliche, aufrüttelnde und unsentimentale Biographie, die für den strahlenden Helden von einst ein tragisches Ende bereithält. Chandalons klarer, schnörkelloser Stil verleiht der Geschichte Authentizität und vermag dennoch – oder gerade deswegen – Betroffenheit hervorzurufen. Rückkehr nach Killybegs ist kein Agententhriller, sondern ein profundes Stück europäischer Zeitgeschichte. Das Böse im Blut James Carlos Blake Florida, 1842: Die durch eine familiäre Katastrophe zu Waisen gewordenen Brüder Edward und John beschließen, sich in Texas eine neue Existenz aufzubauen. Auf ihrem Weg in den Westen werden die beiden jedoch in New Orleans getrennt und finden sich schließlich auf unterschiedlichen Seiten im Amerikanisch-Mexikanischen Krieg wieder. Die Western-Literatur ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, als ihr Vater gilt James Fenimore Cooper mit seinen Lederstrumpf-Romanen – und bis vor wenigen Jahren schienen diese auch den literarischen Höhepunkt des Genres zu markieren. Der klassische Western zeichnet sich durch ein relativ starres Inventar von Stilmitteln, Protagonisten, Handlungssträngen und Themen aus. Zentrale Motive sind die «Frontier», die Grenzerfahrung im buchstäblichen Sinne, und die sogenannte «Regeneration through Violence», der Glauben daran, dass sich Amerika durch ständigen Kampf und Gewalt erneuere und verbessere. Die Fronten in diesem Kampf sind klar gezogen, die traditionelle Gut-Böse-Dichotomie erfuhr zwar im Lauf der Zeit Umdeutungen (Indiander als «edle Wilde», Weiße als brutale Kolonisatoren), wurde aber selten aufgebrochen. Gewalt gibt es auch bei Blake zur Genüge: Menschen werden auf alle vorstellbaren und auch unvorstellbaren Arten zu Tode gebracht – erschossen, erstochen, erschlagen, verbrannt, bei lebendigem Leib gehäutet, ausgeweidet, skalpiert, gepfählt – die der Autor leider mit viel Liebe zum Detail schildert. Nach all dem sinnlosen Gemetzel und Leiden sehnt sich der Leser umso mehr nach einem erlösenden Happy End – und soviel sei verraten, das Hoffen ist vergeblich. Es greift allerdings viel zu kurz, den Roman auf diese, wiewohl sehr eindrücklichen, Grausamkeiten zu reduzieren. Blake schreibt den zentralen Westernmythos, die zwar gewaltsame aber glanzvolle Geburt einer Nation, in Grund und Boden. Nichts an den hier geschilderten Kämpfen ist glorios, übermenschlich, einer höheren Sache verpflichtet; Antriebskräfte sind auf allen Seiten niedrige menschliche Instinkte, vor allem anderen die menschliche Gier nach materiellem Reichtum. Natürlich ist diese Interpretation nicht gänzlich neu, vor Blake haben sich bereits Autoren wie Cormac McCarthy (Die Abendröte im Westen, 1996) um die Erneuerung des Genres verdient gemacht hat. Das Böse im Blut ist aber nicht nur ein akribisch recherchierter, auf historischen Tatsachen beruhender Western Noir, Blake ist vor allem ein Schreiber von alttestamentarischer Wucht. Ein Buch wie ein Faustschlag, das den Leser im wahrsten Sinne atemund fassungslos zurücklässt. James Carlos Blake wurde 1947 in Mexiko geboren, nach langjähriger Unterrichtstätigkeit am College lebt er heute als freier Schriftsteller in Arizona. Das amerikanische Original In the Rogue Blood erschien bereits 1997 und wurde mit dem Los Angeles Times Book Prize for Fiction ausgezeichnet. Monika Reitprecht Stromschnellen Bonnie Jo Campbell Die knapp sechzehnjährige Margot beschließt nach einer familiären Tragödie alleine und im Einklang mit der Natur auf dem Stark River zu leben. Doch die vermeintliche Freiheit und Unabhängigkeit hat ihren Preis: Margot wird in kriminelle Machenschaften verstrickt und tötet schließlich sogar, um selbst zu überleben. Letztendlich muss Margot erst zu sich selbst finden, um den Wert des Lebens richtig schätzen zu können. Die 1962 geborene Autorin wuchs auf einer kleinen Farm im Herzen Michigans auf. Ihre Kurzgeschichten mit zumeist weiblichen Heldinnen wie z.B. Women and other Animals oder American Salvage wurden für diverse Literaturpreise nominiert und auch mehrfach ausgezeichnet. Ingrid Sieger 8 Besprechungen Winter 2014/15 9 Belletristik James Carlos Blake Das Böse im Blut Aus dem amerikan. Engl. München: Liebeskind 2013. 448 S. Bonnie Jo Campbell Stromschnellen Aus dem Engl. München: Piper 2013. 397 S. Mehr Informationen zur Autorin, die auch regelmäßig bloggt und twittert, können interessierte LeserInnen auf ihrer Webseite nachlesen, wo sich auch eine skizzierte Landkarte mit der Umgebung des Stark River und den wichtigsten Schauplätzen der Geschichte finden lässt. Leider wird diese Landkarte nicht im vorliegenden Werk abgedruckt bzw. mitgeliefert, denn sie gibt Aufschluss über die ungeheure Dimension des Flusses und den damit verbundenen Herausforderungen für die Protagonistin. Darüber hinaus ist das Cover der deutschsprachigen Ausgabe leider ein wenig reißerisch ausgefallen, es zeigt eine junge Frau in Westernhemd und Cowboyhut mit Gewehr im Anschlag; eventuell eine Anlehnung an die von Margot verehrte Kunstschützin Annie Oakley. Alles in allem trotz gewisser Längen ein mitreißender Roman mit sehr plastischen Naturbeschreibungen, bei dem man nebenbei viel Wissenswertes über die Flora und Fauna des ländlichen Michigan lernen kann. Allerdings braucht man einen wirklich guten Magen, wenn man bei der Tötung, Häutung und Ausweidung der diversen erlegten Tiere hautnah dabei ist. Martina Lammel Fische schließen nie die Augen Erri De Luca Erri De Luca Fische schließen nie die Augen Aus dem Ital. München: Graf 2013. 148 S. Andrea Drumbl Narziss und Narzisse Wien: Edition Atelier 2014. 143 S. Es ist ein Sommer in den 1960er Jahren, der zehnjährige Protagonist verbringt seine Ferien auf einer Insel im Golf von Neapel. Zunächst passiert nicht viel, der Junge ist schweigsam, zurückgezogen und sucht keinen Kontakt zu Gleichaltrigen; auch das etwas ältere Mädchen, das am Strand Krimis liest, spricht er nicht an. Sie ist es schließlich, die diesen Schritt setzt und damit die Handlung des Buches ins Rollen bringt. Plötzlich sehen die anderen Buben in dem Einzelgänger einen Feind, einen Konkurrenten um das Mädchen, und da auch sie keine Freunde großer Worte sind, sprechen bald die Fäuste. Und wieder ist es das Mädchen, die handlungsbestimmend eingreift und die Wogen glättet – schließlich kommt der Junge zu seinem ersten Kuss. Erri De Luca ist ein in seiner Heimat Italien populärer Autor, einige seiner Werke wurden auch ins Deutsche übersetzt. 1950 in Neapel geboren, ging er mit 19 Jahren nach Rom um sich politisch auf Seiten der Linken zu engagieren. Sein Geld verdiente er in dieser Zeit als Arbeiter bei Fiat, als Maurer und als lkw-Fahrer. Im Selbststudium brachte er sich Althebräisch bei, um Teile des Alten Testaments übersetzen zu können. Erst mit vierzig Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch. Der vorliegende Roman ist eine autobiographische Kindheitserinnerung. De Luca schildert aus der Perspektive des Erwachsenen, in der Ich-Form geschrieben, ein Ferienerlebnis. Die Erzählung wird immer wieder durch Reflexionen über das Schreiben und weitere Ereignisse seines Lebens unterbrochen. Die Beschreibung jenes Feriensommers ist trotz der klaren, nüchternen Sprache sehr stimmungsvoll – das Buch bietet einen atmosphärisch dichten Einblick in das Italien der beginnenden 60er Jahre. Georgia Latzke Jean Echenoz 14 Aus dem Franz. München: Hanser 2014. 124 S. 10 Besprechungen Narziss und Narzisse Andrea Drumbl Narziss und Narzisse ist der zweite Roman von Andrea Drumbl. Die österreichische Autorin erzählt darin die ausgesprochen unheilvolle Geschichte der Familie Rosenblüm. Im Mittelpunkt steht das verhängnisvolle Schicksal von Gisela und Jakob, den Eltern von Judith und Nurit. Als Nurit stirbt, wird die Mutter Gisela depressiv und muss in die Nervenheilanstalt. Schlussendlich verlässt Jakob die Familie und gibt Judith in die Obsorge von Bekannten. Drumbl verflicht kunstvoll die Geschichten der einzelnen Protagonisten, aus den Überlebenden zweier Familien entsteht eine neue Familie und am Ende gibt es sogar ein kaum für möglich gehaltenes Happy End. Die Sprache der Autorin ist klar und unpathetisch, dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – so unglaublich intensiv, dass es einem manches Mal geradezu die Sprache verschlägt. Der kurze Roman vermag mitzureißen und gleichzeitig traurig und hoffnungsvoll zu stimmen; auf nur 143 Seiten spielt Drumbl virtuos auf der kompletten Klaviatur der Gefühle. Ein grandioser, zutiefst gefühlvoller und hochliterarischer Roman, der nachhaltig beeindruckt. Rudolf Kraus 14 Jean Echenoz Der 1947 in der Provence geborene Autor Jean Echenoz war bis zum Erscheinen seines aktuellen Romans 14 nur einer kleinen Leserschaft bekannt, obwohl er bereits 1999 für seinen Roman Ich gehe jetzt den bekanntesten und renommiertesten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt, erhielt. Sein Bekanntheitsgrad hat sich wohl mit seinem jüngsten Roman schlagartig erhöht. 14 ist einer der zahlreichen Publikationen die anlässlich des Gedenkjahrs 2014 (100 Jahre Erster Weltkrieg) erschienen. Im Zeitraffer schildert Echenoz, wie fünf Männer den Beginn und den Verlauf des Ersten Weltkriegs erleben. Um welchen Krieg es sich konkret handelt, scheint jedoch sekundär: bis auf wenige Hinweise auf den historischen Kontext stehen die Einzelschicksale der Protagonisten im Vordergrund. Nicht alle überleben den großen Krieg, unversehrt bleibt niemand. Insbesondere die Beiläufigkeit und der scheinbar nicht oder nur kaum individuell beeinflussbare Fortgang der Ereignisse zeichnen den Roman aus. Bis auf eine Ausnahme eint die Männer eine gewisse Passivität, die den Eindruck der Existenz einer höheren Winter 2014/15 Gewalt verstärkt. Diese Passivität setzt sich auch nach Ende des Krieges fort, diesmal aber wohl aus anderen Gründen: wofür lohnt es sich nach dieser Hölle noch zu kämpfen? Der Titel kann nicht nur im Jubiläumsjahr 2014 der Leserschaft guten Gewissens empfohlen werden: Echenoz beweist, dass es möglich ist, einen Weltkrieg auf wenigen Seiten eindrücklich zu schildern, sein Buch ist zwar rasch gelesen, wirkt aber noch lange nach. Katharina M. Bergmayr Falsches Spiel Giorgio Faletti Silvano «Silver» Masoero ist Trikotwart bei einem zweitklassigen italienischen Fußballklub. Einst ein vielversprechendes Boxtalent, musste er für einen geschobenen Kampf ins Gefängnis. Seine Frau ist mittlerweile gestorben, das Verhältnis zu seinem Sohn, dem Profifußballer Roberto ist distanziert. Als Silvano durch Zufall auf eine geplante Spielmanipulation, in die auch sein Sohn verwickelt zu sein scheint, stößt, ist die fragile Vater-Sohn-Beziehung noch mehr gefährdet. Der alte Boxer versucht, seinen Sprössling davor zu bewahren, seinen eigenen Fehler zu wiederholen. Falsches Spiel ist der sechste Roman des bekannten italienischen Schriftstellers und Komponisten Giorgio Faletti und im Gegensatz zu seinen früheren Werken ein schmales Buch. Als Hintergrund der Vater-Sohn-Geschichte wählt Faletti ein eher unverbrauchtes Thema – den Profifußball und dessen Schattenseiten, Spielmanipulation und Wettbetrug. Der sprachlich solide Roman konzentriert sich dabei vor allem auf die Stunden rund um das entscheidende Spiel um den Aufstieg, in kurzen Rückblenden wird auf Silvanos Vergangenheit eingegangen. Faletti gelingt es, die Spannung, die über dem entscheidenden Match liegt, einzufangen und den Lesenden zu vermitteln. Gleichzeitig zeichnet er ein soziales Panorama des Spielbetriebs fernab der millionenschweren Stars, beschreibt die Hoffnung und die Gier nach Geld und gesellschaftlichem Aufstieg. Mit der Plausibilität der Handlung nimmt es der Autor nicht so genau, der Zufall spielt im Text eine große Rolle. Was einem längeren Roman sehr zum Nachteil gereichen würde, ist bei diesem Werk zu verschmerzen. Auch die willkürliche Übersetzung des italienischen Titels ist wohl den Verkaufszahlen geschuldet, bezieht sich aber zumindest auf den Text. Mit Falsches Spiel legt Giorgio Faletti einen kurzen, unterhaltsamen Roman mit kleinen Schwächen vor, der auch KrimileserInnen gefallen dürfte und getrost als Lektüre für Zwischendurch empfohlen werden kann Bernhard Pöckl 11 Belletristik Kings of Nowhere T. J. Forrester Kann der Mensch sich ändern? Die junge Wissenschaftlerin Simone sagt nein, sie glaubt fest an genetische Codes, die jedem Individuum von Geburt an quasi eingebrannt sind und das weitere Leben maßbeglich bestimmen. Dabei hätte Simone eine Veränderung bitter nötig: sie leidet unter dem zwanghaften Drang, Menschen aus großer Höhe in die Tiefe zu stoßen. Unglücklicherweise hat sie dieser Neigung schon einige Male nachgegeben … Simone befindet sich auf dem Appalachian Trail, der mit etwa 3500 Kilometern zu den längsten Weitwanderwegen der Welt gehört. Der Weg führt von Georgia im Süden der Vereinigten Staaten bis hinauf nach Maine, hart an der Grenze zu Kanada. So wie Simone sind noch andere Typen auf dem Trail unterwegs: Da wäre etwa Taz, ein ehemaliger Junkie, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und durch das Wandern wieder Klarheit in sein Leben bringen will. Oder Richard, ein angeblicher Halbindianer, der von seinem Alkoholproblem loskommen möchte. Sie alle träumen davon, in ihrem Leben noch einmal so richtig durchzustarten und sind bereit, dafür auch beträchtliche körperliche Strapazen in Kauf zu nehmen. Kings of Nowhere erzählt aber nicht nur von diesen drei Protagonisten, sondern auch von anderen Menschen, die mit dem Trail und den Wanderern auf die eine oder andere Art verbunden sind. Dadurch wirkt der Roman manchmal wie eine Ansammlung von Kurzgeschichten, die zwar lose miteinander verbunden sind, andererseits aber auch genauso gut für sich selbst stehen könnten. Die Geschichten handeln zumeist von ziemlich schrägen Typen, die sich in teilweise bizarren Situationen befinden. Mit der Zeit wird es auch richtig brutal, sodass nach und nach der Eindruck entsteht, der Appalachian Trail wäre mit Leichen gepflastert. Das kommt nun doch ein wenig übertrieben rüber, genauso wie etliche Klischees, die leider immer wieder bedient werden. Dennoch: T. J. Forrester ist ein erzählerisches Talent und das Buch trifft einen Nerv unserer Zeit. Es spricht Themen an, die die Menschen von heute interessieren. Pilgern ist angesagt, ebenso Selbstfindungtrips, und entsprechende Bücher und Reiserouten boomen. Und wenn das Ganze auch noch so gut geschrieben ist wie Kings of Nowhere, dann soll es uns recht sein. Thomas Geldner Giorgio Faletti Falsches Spiel Aus dem Ital. München: Goldmann 2014. 158 S. T. J. Forrester Kings of Nowhere Aus dem amerikan. Engl. Berlin: Blumenbar 2013. 236 S. Karl-Markus Gauß Das Erste, was ich sah Wien: Zsolnay 2013. 107 S. Paolo Giordano Der menschliche Körper Aus dem Ital. Hamburg: Rowohlt Verlag 2014. 411 Seiten. Andrew Sean Greer Ein unmögliches Leben Aus dem amerikan. Engl. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012 317 S. Das Erste, was ich sah Der menschliche Körper Karl-Markus Gauß Paolo Giordano Schriftsteller sind berufsbedingt meist mit dem Erzählen von Dingen und Begebenheiten oder mit der Beschreibung von Charakteren beschäftigt. Manchmal aber kehren sie ihr Inneres nach außen, sodass sie selbst, ihr Leben und dessen Entwicklung Gegenstand der Betrachtung werden. Eine lineare Lebensbeschreibung, in der auch noch das irrelevanteste Detail als schicksalsbestimmend angeführt wird, setzt sich mit Recht dem Verdacht des Gekünstelten aus, verläuft doch ein Leben, und erst recht ein Künstlerleben, selten geradlinig ohne Brüche oder Einschnitte. Karl-Markus Gauß vermeidet diesen Fehler, indem er einen anderen Ausgangspunkt wählt. Seine Erzählung ist nicht strikt chronologisch, es werden keine Jahreszahlen erwähnt, man weiß nur, dass es um Familie Gauß im Salzburg der Nachkriegszeit geht. Zeitangaben beschränken sich auf die Erwähnung einzelner Wochentage und Tageszeiten. Gauß kümmert sich nicht um Tabellarisches oder Kalendarisches, das Feststell- und Fixierbare interessiert ihn nicht, wohl aber das vermeintlich Unscheinbare, das flüchtig Hingeworfene. So kommt es, dass er seine Kindheit eher szenenartig ins Wort bringt; er zieht sozusagen Proben aus seine Entwicklung und präsentiert uns die prägendsten und denkwürdigsten. Schlüsselereignisse werden meist erst später als solche wahrgenommen. Die Aufgabe eines Autors besteht darin, solche Ereignisse festzuhalten, wie es Gauß mit Blick auf den Stellenwert der Literatur tut: «Die Welt bestand aus Büchern und richtigen Büchern. Ich lernte erst lesen, da wusste ich bereits, dass es eine Hierarchie der schriftlichen Werke zu beachten galt. Bücher waren etwas für gewöhnliche Leute, die lasen, um sich zu zerstreuen oder die Zeit zu vertreiben, und daran war nichts Schlechtes. Die richtigen Bücher aber wurden nicht gelesen, damit man der Langeweile entrinne oder Trost im Unglück finde, sondern um sich einer edlen Anstrengung zu unterziehen und unerschrocken dem menschlichen Schicksal zu stellen.» Gauß spürt das auf, was ihn nachmalig geprägt, was ihm zu denken gegeben hat. Die geschilderten Erlebnisse sind keine Suche nach der verlorenen Zeit, weil eben das Prägende in Gauß weiterhin wirkt und sich entfaltet. Daher hat er auch keinen Grund, dieser Zeit nachzutrauern, wie dies nicht selten geschieht. Nach der Lektüre sieht man einen Autor, der sein Leben in Verantwortung und Großmut annimmt. Bereits mit seinem Debüt Die Einsamkeit der Primzahlen gelang dem Turiner Autor Paolo Giordano der internationale Durchbruch. In seinem aktuellen Buch widmet er sich dem Truppendasein italienischer Soldaten in Afghanistan. Im Hauptquartier, einem abgelegenen, von Sandödnis umgebenen Stützpunkt, verbringen die jungen Männer zunächst ihre Zeit mit kleinen Aufträgen, Erkundungsfahrten, Kartenspielen und Erotik-Chats. Die Zeit der relativen Untätigkeit findet ein jähes Ende als die Ermordung und Verstümmelung eines afghanischen lkwFahrers die Kompanie zu einem gefährlichen Einsatz zwingt: in einem Begleit-Konvoi sollen sie die restlichen afghanischen Fahrer durch ein enges, von der Taliban kontrolliertes Tal nach Hause geleiten. Tatsächlich gerät die unerfahrene Truppe in einen tödlichen Hinterhalt … Paolo Giordano hat seinem Roman ein Zitat aus Remarques Im Westen nichts Neues vorangestellt. Auch hinsichtlich Struktur und Aufbau scheint dieser weltbekannte (Anti-)Kriegsroman wichtiges Vorbild für den jungen Autor gewesen zu sein. Wie Remarque erzählt er aus unterschiedlichen Perspektiven, wechselt immer wieder die Zeitebenen und vermag es doch einen packenden Handlungsbogen zu schaffen. Besonders die vielschichtige Beschreibung der Charaktere ist gelungen. Da wäre unter anderen Alessandro Egitto, der Militärarzt, der heimlich Medikamente nimmt, oder der Feldwebel Antonio René, der zu Hause ein Doppelleben als Callboy führt, oder der naiv-sensible Ietri, der in der größten Gefahr überraschenden Mut zeigt. Giordano beschreibt subtil das komplexe Gefüge der Truppe und die gruppendynamischen Prozesse. Ohne Werturteile abzugeben, zeigt er, was der Krieg aus den Soldaten macht, zeigt wie Scham und Empörung schwinden: «Viele Merkmale, die den Menschen vom Tier unterscheiden, sind nicht mehr wieder zu erkennen,» sagt Egitto an einer Stelle. Ein lesenswerter, packender Roman, der die Lesenden länger nicht mehr los lässt. Andreas Agreiter 12 Besprechungen Daniela Raunig Ein unmögliches Leben Andrew Sean Greer Greta Wells ist in einer Zeitschleife gefangen. Alles beginnt mit einer Elektroschockbehandlung im Jahr 1985: sie stellt fest, dass sie abwechselnd in die Jahre 1918, 1941 und 1985 katapultiert wird. Zu jeder Zeit gibt es eine Greta im gleichen Alter, aber die Umstände um sie herum sind anders. Winter 2014/15 1941 hat sie einen Sohn, 1918 einen jungen Verehrer, 1985 ist ihr Zwillingsbruder Felix tot. Greta Wells muss auf ihren Reisen durch die Zeit schmerzlich feststellen, dass sie in keinem Jahr das angestrebte Leben führen kann. So sehr sie sich bemüht, die richtige Zeit für ein richtiges Leben zu finden, es geschieht immer Unvorhergesehenes. Ihre größte Motivation ist die Liebe zur Nathan, ihrem Ehemann bzw. Lebenspartner zu jeder Zeit. In den 1980er Jahren betrügt und verlässt er sie und so ist es nur allzu verständlich, dass Greta im wahrsten Sinne des Wortes andere Zeiten herbeisehnt. Was kann sie tun, um die erste Liebe zu halten? Wie kann sie verhindern, dass ihr geliebter Zwillingsbruder Felix stirbt? Wie kann sie ihn vor einem falschen Leben in einer Ehe mit einer Frau retten und mit dem Mann verkuppeln, der irgendwann seine große Liebe wird? Viele Moralvorstellungen und Prinzipien muss Greta auf ihrer Reise durch die Zeit zurücklassen. Auch sie wird zur Ehebrecherin und verliebt sich in einen jungen Mann. Doch ist das nicht die andere Greta? Schließlich gibt es insgesamt drei Versionen ihrer Person, die nach jeder Elektroschockbehandlung ihren Platz in der Geschichte tauschen. Andrew Greers aus der Sicht einer Frau geschriebener Roman bringt vieles auf den Punkt. «Nennt sie mir also, meine Herren, nennt mir Zeit und Ort, wo es leicht ist, eine Frau zu sein.» Ein tolles Buch, das das Motiv der Identitätsfrage und des «Was wäre wenn» in eine originelle und spannende Geschichte verpackt. Verena Brunner Eine Ahnung vom Anfang Norbert Gstrein Anton, Lehrer in einer österreichischen Provinzstadt und Ich-Erzähler, trägt schwer an der Erinnerung an seinen jüngeren Bruder Robert, der als Jugendlicher Selbstmord begangen hat. Roberts Bücher verborgt der Lehrer später an seinen Lieblingsschüler Daniel, mit dem ihn ein bemerkenswerter Sommer verbindet: nach dem Schulabschluss verbringt Daniel mit einem Freund und Anton die Zeit in dessen altem Haus am Fluss mit lesen, baden und diskutieren. Als die Kleinstadt zehn Jahre später mit zwei Bombendrohungen konfrontiert wird, fällt der Verdacht auf Daniel, der bereits zu Schulzeiten durch religiösen Übereifer aufgefallen war. Es wird die Frage nach der Verantwortung des Lehrers für eine solche Entwicklung seines Schülers aufgeworfen; mancherorts wird die Vermutung geäußert, Anton selbst könne der Verfasser der Bombendrohungen sein. Zusätzlich schwelen Gerüchte über eine homoerotische Beziehung zwischen Schüler und Lehrer. 13 Belletristik Norbert Gstrein berührt viele Themen in seinem Roman: von der persönlichen Verantwortung des Lehrers für seine Schüler über das (emotionale) Eingesperrt-Sein in der Enge des Kleinstadtgefüges bis zum Fremdsein in Istanbul, wo der Lehrer eine Zeitlang lebt und unterrichtet, bis hin zum Fremdenhass und dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser. Doch der Autor bleibt oft auf der Ebene des Atmosphärischen, Angedeuteten und lässt den LeserInnen einigen Raum für Interpretationen. Das ergibt einen langsamen, sprachlich schön gearbeiteten Roman, der sich oft auf die Analyse eines Blickes oder einer Handbewegung, auf die Interpretation einer Aussage konzentriert. Katharina Zucker Haus aus Erde Woody Guthrie Woodrow Wilson «Woody» Guthrie wurde 1912 in Oklahoma geboren und war Zeit seines Lebens politisch aktiv. Als linker Liedermacher, der sich für die Rechte sozial Benachteiligter einsetzte, beeinflusste er nachfolgende Generationen von Folksängern und Liedermachern maßgeblich. Dankenswerter Weise hat der US-amerikanische Schauspieler Johnny Depp gemeinsam mit dem Historiker Douglas Brinkley nun die Veröffentlichung des einzigen Romans Woody Guthries veranlasst. Haus aus Erde erzählt die (Liebes-)Geschichte von Ella und Tike, einem verarmten Farmerehepaar, das ein Leben am Rande des Existenzminimums führt, vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre. Die beiden leben in der texanischen Staubebene in einem verrotteten Haus, besitzen ein paar Tiere und ringen dem kargen Boden mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt ab. Doch wer nun literarische Sozialkritik im Brechtschen Stil erwartet, wird enttäuscht werden, Guthrie lässt den Klassenkämpfer in sich außen vor. Im Vordergrund steht die Beziehung von Ella und Tike, die Guthrie sehr anschaulich schildert – auch vor expliziten Sexszenen macht er nicht halt. Guthrie ist ein wirklich starkes Stück Literatur gelungen, fast möchte man John Steinbeck als Referenz zitieren. Vor allem beeindruckt immer wieder die großartige, sehr direkte Sprache in der diese archaische Geschichte erzählt ist. Peter Hörschelmann Norbert Gstrein Eine Ahnung vom Anfang München: Carl Hanser Verlag 2013. 349 Seiten. Woody Guthrie Haus aus Erde Aus dem amerikan. Engl. Köln: Bastei Lübbe 2013. 302 S. Gertraud Klemm Herzmilch Graz: Droschl 2014. 237 S. Herzmilch Arbeit und Struktur Gertraud Klemm Wolfgang Herrndorf Herzmilch ist eine Coming-of-Age-Geschichte: ein kleines Mädchen wächst in einer großbürgerlichen Familie auf, die einen ehrwürdigen Gründerzeitaltbau im Speckgürtel von Wien bewohnt. Die junge Ich-Erzählerin ist etwas anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen und interessiert sich so gar nicht für die Dinge, die gleichaltrige Mädchen faszinieren. Stattdessen spielt sie lieber mit den Buben oder ist in der freien Natur unterwegs, wo sie mit Vorliebe Wasserkäfer oder ähnliches Getier studiert. Schon bald bemerkt das kleine Mädchen, welche Rolle die Frauen in ihrer Welt spielen und zu spielen haben; sie bemerkt die Doppelbelastung der Mutter, die nicht nur den ganzen Haushalt schaukeln, sondern auch immer schön, perfekt gestylt und eine mustergültige Begleitung für ihren Akademikergatten sein muss. Und sie bemerkt, dass diese Rolle letztendlich auch für sie selbst vorgesehen ist. Keine vielversprechenden Aussichten… Der Roman ist in fünf Teile gegliedert, die sich jeweils einem Lebensabschnitt der Protagonistin widmen. Auf die relativ glückliche Kindheit im Großfamilienhaus folgen eine schwierige Pubertät mit allen möglichen altersbedingten Eskapaden, die Studienzeit mit wechselnden Beziehungen und erste Jobversuche. Im letzten Teil des Buches ist aus der rebellischen und zutiefst traurigen jungen Frau eine alleinerziehende Mutter geworden. Durch die Geburt ihrer Tochter wird sie mit Gewalt in jene Rolle gedrängt, die sie zeitlebens vermeiden wollte: aus der Karrieresau wird das Muttertier, eine Aufgabe, der sie sich noch dazu völlig alleine stellen muss. Herzmilch steht durchaus in der Tradition der großen Frauenliteratur der 60er und 70er Jahre, insbesondere von Brigitte Schwaiger, die Gertraud Klemm als ihre Mentorin bezeichnet und die sie auch zum Schreiben ermutigt hat. Die Geschichte beginnt sehr stark, flaut im Mittelteil etwas ab und wird dann am Ende, sprich im Kinderkapitel, noch mal richtig heftig. Viele Frauenthemen werden im Text behandelt, meist eindringlich, manchmal auch leider etwas klischeehaft. Bemerkenswert sind der Erzählfluss sowie die glasklare, bildhafte und poetische Sprache des Buches. Insgesamt ist ein Herzmilch beeindruckendes Romandebüt, das trotz aller Schwermut auch erstaunlich viel Humor und Zuversicht in sich birgt. Der 1963 geborene Wolfgang Herrndorf wurde 2010 mit seinem Jugendroman Tschick mit einem Schlag einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Tschick wurde in 16 Sprachen übersetzt, stand über ein Jahr auf der deutschen Bestsellerliste und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2010 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Im selben Jahr wurde bei Herrndorf ein Glioblastom festgestellt – ein bösartiger Hirntumor und sicheres Todesurteil. Wenige Wochen nach der Diagnose begann der Autor Anfang März mit seinem Tagebuch: dem Blog Arbeit und Struktur (www.wolfgang-herrndorf.de ), der anfänglich nur für Freunde gedacht war, nach Drängen dieser aber seit September 2010 frei im Internet zugänglich ist. Vier Monate nach Herrndorfs Selbstmord am 26. August 2013 erschien er bei Rowohlt in Buchform. Er legt Zeugnis über den Verlauf seiner tödlichen Krankheit ab; insbesondere gegen Ende des über 400 Seiten starken Berichts wird die Lektüre durch die kontinuierlich kürzer werdenden und in immer größeren Abständen niedergeschriebenen Einträge zunehmend bedrückend – sechs Tage, bevor sich Wolfgang Herrndorf am Ufer des Hohenzollernkanals mit einer Schusswaffe das Leben nahm, endet sein Blog mit einem letzten, nur aus einem Namen bestehenden, Eintrag. Zwischen der Diagnose und Herrndorfs Tod lag eine Zeit schierbar unglaublicher Produktivität, die ihm das Leben mit der Krankheit erleichterte. So erschien 2011 sein über 500 Seiten umfassender Roman Sand, der 2012 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Doch ist die Lektüre von Arbeit und Struktur keineswegs so deprimierend wie man in Anbetracht der Umstände annehmen könnte. Insbesondere Herrndorfs Gedanken über Literatur und den Literaturbetrieb lassen mitunter laut auflachen. Arbeit und Struktur ist das leider letzte Werk eines Autors, von dem mit Sicherheit noch viel Lesenswertes gekommen wäre. Thomas Geldner Jage zwei Tiger Helene Hegemann Jage zwei Tiger München: Hanser 2013. 320 S. Helene Hegemann Die 1992 geborene Helene Hegemann wurde einem größeren Publikum vor allem durch die im Feuilleton geführte Plagiatsdebatte um ihr Debüt bekannt; die Autorin hatte mehrere Passagen unzitiert aus einem Blog übernommen. Mittlerweile wurde Axolotl Roadkill in 20 Sprachen übersetzt und Hegemann, die auch für Theater und Oper inszeniert, hat nun ihren zweiten Roman vorgelegt. In Jage zwei Tiger schildert sie die Geschichte zweier Jugendlicher aus reichem Elternhaus, deren Lebenswege sich zufällig in München kreuzen. Zu Beginn muss der 11jährige Kai miterleben, wie seine Mutter, von einem Stein getroffen, am Steuer ihres Autos stirbt. Der Junge flüchtet daraufhin vor den Helfern in den Wald, wo er auf Zirkusartisten trifft und sich in Samantha verliebt. Zwei Jahre später lebt Kai bei seinem Vater Detlev, einem Kunsthändler, und lernt dort Cecile, die 17jährige Freundin seines Vaters kennen. In Rückblenden folgt der Leser daraufhin Cecile auf ihrem bisherigen Lebensweg vom Luxusdomizil 14 Besprechungen der Eltern, die sich nicht um die Tochter kümmern über eine Kiffer-WG bis zu jener Bar, in der sie Detlev kennen gelernt hat. Zu diesem Zeitpunkt hat das junge Mädchen bereits eine Kokainabhängigkeit hinter sich und kämpft mit ihrer Essstörung sowie einem Hang zur Selbstverletzung. Cecile hat zwar für ihre auf Äußerlichkeiten und Statussymbole fixierte Umgebung nur Gleichgültigkeit und Verachtung übrig, kann dieser Welt jedoch auch nichts entgegensetzen. Dass sie sich am Ende des Romans Kai zuwendet und mit ihm gemeinsam nach Samantha sucht, wirkt wie ein verzweifelter Versuch nach Selbstbestimmung. Helene Hegemann, die Tochter eines bekannten deutschen Dramaturgen, kennt die Welt ihrer ProtagonistInnen sehr genau und vermag es, die Ziel- und Sinnlosigkeit ihres Daseins treffend und bisweilen quälend zu schildern. Sie bedient sich dabei einer Sprache die zwischen Jugendjargon, greller Überzeichnung und komplex-verschachtelten Satzkonstrukten changiert, was die Lektüre schwierig gestaltet. Zudem lassen die eindimensional und stereotyp charakterisierten Hauptfiguren das Interesse für sie bzw. am Fortgang der Handlung ziemlich bald erlahmen. Carina Brandstetter Winter 2014/15 Katharina-Marie Bergmayr Vaters Land Evelina Jecker Lambreva Inna Kamenarova wird in den 1960er-Jahren in Bulgarien als Tochter eines Ärztepaares geboren. Besonders ihr Vater eckt mit seiner kritischen Haltung gegenüber dem kommunistischen Regime und mit seiner Liebe für Deutschland und die deutsche Sprache immer wieder an – der streitbare und eigensinnige Mann isoliert sich 15 Belletristik und seine Familie zunehmend. Jahrzehnte später, der Ostblock ist längst Geschichte und Inna in die Schweiz emigriert, erhält sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters. Mit ihrem Sohn und ihrem Mann Theo macht sie sich in ihr Heimatland auf, um ihren Vater zu beerdigen. Diese Reise ist nicht nur eine Reise in ihre persönliche Vergangenheit, sondern auch in die Vergangenheit Bulgariens. Vaters Land ist nicht das Erstlingswerk der als Psychiaterin und Psychotherapeutin tätigen Jecker Lambreva, allerdings der erste auf Deutsch verfasste Roman der Autorin. Er ist die Aufarbeitung einer problematischen Vater-Tochter-Beziehung wie auch eine Abrechnung mit dem kommunistischen Bulgarien und all seinen Ungerechtigkeiten. Jecker Lambreva präsentiert die Handlung in zwei Zeitebenen – Innas Weg zum Begräbnis und die Erinnerungen, die diese Reise in der Frau wachrufen. Durch diese Erzählweise sind es vor allem die Kontraste, die das Buch prägen. Der herrische und brutale Vater, an den Inna zurückdenkt, steht im Gegensatz zum liebevollen und sanften Großvater, den ihr Sohn Danail kennt. Gegensatzgeprägt ist auch die väterliche Vorliebe für das Deutsche und die Verachtung für den kommunistischen Staat, dessen Absurdität anekdotenhaft – in Form von Familienerinnerungen – geschildert wird. Die sprachlichen Qualitäten des Textes treten vor allem in den Naturschilderungen hervor, die die Autorin oft für Überleitungen nutzt. Mit Vaters Land gelingt Evelina Jecker Lambreva ein vielschichtiger und unterhaltsamer Roman, in dem sich Familien- und Zeitgeschichte verschränken und für die Lesenden greifbar werden. Wolfgang Herrndorf Arbeit und Struktur Berlin: Rowohlt 2013. 444 S. Bernhard Pöckl Aus dem Leben einer Matratze bester Machart Tim Krohn Im Jahr 1935 erwirbt der frisch verheiratete Immanuel Wassermann während seiner Flitterwochen die titelgebende Matratze bester Machart – doch weder er noch seine Frau Gioia sind lange im Besitz des edlen Stücks, vielmehr wechselt die Matratze in den nächsten 57 Jahren Besitzer, Zweck und Ort. Sie ist Schutz im Bunker, Rettungsring bei Seenot, Kranken- und Ruhelager zugleich und begleitet eine Vielzahl an Menschen durch mehrere europäische Länder. Der preisgekrönte Schriftsteller Tim Krohn legt mit Aus dem Leben einer Matratze bester Machart ein originelles Buch vor. In acht Episoden schildert er traurige, komische, nachdenkliche aber vor allem unterhaltsame Abschnitte aus dem Leben der verschiedensten Besitzer der Matratze. Dieses ereignisreiche Matratzenleben bildet den Rahmen für die einzelnen Kapitel, die sich durch sprach- Evelina Jecker Lambreva Vaters Land Wien: Braumüller 2014. 241 S. Tim Krohn Aus dem Leben einer Matratze bester Machart Berlin: Galiani 2014. 118 S. Abschied von Atocha Ben Lerner Ben Lerner Abschied von Atocha Aus dem Engl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013. 253 S. Adam Gordon ist ein ziemlich schräger Vogel: der junge Lyriker von der amerikanischen Ostküste hat für ein Projekt über den spanischen Bürgerkrieg ein Stipendium bekommen und verbringt ein Jahr in Madrid, wo er ein ausgesprochenes Bohemien-Leben führt. Schon zum Frühstück gibt es neben starkem Kaffee auch einen fetten Joint, dann wird reichlich Innenschau gehalten, herumphilosophiert und spazieren gegangen. Trotzdem ist Adam alles andere als glücklich. Er steht erst ganz am Anfang seiner literarischen Laufbahn und die Suche nach seiner künstlerischen Identität wird von plagenden Selbstzweifeln und der regelmäßigen Einnahme von Beruhigungstabletten begleitet. Obwohl ihm seine eigenen Unzulänglichkeiten durchaus bewusst sind und er sich selbst sogar für einen Heuchler hält, ist der Protagonist eitel, selbstverliebt und noch dazu ein notorischer Lügner, der seinen beiden Freundinnen das Blaue vom Himmel herunter flunkert. Trotz allem oder vielmehr gerade deswegen, ist Adam durchaus erfolgreich. Bei einer Lesung trägt er Gedichte vor, die er selbst für Schrott hält – und wird dafür gefeiert. Schließlich kommt er ja von weit her und hat ein wichtiges Stipendium, da scheint es zu genügen, einfach auf die Bühne zu steigen und einstudierte Plattitüden von sich zu geben. Doch dann passiert der blutige Al-Qaida-Anschlag auf den Bahnhof Puerta de Atocha vom 11. März 2004 und es ist vorbei mit der Phrasendrescherei, denn nun erwartet man ein politisches Statement von einem aufstrebenden wichtigen Künstler… Nach drei Lyrikbänden hat der amerikanische Autor Ben Lerner jetzt einen bemerkenswerten und sprachlich geschliffenen Debütroman vorgelegt, der von der US-Kritik enthusiastisch gefeiert wurde. Das Buch ist nicht nur ein gut konstruierter Künstlerroman, sondern auch eine bittersüße Parodie auf einen Literatur- und Kunstbetrieb, der zunehmend zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten verkommt. Stilistisch und auch inhaltlich erinnert der Roman an Thomas Bernhard und insbesondere an Das bin doch ich von Thomas Glavinic, der eine ebenso schonungslose und zugleich komische Selbstvorführung seines Protagonisten zelebriert. Und wie bei Glavinic ist auch bei Lerner zu befürchten, dass der Roman autobiographische Züge trägt – der Autor lebte schließlich selbst einige Zeit als Stipendiat in Spanien. Thomas Geldner Der Autor hat eine Geschichte der Durchschnittlichkeit geschrieben und einen Protagonisten kreiert, der in seiner Mittelmäßigkeit förmlich aufblüht. «Er hat nie verstanden, was die Menschen dazu drängt, herauszustechen (…). Der verbreitete Wunsch nach Aufmerksamkeit und Einzigartigkeit ist ihm fremd» heißt es im Text. Trotzdem ist Walter unzufrieden mit seinem bisherigen Leben, er möchte mehr, kann aber nicht aus seiner Haut heraus und scheitert letztendlich an sich selbst. Dennoch bringt Walters Selbstfindungstrip in Griechenland etliche Erkenntnisse, unter anderem, dass ein wirklicher Ausbruch aus der Gesellschaft für ihn nicht möglich ist. Und beim Anblick von Menschen, die sich in einer langen Schlange für Arbeit anstellen, kommt er zu dem Schluss, dass sein sicherer und langweiliger Job zuhause doch nicht so schlecht war und dass man ihm eine Woche unentschuldigtes Fernbleiben eventuell nachsehen könnte… Bei 30 Grad im Schatten ist ein leiser und feiner Roman, der mit sehr präzisen Beschreibungen und poetischen Stimmungen aufwarten kann. Stellenweise ist der Text auch fast humoristisch, denn trotz seiner deprimierenden Lage ist Walter auch durchaus fähig zur Selbstironie. Und darüber hinaus macht das Buch vor allem eines – Lust auf Griechenland. Thomas Geldner Das verborgene Leben der Pflanzen Sung-U Lee Lorenz Langenegger Bei 30 Grad im Schatten Salzburg: Jung und Jung 2014. 140 S. liche Solidität und Einfallsreichtum auszeichnen. Trotz der Kürze des Buches und der einzelnen Episoden gelingt es Krohn, Sympathie und Interesse für seine Protagonisten zu wecken. Deren Schicksale sind geprägt durch die wechselvolle Geschichte der 57 Jahre, die sich geradezu in den Stoff der Matratze einprägt – nicht umsonst wird das Bild der Landkarte mehrfach bemüht, beginnend mit dem Blut von Gioia Wassermann, dessen Verlauf auf der Matratze an die Karte von Amerika erinnert. Durch einen schönen Kunstgriff findet Krohn einen gelungenen Abschluss für das Buch, der nachdenklich zurücklässt. Aus dem Leben einer Matratze bester Machart ist ein gut geschriebener, kurzer wie kurzweiliger Text. Das literarisch hochwertige Buch ist nicht nur als leichte Urlaubslektüre zu empfehlen. Die große Drucktype macht das Buch insbesondere für sehschwache Lesende interessant. Bernhard Pöckl 16 Besprechungen Bei 30 Grad im Schatten Lorenz Langenegger Walter ist ein unauffälliger und durchschnittlicher Mensch. Der Schweizer arbeitet als Sachbearbeiter bei der Berner Finanzverwaltung und ist seit zehn Jahren mit Edith verheiratet. Eines Tages, nach einem heftigen und ziemlich dummen Streit der wieder einmal von Nichtigkeiten entfacht wurde, wird Walter von Edith verlassen. Als Reaktion darauf packt Walter seinen Rucksack und macht sich auf eine Reise ohne bestimmtes Ziel. Er will einfach fort, alles hinter sich lassen, die gemeinsame Wohnung und den sicheren aber langweiligen Arbeitsplatz. Zunächst geht die Reise nach Zürich, dann nach Italien und weiter nach Griechenland. Dort lernt Walter die hübsche Hotelerbin Natalia kennen und es kommt zu einem Rendezvous, doch leider wird nicht mehr daraus. Auf dem Weg zum Peloponnes läuft Walter ein Hund zu, der ihn eine Weile begleitet. Aber auch der Hund hält es nicht lange mit Walter aus; er wird ihn nach einiger Zeit wieder verlassen, was schon wieder (unfreiwillig) komisch wirkt. Winter 2014/15 Ki-Hyeon schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und erledigt Botengänge und kleinere Arbeiten. Als er einen Auftrag als Privatdetektiv bekommt und eine Beschattung übernehmen soll, hofft er vor allem auf angemessene Entlohnung. Zwar zögert er, da es sich bei der Zielperson um seine eigene Mutter handelt, lässt sich aber dann doch vom anonymen Anrufer überreden. Dieser zuerst so einfach wirkende Auftrag zwingt Ki-Hyeon zur Auseinandersetzung mit den Geheimnissen seiner Familie: Führt seine Mutter ein Doppelleben? Was steckt hinter dem tragischen Armeeunfall seines Bruders? Was geht im Kopf des einst begnadeten Fotografen, der jetzt im Rollstuhl sitzt, wirklich vor? Warum hat ihn dessen große Liebe so plötzlich verlassen? Ki-Hyeon muss aus seiner Rolle als nichtsnutziger Sohn herauswachsen und das «verborgene Leben» seiner Familie ergründen. Mit Das verborgene Leben der Pflanzen veröffentlicht der Unionsverlag einen Roman des in seiner Heimat Südkorea bekannten und ausgezeichneten Schriftstellers Lee Sung-U aus dem Jahr 2000. Die im Buch geschilderte Familie ist im Unglück erstarrt, wie die titelgebenden Pflanzen schweigt die 17 Belletristik Familie, jegliche Kommunikation ist erloschen. Es liegt an Ki-Hyeon, genau hinzuhören und die Aura der Geheimnisse endgültig zu durchbrechen. Diese Entdeckungsreise schildert der Autor auf sehr poetische Weise, die Sprache dient als Brücke zwischen den märchenhaften und realistischen Elementen des Romans. Die Natur und deren Erscheinungen sind hier Spiegel- und Sehnsuchtsbild der menschlichen Existenz. Hinter den rätselhaften Vorgängen lauern Abgründe der Traurigkeit, des Unglücks und der Schuld, trotzdem hat der Text einen versöhnlichen Unterton. Die Geheimnisse und unerklärlichen Verhaltensweisen der handelnden Personen sind der Spannung zuträglich und machen den Reiz des Buches aus. Das verborgene Leben der Pflanzen ist ein gelungener, sprachlich schöner Roman über Familiengeheimnisse und die Liebe, der einer breiten Leserschaft empfohlen werden kann. Bernhard Pöckl Eis Ulla-Lena Lundberg Dem Umstand, dass Finnland Gast der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt war, verdanken wir eine Reihe neuer Übersetzungen, zu denen auch Eis von Ulla-Lena Lundberg gehört. Die hierzulande weitgehend unbekannte finnlandschwedische Autorin, die 1947 auf den AlandInseln geboren wurde, veröffentlicht seit den 1970er Jahren und ihre Prosa wurde mehrfach ausgezeichnet. So erhielt sie unter anderem 2012 den Finlandia-Preis für ihren jüngsten Roman. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges versammelt sich eines Morgens ein Empfangskommitee der zwischen Finnland und Schweden gelegenen Örar-Inseln, um den neuen Pfarrer Petter Kummel, seine Frau Mona und deren Tochter Sanna zu begrüßen. Rasch lebt sich die Familie ein und erliegt bald dem Charme der rauen, aber idyllischen Landschaft des Schärengürtels. Besonders Petter Kummel tritt seinen Mitmenschen unvoreingenommen entgegen und geht mit so viel Enthusiasmus an seine Tätigkeit, dass er und seine Frau, die sich um das Pfarrhaus sowie die Kühe und Schafe kümmert, von der eingeschworenen Gemeinde herzlich aufgenommen werden. Das Leben der Inselbewohner ist von harter Arbeit und den Naturgewalten einer Region, in der das jährliche Eis eine gefährliche, aber auch integrative Rolle spielt, bestimmt. Die Kummels scheinen ihr Glück gefunden zu haben, als ein zweites Kind zur Welt kommt – doch dann erschüttert ein schwerer Schicksalsschlag ihr Leben. Ulla-Lena Lundberg besitzt großes Erzähltalent, sie schildert detailreich und vielleicht stellenweise etwas zu ausführlich das karge Leben Sung-U Lee Das verborgene Leben der Pflanzen Aus dem Korean. Zürich: Unionsverlag 2014. 219 S. Ulla-Lena Lundberg Eis Aus dem Schwed. Hamburg: Mare 2014. 527 S. Arto Paasilinna Der Mann mit den schönen Füßen Aus dem Finn. Köln: Lübbe Ehrenwirth 2014. 239 S. Der Mann mit den schönen Füßen Der Condottiere Arto Paasilinna Georges Perec Am Anfang war alles in Ordnung, wie so oft. Aulis Rävänder ist ein erfolgreicher Mann, ein wohlhabender Reeder und aus «aus zweierlei Gründen glücklich. Er hatte einen guten Schlepper und eine gute Frau.» Beides bedeutet ihm viel, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Doch eines Tages ist es mit dem Glück zu Ende, denn seine Frau Liisa eröffnet ihm kurz und nicht ganz schmerzlos – «Du bist egoistisch…, dick…, stinkst nach Schweiß und Öl…, redest dauernd von Geld…, schnarchst…, (…) bist Tag und Nacht auf dem Meer…, (…) hast ein Benehmen wie ein Trampeltier…» – dass es mit ihrer Ehe vorbei sei und dass sie eine Trennung wünsche. Aulis ist völlig perplex, hatte er doch nicht im Geringsten mitbekommen, dass Liisa schon seit geraumer Zeit einen Liebhaber hat, dem sie nun ihre ganze Aufmerksamkeit schenken möchte. So verlässt der gehörnte Reeder völlig geknickt die gemeinsame Wohnung in einem Helsinkier Nobelviertel und zieht sich in sein Wochenendhaus auf einer entlegenen Schäreninsel zurück. Allerdings lindert die Einsamkeit seinen Kummer keineswegs, vielmehr wird ihm nun seine traurige Lage erst so richtig bewusst. In seiner Not wendet sich Aulis Rävänder an die Telefonseelsorge, wählt aber die falsche Nummer und landet bei der Fußpflegerin Irene Oinonen, der er nichtsdestotrotz seine Geschichte erzählt. Die resolute Dame fasst sich ein Herz, holt den Mann von der Insel und nimmt ihn mit nach Hause. Doch damit ist die Sache keineswegs erledigt, denn das ist erst der Startschuss für eine ganze Reihe von Abenteuern, die mit einem ausgestopften Wildschwein beginnen und nach durchzechten Nächten mit dem Nebenbuhler letztendlich in einem Mordkomplott münden. Der vorliegende Roman ist ein typischer Paasilinna, ziemlich skurril und durchgeknallt, mit einer ganz eigenen Art von Humor. Allerdings ist das Original bereits 1985 erschienen und erst jetzt, wohl im Zuge des Gastlandauftritts Finnlands bei der Frankfurter Buchmesse, auf Deutsch erschienen. Dadurch wirkt der Text stellenweise etwas altbacken, was aber den Unterhaltungswert nicht schmälert. Im Gegenteil, mit diesem schrägen und fantasievollen Roman hat der finnische Erfolgsautor sein humoristisches Talent wieder einmal hinlänglich bewiesen. Gaspard Winckler ist ein begnadeter Fälscher. Seit zwölf Jahren hat er sich für seinen Auftraggeber Madera in Kellern und Ateliers durch die Kunstgeschichte gefälscht und dabei größte Meisterschaft erlangt. Frei von Geldsorgen konnte sich Gaspard nach seiner Ausbildung auf seine Arbeit, seinen einzigen Lebensinhalt, konzentrieren. Andere Facetten der menschlichen Existenz wie seine Liebesbeziehung mussten sich unterordnen und waren damit zum Scheitern verurteilt. Mit seinem letzten Auftrag, ausgehend vom «Condottiere» des italienischen Malers Antonello da Messina einen eigenständigen «Condottiere» zu schaffen, manövriert sich Gaspard jedoch in die Katastrophe. Monatelang bemüht er sich zunehmend verzweifelt in einem verliesähnlichen Atelier, doch das Werk will ihm nicht gelingen und zwingt ihn schließlich zu einem Verbrechen. Mit Der Condottiere wurde 2012 einer von Georges Perecs frühesten Romanen posthum in Frankreich veröffentlicht. Perec, der zu den wichtigsten französischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zählt, beschäftigt sich in diesem Buch mit der Ambivalenz von Kunstwerken und der Selbstfindung von Künstlern – Gaspard ist Zeit seines Lebens ein Imitator, ein genialer Nachahmer, doch bei der Schaffung von neuer, eigenständiger Kunst scheitert er, er kann sich nicht von seinen Vorbildern befreien. Sein Dasein ähnelt nicht nur aufgrund seiner kriminellen Tätigkeit dem eines Gefangenen, er ist auch in der Nachahmung gefangen und kann sich nur durch einen Gewaltakt befreien. Der Roman selbst ist als Rückblick angelegt. Im Dialog mit einem Freund erzählt Gaspard von seinem Leben, doch auch dieser Form bleibt Perec nicht treu, oftmals wird aus dem Gespräch ein Monolog, was dem Text sprachlich wie inhaltlich einen fragmentarischen Charakter verleiht. Im Condottiere werden bereits viele Motive und Themen aus den späteren Texten des Autors vorweggenommen, das Motiv der Fälschung hat im Werk von Perec einen prominenten Platz. Selbst die Figur des Gaspard Winckler findet sich in Perecs berühmten Roman Das Leben Gebrauchsanweisung wieder. Der Condottiere bietet einen spannenden, wenn auch nicht ganz einfach zu lesenden Einblick in das Frühwerk des Schriftstellers. Wer Perec bereits kennt, wird den Text mit Freude lesen, bei allen anderen bleibt zu hoffen, dass das Buch als Köder fungiert. Thomas Geldner Georges Perec Der Condottiere Aus dem Französ. München: Hanser Verlag 2013. 159 S. Bernhard Pöckl Tanja Maljartschuk Biografie eines zufälligen Wunders Aus dem Ukrain. St. Pölten: Residenz Verlag 2013. 267 S. einer abgeschiedenen Gemeinschaft, in der Religion und Aberglaube wichtige Rollen spielen und verleiht dabei jedem Dorfbewohner eine Stimme. Viel Raum nehmen die kraftvollen und plastischen Schilderungen der rauen Schönheit der Natur ein. Keine spannende oder rasant fortschreitendeHandlung macht den Reiz dieses Romans aus, sondern die langsame und sensible Erzählweise, die einen in die Geschichte eintauchen lässt. Carina Brandstetter Biografie eines zufälligen Wunders Tanja Maljartschuk Der neue Roman der in Wien lebenden ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk erzählt vom Leben Lenas, die im «ukrainischen San Francisco» aufwächst. Sie scheint schon im Kindergarten einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu haben, nimmt sich kein Blatt vor den Mund und lässt sich durch nichts von ihren Vorhaben abbringen. Ihre erste «Mission» ist der Einsatz für die russischsprechende Kindergärtnerin – viele weitere sollen noch folgen: Sie nimmt sich streunender Hunde an, kämpft wie besessen um die Rechte 18 Besprechungen einer Freundin gegenüber dem Sozialamt, zwischendurch ist sie sogar in einer politischen Untergrundgruppe aktiv. Das titelgebende Wunder zieht sich – in Form einer fliegenden Frau mit Kopftuch, die Leuten in Not erscheint – wie ein roter Faden durch Lenas Leben und sie ist mehr oder weniger besessen auf der Jagd danach. Der Roman erzählt über Lena in der dritten Person, doch wirkt es passagenweise wie eine Ich-Erzählung, so stark ist Lenas Stimme – eingeflochten über viele direkte Reden. Bis kurz vor dem Ende bleibt überhaupt unklar, wer eigentlich die Erzählstimme ist, doch immer mehr entsteht der Eindruck, Lena wäre zum Zeitpunkt der Erzählung nicht mehr gegenwärtig. Die Erzählerin stellt sich dann am Ende als eine heraus, deren Sichtweise auf die Welt man nicht unbedingt trauen kann, was sehr gut in den generellen Ton des Romans passt. Erzählt wird nicht nur die Geschichte einer außergewöhnlichen jungen Frau, man erfährt auch sehr viel über das Leben und die Alltagsprobleme in der Ukraine – ein Land, das durch die politischen Ereignisse verstärkt in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt ist. Eine Leseempfehlung für alle! Lisa Kollmer Winter 2014/15 TransAtlantik Colum McCann Wer auf der Suche nach inhaltlich und sprachlich eher leichterer Urlaubslektüre ist, wird vermutlich nicht auf das vorliegende Werk zurückgreifen, doch wer an stürmisch-kalten Wintertagen Zeit und Muße für ein ausgesprochen stimmungsvolles und sprachgewaltiges Epos hat, möge sich an TransAtlantik erinnern. Auf zahlreichen kunstvoll ineinander verwobenen (Ort- und Zeit-)Ebenen entfalten sich in mehr oder weniger chronologischen Sequenzen die Leben real existierender und historisch wichtiger Persönlichkeiten: der freigekaufte ehemalige Sklave Frederick Douglass, der im 19. Jahrhundert als Abolitionist in die Geschichte eingehen wird und in einem von Armut und Hungersnot gebeutelten Irland für die Freiheit und Gleichheit aller Menschen Amerikas kämpft; die Pioniere der Luftfahrt John «Jack» Alcock und Arthur Whitten «Teddie» Brown, die 1919 in einer aus Holz, Leinen und Draht selbst zusammengebauten Maschine den ersten Nonstopflug über den Atlantik wagen; der US-Senator George Mitchell, der 1998 maßgeblich an den nordirischen 19 Belletristik Friedensverhandlungen in Belfast beteiligt ist und diese letztendlich auch zum langersehnten Abschluss bringen kann. Parallel zum Lauf der großen Weltgeschichte und ihren männlichen Protagonisten schildert der Autor einige Frauenschicksale: die irische Hausmagd Lily Duggan, die ihr Glück im fernen Amerika (ver)sucht; ihre Tochter Emily Ehrlich und Enkelin Lottie Tuttle, die den Transatlantikflug als Reporterin und Fotografin mitverfolgen und über Neufundland wieder nach Nordirland zurückkehren; und ihre Urenkelin Hannah Carson, die beinah am Ende ihres Lebens einen über die vier Generationen hinweg weitergegebenen und nie geöffneten Brief lesen wird, der alle Personen auf geheimnisvolle Weise wieder miteinander in Beziehung setzen wird… Der 1965 in Dublin geborene Autor studierte Journalismus und war auch einige Zeit als Reporter tätig, bevor ihm 1994 mit seiner ersten Kurzgeschichtensammlung der literarische Durchbruch gelang. Seitdem hat er zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen erhalten; hierzulande ist er vor allem für seine Romane Der Tänzer, Zoli oder Die große Welt bekannt. Sein aktuelles Werk ist inhaltlich wie sprachlich anspruchsvoll und absolut empfehlenswert! Martina Lammel Colum McCann TransAtlantik Aus dem Engl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014. 381 S. Joe Golem und die versunkene Stadt Mike Mignola Der Fall der Baronin Bibu und andere Geschichte aus dem Leben Walther Rode Mike Mignola Joe Golem und die versunkene Stadt Aus dem amerikan. Engl. Köln: Bastei Lübbe 2013. 299 S. Walther Rode Der Fall der Baronin Bibu und andere Geschichte aus dem Leben Wien: Czernin 2013. 165 S. Durch Naturkatastrophen sind Teile von New York seit den 1920er Jahren überschwemmt, trotzdem leben auch jetzt, ein halbes Jahrhundert später, immer noch Menschen in dieser verarmten, «versunkenen Stadt». Dazu zählen auch Felix Orlov, alternder Magier und Medium, und seine junge Assistentin Molly McHugh. Orlov ist kein Scharlatan, seine Fähigkeit mit den Toten Kontakt aufzunehmen ist echt und sichert ihm und Molly mehr schlecht als recht ein Auskommen. Als Felix während einer Seance von bedrohlichen, maskierten Männern entführt wird und Molly auf der Flucht dem geheimnisvollen Joe begegnet, überschlagen sich die Ereignisse und bald steht weit mehr als das Schicksal der beiden Helden auf dem Spiel. Joe Golem und die versunkene Stadt ist nicht die erste Zusammenarbeit von Christopher Golden und Hellboy-Schöpfer Mike Mignola und wie Baltimore, oder der standfeste Zinnsoldat und der Vampir ist auch dieses Buch ein von Mignola illustrierter Roman. Als wüster und äußerst unterhaltsamer Genre-Mix lässt der Roman die Lesenden keine Minute zur Ruhe kommen – neben Anleihen bei Horrorikone H.P. Lovecraft und den hardboiled Novels, finden sich als weitere Zutaten alte Artefakte, Monster, Geisterscheinungen, wahnsinnige Bösewichte und ein Schuss Dystopie. Der liebevolle Umgang mit den verschiedenen Versatzstücken aus Literatur, Comic und Film macht den Reiz des Buches aus und ist ja auch eines der Erfolgsrezepte von Mignolas Comics. Trotzdem wirkt der Text nie zerfahren, sondern – verstärkt durch die Illustrationen und die klare Sprache – in sich stimmig. Golden und Mignola legen ein gutes Gefühl für Rhythmus an den Tag, das Buch weist keine Leerläufe auf und ist durchgehend spannend. Joe Golem und die versunkene Stadt ist ein unterhaltsamer und kurzweiliger Roman, der sich über Genregrenzen hinwegsetzt und einen guten Einstieg in das Schaffen von Mignola und Golden ermöglicht. Für Fans ohnehin Pflicht, ist das Buch für Lesende mit einem Faible für Fantastik oder Horror zu empfehlen. Walther Rode ist ein Unbekannter der österreichischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts –zu Unrecht vielleicht. Mit dem hier vorliegenden Bändchen, erschienen in der Reihe Bibliothek der Erinnerung des Czernin Verlages, soll dieser Umstand hinterfragt werden. Der Autor war von Brotberuf Rechtsanwalt und berichtete über besonders spektakuläre Fälle in Zeitungsartikeln. In Wien machte er sich als Chronist und Kritiker der Rechtsbürokratie einen Namen. Sein Engagement gegen den Austrofaschismus gipfelte in der Verbrennung seiner Bücher im Jahre 1933, Rode war bereits Ende der 1920er Jahre in die Schweiz gegangen, wo er 1934 auch verstarb. Parallel zu seiner Korrespondententätigkeit für das renommierte «Prager Tagblatt» veröffentlichte er auch belletristische Texte, die im vorliegenden Band präsentiert werden. Neben den manchmal etwas sperrigen, aber durchaus auch humorvollen Kurzgeschichten, die von unterschiedlicher Qualität sind, ist der titelgebende, in Fortsetzung erschiene, längste Text zu erwähnen. Die Gerichtsfälle sind in der österreichischen Monarchie, der Schweiz, Italien oder Frankreich angesiedelt und die Menschen haben Berufe wie Dragonermajore, Kostümzeichner oder Kragenfabrikanten. Ein Satz wie «Und wenn vornehme Leute herunterkommen, so müssen sie, nach dem Gesetz der Schwingung, tiefer herunterkommen, als jemand herunterkommen kann, der nie oben gewesen ist.» könnte von Heimito von Doderer sein. Ob Rode, wie der Herausgeber Alfred Noll meint, in die Nähe von Altenberg, Kuh, Polgar oder Tucholsky zu rücken ist, sei dahingestellt und kann meines Erachtens auf Grund des schmalen Oeuvre nicht beurteilt werden. Fakt ist jedenfalls, dass es sich um durchaus lesenswerte Literatur eines vergessenen Wiener Autors handelt. Sabine Baumann Was mir zusteht Parinoush Saniee Bernhard Pöckl Bereits im Jahr 2003 erschien Parinoush Saniees Debütroman Was mir zusteht im Iran und avancierte, nachdem er monatelang von den iranischen Zensurbehörden zurückgehalten worden war, schnell zu einem Bestseller. Auch in den folgenden Jahren sollten Nachdrucke immer wieder verhindert werden. Nachdem das Buch im Jahr 2010 seinen Weg nach Italien fand und dort ausgezeichnet wurde, erschien es im vergangenen Jahr im Rest Europas. Parinoush Saniee Was mir zusteht Aus dem Pers. München: Knaus 2013. 479 S. 20 Besprechungen Winter 2014/15 In Was mir zusteht schildert Saniee auf sehr eindrucksvolle und einfühlsame Weise das Schicksal der Iranerin Masumeh. In eine traditionell eingestellte Familie hineingeboren und stets unterdrückt, wird sie schließlich, nachdem sie sich unerlaubterweise in einen Apotheker verliebt hat, zwangsverheiratet. Ihr Mann bedeutet für sie Glück und Unglück zugleich. Dieser ist fortschrittlich eingestellt, erlaubt Masumeh den Besuch der Schule und Universität und möchte, dass sie ein absolut unabhängiges und modernes Leben führt. Doch arbeitet er auch im Untergrund, interessiert sich wenig für seine Frau und Kinder und bringt diese durch seine politische Tätigkeit in große Gefahr. Masumeh ist die meiste Zeit auf sich allein gestellt und muss sich in der Rolle als Tochter, Mutter, Hausfrau, Studentin und später auch als Ehefrau eines inhaftierten Dissidenten behaupten. Immer wieder erfährt sie schmerzhaft, wie sehr die iranische Gesellschaft den überkommenen Strukturen und Traditionen verhaftet ist. Wird Masumeh am Ende ihr Glück finden und bekommen, was ihr zusteht? Parinoush Saniee ist ein berührender und fesselnder Roman gelungen, der tiefe Einblicke in die iranische Gesellschaft und die Rolle der Frauen gibt. Der Leser erfährt interessante Details über die in Europa wohl häufig recht unbekannte Geschichte eines Landes. Zahlreiche Themen werden zur Sprache gebracht: die Liebe, das Zusammenleben in einer Ehe, die Geschichte und politischen Entwicklungen eines Landes, die Unterdrückung und Emanzipation der Frauen, die schwer zu überwindenden Traditionen. Martina Bednar Der Widerschein David Schönherr Die Niederlande im 18. Jahrhundert bilden den Hintergrund für die Lebensgeschichte des Protagonisten Ferdinand Meerten, der als Waisenkind zunächst in die Obhut eines Pfarrers gegeben wird. Schon als Kleinkind zeigt er ein erstaunliches Talent zum Zeichnen – seine Bilder lösen bei den Betrachtern jedoch nicht nur Bewunderung, sondern ganz unterschiedliche, in jedem Fall aber sehr intensive Gefühle aus, die sich mitunter zu rausch- oder alptraumhaften Zuständen steigern. Der Pfarrer verstirbt sogar bei der Betrachtung einer Zeichnung, die Ferdinand ihm zurückgelassen hat, als er zu seiner Lehrstelle bei Malermeister Bros aufbricht. Meister Bros, selbst nicht herausragend begabt, profitiert von den Künsten seines Lehrlings ungemein indem er dessen Werke als seine eigenen ausgibt. Doch auch ihm ist ein frühes Ableben beschieden, ebenso wie dem kunstsammelnden Nachbar und Bros’ Ehefrau. Leichen bleiben meist zurück, sobald 21 Belletristik Ferdinand Meerten von einer Station seines Lebens zur nächsten zieht. Eine zarte, nur angedeutete Liebesgeschichte zu einer magiebegabten Frau entspinnt sich, danach wird Ferdinand Teil einer als Vagabunden umherziehenden Gruppe, die schließlich verhaftet und großteils zum Tode verurteilt wird. Ferdinand entgeht diesem Schicksal und wird vom Richter aufgenommen, landet später allerdings in einem Irrenhaus, wo ihn endlich der Kunsthändler Gerlach aufstöbert, der schon so lange nach Ferdinand gesucht hat und mit der geheimnisvollen Wirkung der Werke selbst seine Erfahrungen gemacht hat. Nach dem Brand des Irrenhauses findet sich Gerlach mit Ferdinand auf einem Boot wieder; hier endet der Roman im Ungewissen, ohne weitere Perspektive und ohne Ansätze einer Erklärung für die rätselhaften Vorgänge. Die Figur des Ferdinand bleibt im gesamten Roman merkwürdig blass – seine Gefühle und Gedanken werden nicht beschrieben, keines seiner Worte überliefert. Dagegen äußert sich das Figureninventar rund um Ferdinand immerhin in indirekter Rede – kunstfertig strikt durchgehalten bis zum Ende der Erzählung – und zeigt zwar wenig sympathische Züge, ist aber in der jeweiligen Motivation und Zielgerichtetheit durchaus glaubwürdig. Ferdinand treibt anscheinend absichtslos zwischen den Orten und Personen, seine Zeichnungen bringen die Schattenseiten der BetrachterInnen ans Tageslicht. Der Widerschein ist und bleibt für die LeserInnen ein rätselhafter Roman, einzelne Handlungsstränge enden abrupt und werden nur durch den Protagonisten verknüpft. Sprachlich entwickelt die Erzählung rund um Ferdinand Meerten eine intensive Sogwirkung, die eingeschobenen Bemerkungen zum historischen, soziologischen oder politischen Hintergrund wirken dagegen wenig integriert und bleiben an der Oberfläche. Auf weitere Werke des 1980 geborenen Leipziger Autors und Dramaturgen David Schönherr darf man nach diesem interessanten Debütroman gespannt sein. Katharina Zucker Der glücklose Therapeut Noam Shpancer David Winter ist glücklich verheiratet, Vater einer Tochter, arbeitet als Psychologe und scheint ein rundum gelungenes Leben zu führen. Als er mit Barry Long einen neuen Klienten in seine Kartei aufnimmt, denkt David zuerst an einen Fall von Depression, doch die Behandlung des Gutachters für Autoversicherungen erweist sich als schwieriger als erwartet. Auch sein alter Mentor Dr. Helprin kann dem Therapeuten nicht helfen, gleichzeitig gerät auch sein Privatleben immer David Schönherr Der Widerschein Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2013. 253 S. Noam Shpancer Der glücklose Therapeut Aus dem amerikan. Engl. München: Knaus 2013. 252 S. Zadie Smith London NW Aus dem Engl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014. 432 S. London NW Konzert für die Unerschrockenen Zadie Smith Bettina Spoerri Selten war sich das (deutschsprachige) Feuilleton so einig wie bei diesem Buch: Zadie Smiths tragikomischer Roman wurde allseits gelobt, der Rezensent der faz hat ihn gar dreimal gelesen, so begeistert war er. Wie schon ihr Debüt Zähne zeigen spielt auch Smiths aktuelles Werk im diesmal sogar titelgebenden Nordwesten Londons. Die vier Protagonisten, wie die Autorin in eben diesem Teil der britischen Hauptstadt Mitte der 1970er Jahre geboren, wachsen in dem fiktiven Sozial-Wohnbau Caldwell auf. Während Felix und Nathan im Drogensumpf versinken, schaffen Leah und Keisha den sozialen Aufstieg, erklimmen allerdings unterschiedlich hohe Sprossen der Karriereleiter. Die studierte Philosophin Leah hat einen schlecht bezahlten Job in der Administration einer ngo, die sich mittlerweile Natalie nennende Keisha ist erfolgreiche Wirtschaftsanwältin. In den ersten beiden Teilen des Buches, in deren Mittelpunkt Leah bzw. Felix stehen, zeigt sich einmal mehr, warum Zadie Smith oftmals als legitime Nachfolgerin Charles Dickens gehandelt wird. Die Autorin entwirft ein plastisches Bild ihres multikulturellen Heimatbezirks, beschreibt eindrücklich ethnische und vor allem ökonomische Spannungen. Smith gelingt das Kunststück, ihre Protagonisten primär anhand knapper Dialoge zu charakterisieren, auf elaborierte psychologische Deutungen verzichtet sie. Im dritten Teil wechselt die Autorin vom vergleichsweise konventionellen epischen Erzählen zur Technik des Bewusstseinsstrom und ähnelt dann stilistisch eher Virgina Woolf und James Joyce als Dickens. In 185 kurzen chronologischen Sequenzen erhalten wir schlaglichtartige Einblicke in das Leben von Keisha alias Natalie. Rezensenten im angloamerikanischen Raum monierten, dass es sich bei Smiths Figurenarsenal um Stereotypen, deren Schicksal höchst beliebig anmute, handle, Gründe für Erfolg oder Scheitern würden nicht tiefergehend untersucht. Eine Kritik, der ich mich allenfalls partiell anschließen kann; tatsächlich sind nicht alle Entwicklungen, die die Charaktere durchmachen, sehr plausibel, insgesamt sind die Protagonisten aber viel zu komplex und facettenreich gezeichnet um als holzschnittartig durchzugehen. Das Postulat einer soziologischen Analyse wurde von der Autorin selbst nie erhoben, insofern ist ihr auch aus deren Fehlen kein Vorwurf zu machen. Die Handlung ist nicht das dominierende Element dieses Romans, auf über 400 Seiten passiert nichts, was sich nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen ließe. Dass es sich bei London NW dennoch um ein höchst kurzweiliges Lesevergnügen handelt, liegt am vielgelobten Erzähltalent von Zadie Smith, die vor unseren Augen ein literarisches Kaleidoskop ihres Herkunftsorts entstehen lässt. Konzert für die Unerschrockenen ist der Debütroman der 1968 geborenen Schweizerin Bettina Spoerri, die nach einem längeren Aufenthalt in Israel heute in Zürich lebt und das Literaturhaus in Lenzburg leitet. Als ihre Großtante, die bekannte Cellistin Leah, stirbt, reist die junge Zürcher Studentin Anna zum Begräbnis nach London, wo ihr der Cousin zwei Tagbücher von Leah überlässt. Die Großtante schildert darin nicht nur ihre erfolgreiche Musikkarriere und ihr bewegtes Leben, das sie von Wien über Manila, Shanghai, Palästina und schließlich nach London führte, sondern auch die Schwierigkeiten denen sie als Jüdin nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war. Die Lektüre setzt bei Anna die Auseinandersetzung mit der schwierigen Familiengeschichte in Gang, denn nicht nur die Ehen der Großtante und Großmutter, sondern auch die ihrer Eltern endeten mit einer Scheidung. Zurück in Zürich erfährt sie vom Herzinfarkt ihres Vaters. Für Anna eröffnet sich so nicht nur die Chance auf eine Annäherung an ihre Familie, sondern auch an sich selbst. Trotz des Spannungsfeldes, das durch die Gegensätzlichkeit der Hauptfiguren, der starken und selbstbewussten Leah und der unsicheren und zurückhaltenden Anna, erzeugt wird und der interessanten Frage nach der jüdischen Identität, findet man bei der Lektüre keinen rechten Zugang zu der an Figuren und Schicksalen reichen Familiengeschichte, die von Trennungen und Distanziertheit geprägt ist. Vieles bleibt in der Schwebe. Mit Ausnahme Leahs wirken die Protagonisten wenig greifbar, obwohl Bettina Spoerri eine gute Beobachterin ist, die alltägliche Situationen und Stimmungen in einer präzisen und feinen Sprache zu beschreiben vermag. Monika Reitprecht mehr aus dem Gleichgewicht. Die Probleme in Beziehung und Familie geraten außer Kontrolle und stürzen David Winter in eine tiefgehende Krise, die ihn ebenso wie die Behandlung von Barry Long zu überfordern droht. Nach dem großen Erfolg mit Der gute Psychologe legt Noam Shpancer einen weiteren Roman vor, der um die Welt der Therapie kreist und zeigt, dass auch die besten Therapeuten vor privaten Problemen nicht gefeit sind. Insofern ist Der glücklose Therapeut über weite Strecken auch die Geschichte eines Scheiterns, bietet aber auch Einblick in den Alltag eines Psychotherapeuten und die damit verbundene Praxis. Der selbst als Therapeut tätige Autor vermeidet im Text allzu offensichtliche Klischees, weswegen der vorliegende Titel sicher zu den gelungeneren Romanen dieses Themenkreises gezählt werden kann. Mit lakonischer Sprache und einem guten Blick für Details schildert Sphancer Arbeit und Privatleben des Helden und verknüpft beides zu einem unterhaltsamen, aber auch ein wenig melancholischen Text. 22 Besprechungen Lesenden mit Interesse an der Psychotherapie ist der Roman durchaus zu empfehlen. Fans von Irvin D. Yalom kann das Buch aufgrund der thematischen Nähe ebenfalls nahegelegt werden, auch wenn bei Shpancer philosophischen Überlegungen weniger Platz eingeräumt wird. Bernhard Pöckl Katharina M. Bergmayr Bettina Spoerri Konzert für die Unerschrockenen Wien: Braumüller 2013. 462 S. Marlene Streeruwitz Nachkommen Frankfurt am Main: Fischer 201 4, 431 S. Wir Tiere Justin Torres Carina Brandstetter Nachkommen Marlene Streeruwitz Marlene Streeruwitz erhielt für einige ihrer Romane zahlreiche Auszeichnungen. Ihr vorletzter Roman Die Schmerzmacherin befand sich 2011 sogar auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Die Autorin weiß also, wovon sie in ihrem aktuellsten Roman Nachkommen. erzählt: die 20jährige Nelia Fehn hat es mit ihrem Debütroman Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Sie fliegt direkt vom Begräbnis ihres Großvaters in Niederösterreich nach Frankfurt, um an der Preisverleihung Winter 2014/15 teilzunehmen. Dort wird die junge Frau mit den Härten des Literaturbetriebs konfrontiert: paternalistische und geizige Verleger, eifersüchtige Verleger-Geliebte, arrogante Literaturprofessoren, der ganz normale Buchmesse-Wahnsinn also. Doch Fehn ist vor allem mit ihrer Familiengeschichte beschäftigt, trifft sie doch in Frankfurt erstmals ihren leiblichen Vater. Aber nicht nur das: sie wird auch mit seiner (und damit ihrer eigenen) Vergangenheit, seinen Geliebten und ihrer nun um das väterliche Erbe besorgten Halbschwester konfrontiert. Somit bildet die Abrechnung mit dem Literaturbetrieb die Kulisse für die Themen, die Streeruwitz seit jeher beschäftigen: familiäre Verstrickungen und die Degradierung der Frau. Nur leider geht die Kritik an herrschenden Machtverhältnissen insbesondere gegen Ende des Romans in allzu konstruiert anmutenden, völlig uninteressanten Familienintrigen unter. Der Feuilleton zeigte sich allerdings durchwegs begeistert: «eindrucksvoll», «fulminant», «Buchpreis-verdächtig» liest man in sämtlichen Rezensionen. Damit sich der Kreis schließt, drückte der Literaturjournalismus die Daumen, dass Streeruwitz mit diesem Roman ein weiteres Mal auf die Shortlist kommt – diesmal vielleicht sogar als Gewinnerin hervorgeht. Und wenn es mit Nachkommen. nicht klappt, dann vielleicht mit Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland, der kommende Roman von «Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn» (Verlagsangabe), der im Herbst im S. Fischer-Verlag erscheinen wird. Sprachlich arbeitet Streeruwitz vor allem mit dem von ihr perfekt beherrschten Stilmittel: der tempomachenden Ellipse, die sowohl der Protagonistin als auch den Leserinnen und Lesern kaum Zeit zum Nachkommen. lässt. 23 Belletristik Wir Tiere ist der Debütroman des 1980 geborenen New Yorker Schriftsteller Justin Torres. Peter Torberg hat eine kongeniale Übersetzung für Torres verknappte, fast kurzatmig wirkende Sprache gefunden und macht dieses schmale Buch so auch für das deutschsprachige Publikum zu einem herausragenden Leseerlebnis. Es ist die Geschichte eines namenlos bleibenden Jungen und seiner beiden Brüder, die in Brooklyn in einer etwas ungewöhnlichen Familie aufwachsen. Ihre raue, ungeschliffene Art des Umgangs lässt die Familie von Beginn an zu etwas Außergewöhnlichem werden. Es scheint als ob für diese Familie eigene Gesetze gelten, denn Liebe und Brutalität liegen ganz nahe beieinander. Die von Torres sehr intensiv geschilderten Familienszenen wirken manchmal geradezu verstörend Justin Torres Wir Tiere Aus dem amerikan. Engl. München: dtv 2013. 168 S. und man muss das Buch kurz weglegen um das eben Gelesene zu verdauen. Einerseits scheint den drei Jungen alles erlaubt zu sein, was manchmal fast zur Katastrophe führt, andererseits sind die Reaktionen der Eltern sehr heftig und logisch nicht nachzuvollziehen. «Ich wollte ein Buch über eine Familie schreiben, die so kompliziert, so voller Liebe und zugleich voller Makel ist, dass die Leute dem Drang zu kategorisieren widerstehen», gab der Autor in einem Interview zum Buch an. Torres Familienmodell steht in diametralem Gegensatz zum durchorganisierten, behüteten Umgang mit Kindern in unserer Wohlstandsgesellschaft und gerade das macht den Reiz dieser Story aus – und lässt sie so verstörend wirken. Peter Hörschelmann Ich bin die Zukunft Wir sind die Zukunft ist eine raffiniert konstruierte Endzeitgeschichte, die einen kräftigen Wandel durchmacht. Zunächst denkt man an eine klassische Aussteigergeschichte à la Thoreaus Walden und Leitner erinnert auch ein wenig an Melvilles Bartleby. Doch dann wird aus der fröhliche Einsiedlerpartie eine düstere Endzeitvision bzw. eine Zombie-Apokalypse. Und das Heftigste daran ist, dass das Ganze gar nicht so unrealistisch ist, trotz aller Sci-Fi-Elemente, die den zweiten Teil des Buches dominieren. Fazit: ein spannend geschriebener und eindringlich erzählter Roman mit einer starken und brandaktuellen Message. Thomas Geldner Das Kostbarste aller Geschenke Notizen 10. 05. 2010 – 09. 07. 2012 Andreas Unterweger Erwin Uhrmann Erwin Uhrmann Ich bin die Zukunft Innsbruck: Limbus 2014. 174 S. Andreas Unterweger Das Kostbarste aller Geschenke Graz: Droschl 2013. 179 S. «An einem Sonntagabend im Juli begann Sebastian Leitner zu schweigen.» So beginnt die Geschichte, die von einem jungen Mann erzählt, der nach einem Streit mit seiner Frau Hanna alles zurücklässt und sich auf den Weg in die Berge macht. Davor gibt es noch einen Termin bei seiner Bank, die ihm den Kredit für sein Haus fällig gestellt hatte. Leitner sitzt schweigend vor seinem Bankberater Ganslick, der unaufhörlich auf ihn einredet und in Leitners Wahrnehmung immer mehr zu Gustav Gans aus Entenhausen wird – eine köstliche Szene. Leitner zieht sich tief in die Alpen zurück und gelangt schließlich zu einem Berghaus, wo eine alte Dame völlig allein und zurückgezogen lebt. Er mietet sich für einen Monat ein und geht seiner Wirtin bei allerhand Arbeiten zur Hand. Aus einem Monat werden etliche Jahre und nachdem die Alte stirbt, bleibt Leitner alleine in dem Berghaus zurück. Er hält Tiere, baut Gemüse an und fristet ein vergnügliches Einsiedlerdasein. Doch dabei soll es nicht bleiben, denn merkwürdige Dinge geschehen. Zunächst ändert sich das Wetter, es wird zusehends wärmer und die vier Jahreszeiten verwandeln sich in eine Nassund eine Sonnenzeit. Auch die Landschaft verändert sich: es wird immer trockener und auch die Baumgrenze verschiebt sich in immer höher gelegene Bereiche. Als dann auch die Materialseilbahn ihren Dienst quittiert und gerade noch eine Nachricht schickt, aus der hervorgeht, dass es keine Banken mehr im Tal gibt, wird die Sache unheimlich. Zuletzt erscheint auch noch die Nichte der alten Dame im Berghaus und berichtet von einem schrecklichen Chaos in der Welt, ausgelöst durch Umweltkatastrophen und einem «Systemfall»… Kinder brauchen Zeit, das ist nichts Neues. Das gilt auch für Schriftsteller, die sich in der «Papaisierung» üben müssen. Da bleibt zum Schreiben wenig Zeit. Daher ist die Notiz für Andreas Unterweger jene literarische Form, «die sich mit seinem neuen Dasein als Familienvater noch am ehesten vereinbaren lässt. (Wenn er nur eine Hand frei hätte, denkt er, um das aufzuschreiben.)» Folglich wählt der junge Autor die Notiz, um den Prozess des Vaterseins literarisch darzustellen. Was am Anfang ein wenig fremd anmutet, wird im Laufe der Lektüre zu einer höchst interessanten und ansprechenden Leseerfahrung. In mathematisch penibel angeordneten Abschnitten erzählt Andreas Unterweger vom Dasein als Vater und von den mannigfachen Erfahrungen, die damit einhergehen. Die Sprachfindung und die ersten Wörter des Kindes sind dabei genauso Thema wie das Leben in einer Patchwork-Familie, verschiedene Reisen (Frankfurter Buchmesse, Berlin) und natürlich der ständige Kampf mit dem Schreiben bzw. mit dem Ringen um die Zeit, die einem dafür zur Verfügung steht. Garniert wird das Ganze mit einer ganzen Reihe von Zitaten namhafter Persönlichkeiten wie etwa Goethe, Bob Dylan oder Philip K. Dick, der schon beim Titel Pate gestanden hat. Es ist erstaunlich, wie sich all diese Notizen zu einem Sprachmosaik zusammenfügen, das in knappster Form eine umfassende und in sich schlüssige Geschichte erzählt. Dabei sind die einzelnen Notizen durchaus unterschiedlich, mal lyrisch oder philosophisch, dann wieder sehr komisch und sprachspielverliebt, z.B. bei all den Wortkreationen, die das Kind zustande bringt: so sagt es Pflaxta statt Pflaster, Lalabär statt Koala oder Neemann und Muh zu Schneemann und Kuh, wobei der Weihnachtsmann und sein Rentier gemeint sind. Auch die Selbstironie kommt nicht zu kurz, etwa wenn der Vater seine Tochter beruhigen möchte: «Wenn der Papa da ist, brauchst du keine Angst zu haben, sagt er. Sie lächelt (milde, denkt er) – und schüttelt den Kopf.» Insgesamt ist das Das Kostbarste aller Geschenke ein reizvoller und absolut lesenswerter autobiographischer Text. Allein schon durch die Form, denn nur mittels Notizen auf diese Art zu erzählen, ist eine beachtenswerte und innovative Leistung. Thomas Geldner Der Sommer der Wildschweine Birgit Vanderbeke Birgit Vanderbeke gewann 1990 mit ihrer Erzählung Das Muschelessen den Ingeborg-Bachmann-Preis. Seit dem hat sie einige weitere Literaturpreise gewonnen und zahlreiche Romane und Erzählungen vorgelegt. Ihr jüngster Roman Der Sommer der Wildschweine spielt in Südfrankreich, in der Wahlheimat der deutschen Autorin. Die Protagonistin Leo und ihr Mann Milan verbringen den Sommer in einem Ferienhaus im Languedoc. Zu Beginn schafft es Vanderbeke durchaus Spannung aufzubauen und die Neugierde der Leserschaft zu wecken: «Und es war der Sommer, in dem alles anders wurde.» Man meint, es handle sich um einen Sommer der Krise in der Ehe des Paares, durch einen besonderen Vorfall hervorgerufen, der irgendetwas mit dem hohen Zaun zu tun haben dürfte, der das Grundstück, auf dem das Ferienhaus steht, umgibt. Der Zaun soll die Gärten und Felder der Bewohner vor den Wildscheinen schützen, die immer öfter aus den Cavennen in die Täler kommen, um dort alles zu zerstören. Die Spannung kommt zum Höhepunkt, als ein großes Unwetter aufzieht, das Leo und Milan beinahe komplett von der Außenwelt abschneidet: ohne Strom, Internet und Telefon ist das Paar kurze Zeit auf sich alleine gestellt, beginnt sich zu sorgen, ob die mittlerweile erwachsenen Kinder nicht versuchen, ihre Eltern zu erreichen. Doch anstatt eines «Erdbebens» der Ereignisse, passiert so gut wie nichts. Viele Themen werden von Vanderbeke ganz nebenbei angerissen: Terrorismus, Naturkatastrophen, Ökologie, Wirtschaftskrise etc. ohne dabei auch nur annähernd in die Tiefe zu gehen. Es ist nicht schwer, den Gedankengängen der Autorin zu folgen, doch es scheint kein konkretes Ziel zu geben, keine Schlüsse, keine Betrachtungen, die es wert sind, darüber länger nachzudenken. Die Sätze ziehen vorbei, das nur 151 Seiten kurze Buch wird länger und länger, ohne auch nur den Hauch einer Spur im Gedächtnis der Lesenden zu hinterlassen. Worum geht es Vanderbeke tatsächlich? Eine Frage, die von Seiten der Rezensentin nicht beantwortet werden kann. Katharina-Marie Bergmayr 24 Besprechungen Winter 2014/15 25 Belletristik Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau Dimitri Verhulst Der 1972 geborene flämische Schriftsteller Dimitri Verhulst, dessen vorangegangenen Romane mit zahlreichen Preisen bedacht und in 25 Sprachen übersetzt wurden, wagt sich in Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau an das schwierige Unterfangen, das Thema Demenz humorvoll zu betrachten. Désiré Cordier ist knapp über siebzig als er beschließt, dass sein Leben nicht so weitergehen kann wie bisher. Der pensionierte Bibliothekar, dessen körperliche Kräfte zunehmend schwinden, sieht sich in einer kleinen Wohnung eingesperrt, zusammen mit einer Ehefrau, die ihn permanent kritisiert und mit Genuss vor der Familie lächerlich macht. So kommt Désiré auf die Idee, in die Rolle eines Demenzkranken zu schlüpfen, um der drückenden Enge seines Daseins zu entkommen. Es beginnt mit kleinen Vergesslichkeiten, dank seiner akribischen Studien des Krankheitsbildes verschlechtert sich der Zustand des falschen Kranken aber rapide und sehr überzeugend, bis die Situation für seine Frau schließlich unerträglich wird. Schließlich erreicht er, ins Pflegeheim Winterlicht gebracht zu werden, wo er nicht nur auf einen unverbesserlichen Nazi, sondern auch auf seine alte Jugendliebe Rosa Rozendaal trifft. Doch was Désiré als einfaches, ruhiges Leben ohne Verantwortung erscheint, entpuppt sich schließlich als schwieriger als angenommen… Dimitri Verhulst hat einen Unterhaltungsroman geschrieben, dem es stellenweise gelingt, ein ernstes Thema humorvoll zu vermitteln und in dem berechtigte Kritik am Umgang mit Demenzkranken geübt wird. Doch auch wenn die Grundidee reizvoll erscheint, entwickelt sich eine vorhersehbare Geschichte ohne viel Gehalt, für die selbst bescheidene 140 Seiten noch zu lang erscheinen. Auch die teilweise recht derbe Sprache sowie die expliziten Schilderungen körperlicher Vorgänge tragen nicht zum Lesevergnügen bei. So erweist sich Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau als wenig anspruchsvolle Lektüre für zwischendurch. Carina Brandstetter Birgit Vanderbeke Der Sommer der Wildschweine München: Piper 2014. 151 S. Dimitri Verhulst Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau Aus dem Niederländ. München: Luchterhand 2014. 140 S. Besprechungen Krimi und Thriller Gone Girl Das perfekte Opfer Totenmond Sven Koch Gillian Flynn Bitter im Abgang Aldo Cazzullo Aldo Cazzullo Bitter im Abgang Aus dem Ital. München: C.H. Beck 2014 151 S. Italien ist ein ausgesprochen dicht besiedeltes Krimi-Land – kaum ein Landesteil, der nicht auf seinen eigenen Commissario verweisen kann. Das Piemont war bis jetzt Schauplatz der Krimis von Michael Dibdin oder Michael Böckle, nun gesellt sich ein schmaler, ungewöhnlicher Kriminalroman von Aldo Cazzullo dazu. Cazzullo schrieb jahrelang für den Politikteil der renommierten Tageszeitung La Stampa und debütiert mit Bitter im Abgang als Buchautor. In klarer, kühler und einfacher Sprache wird vom Mord an einem alten Mann erzählt. Der erfolgreiche Weinbauer Moresco, Partisane im Zweiten Weltkrieg und mittlerweile einer der reichsten Männer der Trüffelstadt Alba, wird erschossen im Wald gefunden. Getreu dem Motto, dass das Vergangene nie vorüber ist, liegt der Schlüssel zur Aufklärung in der Vergangenheit des Opfers versteckt. Anders als bei den erfolgreichen Reihen von Donna Leon oder Henning Mankell bleibt Aldo Cazzullos Kommissar dezent im Hintergrund. Sein Name bleibt ungenannt und man erfährt kaum etwas über sein Privatleben. Weder wird im Kreis der Familie zu Abend gegessen, noch werden seelische Befindlichkeiten vor der Leserschaft ausgebreitet. Der Autor verbindet gekonnt den Kriminalfall mit einer Liebesgeschichte und der Geschichte der Partisanenkämpfe im Piemont und flicht diese drei Erzählstränge, unterschiedliche Zeitebenen verbindend, zu einem stimmigen, kurzweiligen und Interesse an der jüngeren italienischen Geschichte weckenden Krimi. Viel zu wenig weiß man, oder zumindest die Rezensentin, von den Partisanenkämpfen in Italien. Vielleicht kennt und kann man «Bella Ciao» mitsingen, jedoch ist einem nach der Lektüre dieses Buches klar, dass die PartisanInnen selbst dieses Lied nie angestimmt haben. Es ist Cazzullo ein kurzer, klassisch anmutender Kriminalroman gelungen, der auch historisch Interessierte ansprechen wird. Irene Scheiber Lenauwahn Ein Wiener Kaffehauskrimi Hermann Bauer Lenauwahn Ein Wiener Kaffehauskrimi Meßkirch: Gmeiner-Verlag 2013. 307 S. Hermann Bauer Eine Verbrechens-Serie um Allerheiligen rückt das Traditionscafé Heller in Wien-Floridsdorf in den Mittelpunkt der von Oberinspektor Juricek geführten Ermittlungen. Das Grab eines pensionierten Gymnasialprofessors wird geschändet, sein Neffe verschwindet spurlos, ein Schüler wird auf dem Friedhofsgelände bewusstlos geschlagen, und zu guter Letzt findet man auch noch den Pianisten des Kaffeehauses erdrosselt auf. Oberkellner Leopold, ein passionierter HobbyKriminalist, nimmt eigene Ermittlungen auf: mit Hilfe eines befreundeten Stammgastes sucht er nach einer Verbindung zwischen den scheinbar zusammenhanglosen Verbrechen. Durch die Entschlüsselung einiger in Anagramm-Form abgefasster Gedichtzeilen aus dem Nachlass des verstorbenen Gymnasiallehrers stößt er auf die Gruppe der »Lenaubrüder«, einen Stockerauer Absolventen-Verein des Floridsdorfer Gymnasiums zur Pflege des Andenkens an den Biedermeier-Dichter Nikolaus Lenau… 26 Besprechungen Lenauwahn ist der bereits sechste Band einer »Kaffeehaus-Krimireihe« um den Floridsdorfer Oberkellner Leopold Hofer. Damit ist Hermann Bauer auf dem besten Weg, sich im ständig wachsenden Genre österreichischer RegionalKrimis zu etablieren, das von AutorInnen wie Edith Kneifl, Eva Rossmann, Wolf Haas und Alfred Komarek populär gemacht wurde. Dramaturgische wie stilistische Schwächen tun dem Lese-Vergnügen keinen Abbruch. Der hohe Wiedererkennungs- und Identifikationswert der Krimireihe sollte vor allem bei »gelernten Wienern« gut ankommen. Mit dem Wienerischen nicht so Vertraute können auf ein Glossar von im Buch verwendeten Ausdrücken im Anhang zurück greifen. Den einzelnen Kapiteln sind Kurz-Zitate aus Lenau-Gedichten vorangestellt. Das wirkt etwas aufgesetzt und riecht nach einem »volksbildnerischen« Ansatz, ist aber nicht weiter verwunderlich, wenn man weiß, dass der Autor im Brotberuf als Deutschlehrer tätig ist. Vor Lenau war Nestroy dran (im Roman Nestroy-Jux), im kommenden Buch soll Arthur Schnitzler eine Rolle spielen… Liebe, Täuschung, Betrug, Hass und Rache sind nur einige der Zutaten, die die New Yorker Jungautorin Gillian Flynn in ihrem dritten, von der internationalen Presse hochgelobten und als Mega-Filmdeal fixierten Bestseller Gone Girl zu einem Ehethriller der Sonderklasse vermischt. Amy, einst Vorbild für die Kinderbuchserienheldin «Amazing Amy», und Nick Dunne sind Mitte Dreißig, Journalisten und arbeitslos, ihre Ehe scheint zumindest nach außen hin glücklich. Die Handlung des Buches setzt am fünften Hochzeitstag des Paares ein und eröffnet ein perfides und grauenvolles Spiel um Angst, Lüge und Rache: Nick wird von seinem Nachbarn nach Hause gerufen, da einige Dinge seltsam erscheinen: Die Eingangstüre steht offen, das Haus ist verwüstet und Amy scheint spurlos verschwunden. Schon bald rückt Nick als Hauptverdächtiger ins Visier der Ermittler und gerät in Panik. Im ersten Teil des Romans mit dem Titel Junge verliert Mädchen gewinnt man als Leser die Erkenntnis, dass die Ehe der beiden Protagonisten in Wahrheit ein Martyrium ist und jeder dem anderen etwas vorspielt. Den Inhalt des zweiten Teils Junge trifft Mädchen zu verraten, würde der Spannung Abbruch tun, nur so viel sei gesagt: er erzeugt ein Wechselbad der Gefühle und Mutmaßungen. Was ist tatsächlich passiert? Wo ist Amy wirklich? Wer ist schuldig, wer das Opfer? Die Autorin versteht es brillant, ein überzeugendes Psychogramm der beiden Protagonisten zu zeichnen, Gut und Böse bis in den tiefsten Abgrund hinein auszureizen und dem Leser raffiniert konstruiert vor Augen zu führen, zu welchen grausamen Taten Ehepartner fähig sein können. Geschickt verquickt Flynn die verschiedenen, immer wieder unvorhergesehen die Richtung wechselnden Handlungsstränge und präsentiert einen Roman, der sich genremäßig nicht ganz eindeutig dem Psychothriller zuordnen lässt: für einen Krimi oder Thriller scheint mir vor allem im ersten Teil zu wenig nachhaltige Spannung aufgebaut zu werden. Über längere Strecken hinweg erfordert die Lektüre Durchhaltevermögen, wer sich aber über die erste Hälfte des Buches hinweggekämpft hat, wird im zweiten und dritten Teil mit viel Gänsehaut belohnt. Wermutstropfen ist der etwas an den Haaren herbeigezogene und nicht wirklich stimmige Schluss. Sissy Schiener Franz Plöckinger Winter 2014/15 27 Krimi und Thriller 2010 veröffentlichte der Journalist und Fotograf Sven Koch seinen ersten Kriminalroman Purpurdrache rund um die attraktive Polizeipsychologin Alexandra von Stietencron, zwei Jahre später folgte Brennen muss die Hexe; mit Totenmond liegt nun der bereits dritte Fall der Reihe vor. Wie schon in den beiden Vorgängern spielt die Handlung auch diesmal wieder in der fiktive Stadt Lemfeld in Nordrhein-Westfalen. Ein makaberer Leichenfund ruft die Kripo Lemfeld an den Schauplatz eines besonders brutalen Verbrechens. Ein junges Mädchen wurde ausgeweidet und an einem Seil aufgeknüpft. Am Tatort finden sich neben Prankenspuren an der Leiche auch Haare vom Fell eines Leoparden, unbekannte Schriftzeichen an den Wänden lassen auf einen Ritualmord schließen. Natürlich bleibt es nicht bei einer Toten, und als Alexandra feststellt, dass der Mörder immer in Vollmondnächten zuschlägt und ihr zuvor Briefe mit Hinweisen in Liedform auf das nächste Opfer sowie den nächsten Tatort zuspielt, erkennt sie, dass der Killer ein perfides Katz-und-MausSpiel mit ihr spielt. Er stilisiert sie zur Jägerin und zugleich zum nächsten Opfer. Eine Spur führt Alex bis an die Elfenbeinküste, wo sie die ersten Opfer ihres Killers aufspürt und von ihrem afrikanischen Polizeikollegen vom Mythos der Leopardenmenschen erfährt. Totenmond ist kurzweilig und spannend, wenngleich die Handlung bisweilen etwas konstruiert wirkt. Die Motive des Mörders wurzeln in frühkindlichen Traumata, was dem Autor bzw. seiner Protagonistin Alexandra von Stietencron reichlich Gelegenheit für psychologische Erklärungen gibt. Sven Kochs Krimis ist aus formalen (spannende Schreibweise) wie inhaltlichen (Ritualmörderthematik kombiniert mit ProfilingElementen) Gründen ein treues Publikum sicher. Bettina Raab Gillian Flynn Gone Girl Das perfekte Opfer Aus dem amerikan. Engl. Frankfurt am Main: Fischer 2013. 575 S. Sven Koch Totenmond München: Droemer 2013. 395 S. Das Haus des Windes Mord und Mandelbaiser Louise Erdrich Jutta Mehler Vermisst Avi Avraham ermittelt Dror Mishani Louise Erdrich Das Haus des Windes Aus dem Amerikan. Berlin: Aufbau 2014. 383 S. Am Anfang steht ein grauenhaftes Verbrechen, das eine ganze indianische Reservation in North Dakota erschüttert: die Mutter des 13jährigen Ojibwe Joe Coutts wird brutal vergewaltigt und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Völlig traumatisiert zieht sich die Frau in ihr Zimmer zurück und lange Zeit spricht sie kein Wort, auch nicht zum Tathergang. Trotzdem kann nach einiger Zeit ein Verdächtiger ausgeforscht und festgenommen werden. Doch die Erleichterung ist nur von kurzer Dauer, denn was nun folgt ist eine juristische Farce, die es in dieser Form auch in der Realität immer wieder gegeben hat: da der genaue Ort des Verbrechens nicht lokalisiert werden kann und somit die Frage offen bleibt, ob die Tat inner- oder außerhalb des Reservats begangen wurde, fühlt sich keine Behörde zuständig und der mutmaßliche Täter wird freigelassen. Joe und seine Familie sind am Boden zerstört, doch der couragierte Junge will nicht resignieren und diese Ungerechtigkeit einfach hinnehmen: er beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und nimmt die Sache letztendlich selbst in die Hand… Louise Erdrich weiß genau, wovon sie schreibt; sie ist selbst in einer Reservation in North Dakota aufgewachsen und ist mit der Situation und Mentalität der Menschen dort bestens vertraut. Daher gelingt es ihr, eine sehr authentische Geschichte vorzulegen, die trotz der traurigen Thematik mit viel Esprit, Witz und Humor erzählt wird. Der Roman lebt von der liebevollen Darstellung der einzelnen Charaktere, die das Buch zu einem wunderbaren Porträt der indianischen Welt machen: Joe ist ein echter Kämpfer, der sich schützend vor seine Familie stellt und binnen kürzester Zeit erwachsen werden muss. Der Vater ist sehr besonnen und versucht ständig, mäßigend auf den Sohn einzuwirken. Onkel Whitey hingegen ist eine Art «Indianer-Elvis», der gerne einen über den Durst trinkt, vorzugsweise mit seiner feschen Freundin Sonja, die wiederum dem Rest der Männerwelt den Kopf verdreht. Dann gibt es noch Mooshum, den hundertjährigen Großvater, der oft von alten Zeiten und vergangenen Liebschaften spricht, am liebsten mit Grandma Thunder, die Joe und seine stets hungrigen Freunde nicht nur gerne bekocht, sondern den Jungs auch deftige Ratschläge in Sachen Erotik mit auf den Weg gibt. Mit dem Haus des Windes ist Louise Erdrich ein wirklich großer Wurf gelungen. Das Buch, das von der Kritik hochgelobt und in den USA mit dem National Book Award 2012 ausgezeichnet wurde, ist spannend bis zur letzten Seite, ein brillanter literarischer Thriller, der tief berührt und lange nachwirkt. Thomas Geldner Henning Mankell Mord im Herbst. Ein Fall für Kurt Wallander Aus dem Schwed. Wien: Zsolnay 2013. 140 S. Mord im Herbst Ein Fall für Kurt Wallander Henning Mankell Den schwedischen Bestsellerautor Henning Mankell braucht man wohl nicht mehr näher vorzustellen. Im Fernsehen ist sein Kommissar Wallander vor kurzem mit Alzheimer in die wohlverdiente Pension geschickt worden. Auch die Romanserie galt als abgeschlossen, doch wie so oft bei Bestsellerautoren taucht dann zur Freude der Verleger und der Fans doch noch unveröffentlichtes Material auf. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Wallander-Geschichte aus dem Jahre 2004. Mord im Herbst wurde in Holland im Rahmen einer Gratisbuchaktion verteilt und erst vor kurzem vom Autor zur Veröffentlichung freigegeben. Zeitlich ist die Geschichte zwischen Vor dem Frost und Der Feind im Schatten angesiedelt. 28 Besprechungen Wie zumeist bei Wallander-Krimis changiert die Stimmung zwischen Melancholie und Depression, der in die Jahre gekommene Kommissar steht am Rande des Burnouts. Seine Tochter Linda wohnt noch bzw. wieder bei ihm und er träumt von einem ruhigen Leben am Land. Da kommt das Angebot seines Kollegen Martinsson für ein Haus gerade recht. Sehr interessiert fährt Wallander zur Besichtigung und stolpert prompt über eine skelettierte Hand; bald darauf wird im Garten noch ein zweites Skelett gefunden. Statt des erhofften Hauses hat Wallander jetzt einen mysteriösen Doppelmord aufzuklären, der anscheinend weit in die Vergangenheit zurückreicht. Die Qualität der Geschichte reicht nicht ganz an die übrigen Wallander-Krimis heran; das mag auch der Grund für die späte Veröffentlichung sein. Der wirkliche Wermutstropfen für die Fangemeinde wird aber wohl eher die Kürze des Buches sein… Jutta Mehler ist dem deutschsprachigen Krimipublikum spätestens seit ihren Romanen um die Hausfrau Fanni Rot ein Begriff. Im vorliegenden Kriminalroman Mord und Mandelbaiser spioniert aber nicht die umtriebige Fanni Rot, sondern drei noch sehr rüstige Damen in ihren Sechzigern. Ermittelt wird wie gehabt in Niederbayern, in den fiktiven Städtchen Moosbach, Granzbach, Scheuerbach und Straubing. Die charakterlich sehr unterschiedlichen Damen blicken auf eine gemeinsame Schulzeit im Straubinger Ursulinenkloster zurück und erneuern ihre Freundschaft jeden Mittwochnachmittag im Café Krönner, einem Mehlspeisparadies. Bei einem dieser Treffen hat Hilde, die ehemalige Besitzerin eines Bestattungsunternehmens, das jetzt von ihrem Neffen Rudolf geführt wird, ungewöhnliche Neuigkeiten. Sie erzählt ihren Freundinnen Wally und Thekla, dass ihr Neffe an der Leiche des ortsbekannten Dichters Hermann Lanz ominöse Hausausschläge entdeckt hat. Mehr aus Neugier denn aus kriminalistischem Interesse macht sich das Dreigespann daran, der Ursache der ungewöhnlichen Bläschen auf die Spur zu kommen. Hilde erhofft sich Aufklärung von Thekla, die in der Apotheke ihres Bruders mitarbeitet und seit jeher großes Interesse an der Pharmazie hat. Schon bald entdeckt Thekla in einer Überdosierung von Barbituraten die wahrscheinlichste Ursache für die Flecken und kommt dadurch noch weiteren verdächtigen Todesfällen auf die Spur. Das lockt allerdings den skrupellosen Mörder, der bisher unbemerkt töten konnte, aus seinem Versteck und bringt die drei Miss Marples in höchste Gefahr. Die Handlung der Geschichte umfasst drei Wochen und hat mit den drei älteren Damen und dem jeweiligen familiären Umfeld ein ausbaufähiges Personeninventar zu bieten. Neben der ruppigen Hilde und der umgänglichen Thekla komplettiert Wally, die korpulente und naive Tischlergattin, die Mehlspeisrunde. Durch die plastische Umsetzung der Figuren und deren unterschiedliche Ermittlungsmethoden entwickelt der Kriminalroman eine reizvolle Dynamik. Wer Jutta Mehlers Fanni Rot-Bücher zu schätzen weiß, wird aber auch hier voll auf seine Kosten kommen. Wie gewohnt eine harmlose, dahinplätschernde, aber durchaus unterhaltsame Story und vermutlich der Auftakt zu einer neuen Reihe. Bettina Raab Peter Hörschelmann Winter 2014/15 29 Krimi und Thriller Als Inspektor Avi Avraham mit einer Vermisstenanzeige betraut wird, denkt er zunächst an einen Routinefall. Ofer, ein 16-jähriger Junge aus einer Satellitenstadt Tel Avivs, ist nicht von der Schule nach Hause gekommen. Die Recherchen ergeben, dass offenbar niemand an besagtem Tag Ofer gesehen oder mit ihm Kontakt hatte. Einzig Seev Avni, ein Nachbar der Familie und Ofers Nachhilfelehrer, scheint an dem Fall interessiert zu sein. Er will die Polizei bei ihren Nachforschungen unterstützen und beginnt fiktive Briefe, geschrieben aus der Sicht des Jungen an Ofers Eltern zu schicken, was diese jedoch für sich behalten. Als Seev der Polizei schlussendlich gesteht, Autor der Briefe zu sein, bekommt der Fall eine völlig neue Wendung und Ofers Eltern geraten ins Zentrum der Ermittlungen. Der Inspektor Avraham ist ein dicklicher Mann voller Selbstzweifel. Als Jude aus dem Mittleren Osten erfreut er sich bei den alteingesessenen Israelis nur mäßiger Beliebtheit, im Grunde wird ihm nicht zugetraut, schwierige Aufgaben zu lösen. Der Autor Dror Mishani hat als Lektor eines israelischen Verlags die Wallander-Krimis bearbeitet, mit Vermisst gelingt dem Literaturwissenschafter nun ein spannender Debütroman. Israel hat nach Batya Gur wieder einen Krimiautor von internationalem Format und man darf gespannt auf weitere Bücher mit Avi Avraham warten. Jutta Mehler Mord und Mandelbaiser Köln: Emons 2013. 219 S. Thomas Buraner Caddielove Ein Fall für Mayer und Katz Sabine Naber Ein Mord auf einem Wiener Golfplatz ist eine nicht alltägliche Begebenheit, sodass die beiden Ermittler Mayer und Katz zunächst vor einem scheinbar unlösbaren Rätsel stehen. Chefinspektor Katz recherchiert als Undercoveragent heimlich den Lebenswandel einiger Clubmitglieder; bald schon führen die Ermittlungen zu weit in der Vergangenheit liegenden dramatischen Ereignissen. Als schließlich ein weiterer Mord passiert, ist den Polizisten klar, dass die Aufklärung des Verbrechens weit diffiziler ist als vorerst angenommen. Sabine Naber gelingt mit Caddielove, dem zweiten Roman um das Duo Mayer &Katz, ein solider Thriller, der sich auf sehr speziellem Terrain bewegt. Die studierte Theaterwissenschafterin folgt der klassischen Vorgabe der Dror Mishani Vermisst Avi Avraham ermittelt Aus dem Hebr. Wien: Zsolnay 2013. 350 S. Sabine Naber Caddielove Ein Fall für Mayer und Katz Meßkirch: Gmeiner 2014. 341 S. C.S. Forester Tödliche Ohnmacht Aus dem Engl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2013. 277 S. Tödliche Ohnmacht Galveston C.S. Forester Nic Pizzolatto Der englische Schriftsteller und Journalist Cecil Lewis Troughton Smith, bekannt unter seinem Pseudonym C.(ecil) S.(cott) Forester zählte mit seinen marinehistorischen Hornblower-Romanen zu den beliebtesten Autoren der 50er und 60erJahre des letzten Jahrhunderts. Er bewegte sich aber, wie ein 1935 entstandener, lange verschollener und 2011 unter dem englischen Titel The Persuade publizierter Kriminalroman zeigt, auch überaus versiert in anderen literarischen Genres. Der nun im Dt. Taschenbuchverlag ins Deutsche übersetzte und unter dem Titel Tödliche Ohnmacht herausgegebene Kriminalroman durchleuchtet die psychologischen Tiefen der menschlichen Seele und zieht den Leser in den Bann eines Ränkespiels um Liebe und Leidenschaft, Eifersucht und Mord, eingebettet in die Londoner Gesellschaft der Dreißigerjahre. Marjorie, mit dem herrischen, lieblosen und gleichgültigen Ted verheiratete Hausfrau und Mutter zweier Kinder, kommt nach einem Treffen mit ihrer besten Freundin Millicent Dunne heim und findet ihre babysittende Schwester Dot leblos auf dem Küchenboden, den Kopf im Gasherd. Alles deutet auf Selbstmord hin, doch sie und ihre Mutter glauben nicht daran, sondern vermuten eine verhängnisvolle Affäre zwischen Ted und Dot; als bekannt wird, dass Dot schwanger war, ensteht ein perfider Plan, Ted für seine mutmaßlichen Taten zu bestrafen. Obwohl der Leser von Anfang an ahnt, wer der Mörder ist, gelingt es Forester auf unnachahmliche Weise, Spannung zu erzeugen und bis zur letzten Seite aufrecht zu erhalten. Psyche und emotionale Befindlichkeiten der Protagonisten werden plastisch aber unpathetisch beschrieben und ihre Handlungen logisch nachvollziehbar in einen sich stets steigernden und verdichtenden Spannungsbogen eingeflochten. Ihre Charaktere sind nicht überzeichnet, sondern schildern Menschen wie du und ich. Foresters Kriminalroman ist kurzweilig, zeitlos und aktuell, was Thema und Stil betrifft. Eine ansprechende Lektüre für ent- und trotzdem spannende Mußestunden. Roy Cady, Berufskiller und Eintreiber im Dienste des Gangsterboss‘ Stan Ptitkos hat nicht gerade seinen besten Tag – gerade eben wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert, dazu entpuppt sich der abendliche Auftrag als Falle seines eifersüchtigen Chefs. Zwar kann Roy gerade noch entkommen, findet sich aber in Gesellschaft der jungen Rocky, die er zuerst nur widerwillig auf seine Flucht in die titelgebende Stadt Galveston mitnimmt. Dennoch fassen der alternden Killer und die jugendliche Gelegenheitsprostituierte Vertrauen zueinander und es entwickelt sich so etwas wie Zuneigung zwischen den beiden. Letztendlich muss sich Roy sowohl den Schatten seiner Vergangenheit stellen, als auch eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Galveston ist das Romandebüt des Amerikaners Nic Pizzolatto, der sich als Drehbuchautor und Erfinder der Serie True Detective einen Namen gemacht hat. Der vorliegende Roman lässt sich irgendwo zwischen den unscharfen Genrebezeichnungen Noir, Pulp und Hard-boiled verorten – die Charaktere sind Außenseiter, Verlierer, ja klassische Antihelden, die sich in einer brutalen und ungerechten Welt behaupten müssen. Trotz greller Gewalt- und Milieuschilderungen und lakonischer Dialoge ist Galveston von einem zutiefst humanistischen Weltbild geprägt. Auch ist Pizzolatto ein kluger Autor, der das Tempo der Geschichte zu drosseln versteht. Die zwei Zeitebenen erhöhen noch die Spannung des ohnehin fesselnden Romans, der Einblick in die Gedankenwelt des Roy Cady, aus dessen Perspektive erzählt wird, verleiht dem Buch Tiefe. Zusätzlich findet sich für interessierte Lesende noch ein kurzes Nachwort des Übersetzers, der das Werk in der Tradition des Noir lokalisiert. Galveston ist ein gelungener und unterhaltsamer Debütroman, der Lesenden, die sich von den teilweise drastischen Gewaltschilderungen nicht abschrecken lassen, durchaus gefallen wird. Nic Pizzolatto Galveston Aus dem Amerikan. Berlin: Metrolit 2014. 253 S. Bernhard Pöckl Sissy Schiener Andreas Pittler Charascho Inspektor Bronstein kehrt zurück Wien: Echomedia 2014. 373 S. Einheit von Zeit, Ort und Handlung und schafft somit eine hermetisch abgeschlossene Atmosphäre, deren Rahmen der exklusive und elitäre Golfsport ist. Die beiden Protagonisten wirken äußerst sympathisch und authentisch und haben somit hohes Identifikationspotential. Der eigentliche Plot ist etwas gewöhnungsbedürftig, überrascht immer wieder mit skurrilen Momenten und vergisst auch nicht auf die humorvoll-ironische Auseinandersetzung mit dem Thema Golf. Die Autorin gesteht auf intensive Nachfrage 38 Morde in ihren Kurzgeschichten und Romanen, man darf also gespannt sein, wie viele noch folgen werden. Für Sportbegeisterte und Detailinteressierte findet sich im Anhang ein Glossar. Thomas Buraner Charascho Inspektor Bronstein kehrt zurück Andreas Pittler Endlich liegt mit Charascho der sechste (oder siebente, wenn man Mischpoche, eine Kurzgeschichtensammlung rund um David Bronstein dazu zählen will) Band der sogenannten «Bronstein-Serie» vor. Nachdem Zores mit Bronsteins Flucht vor den Nazis per Eisenbahn einen recht ungewissen Ausgang hatte, können die Fans von 30 Besprechungen Andreas Pittler und David Bronstein nun aufatmen: Die Handlung des Romans setzt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein, Bronstein hat überlebt und schafft es über Umwege zurück nach Wien. Hier muss er sich aber erst wieder einleben – die Kaffeehäuser sind geschlossen, die Lebensmittelknappheit beherrscht den Alltag und nicht einmal Trinkwasser ist einfach zu besorgen. Trotz aller Widrigkeiten gelingt es Bronstein, erneut bei der Polizei zu arbeiten und mit seinem neuen Chef Heinrich Dürmayer begibt er sich auf Naziverbrecherjagd. Andreas Pittler gelingt es auch in Charascho auf bewährte Art und Weise, Realität mit Fiktion zu verquicken und so erhalten die LeserInnen neben einem spannenden Wienkrimi auch noch eine überaus unterhaltsame und lehrreiche Unterrichtsstunde in jüngster Zeitgeschichte. Heinrich Dürmayer und Siegfried Seidl haben ebenso existiert wie Franz Honner und natürlich Oskar Helmer. Alles Namen, die der durchschnittliche Österreicher wahrscheinlich noch nie gehört hat und doch macht sie Pittler lebendig und man beginnt sich unwillkürlich für ihr Schicksal und die historischen Geschehnisse zu interessieren. Wenn man den Gerüchten im Internet glauben schenken darf, ist Carascho noch nicht der letzte Band der beliebten Krimireihe, vielmehr wird David Bronstein noch ein endgültig letztes (?) Mal im Jahr 1955 ermitteln. Winter 2014/15 Der studierte Historiker, Germanist und Politologe verfasst intelligente Wienkrimis mit fundiertem historischem Hintergrund, die nicht nur lehrreich, sondern auch ausgesprochen unterhaltsam und spannend sind. Elisabeth Ghanim Palermo Connection Serena Vitale ermittelt Petra Reski Staatsanwältinnen haben es nicht leicht, schon gar nicht in Süditalien, wie seit Allein gegen die Mafia wohl Common Sense sein dürfte. Dementsprechend hart ist auch das Los von Serena Vitale, Staatsanwältin und Heldin von Petra Reskis Palermo Connection, die gerade einen aufsehenerregenden Prozess gegen einen Minister mit vermeintlichen Verbindungen zum organisierten Verbrechen führt. Drohbriefe, Verleumdungen und Bespitzelung sind Begleiterscheinungen von Serenas Job, doch zumindest gibt es mit dem Flirt mit dem attraktiven Polizisten Romano einen Lichtblick. Auch der deutsche Journalist Wieneke, der sich ebenfalls in Palermo aufhält, findet sich bald im Dunstkreis des Prozesses wieder. Er und sein windiger Fotograf Giovanni hoffen auf eine aufsehenerregende Geschichte über die Mafia mit Deutschlandbezug und Einblick in die finsteren Geschäfte. 31 Krimi und Thriller Die bekannte deutsche Autorin und Journalistin Petra Reski publiziert bereits seit Jahren zum Thema Mafia und kann auf eine beträchtliche Liste von Veröffentlichungen zurückblicken. Anders als der reißerische Titel vermuten lässt, ist Palermo-Connection daher ein gut recherchierter, nicht ganz unironischer Politthriller, der die kritiklose Übernahme tradierter Mafiaklischees hinterfragt. Das Spannungsfeld zwischen Politik, Verbrechen und durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedrängten Medien wird anschaulich analysiert. Als Expertin reichert Reski ihren Roman mit Anspielungen an, die die Lesenden erst bei näherer Beschäftigung mit der Materie verstehen können, Parallelen zu in Italien berühmten Mafiaopfern und –skandalen sind nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem ist der Text weder belehrend noch sprachlich überfrachtet, die Autorin präsentiert mit Serena Vitale eine sympathische und überzeugende Heldin und somit ein kurzweiliges, unterhaltsames Buch. Palermo Connection ist ein spannender Roman, der trotz des Themas nicht ohne Humor auskommt und für interessierte Thriller- und Krimilesende sicherlich zu empfehlen ist. Bernhard Pöckl Petra Reski Palermo Connection. Serena Vitale ermittelt Hamburg: Hoffmann und Campe 2014. 288 S. Tod in der Walpurgisnacht Karin Wahlberg Karin Wahlberg Tod in der Walpurgisnacht Aus dem Schwed. München: btb 2013. 603 S. Chris Womersley Beraubt Aus dem Engl. München: Dt.-Verlag Anst. 2013. 308 S. Karin Wahlberg stammt aus dem südschwedischen Kalmar und auch ihre Bücher haben ihren Erzählmittelpunkt im Weichbild von Lund, Kalmar und Oskarshamn. Eine Gegend, die Krimilesern wohl bekannt sein dürfte, denn Schwedens bekanntester Kommissar – Henning Mankells Kurt Wallander – ermittelt an der Südspitze des Landes in Ystad. Nach etlichen Jahren als Lehrerin studierte Wahlberg erst spät Medizin und arbeitet nun als Ärztin an der Universitätsklinik von Lund. Gleich mit ihrem Debütroman Die falsche Spur (2001) erklomm sie die skandinavischen Bestsellerlisten und mit Tod in der Walpurgisnacht liegt nun der achte Krimi um den liebenswerten Kommissar Claes Claesson und seine Frau, die Chirurgin Veronika Lundborg, vor. Hjortfors, ein alter Ort mit lebendiger Glasbläsertradition, idyllisch an einem See gelegen, ist das Zentrum der Geschichte. Hier kommt es am Abend des Walpurgistages zu einer schrecklichen Entdeckung: eine brennende Leiche im Walpurgisfeuer beendet die Feierlichkeiten schlagartig. Wie gut, dass die Polizei in Person von Claes Claesson samt Familie sowie einem Kollegen an Ort und Stelle ist und sofort eine Untersuchung einleiten kann. Der Tote ist Johannes Skoglund, ein alter, krebskranker Mann, der eine dominante Rolle in der Gemeinde von Hjortfors und der Glashütte gespielt hat. Doch wer sollte einen Todkranken töten wollen? In einer Parallelhandlung steht die Jungärztin Hilda Glas, die von Veronika Claesson ausgebildet wird, im Mittelpunkt. Das Mädchen hat seine Wurzeln in Hjortfors, wo sie und ihr Bruder schon in jungen Jahren auf tragische Weise zu Waisen wurden und danach in Pflegefamilien aufwuchsen. Hilda findet im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung in alten Akten zufällig nähere Informationen zum Tod der eigenen Mutter, die in krassem Widerspruch zu den ihr überlieferten Berichten stehen. Ihre Nachforschungen bringen die junge Frau bald in Lebensgefahr. Stilistisch ist Wahlberg mit ihren schwedischen Kolleginnen Ann Rosman, Camilla Läckberg oder Viveca Sten vergleichbar. Auch hier werden die Protagonisten und ihr Umfeld gut ausgeleuchtet, jedoch geschieht dies bei Wahlberg noch sehr viel ausufernder. Historische Abrisse, seitenweise Beschreibungen des Krankenhausalltags sowie Lokalkolorit in Hülle und Fülle stellen den Leser bisweilen auf eine harte Geduldsprobe. Die Erzählspanne beträgt drei Monate, wobei aber ständige Brüche in der Chronologie den Fluss der Geschichte immer wieder bremsen. Für den Spannungsaufbau bis hin zum Finale ist das zwar 32 Besprechungen essentiell, doch tut es dem Lesevergnügen gehörigen Abbruch. Ein strafferer Stil hätte dem Plot gut getan, dennoch ist das Buch vor allem wegen der wirklich gelungenen Auflösung der vielen Parallelhandlungen lesenswert. Besprechungen–Kinderbuch Bilderbuch und Sachbilderbuch Bettina Raab Beraubt Extragarn An Mac Barnett, Jon Klassen Chris Womersley Die Handlung von Beraubt ist rasch erzählt: 1919 kehrt der nunmehr 26jährige Sergeant Quinn Walker aus dem Ersten Weltkrieg nach Australien zurück, nachdem er vor zehn Jahren seine Heimatstadt Flint nach dem Mord an seiner damals 12-jährigen Schwester Sarah fluchtartig verlassen musste. Der wahre Täter wurde nie gefasst und so versteckt sich der schwerhörige und durch eine Narbe entstellte Ex-Soldat in den Bergen des australischen Outbacks, wo er auf das gerissene, lebenskluge Waisenmädchen Sadie Fox trifft. Das Kind hätte von seinem Onkel Robert Walker, dem nunmehrigen Distriktpolizisten, nach dem Tod ihrer alleinerziehenden Mutter angeblich in ein Kirchenhaus nach Bathurst gebracht werden sollen. Sadie, die die Rückkehr ihres im Krieg verschollenen Bruders Thomas abwarten will, hilft Quinn, sich seiner Vergangenheit zu stellen… Die Geschichte wird aus der Sicht des traumatisierten Quinn Walker erzählt; lediglich Prolog und Epilog sind in auktorialer Erzählperspektive verfasst. Wer einen klassischen Whodunnit-Kriminalroman erwartet, wird von Beraubt wohl enttäuscht sein: Sarahs Mörder wird nach den ersten 100 Seiten enthüllt, dennoch bietet das vorliegende Buch Spannungsliteratur im besten Sinne: Der Protagonist macht dank der tatkrätigen Unterstützung der resoluten, entschlossenen Sadie eine tiefgreifende Wandlung von einem verschlossenen, ängstlichen Einzelgänger zu einem Mann, der Gerechtigkeit sucht, durch. Der Roman besticht durch ungewöhnliche Metaphern und Bilder der unwirtlichen Landschaft West-Australiens, die ihre formale Entsprechung in der verknappten Sprache des preisgekrönten australischen Autors finden. Dagmar Feltl Winter 2014/15 Jon Klassen, der mit Wo ist mein Hut? 2013 den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Bilderbuch gewonnen hat, illustriert in Extra Garn eine märchenhafte Geschichte des im deutschen Sprachraum kaum bekannten US-amerikanischen Autors Mac Barnett: Annabelle findet eine Truhe mit einem Knäuel Wollgarn und zwei Stricknadeln – und strickt sich damit einen Pullover. Doch das Garn ist danach noch nicht zu Ende, also strickt sie auch noch einen Pullover für ihren Hund. Doch auch dann ist immer noch Garn in der Kiste, also strickt sie weiter – Pullover für ihre KlassenkameradInnen, für Leute in der Stadt, für Tiere und sogar für Dinge, die üblicherweise keine Pullover tragen – und immer noch ist Garn in dem Kästchen. Mittlerweile hat sich das Phänomen des nie endenden Garns herumgesprochen und ein habgieriger Erzherzog segelt mit dem Schiff heran und will es Annabelle abkaufen. Da sie nicht bereit ist es herzugeben, engagiert er drei Räuber, die das Kästchen stehlen. Doch als er in seinem Schloss angekommen ist, sind darin nur die zwei Stricknadeln, das Garn ist verschwunden. Verärgert wirft er die kleine Truhe aus dem Fenster und sie findet übers Meer zurück zu Annabelle und ist – dort angekommen – wieder mit dem bunten, endlosen Garn gefüllt. Die Moral der Geschichte muss wohl nicht lang erklärt werden … Der Text ist schlicht und erzählt auf ruhige und unaufgeregte Art. Die Illustrationen sind sehr gelungen, fast bräuchte es den Text nicht, weil die Erzählung in den Bildern so deutlich umgesetzt ist. Die anfangs triste Stimmung in schwarz-braun-weiß ändert sich mit den farbigen Maschen, die immer stärker die Bilder dominieren, die Menschen beginnen zu lächeln, die Stadt wirkt lebendiger, das Garn wird – auch bildlich umgesetzt – zu einem verbindenden Element und Annabelles Pullover wärmen so auch die Herzen. Extra Garn hat in den USA schon etliche Preise bekommen und ist auch hierzulande (nicht nur im Winter) allen wärmstens zu empfehlen. An Mac Barnett, Jon Klassen Extragarn Aus dem Engl. Stuttgart: Freies Geistesleben 2013. 20 Bl. Ab 4 Jahren Lisa Kollmer Und irgendwo gibt es den Zoo Nadia Budde Schon ein erster Blick auf Cover und Titel erzeugt einen starken Wiedererkennungseffekt: Und irgendwo gibt es den Zoo trägt eindeutig die Handschrift von Nadia Budde, einer der bekanntesten Bilderbuchautorinnen und Illustratorinnen von Kinderbüchern im deutschsprachigen Raum. Wir begegnen einer Figur aus ihrem Bilderbuch Und außerdem sind Borsten schön wieder und auch thematisch gibt es Parallelen: in beiden Büchern geht es um das Aussehen. In diesem charmanten Bilderbuch vergleicht sich der Ich-Erzähler mit einem Pinguin. Auch alle seine Bekannten und Verwandten ähneln den verschiedensten Tieren: so hat beispielsweise Tante Anne Lene eine «gelbe Löwenmähne». Anderen Figuren werden tierische Attribute zugeordnet. Auch die Spielgefährten ähneln nicht nur Tieren, sie benehmen sich auch echt tierisch. Die Mutter, die ihnen zuerst «Futter» gibt, verwandelt sich dann in eine «Rabenmutter» als sie nicht mehr 33 Kinderbuch Zeit hat, die Meute zu bedienen. Kindliche Alltagssituationen werden so verfremdet und fantasievoll überzeichnet. Die lustigen Reime und Wortspiele sind in kindlicher Schreibschrift gehalten – einmal ist sogar ein Satz durchgestrichen und korrigiert – und laden zum Weiterreimen ein. Wie viele Tiere fallen uns in unserem Bekanntenkreis ein? Witzig auch das Spiel mit den (Tier-)Namen: so gibt es einen Herrn Rieger, eine Frau Grosch, einen Herrn Neule… Die Illustrationen dominieren die stark schwarz umrandeten Figuren, in Kombination mit dem Text sorgen sie für gelungene Situationskomik. Wer sich fragt, wann der Zoo an sich ins Spiel kommt, muss auf die Schlusspointe warten, in der sich der Pinguin die Frage stellt, wozu es den Zoo eigentlich gibt; wenn man diese ganze Tierwelt schon zu Hause hat, erübrigt sich ein Zoobesuch wirklich… Gabriela Müller Nadia Budde Und irgendwo gibt es den Zoo Wuppertal: Hammer 2013. 32 S. Ab 3 Jahren Tierisch zahlreich Lindbergh Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus Nadia Budde Torben Kuhlmann Nadia Budde Tierisch zahlreich Hamburg: Aladin Verlag 2014. 24 S. Ab 5 Jahren Die deutsche Grafikerin und Kinderbuchillustratorin Nadia Budde ist bereits eine bekannte Größe am Bilderbuchmarkt (siehe auch Rezension S. 33 ): Seit ihrem 1999 veröffentlichten Erstlingswerk Eins, zwei, drei, Tier hat sie sich mit Reim- und ABC-Büchern wie Trauriger Tiger toastet Tomaten oder Kurz nach sechs kommt die Echs in die Herzen der sehr jungen LeserInnen sowie deren Eltern geschrieben. Ihr neuestes Werk heißt Tierisch zahlreich und ist 2014 im Aladin Verlag erschienen. Jede Doppelseite verbindet eine Zahl von Null bis Zehn mit ungewöhnlichen Tieren in der jeweiligen Anzahl, die teilweise kuriose Sportarten betreiben. Das klassische Zahlenbilderbuch, in dem möglicherweise sechs Lämmchen auf der Weide grasen, wird konterkariert – Nadia Budde präsentiert stattdessen: «Sechs-Streifen-Langschwanz-Eidechsen fahren Schleifen auf Gummi-Kunstrad-Einzelreifen.» Die Illustrationen der Autorin dazu bieten nichts Niedliches, sondern – wie von Nadia Budde gewohnt – witzige, farbkräftige Bilder von einem außergewöhnlichen Tierinventar bevölkert. Auf jeder Doppelseite findet sich die Zahl, dazu ein kurzer gereimter Text in Großbuchstaben, der höchstens zwei Sätze umfasst. Einiges Welt- und Wortvorwissen der jungen LeserInnen wäre günstig, der Rezensentin erscheint das Buch vor allem für Kinder ab ca. 5 Jahren geeignet. Für neugierige, interessierte BilderbuchleserInnen gibt es viel zu entdecken, zu lachen und zu fragen: Wie spielt man Rugby? Was heißt «dribbeln»? Was ist ein «Neunauge»? – da müssen vielleicht auch die Eltern ein Lexikon bemühen und lernen noch etwas dazu. Dabei kommt der gemeinsame Spaß beim Bilderbuchanschauen und Erklären nicht zu kurz – LeserInnen, die bereits Nadia Budde-Fans sind oder solche, sie sich eine etwas andere Optik im Bilderbuch wünschen, werden mit Tierisch zahlreich auf jeden Fall auf ihre Kosten kommen. Katharina Zucker Laika Die Kosmonautin Owen Davey Owen Davey Laika Die Kosmonautin Aus dem Engl. Berlin: Ueberreuter 2013. 16 Bl. Ab 5 Jahren. Das erste Lebewesen, das von der Erde aus in den Weltraum flog, war eine Hündin aus der ehemaligen Sowjetunion; ihr Name war Laika und noch heute erinnern Statuen, Denkmäler und Sonderbriefmarken an sie. Im November 1957 machte sich Laika an Bord der Sputnik 2 auf den Weg unseren Planeten zu umkreisen und wie vor einigen Jahren bekannt wurde, verstarb sie wenige Stunden nach Beginn der Mission an Überhitzung und Stress. Zum fünfundfünfzigsten Jahrestag dieses Ereignisses veröffentlichte der britische Autor und Illustrator Owen Davey vorliegendes Kinderbuch, das die kurze Lebensgeschichte der ersten hündischen Kosmonautin erzählt. Mit wenigen Worten wird von der kleinen Streunerin Laika erzählt, die durch Zufall ausgewählt wird, Tests und Training bestehen muss, um schließlich ins Weltall fliegen zu können. Owen Davey findet jedoch ein glückliches Alternativende für die Hündin, die, unbemerkt von den Wissenschaftlern, auf der Erde landen kann und in einer liebevollen Familie ein neues Zuhause findet. Die graphische Gestaltung des Buches ist wunderschön. Holzschnittartig und in matten 34 Besprechungen Farben, die nur auf manchen Seiten von einem kräftigen Rot ergänzt werden, entstehen sehr aussagekräftige und ausdrucksstarke Bilder, die Gefühle und Stimmungen anschaulich vermitteln können. Einsamkeit und Isolation sind so eindringlich dargestellt, wie es oft wortreiche Beschreibungen nicht vermögen und der stolzen Laika würde man am liebsten anerkennend über den Kopf streicheln. Auch wenn das neue Ende den Leser glücklicher und fröhlicher zurücklassen mag, finde ich es nicht ganz gelungen. Die Wahrheit ist und war eine andere und auch wenn ein Bilderbuch vielleicht nicht der richtige Ort ist, um den oft sehr fragwürdigen Umgang mit Tieren in der Wissenschaft und Forschung zu thematisieren und der Autor am Ende anmerkt, dass das glückliche Ende einer wahren Entdeckerin gerecht wird, hätte die wahre Geschichte von Laika wenigstens im Anhang erwähnt werden sollen; dies wäre einer wahren Entdeckerin viel mehr gerecht geworden. Nichtsdestotrotz ist das Buch Laika – Die Kosmonautin ein wunderschönes Bilderbuch, das in seiner zurückhaltenden und etwas nostalgisch anmutenden Gestaltung viel Raum für Phantasie lässt. Irene Scheiber Winter 2014/15 Lindbergh, das erste Bilderbuch des jungen deutschen Illustrators Torben Kuhlmann, das aus seiner Abschlussarbeit für sein Illustrations-Studium hervorgegangen ist, erzählt die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus. Den Text dazu hat er in Zusammenarbeit mit Suzanne Levesque verfasst. Eine Besonderheit, die an dem Bilderbuch sofort auffällt, ist sein Umfang: auf über 80 Seiten statt der gewohnten 32 wird die Geschichte hier entfaltet, wobei die ausgesprochen feine, detailierte Auserzählung vor allem auf der Bildebene stattfindet. Während der sehr gelungene, poetische Text kurz und episodisch gestaltet ist, erhält die verspielte Detailverliebtheit Kuhlmanns in den Aquarellen großzügigen Raum, die Illustrationen kommen auf so mancher Doppelseite mit minimalem Text und manchmal gar ohne Worte aus. Die in Sepiatönen gehaltenen Bilder entführen die BetrachterInnen ins Hamburg des frühen 20. Jahrhunderts. Als die nicht näher benannte Maus – Lindbergh mag sowohl für ihren Namen als auch den des historischen Atlantiküberquerers stehen – feststellt, dass all ihre Freunde wegen der Erfindung der Mausefalle nach Amerika ausgewandert sind, die Schiffe nach Übersee aber von hungrigen Katzen patroulliert werden, beschließt sie, ihnen auf dem Luftweg zu folgen. Ihre Versuche, flugtaugliche Maschinen zu erfinden, zeichnen die Geschichte der frühen Luftfahrt kindertauglich nach und einige misslungene Experimente später ist es soweit: der Luftweg über den Atlantik wird erfolgreich zurückgelegt. Zusätzliche Dramatik erhält die Geschichte durch einen weiteren Konflikt: die Eulen, im mäusefreien Hamburg genauso hungrig wie die Katzen, heften sich auf die Fersen der ebenso technikaffinen wie tapferen Maus und die immer rasanter werdende Verfolgungsjagd lässt Kinder wie VorleserInnen atemlos um ein Happy End bangen. Im Anhang finden schließlich noch die bekanntesten Pioniere der Luftfahrt kurz und kindgerecht Erwähnung. Lindbergh ist ein außergewöhnliches Bilderbuch, das sich an der Grenze zur Graphic Novel bewegt und das sowohl Kinder ab dem Vorschulalter als auch Erwachsene mit einem Faible für Technik und Ästhetik ansprechen und begeistern wird. Torben Kuhlmann Lindbergh Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus Zürich: NordSüd 2014. ca. 84 S. Ab 5 Jahren Andrea Hirn Das Streichholzschachtel-Tagebuch Paul Fleischman, Bagram Ibatoulline Die erste Doppelseite des Buches zeigt ein kleines Mädchen und einen alten Mann in einem großen gediegenen, fast museal anmutenden Raum, voller Regale, Vitrinen und Bücher. «Such dir aus, was dir am besten gefällt. Dann erzähle ich dir die Geschichte dazu.» wird das Mädchen aufgefordert – und wir erfahren, dass es sich um Urgroßvater und Urenkelin handelt, die sich hier offenbar zum ersten Mal sehen. Das Mädchen sucht sich eine Kiste voll alter Zündholzschachteln aus und es stellt sich heraus, dass es sich um das Tagebuch des alten Mannes handelt. In jeder Schachtel befindet sich ein kleiner Gegenstand, der ihn an ein Erlebnis seiner Kindheit erinnert. Als erstes finden sie einen Olivenkern, der den alten Mann an die harte Kindheit in Italien erinnert – seine Mutter hat ihm, wenn er hungrig war, so einen Kern gegeben um daran zu lutschen und so gegen den Hunger zu kämpfen. In der nächsten Schachtel ist ein altes Foto eines Mannes – der Vater, der 35 Kinderbuch nach Amerika gegangen ist, um dort zu arbeiten. In der Folge erzählen die Schachteln die Auswanderergeschichte des kleinen Jungen, der mit seiner Mutter und den Schwestern dem Vater nachfolgt und den schweren Start im ersehnten Land Amerika. Das kleine Mädchen ist von der Geschichte ebenso gebannt wie die Rezensentin – und das letzte Bild schließt den Erzählbogen mit dem Beginn eines neuen Tagebuch, nämlich das des kleinen Mädchens, das als erste Dinge zwei Erinnerungen an diese Begegnung mit dem Urgroßvater in seine Schachtel legt. Die Illustrationen sind sehr realitätsnah und detailreich – die Gegenwart in Farbe, die Szenen aus der Geschichte des Urgroßvaters in vergilbtem Schwarzweiß. Besonders in den Gesichtern der Figuren liegt sehr viel Ausdrucksstärke. Eines der tollsten (Sach-)Bilderbücher, das in den letzten Jahren erschienen ist, es ist allen LeserInnen – ob jung oder alt – wärmstens zu empfehlen. Lisa Kollmer Paul Fleischman, Bagram Ibatoulline Das Streichholzschachtel-Tagebuch Aus dem Engl. Berlin: Jacoby&Stuart 2013. 22 Bl. Ab 5 Jahren. Ellis Augenbrauen Timothy Knapman, David Tazzyman Timothy Knapman, David Tazzyman Ellis Augenbrauen Aus dem Engl. Oldenburg: Lappan Verlag 2013. Ab 5 Jahren. Christine Knödler Ich schenk dir die Farben des Windes: Kunst, Gedichte und Geschichten für Kinder und Erwachsene München u.a.: Prestel 2014. 159 S. Ab 8 Jahren. «Wozu um alles in der Welt gibt es Augenbrauen?» fragt sich Elli. «Es sind nur zwei blöde, gammelige, haarige, kleine Fusseldinger!» Wo sie nicht erwünscht sind, wollen die Augenbrauen auch nicht bleiben – ihre anschließende Reise führt sie in das Schmetterlinghaus im Zoo, danach versuchen sie sich als Zwirbelbart für einen Zauberer, als wollige Handwärmer für schöne Käferdamen, als falsche Beine für eine riesige Ameise oder als Reifen am Motorrad einer Stabheuschrecke. Elli vermisst ihre Augenbrauen kein bisschen, bis Oma bei ihrem Anblick schreiend davonläuft. Elli versucht einen Ersatz für ihre Augenbrauen zu finden, sie aufzumalen oder die Haare ins Gesicht zu kämmen. Sie erkennt, wie «wild und wunderbar» Augenbrauen waren und vermisst ihre eigenen nun sehr. Sie malt eine Suchanzeige auf einen Lastwagen, die schließlich von den Augenbrauen entdeckt wird. In der Nacht kehren sie zu Elli zurück, die nun weiß, wozu Augenbrauen da sind: «Ganz allein, um sie glücklich zu machen!» Es gibt Bücher für Kinder zu verschiedensten Themen, aber Augenbrauen als Helden eines Kinderbuches scheinen doch erstmalig aufzutreten. Witzig-grotesk erzählt Timothy Knapman die Geschichte von den Augenbrauen, die auszogen, um ihr und ihrer Trägerin Glück zu finden. Die Illustrationen von David Tazzyman, ein Mix aus Collage, Malerei, feinen, einfachen Zeichnungen und viel Leerraum, unterstreichen den Humor und die Absurdität der Geschichte. Die Moral aus der Geschichte: verschmähe nie einen Teil deines Körpers, auch wenn du nicht weißt wozu er gut sein soll; das könnte sich rächen. Darüber und über Augenbrauen lässt sich nach der Lektüre vortrefflich reden. Es empfiehlt sich jedoch, das Buch ungeachtet etwaiger moralischer Botschaften einfach zu lesen, darüber zu lachen und es zu genießen. Martina Adelsberger Ich schenk dir die Farben des Windes: Kunst, Gedichte und Geschichten für Kinder und Erwachsene Christine Knödler «Ich schenk dir die Farben des Windes, damit du weiter lesen, leben, schauen, denken, fühlen kannst , und fliegen. Höher, tiefer, gegen und mit dem Wind» schreibt Christine Knödler im Vorwort zu ihrem gleichnamigen Kunst- und Gedichtband – und verspricht damit nicht zuviel. Die Sammlung von Texten und Bildern, die sie für den im Prestel-Verlag erschienenen Band zusammengestellt hat, zeichnet sich einerseits durch eine enorme Bandbreite und andererseits durch ein ausgesprochen feinsinniges Gespür für Zusammenhänge aus. Der Bogen spannt sich dabei über die Jahrhunderte: auf der Bildebene vom Spätmittelalter, auf der Wortebene vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Das Spektrum der DichterInnen reicht von den Klassikern (Goethe, Heine, Günderrode, Eichendorff, …) über zeitgenössische WortkünstlerInnen (Hesse, Jandl, Mayröcker, Kirsch, …) bis zu den Größen der aktuellen Kinderliteratur (Abedi, Ende, Richter, Maar, …). Ebenso bieten die Bilder einen Streifzug durch die Epochen und die Vielfalt der Kunststile. In fünf nach Farben sortierten Kapiteln (rot, gelb, grün, blau und bunt) finden sich auf jeder Doppelseite ein Text (meistens Gedicht, seltener eine Geschichte, ein Rätsel oder Lied), dem ein Bild beigestellt ist. Wie die beiden in Beziehung stehen, ist nur manchmal offensichtlich. In vielen Fällen bleibt es den Betrachtenden überlassen, die (oder eine mögliche) Verbindung zu entdecken. Aufmachung und Ausstattung des Bandes sind von höchster Qualität, die Farben und Kontraste der Bilder sind brillant, die Gedichte sind nicht nur in diversen Farben und unterschiedlichsten Typen gesetzt, sondern oft auch in originellen Formen, das Papier ist angenehm dick und glatt. In den beiden im Anschluss aufgelisteten Verzeichnissen der MalerInnen und DichterInnen werden nicht nur die Quellennachweise ihrer Werke sondern auch ihre Lebensdaten angeführt, sodass eine zeitliche Einordnung auch jener KünstlerInnen, die einem noch nicht bekannt waren, leicht möglich ist. Ich schenk dir die Farben des Windes ist ein Buch für alle und für viele Gelegenheiten: für Jung und Alt, zum Allein- und Gemeinsam-Lesen, zum Immer-wieder-Anschauen und zum Herschenken. Es ist ein Buch, das den Spagat zwischen Bildung und Unterhaltung im allerbesten Sinne schafft und als All-Ager Kindern wie Erwachsenen allerwärmstens empfohlen sei! Andrea Hirn 36 Besprechungen Winter 2014/15 Das Land Manglaubteskaum Norman Messenger Ganz im Stil eines Entdeckers des 18. Jahrhunderts führt uns der im englischsprachigen Raum preisgekrönte Illustrator Norman Messenger (u.a. Die Erschaffung der Welt) auf eine Insel, so wundersam, dass er sie nur «Manglaubteskaum» nennen kann. Dem Text vorangestellt ist eine Einführung, in der Messenger uns erzählt, wie er übers Meer segelte, durch reinen Zufall die Insel entdeckte und sofort erforschte, kartographierte und in Bild und Text verewigte – was deswegen erwähnenswert ist, weil diese Insel sich nämlich alle unvorhersehbare Zeiten auf Beine erhebt und in Windes Eile an einen anderen Platz begibt, weshalb sie niemals zweimal aufgesucht werden kann. Anstelle eines Inhaltsverzeichnisses folgt eine Karte der wolfsförmigen Insel mit Kurzbeschreibungen der einzelnen Orte, die im Folgenden in einzelnen Kapiteln dar- und vorgestellt werden. Mit der Akribie und Detailverliebtheit eines humanistischen Weltreisenden beschreibt, skizziert und erklärt Messenger jeden Aspekt dieser fantastischen Welt: das Dorf mit seinen BewohnerInnen (ausgesprochen liebenswürdig), die Flora (merkwürdige Bäume und äußerst ungewöhnliche Waldbäume) und die Fauna (beheimatet in dem Zaubersee, den Schären, einem Spukgebirge oder auf einer fröhlichen Lichtung). Den Abschluss bildet der für Buchaffine wohl wundersamste Ort: der Bücherberg, dessen Felsformationen in Buchform mit der Zeit ihre steinernen Seiten öffnen und den InselbewohnerInnen nächtens Geschichten zuraunen. Messengers Illustrationen zeichnen sich durch Liebe zum Detail und überbordende Phantasie aus. Der exakte, kleinteilige Stil und die Farbgebung in ihrer pastellkreidigen Buntheit erinnern tatsächlich an handcolorierte Bebilderungen alter Reisebeschreibungen. Jedes Kapitel erstreckt sich über eine Doppelseite, die jeweils rechte Seite lässt sich um eine weitere Seitenhälfte ausklappen und enthüllt zusätzliche Details und Informationen. Die Illustrationen und Texthäppchen verteilen sich sachbuchartig frei auf den Seiten. Der Text ist in zarten, leicht verschnörkelten Typen gesetzt, die andeutungsweise handschriftähnlich gestaltet, aber gut lesbar sind. Das Land Manglaubteskaum ist ein Kunstwerk, das sich einer genauen Zielgruppendefinition entzieht: als besonderes Bilderbuch, das der Vermittlung bedarf, eignet es sich zum GemeinsamAnschauen schon für Vorschulkinder, zum Selberlesen und –erschließen kann es als fantastisches Buch für Kinder ab ca. acht Jahren eingestellt werden. Auf jeden Fall regt es die eigene Fantasie in hohem Maße an, schon während der ersten Lektüre kommt Lust auf, die Geschichten weiterzuspinnen und sich weitere Besonderheiten dieser einzigartigen kleinen Welt auszudenken. Andrea Hirn Norman Messenger Das Land Manglaubteskaum Aus dem Engl. Hildesheim: Gerstenberg 2013. 28 S. Ab 5 Jahren zum Vorlesen oder ab 8 Jahren zum Selberlesen Lorenz Pauli, Kathrin Schärer Das Beste überhaupt. Meerschwein sein Zürich: Atlantis-Verlag 2013. 32 S. Ab 4 Jahren. Das Beste überhaupt. Meerschwein sein Lorenz Pauli, Kathrin Schärer Kathrin Schärer und Lorenz Pauli sind ein bewährtes Duo im Bilderbuch, wie die Pippilothek (2011) oder zuletzt nur wir alle (2012) gezeigt haben. Im Mittelpunkt der neuen Zusammenarbeit steht diesmal ein Meerschweinchen namens Miro, und zwar im buchstäblichen Sinn. Miro ist weder besonders groß oder klein, noch kann er Außergewöhnliches – Miro ist einfach mittendrin zwischen all den anderen Meerschweinen und er fühlt sich auch so. Als eines Tages die Wahl zum Besten Meerschwein überhaupt ansteht, pilgern all die kleinen und in unseren Breiten gern als Haustiere gehaltenen Fellträger dorthin. Das beste Meerschwein darf ein ganzes Jahr lang am sogenannten 37 Kinderbuch Gewinnerstein sitzen. Also versuchen alle am Weg zur Wahl sich besonders hervor zu tun: das eine versucht möglichst schnell und sportlich zu sein, bricht sich aber, beim Versuch über den Fluss zu springen ein Bein, andere suchen Abkürzungen oder beißen mutig in den Schwanz eines Jaguars. Miro hält diese Aktionen schlichtweg für dumm, dafür hilft er den anderen und stützt das verletzte Meerschweinchen. Darüber hinaus tut er nicht so, als könne er etwas besonders gut, ein Verhalten, das ihn schlussendlich aus der Masse an Meerschweinen herausstechen lässt. Also ist bald klar: Miro hat es sich am meisten verdient, gewählt zu werden, denn er will nicht um jeden Preis etwas Besonderes sein. So wird er am Ende zum besten Meerschwein gewählt und wünscht sich nur eines: nicht am Gewinnerstein zu sitzen, wie auf einem Thron, sondern weiterhin mittendrin zu sein, denn das ist das Beste überhaupt. Die Geschichte beschreibt ein Gefühl, das schon so manche Identitätskrise ausgelöst hat: sich durchschnittlich fühlen. Lorenz Pauli und Kathrin Schärer vermitteln die Botschaft, dass man nicht zwanghaft das Besondere in sich suchen muss, um Freunde zu haben und Teil der Gemeinschaft zu sein. Die Geschichte besticht mit prägnanten Sätzen und mit Kathrin Schärers Illustrationen. Sehr gelungen finde ich dabei, wie die ausgesprochen realistisch gezeichneten Meerschweinchen durch das gesamte Buch wuseln. Vor allem am Vor- und Nachsatzpapier findet sich eine ganze Sippe der kleinen Tierchen. Die Betrachter sollen raten, welches davon Miro ist, aber aufgelöst wird das Rätsel nicht. Denn wie am Nachsatzpapier zu lesen ist: «Miro ist mittendrin […]. Ich weiß nicht, welches Meerschwein Miro ist. Aber Miro weiß, wer er ist». Barbara Eichinger Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? Gedichte Michael Roher Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? Wien: Luftschacht-Verlag 2013. ca. 136 S. Ab 6 Jahren Viola Rohner, Dorota Wünsch Das Wild im Marmeladenglas Wuppertal: Peter Hammer-Verlag 2013. 24 S. Ab 4 Jahren. Michael Roher auf und transportieren auch seinen Witz kongenial. Roher experimentiert mit verschiedenen Stilrichtungen, er collagiert, strichelt und schraffiert mit feiner Feder oder mit Linoldruck-artig dickem Strich. Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? ist ein Gedichtband, bei dem von Herzen gelacht werden kann, der aber auch zum Nachdenken und Darüber-Reden anregt. Als All-Ager eignet er sich zum Vorlesen schon fürs Vor- und frühe Volksschulalter, zum Selberlesen für eher ältere Kinder, die auch den sehr kleinen, eng gesetzten Druck bewältigen. Einzelne Gedichte eignen sich durchaus auch für den Unterricht oder Projekte mit Jugendlichen, und erwachsene (Vor-) LeserInnen mit Sinn für skurrilen Humor und kritische Töne werden ebenfalls auf ihre Rechnung kommen. Mit seinem neuen Werk präsentiert sich Michael Roher nicht nur einmal mehr als Ausnahmekünstler im Kinderbuch- und Illustrationsbereich, sondern entstaubt auch das Genre des Gedichts und beweist, dass Lyrik aktuell, zeitgemäß und höchst unterhaltsam sein kann. Andrea Hirn Neben dem Bilderbuch Papilios Welt und dem Märchenband Wer fürchtet sich vorm lila Lachs, die beide gemeinsam mit Elisabeth Steinkellner entstanden sind, legte der junge österreichische Illustrator und Kinderbuchautor Michael Roher 2013 auch einen illustrierten Gedichtband vor. Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? versammelt verschiedene gereimte Kurztexte wie Gedichte, Nonsense-Verse, Auszählreime, MiniMärchen, Zwei- und Vierzeiler, ein Inserat sowie eine (Frosch-)Ballade. Was all diese Texte verbindet, ist Rohers scharfes Auge für soziale Schieflagen, gesellschaftliche Veränderungen, unangepasste Leben und sein stets spürbarer Respekt vor individuellen, unkonventionellen Lebensentwürfen. So erhält der wohnungslose «Penner Bonne» eine Stimme, Leonie verliebt sich nicht nur in Karl sondern auch gleich in seine Frau Sophie und dass die Liebe überdies kein Alter kennt, davon erzählt das Inserat der 70-jährigen Gastwirtin, die einen «trainierten jungen Mann» sucht. Wie schon im Märchenbuch vom «Lila Lachs» bürstet Roher auch in seinem Gedichtband Altes gegen den Strich, so darf die Hexe bei ihm gut sein und fleischlose Soße kochen, während Gretel «sich heut im Wald / die Zehennägel angemalt - / rabenschwarz, denn dieses Gretchen / ist ein wirklich wildes Mädchen», und wenn Siegfried im Kampf gegen Kriemhild verliert, weint er bitterlich, stapft davon und «spielt einfach nicht mehr mit». Der Grundton aller Gedichte ist ein humorvoller, die Bandbreite erstreckt sich dabei von hintersinnig skurril bis wahnwitzig lustig. Seine schwarz-weißen Illustrationen nehmen das Besondere seiner Gedichte auf der Bildebene 38 Besprechungen Das Wild im Marmeladenglas und droht den beiden Buben mit dem Monster, die sich – nach einem Besuch im Wald – tatsächlich davon einschüchtern lassen. Am Ende schließt Kira mit dem Wild Freundschaft und zuletzt sogar mit Max und Oliver. Das querformatige Bilderbuch thematisiert Ängste und deren Bewältigung. Die Protagonistin schafft es ohne nennenswerte erwachsene Hilfestellung ihre Ängste zu besiegen und sogar noch in eine Stärke zu verwandeln. Dorota Wünsch‘ Illustrationen sind sehr flächig und ungeachtet der Thematik auch sehr fröhlich. Nur der Wald ist recht bedrohlich dargestellt, meist von unten aus der Froschperspektive und in grünlich-braunen Farbschattierungen. Die Figuren wirken aber alle sehr freundlich und der eher knapp gehaltene Text fügt sich gut in die Zeichnungen ein. Das Ergebnis ist ein Bilderbuch mit einer einfachen Geschichte zum Thema Angst, das auch Freiraum lässt zum Nachdenken und Reflektieren des Themas. Barbara Eichinger Dunkel Lemony Snicket, Jon Klassen Viola Rohner, Dorota Wünsch Die Schweizer Gymnasiallehrerin, Autorin und Verfasserin von Bühnentexten für Erwachsene, Viola Rohner, und die aus Polen stammende und bereits mehrfach in der Kinderliteratur in Erscheinung getretene Illustratorin Dorota Wünsch haben mit Wie Großvater schwimmen lernte (2011) schon ein gemeinsames Bilderbuch veröffentlicht. Das Wild im Marmeladeglas ist nun das Ergebnis der zweiten Zusammenarbeit. Kira muss auf dem Weg in den Kindergarten ein Stück Wald queren. Doch dieser Weg ist schwierig für Kira, denn in den Bäumen des Waldes sitzt das «Wild» und Kira hat große Angst davor. Es fletscht nämlich immer seine Zähne, stellt Kira manchmal sogar ein Bein und lacht sie aus, wenn sie stolpert. Kira hat solche Angst, dass sie eines Morgens nicht in den Kindergarten will, also nimmt Papa sie mit ins Büro. Dort darf sie nichts machen, was Spaß macht, aber schließlich zeichnet sie «das Wild» eingesperrt in einem Marmeladenglas. Papa sperrt die Zeichnung noch zusätzlich in seinen Rollcontainer, d.h. nun kann nichts mehr passieren und tatsächlich ist am nächsten Tag der Weg in den Kindergarten auf einmal leichter. Das Wild scheint gebändigt zu sein. Nur im Kindergarten selbst ist es nicht so einfach, denn dort wird sie von Max und Oliver geärgert. Doch plötzlich weiß sich Kira zu helfen. Auf einmal wünscht sie sich das Wild zurück Winter 2014/15 Wenn sich Lemony Snicket (Eine Reihe betrüblicher Ereignisse) und Jon Klassen (Wo ist mein Hut?) zusammentun, sind die Erwartungen an das Ergebnis hoch. Dunkel erfüllt sie allemal, es ist ein wunderbar gelungenes Bilderbuch. Leo, ein kleiner Junge, fürchtet sich vor dem Dunkel, aber es ist eine Tatsache, dass das Dunkel im selben Haus wie Leo wohnt. Es versteckt sich in allen möglichen Ecken (zum Beispiel in Kästen und hinter Duschvorhängen), aber meist ist es im Keller, wo es den ganzen Tag abwartet, bevor es in der Nacht dann hervorkommt und sich überall verteilt. Leo schaut jeden Tag bei der Kellertüre hinunter zum Dunkel, mit dem Hintergedanken: «Wenn er das Dunkel in dem Zimmer besuchte, wo es wohnte, würde das Dunkel ihn in seinem Zimmer nicht besuchen.» Doch eines Nachts kommt das Dunkel – und fordert Leo auf mitzukommen, weil es ihm etwas zeigen möchte und Leo lässt sich, bewaffnet mit seiner Taschenlampe, darauf ein. Ganz wohl ist ihm nicht dabei, aber die nächtliche Erkundung gemeinsam mit dem Dunkel lohnt sich – und er ist von da an mit ihm versöhnt. Dem Dunkel selbst eine Stimme zu verleihen ist eine gute und gelungen umgesetzte Idee – das ganze Buch fokussiert so auf die beiden Protagonisten in einer sonst figurenlosen Welt. Die Illustrationen passen perfekt zum knappen und ohne übertriebene Emotionen auskommenden Text. So ein dunkles Bilderbuch ist wirklich eine Seltenheit; dass der Verlag sich darauf 39 Kinderbuch eingelassen hat, ist vermutlich dem Bekanntheitsgrad der beiden Autoren zu verdanken. Viele Seiten sind fast ausschließlich schwarz, nur durchbrochen vom Lichtkegel von Leos Taschenlampe und auch in den restlichen Illustrationen dominieren gedeckte Farben. Im Zusammenspiel mit dem Text erhält das Schwarz bzw. «das Dunkel» jedoch verschiedene Facetten und Qualitäten, von bedrohlich und unheimlich bis hin zu versöhnlich und vertraut. Ein Buch, das für alle sehr zu empfehlen ist! Lisa Kollmer Mamas mit ihren Kindern Guido Van Genechtte Guido van Genechten, in den letzten Jahren besonders bekannt geworden mit den Büchern vom kleinen weißen Fisch (zuletzt Der kleine weiße Fisch wird groß, 2012), hat nun wieder ein grafisch sehr ansprechend gestaltetes Büchlein für die Allerkleinsten herausgebracht. Es zeigt in schlichten schwarz/weiß-Collagen 10 Tier-Mamas mit ihren Kindern. Mal auf schwarzem, mal auf weißem Hintergrund sind die Tiere nacheinander abgebildet. Den Anfang macht «Mama Katze mit ihrem Kätzchen», gefolgt von «Mama Schnecke mit ihrem Schneckenkind». Der Text wiederholt sich in dieser Form auf jeder Seite, wirkt aber nie eintönig, denn entweder handelt es sich um das Spinnen-Kind, das Schildkrötenbaby oder unter Zuhilfenahme des Diminutivs um das Kätzchen. Darüber hinaus werden auch die jeweiligen Namen der Jungen genannt. D.h. die Kinder lernen mit Hilfe des Buches nicht nur die Bezeichnungen der Tiere an sich, sondern auch jene der Jungen, also etwa Lamm, (Pinguin-) Küken, Fohlen und (Elefanten-) Kalb. Die ausgewählten Tiere sind sowohl aus der Lebenswelt der Kinder gegriffen, als auch aus fernen Ländern, d.h. die Kinder sehen Bekanntes aus ihrer Umgebung, z.B. die Spinne oder die Schnecke, und Unbekannteres, wie den Pinguin oder den Elefanten. Die Tierpaare sind sehr freundlich dargestellt, oftmals einander zugeneigt und immer in Interaktion. Das Muttertier sieht auf jeder Seite zu seinem Kind und auch wenn es vorausläuft, blickt es beschützend zurück. Manche Tiere erinnern in ihrer grafischen Gestaltung ein wenig an Eric Carles Tierwelt. Im Gegensatz zu seiner bunten Welt reduziert die reine s/w-Darstellung aber auf Wesentliches und lässt gleichzeitig viel Raum beim Betrachten für weitere Gedanken. Das Buch ist im kleinen, quadratischen Format bei Aracari erschienen und sehr empfehlenswert für Kinder ab 1,5 Jahren. Barbara Eichinger Lemony Snicket, Jon Klassen Dunkel Aus dem Engl. Zürich: NordSüd 2014. 22 Bl. Ab 4 Jahren. Guido Van Genechtte Mamas mit ihren Kindern Zürich: Aracari 2013. 18 S. Ab 1,5 Jahren Jakob, das Krokodil Eine wahre Geschichte Die Regeln des Sommers Shaun Tan Claudia de Weck, Georg Kohler Claudia de Weck, Georg Kohler Jakob, das Krokodil. Eine wahre Geschichte Zürich: Atlantis 2013. 36 S. Ab 5 Jahren Jakob, das Krokodil – eigentlich ein Brillenkaiman – wird von Willi, einem weitgereisten Musiker, auf einem Markt in Brasilien gekauft und mit nach Hause in eine schweizerische Etagenwohnung gebracht. Klein und putzig bewohnt er zunächst ein Terrarium, aber im Laufe der Jahrzehnte – Jakob wird sehr alt und wächst und wächst – braucht er immer mehr Platz. Schließlich lebt er in dem in ein Urwaldbiotop umgestalteten Zimmer der mittlerweile erwachsenen Kinder Willis. Jakob wird als empathischer Mitbewohner mit Streicheltierqualitäten geschildert, der seinen menschlichen Pflegern viel Freude bereitet, abgesehen von wenigen Zwischenfällen, die seiner Größe und Kraft geschuldet sind. Ganze Schulklassen kommen ihn besuchen, bis eines Wintertages sein Herz ganz einfach zu schlagen aufhört. Willi hat einen unvergesslichen Hausgenossen verloren, von dem er noch seinen Enkelkindern erzählt. Illustrationen und Typografie dieses erzählenden Kindersachbuches sind konventionell, aber ein abwechslungsreiches Seherlebnis. Comicelemente, kurze Bildsequenzen und große doppelseitige Illustrationen werden gekonnt miteinander verbunden und zeichnen sich durch leisen Humor aus. Der Text ist einfach und wirkt mitunter durch die erkennbare Absicht, möglichst viel an Information zu transportieren, etwas bemüht. Aber es gibt tatsächlich viel Interessantes über die Biologie der Krokodile zu erfahren. Für diejenigen, die es noch genauer wissen möchten, enthält das Buch im Anhang ein Krokodil-Alphabet von A wie Abstammung bis zu Z wie Zähne, geeignet für versierte Leserinnen und Leser über das Volksschulalter hinaus. Und zum Schluss, wirklich auf der allerletzten Seite und somit leicht zu übersehen, kommt das, worauf die erwachsene Leserin längst gewartet hat – nämlich der Hinweis, dass Krokodile keine Haustiere sind und für die Wohnungshaltung im Allgemeinen ungeeignet. Als «Nicht-Haustiere-für-die-uns-der-richtige-Name-fehlt» bezeichnet der Schweizer Philosoph Georg sie in seinem Nachwort und stellt grundlegende Überlegungen über das Verhältnis von Tier und Mensch an. Viktoria Zwicker Das erste Mal in meinem Leben... Vincent Cuvellier, Charles Dutertre Das erste Mal in meinem Leben... Aus dem Franz. Berlin/Wien: Anette Betz 2013. Ab 6 Jahren Vincent Cuvellier, Charles Dutertre «Als ich zum ersten Mal lief, fiel ich hin. Als ich zum ersten Mal hinfiel, stand ich wieder auf. Als ich zum ersten Mal wieder aufstand, lief ich.» Ein Kreislaufs des Ausprobierens, der zum Erlernen einer der wichtigsten Fähigkeiten eines Menschen führt. Man kann sich dabei durchaus auf das evolutionär vererbte Wissen unserer Ahnen verlassen. In diesem Buch werden viele erste Male im Leben eines heranwachsenden Mädchens beschrieben und zauberhaft illustriert. Der Kreis schließt sich, als die Protagonistin zum ersten Mal selber Mutter wird: «Als du zum ersten Mal geboren wurdest, wurde ich zum zweiten Mal geboren.» Zwischen der eigenen Geburt und der ihres Kindes liegen viele schöne, lustige, alltägliche, außergewöhnliche, berührende Ereignisse. Besonders werden die Erfahrungen dadurch, dass sie Autor und Illustrator sehr prägnant und mit großer Selbstverständlichkeit beschreiben. Beim Lesen und Betrachten gibt es viele «Aha»- und «Ja-genau»- Erlebnisse. Oft muss man Schmunzeln und wird an eigenes Erleben erinnert. Manches wird auf den Punkt gebracht, was man 40 Besprechungen zwar irgendwie weiß, aber in dieser Pointiertheit nicht hätte ausdrücken können, wie: «Als zum ersten Mal mein Großvater starb, nahm mich Mama in die Arme, um mich zu trösten. Aber in Wahrheit nahm ich sie in die Arme, um sie zu trösten.» Zu jedem Erleben gibt es auf der gegenüberliegenden Seite ein Bild von Charles Dutertre. Die Illustrationen verleihen mit ihrem comicartigen Stil dem Text zusätzlichen Witz und ergänzen die Aussagen auf kongeniale Weise. Das erste Mal in meinem Leben ist ein Buch zum immer wieder gemeinsam Anschauen. Es regt an, die eigenen Erfahrungen weiterzugeben: Kinder lieben es, Geschichten von Erwachsenen aus deren Kindheit zu erfahren oder etwas über ihre eigene Babyzeit und frühe Kindheit zu hören. Das Buch bietet dafür einen guten Anlass und Ausgangspunkt, aber es wirkt natürlich auch einfach so! «Also das habe ich im letzten Sommer gelernt” – mit diesem lakonischen Satz beginnt das neue Bilderbuch des vielfach ausgezeichneten australischen Autors und Illustrators Shaun Tan, und er gibt den Ton für die im Folgenden genannten «Regeln des Sommers» vor. Auf jeder linken Seite findet sich eine dieser knappen Regeln; das Spektrum ihrer Relevanz reicht dabei von verspielt «Nie eine rote Socke auf der Wäscheleine hängen lassen.») über alltagstauglich («Nie dein Glas fallen lassen.») bis sicherheitstechnisch («Nie einem Fremden deine Schlüssel geben.»). Die jeweils rechte Seite illustriert, welche Konsequenzen es hat, sich nicht an diese Regel zu halten. Und hier bordet Tans Fantasie schier über: da tummeln sich Habichte im Frack, Monster, Roboter, ein rotäugiges Kaninchen sowie eine Katze im Anzug – und sie alle sind riesengroß, überragen die beiden kleinen Jungen, die die Regeln aufstellen, um ein Vielfaches. Während diese Bildtableaus in leuchtenden Farben und mit fantastischen Details gestaltet sind, verändert sich die Grundstimmung der Illustrationen nach der Mitte des Buches, wenn es heißt «Nie eine Prügelei verlieren» und «Nie auf eine Entschuldigung warten». Die Farbgebung wird reduzierter, es dominieren Hell-Dunkel-Effekte, Grau- und Blautöne. Diese drei Illustrationen sind als textlose Doppelseiten gestaltet und –als einzige in diesem Regelwerk – als erzählerisch zusammenhängend zu rezipieren: nachdem der Kleinere die Prügelei verloren hat, wird er vom Größeren für eine Krone an eine Schar Krähen eingetauscht und in einer schwarzen Dampflok durch eine dystopisch anmutende Landschaft gefahren, bis er nur noch von den Vögeln und einer allumfassenden Schwärze eingehüllt ist. Hier versteht es Tan meisterlich, rein auf der Bildebene die innere Kälte, Düsternis und Einsamkeit zum Ausdruck zu bringen, die ein aus den Fugen geratener Streit nach sich ziehen kann, während man tief drinnen vielleicht doch auf eine Entschuldigung wartet. Aber wie das bei guten Freunden oder Brüdern so ist: man ist nie lange allein und die nachfolgenden Regeln dienen der Rettung des Kleineren. Je weiter diese voranschreitet, umso farbenfroher werden die Illustrationen wieder. Wenn die Jungen schließlich friedlich und wohlbehalten zuhause vor dem Fernseher sitzen, ist die Szenerie in warme Farben und heimeliges Licht getaucht und ihre Geschichte geht mit einem lakonisch-zufriedenen «Das wär’s.» zu Ende. Tans Werk ist mit seinem minimalistischen Text und seinen surreal-fantastischen, teils auch düsteren Bildern sicher ein Buch, das der Vermittlung bedarf, das sich bewusst nicht nur an Kinder, sondern auch an Grafik-interessierte Erwachsene richtet und als solches funktioniert es auf hohem Niveau: es gibt unglaublich viel zu entdecken, deuten, reflektieren und besprechen. Die Regeln des Sommers ist ein besonderes Buch für kleine und große Fans von anspruchsvollen Bildwerken. Andrea Hirn Martina Adelsberger Winter 2014/15 41 Kinderbuch Shaun Tan Die Regeln des Sommers Aus dem Engl. Hamburg: Aladin 2014. 48 S. Ab 5 Jahren Besprechungen–Kinderbuch Erzählendes Mit Worten kann ich fliegen Sharon M. Draper Sharon M. Draper Mit Worten kann ich fliegen Aus dem Amerikan. Berlin: Ueberreuter 2014. 317 S. Ab 11 Jahren Lena Avanzini Hugo, streck die Fühler aus! Wien, Innsbruck: Obelisk 2013. 140 S. Ab 10 Jahren «Ich habe nie ein einziges Wort gesprochen. Ich bin fast elf Jahre alt...» Dieser Satz rahmt die Geschichte um Melody, ein Mädchen mit Zerebralparese, ein. Wie es sich für sie anfühlte, sich niemandem mitteilen zu können und wie sich ihr Leben verändert, als sie mit fast elf Jahren schließlich einen Computer bekommt, der ihr endlich ermöglicht mit anderen zu kommunizieren, davon erzählt die vielfach ausgezeichnete amerikanische Autorin Sharon M. Draper mit Einfühlungsvermögen, Offenheit und Humor. Seit sie ein Kleinkind war, sitzt Melody im Rollstuhl. Aus eigener Kraft kann sie nichts tun, was andere Kinder tun: nicht gehen, sitzen, essen oder sprechen. Entgegen den Diagnosen der Ärzte, Melody sei schwer hirngeschädigt, glauben ihre Eltern unerschütterlich daran, dass in ihrem zerbrechlichen Körper ein wacher Geist wohnt, dem nur die Möglichkeit fehlt, sich mittzuteilen. Und sie haben Recht: Melodys Gehirn speichert alles ab, was sie einmal gehört hat. Unterstützt von Mrs. V., einer resoluten Nachbarin, die sich im Laufe der Jahre von der Babysitterin zur Trainerin und schließlich zur Freundin der Familie wandelt und mit Hilfe von Catherine, einer jungen Studentin, die Melody in der Schule als Begleiterin zur Seite gestellt wird, schafft es das Mädchen, dass ein spezieller Computer für sie angeschafft wird, der – ähnlich wie jener von Stephen Hawking, ihrem großen Vorbild – tausende eingegebener Sätze speichern und auf Knopfdruck sprachlich widergeben kann. Nun kann sie zum allerersten Mal in ihrem Leben mit ihren Eltern, ihrer Umwelt in Kontakt treten. So übergroß die Freude bei ihrer Familie ist, so zwiespältig reagieren viele andere. Als deutlich wird, dass Melody mit ihrem phänomenalen Gedächtnis ihre gleichaltrigen KlassenkameradInnen spielend hinter sich lässt und deshalb beim nationalen Schulwettbewerb «Superhirn-Quiz» mitmachen will, sorgt das bei den anderen SchülerInnen für Verunsicherung und bald wird klar, dass die eigentliche Behinderung nicht bei Melody liegt, sondern in den Köpfen so mancher ihrer Mitmenschen. Draper lässt ihre Heldin selber erzählen und sie verleiht ihr eine absolut authentische Stimme – offen und ehrlich, reif und mit wunderbarem Humor. Dabei bleibt Melody immer eine sehr starke Figur, auch in ihren schwachen Momenten, und Draper gelingt das große Kunststück zu berühren, ohne jemals rührselig zu werden. Als LeserIn ist man von der ersten bis zur letzten Seite ganz nah dran an diesem ungewöhnlichen Mädchen, man freut sich für sie, leidet mit ihr, fiebert mit ihr einem selbstbestimmten Leben entgegen. Mit Worten kann ich fliegen ist ein wunderbares Plädoyer für Akzeptanz und Selbstbestimmung und ein großartiges Stück Kinderliteratur, das die Schwere seines Themas mit meisterhafter Leichtigkeit angeht – nicht nur Kindern wärmstens empfohlen! Andrea Hirn Hugo, streck die Fühler aus! Lena Avanzini Siberfischchen Hugo, der gerade einmal drei Häutungen hinter sich hat, verliert seine Mutter in einem Abflussrohr, vergeblich versucht er sie zu retten. So muss er sich allein auf die Suche nach einer neuen Bleibe machen und er hat Glück im Unglück: Hugo findet nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch gleich neue Freunde; das vermag ihn dann doch ein wenig über seinen Verlust hinweg zu trösten. Aber kaum hat er sich einiger- 42 Besprechungen maßen eingelebt und an all die neuen Hausgenossen gewöhnt, dräut neues Unheil, diesmal in menschlicher Gestalt. Das sowohl mutige als auch belesene Silberfischchen – sein altes Heim war eine Bibliothek, die Hugo und seine Mutter aufgrund der trockenen Luft verlassen mussten – schmiedet mit seinen neuen Freunden einen waghalsigen Plan und überführt am Ende sogar eine richtige Verbrecherin. Die abenteuerliche Geschichte der Tiroler (Krimi-)Autorin Lena Avanzini, auch Musikerin und Musikpädagogin, bringt neue Helden in die Kinderzimmer, Tiere, die man üblicherweise eher – wie auf dem Titel abgebildet – mit der Schuhsohle begrüßt. Silberfischen, Staub- und Winter 2014/15 Bücherläuse, Hausgrillen und sogar eine Spinne wohnen friedlich zusammen in einem Haushalt, der genügend Futter abwirft – bis eine neue Frau im Leben des Hausherren auftaucht und mit ihr rigide Vorstellungen von Hygiene Einzug halten. Damit verringert sich nicht nur das Nahrungsangebot dramatisch, als die Tierchen erfahren, dass ein Kammerjäger kommen soll, wissen sie: es geht um Leben oder Tod. Im Mittelpunkt der originellen Geschichte stehen die Insekten, aber die behandelten Themen sind universeller Natur, sie kreisen um Freundschaft und Hilfsbereitschaft. Die liebevollen und witzigen Vignetten der Illustratorin Joëlle Tourlonias begleiten die jungen LeserInnen durch die einzelnen Kapitel und vermitteln ihnen ein freundliches Bild der im Allgemeinen als Ungeziefer betrachteten Tiere. Gerlinde Böhm Essen Tote Erdbeerkuchen? Rosemarie Eichinger Der Friedhof ist in der Kinderliteratur zumeist ein düsterer, unheimlicher Ort und Schauplatz gruseliger Begegnungen. Doch es geht auch anders: wie schon im 2012 erschienen Friedhofskrimi von Kirsten Boie (Der Junge, der Gedanken lesen konnte) ist nun auch in Rosemarie Eichingers Erzählung der Friedhof ein in den Alltag integrierter Ort, zu allererst ist er nämlich Emmas Zuhause. Das Mädchen wohnt mit ihrem Vater, dem Totengräber, direkt neben dem Friedhof und verbringt seine Freizeit zwischen Gräbern und Gruften. Emma denkt sich Geschichten zu den Verstorbenen aus und fühlt sich in dieser von ihr geschaffenen Welt durchaus wohl. Ihre MitschülerInnen halten sie deswegen für verrückt, ihre einzige Bezugsperson ist der Vater. Das ändert sich, als plötzlich ein Junge, Peter, regelmäßig am Friedhof anzutreffen ist. Er trauert um seinen Zwillingsbruder, der bei einem Sturz ums Leben kam. Peter lebt seit dem Unfall in einer selbstgewählten Isolation. Die Annäherung der beiden vollzieht sich daher sehr langsam und ist anfänglich von gegenseitiger Skepsis geprägt, doch durch Emmas Initiative und Tatkraft kommen sich die beiden schließlich näher. Sie sprechen vor allem über verschiedenen kulturelle Zugänge zum Tod und damit verbundene Bräuche und Traditionen. Emma weiß viel darüber zu erzählen und hilft Peter auf diese Weise, den Verlust seines Bruders zu verarbeiten. Doch auch Emma profitiert von der Freundschaft, da sie von Peter aus ihrer selbst erdachten, imaginären Welt geholt wird. Rosemarie Eichingers Erzählung behandelt damit nicht nur die Themen Tod und Trauer, sondern auch die Außenseiter-Problematik. Von 43 Kinderbuch der in Wien lebenden Autorin ist bislang für Jugendliche Alles dreht sich (Carlsen 2013) erschienen sowie zwei als E-Book veröffentlichte Erzählungen (Unerlaubt entfernt und Scarlet, beide 2013). Die vorliegende Erzählung wendet sich nun an Jüngere und ist für Kinder ab ca. 9 Jahren empfehlenswert. Barbara Eichinger Astrids Plan vom großen Glück Levi Henriksen Die Eltern der elfjährigen Astrid sind seit einem Jahr geschieden, eine Tatsache, die dem aufgeweckten Mädel ziemlich zu schaffen macht. Es möchte die bevorstehenden Ferien unbedingt wie immer in einem gemütlichen Sommerhaus auf einer Insel mit Mama und Papa verbringen. Astrid strengt ihre Gehirnzellen mächtig an und schließlich ist ein großartiger, wenn auch schwierig umzusetzender Plan ausgetüftelt. Da werden Handys versenkt oder vorsätzlich außer Betrieb gesetzt, der neue Partner der Mutter soll mittels Kleber an der Klobrille aus dem Geschehen herausgehalten werden, ja sogar zu einem Bootsdiebstahl lässt sich Astrid hinreißen. Sie glaubt sich gegen alle Widernisse gewappnet, aber was sich dann auf der Ferieninsel abspielt, übersteigt selbst ihre kühnsten Vorstellungen. Astrids Plan vom großen Glück ist das Kinderbuch-Debüt des Autors, Journalists und Musikers Levi Henriksen, der 2004 für seinen Roman Bleich wie der Schnee mit dem Preis des norwegischen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Wer beim Betrachten des Titelbildes eine gewisse Ähnlichkeit mit Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf zu erkennen glaubt, wird sich nach wenigen Seiten Lektüre bestätigt fühlen. Ganz offensichtlich hat der Autor Anleihe bei einer der bekanntesten Figuren der Kinderliteratur genommen – allerdings reicht Henriksens Astrid nicht an das Vorbild heran: die Geschichte selbst ist flott erzählt, die Handlung bietet einiges an Spannung, aber der Hauptdarstellerin mangelt es am Charme und der Liebenswürdigkeit des Originals. Ingrid Sieger Rosemarie Eichinger Essen Tote Erdbeerkuchen? Wien: Jungbrunnen 2013. 117 S. Ab 9 Jahren Levi Henriksen Astrids Plan vom großen Glück Aus dem Norweg. München: DTV 2014. 256 S. Ab 10 Jahren Ella und der Millionendieb Timo Parvela Stella Menzel und der goldene Faden Holly-Jane Rahlens Kann ich mitspielen? Eine Fußballgeschichte Dreckswetter und Morgenröte Die Legenden der blauen Meere Michi hat einen neuen Fußball. Voller Enthusiasmus trainiert er mit ihm für die überübernächste Fußballweltmeisterschaft. Einziger Wermutstropfen ist, dass er das allein tun muss. Unverdrossen kickt er das Leder zwischen die Mülltonnen und schießt Tor um Tor. Als einer seiner Schüsse allerdings über die Latte hinausgeht, klettert Michi über die hohen, grauen Mauern hinaus aus dem tristen Innenhof. Sobald er den Hinterhof verlässt, trifft er ständig neue Mitspieler. Der Erste, der ihn fragt:« Kann ich mitspielen?» ist Rübaldi, der Hase. Als ein Weitschuss den Ball von der Wiese in den Wald katapultiert, treffen sie auf Van Brummel, den Bären. Es folgen noch Lulatschitsch, der Riese, die Spinne Günter, die Taube Laola, der Stein Wumms und Gabriela, der Engel. Jeder bringt ganz spezielle Qualitäten für das Spiel mit, doch alle teilen die Begeisterung für Fußball. Gemeinsam erleben sie das Spiel ihres Lebens, das sie sogar zu einem Engel in die Wolken und schlussendlich zur brasilianischen Fußballmannschaft in ihren blau-gelb-grünen Dressen führt. Der in Kiel lebende Jens Rassmus schreibt seit 1997 Kinderbücher und illustriert sie selbst. Viele seiner Bücher wurden prämiert, so zum Beispiel Der wunderbarste Platz auf der Welt und Rosa und Bleistift mit dem Preis der Kinderjury beim Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis oder Der karierte Käfer mit dem Österreichischen Kinderund Jugendbuchpreis. Rassmus’ Illustrationen bereichern den Text und bieten Projektionsflächen zum Träumen und Weiterspinnen von Gedanken. Im Fall von Kann ich mitspielen? können selbst die Noch-Nichtleser das Geschehen auch ohne Textkenntnis mitverfolgen. Die zum Teil ganzseitigen Bilder setzen den Inhalt liebevoll um und bieten sowohl beruhigende Inszenierungen der Weite der Natur als auch die dynamische Umsetzung von Dribbeln, Passen und Torjubel. Fußball als «völkerverbindendes» und bereicherndes Miteinander wird auch durch die Farbwahl hervorgehoben. Ist noch alles grau in grau, als Michi allein im Innenhof kickt, wird es nach und nach bunter, als immer mehr Spielkameraden dazustoßen. Schon das gelungene und ansprechende Cover macht dem Leser klar, was bei der Lektüre auf ihn zukommt – das türkise Skelett mit dem leuchtend roten Auge lässt keine Zweifel zu, dieses Buch ist eine Piratengeschichte. Dreckswetter und Morgenröte ist der erste Teil der neuen Reihe Die Legenden der blauen Meere. Der fast schon 13 Jahre alte Egbert hat es wirklich nicht leicht. Er lebt zusammen mit seinen beiden unausstehlichen Geschwistern Adonis und Venus und seinem Vater, der eine Stinkfruchtplantage betreibt, auf der Pirateninsel Dreckswetter. Diese Insel zeichnet sich nicht nur durch ihre unwirtliche Witterung aus, sie wird noch dazu von äußerst unangenehmen Geschöpfen bewohnt, die Egbert das Leben schwer machen. Denn Egbert ist sehr wissbegierig, lernt und liest leidenschaftlich gerne und passt damit so gar nicht zum Rest der Inselbewohner. Als Egberts Vater die ganze Familie zu einem Ausflug auf die wunderschöne Nachbarinsel Morgenröte einlädt, was sonst nur an zwei Feiertagen im Jahr passiert, wird Egbert misstrauisch. Auf Morgenröte angekommen trifft Egberts Familie mit der einflussreichen Familie Pembroke zusammen, und verschwindet kurz darauf auf einer von Roger Pembroke organisierten Ballonfahrt. Was steckt wirklich hinter Pembroke, was ist mit Egberts Familie passiert und wie hängt das alles mit dem Schatz des Hutmatozal zusammen? Für Egbert beginnt ein großes Abenteuer mit Piraten, Seeschlacht und einem sagenumwobenen Schatz. Geoff Rodkey ist mit seinem Debüt ein spannender und kurzweiliger Abenteuerroman gelungen, der alle gängigen Piratenmotive aufgreift und diese mit durchaus ungewöhnlichen und genreunüblichen Elementen verquickt. Die Lektüre ist unterhaltsam und fesselnd und wird jungen Leserinnen und Lesern ab ca. zwölf Jahren Freude machen. Jens Rassmus Timo Parvela Ella und der Millionendieb Aus dem Finn. München: Carl Hanser Verlag 2014. 176 S. Ab 8 Jahren Holly-Jane Rahlens Stella Menzel und der goldene Faden Aus dem Engl. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 2013. 160 S. Ab 10 Jahren «Ich heiße Ella. Ich gehe immer nur in die zweite Klasse und das nervt, weil ich gern bald mein Abitur feiern und dazu mein neues blaues Kleid mit der Schleife hinten anziehen würde. Zum Glück habe ich wenigstens eine nette Klasse und einen netten Lehrer.» Ella ist Protagonistin und Erzählerin, daher kommt ihr Name in den Texten kaum vor. Wie alt Ella eigentlich ist, weiß man nicht, da sie ja in der zweiten Klasse bleibt. Entsprechend verhalten sich auch die Heldinnen und Helden immer wie sieben- oder achtjährige Kinder. Das tut dem Vergnügen oder dem Erfolg der Serie keinen Abbruch, denn man könnte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Timo, Pekka, Hanna, Mika, der Rambo und Tiina in die Pubertät kämen. Obwohl – ein bisschen neugierig wäre man schon… Die Geschichten von Ella, ihrem Lehrer, der Direktorin und ihren Freunden sind allesamt ziemlich skurril und schräg, vor allem aber sehr witzig. Manchmal sind sie nahe an der Wirklichkeit, dann wieder mit vielen fantastischen Elementen angereichert, der Kern der Geschichten ist aber doch immer sehr real. Es gibt ein Superhirn, einen Klassendödel, ein Raubein und die auf den ersten Blick sehr braven Mädchen, die es natürlich faustdick hinter den Ohren haben. In Ella und der Millionendieb finden die Kinder in einem Blumenladen einen Lottoschein, dessen Einlösung eine Million Euro wert ist. Der Lottoschein geht verloren und es gibt jede Menge Verdächtige, nicht zuletzt den Vertretungslehrer, denn der war vor seiner Pensionierung Gärtner. Aber keine Sorge, Timo Parvela verfällt niemals ganz dem Klischee: «Zum Schluss kam also heraus, dass der Gärtner und die Blumentante nicht die Millionendiebe waren und auch keine Komplizen. Sie waren nur verheiratet.» Im deutschsprachigen Raum gibt es eine große Ella-Fangemeinde, Ella und der Millionendieb ist das neunte Buch der Serie, das ins Deutsche übersetzt wurde. Timo Parvela stammt aus einer Lehrerfamilie, ist mit einer Lehrerin verheiratet und war selber lange Lehrer – bei seinen Erzählungen über den Schulalltag kann er also aus dem Vollen schöpfen. Die Illustrationen von Sabine Wilharm unterstreichen wie immer den Witz des Textes. Martina Adelsberger Holly-Jane Rahlens zog von Amerika nach Deutschland, wo sie derzeit als Autorin, Übersetzerin und Radiomoderatorin arbeitet. Ihre Bücher wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, das vorliegende wurde von der Kinderbuch-Couch zum Buch des Monats November 2013 gewählt. Stella Menzel bekommt zur Geburt von ihrer Großmutter eine Decke geschenkt, dunkelblau, mit silbernen Sternen und Schneeflocken bestickt, mit goldenem Faden zusammengenäht. Diese Decke war ursprünglich ein Wandbehang, gefertigt von Stellas Ururgroßmutter, als deren Tochter 1919 aus Russland nach Berlin auswanderte. Von Generation zu Generation weitergegeben, wanderte der Wandbehang mit den Familienmitgliedern nach Amerika und wieder zurück nach Europa, wurde immer kleiner, umgenäht zu einem Vorhang, einer Tischdecke, einem Klavierschal und schließlich zur Kinderdecke für Stella. Diese liebt das Stück Stoff, das weiterhin verändert werden muss: ein Hund zerbeißt die Decke, das aus den Resten genähte Kleid wird durch Schokolade beschädigt und zur Bluse umgeändert, daraus wird eine Weste, dann ein Beutel und schließlich eine Schleife für einen Sonnenhut. Der Hut wird vom Wind davongetragen, vom Familienerbstück scheint nichts zu bleiben. Bis jetzt konnte Stellas Großmutter immer wieder etwas Neues zaubern, auch wenn Stellas Mutter nach jedem Missgeschick, das dem Stoff widerfuhr, konstatierte: «Aus nichts kann man nichts machen!» Und jetzt, als tatsächlich nichts mehr vorhanden ist, wird diese Pessimistin kreativ und schafft mit dem verbliebenen goldenen Faden ein Buch… «Es war einmal ein Mädchen…» – so beginnt die Erzählung, und wie in einem Märchen bewegen wir uns durch die Geschichte. Wiederkehrende Textelemente und wiederholte Sätze erzeugen einen ganz eigenen Rhythmus und erinnern an mündliche Erzähltradition. Die Ausstattung des Buches entspricht wunderbar dem Inhalt: Ebenso liebevoll wie die Erzählung ist auch die Gestaltung, angefangen vom dunkelblauen, mit Sternen übersäten Vorsatzblatt über die gezeichneten Fotografien bis hin zum goldenen Faden, der sich durch das gesamte Buch zieht. Unbedingt empfohlen für die ganze Familie, als Vorlesebuch ab 6, zum Selberlesen ab 10 Jahren. Bettina Raab Monika Nebosis 44 Besprechungen Winter 2014/15 45 Kinderbuch Geoff Rodkey Martina Bednar Jens Rassmus Kann ich mitspielen? Eine Fußballgeschichte St. Pölten [u.a.]: Residenz 2014. 40 S. Ab 6 Jahren Geoff Rodkey Dreckswetter und Morgenröte Die Legenden der blauen Meere Aus dem Engl. Hamburg: Carlsen 2013. 359 S. Ab 12 Jahren Besprechungen–Kinderbuch Geckos große Geschichtenwelt Von Himmelsleitern, StinkWettbewerben und Zauberhaaren Sachbuch Geckos große Geschichtenwelt Von Himmelsleitern, Stink-Wettbewerben und Zauberhaaren München: Mixtvision 2013. 170 S. Ab 5 Jahren Geckos große Geschichtenwelt – von Himmelsleitern, Stink-Wettbewerben und Zauberhaaren aus dem Verlag mixtvision versammelt erstmals zahlreiche Texte, die zuvor im beliebten und mit dem Gütesiegel der «Stiftung Lesen» ausgezeichneten Kindermagazin «Gecko» erschienen sind. Das Magazin publiziert sowohl renommierte AutorInnen und IllustratorInnen als auch junge Schreibund Zeichentalente. Im vorliegenden Sammelband finden sich 14 sehr unterschiedliche Texte, u.a. von namhaften AutorInnen wie Brigitte Schär, Martin Baltscheit und Gudrun Pausewang. Für die Illustrationen zeichnen u.a. Eva Muggenthaler, SaBine Büchner und Ulf K. verantwortlich. Entsprechend groß ist das Spektrum an Texten und Illustrationen: von Realistischem über Märchenhaftes bis zu fantastisch Skurrilem. Diese Bandbreite bietet erstens jedem Geschmack, jeder Vorliebe etwas und zweitens macht sie schon sehr jungen LeserInnen deutlich, wie vielfältig Literatur, wie mannigfaltig die Welt der Geschichten ist. Die handelnden ProtagonistInnen sind Mädchen, Buben, Tiere, fantastische Wesen (wie Drachen und Wichtel) und in der wahnwitzig lustigen Geschichte vom «Stinkwettbewerb» sind es gar Schuhe, die ihren großen Auftritt haben (und dass gerade die Kinderschühchen als Sieger aus besagtem Wettbewerbs hervorgehen, wird kleine LeserInnen besonders amüsieren). Diese Vielfalt an Hauptfiguren ermöglicht es jedem Kind, seine oder ihre Identitätsfigur(en) zu finden. Die Alltagsgeschichten verhandeln Themen, die allen Kindern bestens bekannt sein dürften: wie bewahrt man ein Geheimnis?, gibt es den Weihnachtsmann wirklich?, Urlaubssituationen und mehr. So verschiedenartig die Erzählungen sind, so einzigartig sind auch die Illustrationsstile, was Kindern auch im Bereich der Bildkunst einen Einblick in die Vielfalt künstlerisch-kreativen Schaffens gibt. Geckos große Geschichtenwelt ist ein bibliophil gestaltetes Vorlesebuch mit Leinenrücken, Lesebändchen und qualitativ hochwertigem Papier, dessen Geschichten sich (auch auf Grund ihrer Länge/Kürze) bestens zum abendlichen Vorlesen sowie zum Verschenken eignen – allen Vorlesenden wärmstens ans Herz gelegt. Alle Welt Das Landkartenbuch Aleksandra Mizielinska, Daniel Mizielinski Falls Sie auf der Suche nach einem geeigneten Buchgeschenk für Kinder sind, können Sie getrost aufatmen: Sie haben es gefunden! Das vorliegende Werk stellt unsere Welt in all ihren wunderbaren Farben und Formen vor: in mehr als dreijähriger Entstehungszeit wurden über 4000 Miniaturen gezeichnet, eigens zwei neue Schriftarten entwickelt und unzählige statistische Daten und Fakten gesammelt und verarbeitet: Hauptstädte, Einwohnerzahlen, Gebietsflächen, Berge, Flüsse, die vielleicht nicht unbedingt landestypischen aber jeweils beliebtesten Vornamen, Nationalgerichte, kulturelle Sehenswürdigkeiten, die landesspezifische Fauna und Flora, Musikinstrumente, historische Persönlichkeiten, sowie bekannte Figuren aus Film, Literatur und Musik... Auf den letzten Seiten finden sich alphabetisch gereiht alle 198 Flaggen der Welt, sogar die des Vatikanstaates. Alles wurde von dem polnischen Illustratorenpaar wunderschön illustriert und für Kinder einfach und übersichtlich aufbereitet. Da das Landkartenbuch ein wenig an ein buntes Wimmelbuch erinnert, ist es sogar für die allerkleinsten unter den neugierigen LeserInnen bzw. BildbetrachterInnen geeignet. Und die größeren finden auch nach langem und oftmaligem Betrachten immer wieder neue Details und Besonderheiten. Daher wundert es nicht, dass das vorliegende Werk mehrfach ausgezeichnet und international prämiert wurde, so beispielsweise mit dem Luchs der ZEIT, dem deutschen Emys-Sachbuchpreis für Kinder- und Jugendliteratur oder einer Nominierung als Bestes Wissenschaftsbuch des Jahres 2014 in der Kategorie Junior Wissen des Bundesministeriums für Wissenschaft und Kultur, Wien. Alles in allem, ein absolut geniales und rundum gelungenes (Sach-) Buch – nicht nur für wissbegierige Kinder. Aus dem Poln. Frankfurt am Main: Moritz-Verlag 2013. 105 S. Ab 6 Jahren Martina Lammel 59 gute Gründe Bücher zu lieben, auch wenn du Lesen hasst! Françoize Boucher Nach einer ersten Karriere in der Modewelt hat sich die Französin Françoize Boucher ihrer wahren Leidenschaft zugewandt: dem Schreiben und Illustrieren von Büchern für Erwachsene und Kinder. Auf Deutsch ist 2011 das Bilderrätselbuch Und was siehst du? erschienen, der vorliegende Band ist ihr zweites Werk (heuer erschien noch 59 gute Gründe, warum deine Eltern gar nicht so übel sind, auch wenn sie dich zwingen, Gemüse zu essen, ebenfalls im Prestel Verlag). Boucher führt zahlreiche, oftmals ungeahnte Gründe an, warum es von Vorteil ist, Bücher zu lieben und zu lesen – das Spektrum reicht dabei von sachlich (es gibt zu jedem Thema ein passendes Buch, die Rechtschreibung verbessert sich, man kann bei jedem Wetter lesen) über verführerisch (man erscheint interessant und wird bewundert, man nimmt von übermäßiger Lektüre kein Gramm zu, erhält stattdessen sogar eine perfekte Andrea Hirn 46 Besprechungen Aleksandra Mizielinska, Daniel Mizielinski Alle Welt Das Landkartenbuch Winter 2014/15 47 Kinderbuch Figur) bis skurril (Bücher halten sich ewig und verderben nicht wie Lebensmittel). Sie versammelt auch den einen oder anderen Hinweis auf den richtigen Umgang mit Büchern: immer Hände waschen (manche Bücher werden«sehr, sehr, sehr zornig», wenn man sie beschmutzt), eine Windel tragen (egal wie alt man ist), wenn man ein besonders spannendes Buch liest; und gibt Tipps, wie man allerseltsamste oder gar peinliche Bücher lesen kann, ohne dass es jemand mitkriegt. Bouchers Schreibstil ist lakonisch-witzig, ihr Illustrationsstil cartoonartig. Die knappen Texteile verteilen sich über die ganze Seite und sind oft in die Illustration integriert, sodass Text und Grafik meist eine Einheit bilden. Sie arbeitet mit schwarzem Strich auf meist weißem Untergrund, manche Seiten sind in knalligem hellblau oder orange unterlegt. Diese beiden Farben sind auch die einzigen, mit denen die Illustrationen stellenweise coloriert sind, was den Effekt von Leuchtstift-Markierungen erzielt. Gemeinsam mit den handschriftartig gesetzten Typen wirkt das Buch dadurch, als wäre es (von einem Kind) handgeschrieben und – gezeichnet. Françoize Boucher 59 gute Gründe Bücher zu lieben, auch wenn du Lesen hasst! Aus dem Franz. München u.a.: Prestel 2013. ca. 112 S. Ab 10 Jahren 59 gute Gründe Bücher zu lieben ist ein rundum gelungenes, wirklich lustiges Buch für Bibliophile von 10 bis 100, das auch Leseunwillige zum Schmunzeln und Lachen bringen wird und sich bestens als Geschenk und Mitbringsel eignet. Haben Elefanten wirklich Angst vor Mäusen? Vorlesegeschichten zu den lustigsten Alltagsirrtümern Glückwunsch, du bist ein Mädchen Eine Anleitung zum Klarkommen Sonja Eismann, Chris Köver, Daniela Burger Denkste?! Verblüffende Fragen und Antworten rund ums Gehirn Jan von Holleben Christian Dreller Andrea Hirn Die 100 tödlichsten Dinge der Welt Anna Claybourne Anna Claybourne Die 100 tödlichsten Dinge der Welt München: arsEdition GmbH 2013. 112 S. Ab 10 Jahren Christian Dreller Haben Elefanten wirklich Angst vor Mäusen? Vorlesegeschichten zu den lustigsten Alltagsirrtümern Hamburg: Ellermann 2014. 122 S. Ab 4 Jahren Ein Totenkopf und ein Skorpion, ein Bär mit bedrohlich aufgerissenem Maul, eine giftige Spinne, ein schnappendes Krokodil, ein Foto von einem Wirbelsturm, das Symbol für Blitzeinschlag sowie gruselig erscheinen wollende Wortbanner mit Texten wie «Rasiermesserscharf & stechend», «Katastrophal & ansteckend» sowie «Blutrünstig & giftig» zieren das vorliegende Werk. Das in einem roten Folienumschlag steckende Taschenbuch soll Kinder ab ca. 10 Jahren über die Gefährlichkeit unserer Welt und die vielfältige Bedrohung unseres Lebens aufklären. Um den angstmachenden Ersteindruck nicht verflachen zu lassen, folgt in einem «Einführung» benannten Einleitungsartikel ein warnender Hinweis darauf, dass wir auf der Hut sein und uns fürchten müssen, denn «die Killerkreaturen und Keime (…) sind gar nicht weit weg. Sie sind überall! Fürchte dich, fürchte dich sehr!». Zum Glück wird nach so viel reißerischer Panikmache beruhigend relativiert: «Okay, keine Panik! Viele tödliche Gefahren, die dir in diesem Buch begegnen werden, sind äußerst selten (…) und für die anderen gibt es die moderne Medizin, Sicherheitsvorkehrungen und den gesunden Menschenverstand». Ein Inhaltsverzeichnis zu Beginn zeigt die thematische Gliederung in «Angriffslustige Tiere», «Killerreptilien und tödliche Fische», «Blutrünstige Biester» sowie «Gifte, tödliche Krankheiten und Katastrophen» und listet alle beschriebenen Schrecken mit den zugehörigen Titel-Begriffen und Seiten-Verweisen auf. Jeder Beitrag füllt eine Seite, ist mit einem Farbfoto versehen und stuft die jeweilige Gefahr in einem «Totenkopfranking» nach ihrem Tödlichkeitsgrad ein. Ergänzende bzw. weiterführende Informationen finden sich in knallbunten Farb-Kästchen. Das ansprechend aufgemachte Buch bietet eine kompakte Übersicht über die schlimmsten Bedrohungen des Menschen, Informationsgehalt und Sprache sind dem Alter der Zielgruppe angepasst. Ein paar marktschreierische Worte und ein paar Totenköpfe weniger hätten der grundsätzlichen Empfehlung allerdings keinen Abbruch getan… Beim Grillen im Garten bemerkt Tims Mama dass ihre geliebten Rosensträucher Läuse haben. Also macht sich die gesamte Familie auf die Suche nach Marienkäfer, die bekanntlich Läuse zum Fressen gern haben. Dabei erwähnt Mama, dass die Punkteanzahl auf das Alter der Käfer hinweist. Doch Tim weiß es besser und klärt dass Ammenmärchen auf. Im weiteren Verlauf der Geschichte stehen noch viele andere tradierte Alltagsweisheiten auf dem Prüfstand; beispielsweise, dass Stiere auf rote Farbe besonders wütend reagieren oder Wikingerhelme mit Hörnern versehen waren. 20 kurze Geschichten, nie länger als 6 Seiten, mit witzigen, sehr farbenfreudigen Illustrationen von Katrin Oertel versehen, bieten in komprimierter Form Aufklärung über von Generation zu Generation weitergegebenes Wissen bzw. Irrtümer. Einfacher Satzbau und immer wieder eingebaute direkte Reden sorgen für leichte Lesbarkeit. Die Richtigstellungen der Alltagsirrtümer sind in kurze und überschaubare Rahmenhandlungen eingebettet und sind sowohl zum Vorlesen als auch zum Selberlesen für Volksschulkinder gut geeignet. Ein Buch, das Wissen und Unterhaltung auf unspektakuläre Art und Weise verknüpft. Angelika Weiß Nach ihrem ersten, 2012 erschienenen, Gemeinschaftswerk Mach’s selbst – Do it Youself für Mädchen legt das Autorinnen-Trio Eismann, Köver und Burger (u.a. Herausgeberinnen des Missy Magazines) erneut einen queer-feministischen Mädchen-Ratgeber vor. Der Titel Glückwunsch, du bist ein Mädchen: Eine Anleitung zum Klarkommen ist tatsächlich Programm. Hier wird auf 150 Seiten das Mädchen-Sein nicht nur gefeiert, sondern auch aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, hinterfragt, auf den Kopf gestellt. In sechs Abschnitten (Mädchen sein, Freundschaft und Mädchensolidarität, Körper und Schönheit, Mode, Sexualität, Sport) werden die Themen mit gender-theoretisch fundiertem Tiefgang analysiert und gegen den Strich gebürstet. Es gibt jede Menge anspruchsvollen theoretischen Input (z.B. was genau unter Intersektionalität zu verstehen ist), der altersgerecht aufbereitet und bestens verständlich erklärt wird. Dazwischen gibt es stets die Ermutigung, Traditionelles neu zu überdenken und zu hinterfragen, ob frau diesem oder jenem Aspekt der «weiblichen Rolle» gerecht werden kann, soll, möchte oder nicht, bzw. wie Rollenbilder überhaupt zustande kommen und wie sie angepasst, verändert, angenommen oder auch abgelehnt werden können. Manchmal gibt es Platz, eigene Überlegungen zu notieren oder auszufüllende Pro-und-Contra-Listen, um sich über Themen mal konkret Gedanken zu machen. Zwischen den Infoteilen gibt es spannende Interviews mit interessanten Frauen (Stichwort: Rollenvorbilder) sowie Internetadressen zu Webseiten und Blogs, auf denen Interessierte sich noch ausführlicher informieren oder inspieren lassen können. Die Autorinnen finden eine Sprache, die perfekt zwischen – den komplexen Themen angemessener – Sachlichkeit und – ihrer Zielgruppe angepasster – authentischer Lockerheit balanciert und die Jugendliche garantiert ansprechen wird. Zahlreiche Farb- und Schwarz-Weiß-Fotos sowie ein poppiges Layout ergänzen den Ratgeber und machen ihn zu einem rundum gelungenen Mitmachbuch, das allen jungen Mädchen wärmstens ans Herz gelegt sei und sich auch bestens als Geschenk eignet. Andrea Hirn Franz Plöckinger 48 Besprechungen Winter 2014/15 49 Kinderbuch Als Kooperationspartner für das vorliegende Werk konnte die Gemeinnützige Hertie-Stiftung, der größte private Förderer der Hirnforschung in Deutschland, gewonnen werden. Das ermöglichte es, nicht nur über 300 bemerkenswerte Kinderfragen zum Thema Gehirn zu sammeln, sondern auch zwei ausgewiesene Experten für deren Beantwortung zu gewinnen: Prof. Dr. Michael Madeja, Hirnforscher und Professor an der Universität Frankfurt, sowie Arzt und Geschäftsführer der Hertie-Stiftung, und Dr. Katja Naie, Biologin, Neurowissenschaftlerin und begeisterte Leiterin des Informationsportals rund ums Gehirn (www.dasgehirn.info). Der Fotokünstler Jan Holleben hat das so unterhaltsame wie lehrreiche Frage- und Antwortspiel optisch wunderbar aufbereitet; viele bunte, witzige und zumeist ganzseitige Fotos bereichern und veranschaulichen den spannenden Text. Man staunt etwa über Folgendes: Wieso heißt das Gehirn Gehirn und ist das Gehirn innen hohl? Wie lange hält das Wissen aus der Schule? Hat das Gehirn Gefühle und wo steckt die Seele? Wie viel kann man auf einmal denken? Wie kommen beim Hören die Worte in den Kopf? Warum vergisst man viel, wenn man alt wird? Gibt es Menschen, die sich alles merken können? Können Hirnforscher Gedanken lesen? Und was passiert im Gehirn beim Lesen? Diese und viele weitere interessante Überlegungen werden zielgruppengerecht und ohne jede «Oberlehrer»-Attitüde beleuchtet und erklärt. Ein außergewöhnliches Sachbuch, das nicht nur Kindern zu vielen neuen Erkenntnissen verhilft. Claudia Barton Sonja Eismann, Chris Köver, Daniela Burger Glückwunsch, du bist ein Mädchen Eine Anleitung zum Klarkommen Weinheim, Basel: Beltz & Gelberg 2013. 151 S. Ab 13 Jahren Jan von Holleben Denkste?! Verblüffende Fragen und Antworten rund ums Gehirn Stuttgart u.a.: Gabriel 2013. 174 S. Ab 10 Jahren Kritzeln, krakeln, schreiben Das Buchstaben-Mitmachbuch für Kinder Die Bademattenrepublik Besprechungen–Jugendbuch Valerie Wyatt Claudia Huboi, Susanne Nöllgen Claudia Huboi, Susanne Nöllgen Kritzeln, krakeln, schreiben Das BuchstabenMitmachbuch für Kinder Bern: Haupt-Verlag 2013. 59 S. Ab 6 Jahren Valerie Wyatt Die Bademattenrepublik Leipzig: Klett Kinderbuch 2014. 40 S. Ab 10 Jahren Wie der Titel schon verrät, ist das Buch ein Sammelsurium aus kreativen Vorschlägen zum Thema Buchstaben, Alphabet und Schrift. Es regt an, sich mit Optik und Eigenschaft einzelner Zeichen bzw. verschiedener Schriftbilder und Alphabete auseinanderzusetzen. Die LeserInnen werden über verschiedene Schriftarten (mit oder ohne Serifen, geschwungen oder gerade Linien, etc. …) und deren Wirkung aufgeklärt: ist eine Schrift eher ordentlich, elegant oder vielleicht widerspenstig und wild? Darüber hinaus finden Interessierte auf je einer Seite Informationen zum Morsealphabet (inklusiver einer Anleitung für ein Morsegerät), zur Braille-Schrift und dem Finger- und Flaggenalphabet. Natürlich dürfen in einem Kinderbuch zum Thema Schrift Tipps für Geheimschriften und -sprachen nicht fehlen, das Thema ist daher mit mehreren Beispielen vertreten. Generell ist das Buch aber mehr als Bastelbuch denn als Sachbuch zu verstehen. Ähnlich wie im Sprachbastelbuch wird eine kreative Auseinandersetzung angeregt, allerdings mit dem Fokus auf der formalen statt der inhaltlichen Ebene. Während also im Sprachbastelbuch Worte gereimt, geschüttelt und zu Geschichten geformt werden, geht es hier mehr um Typografie und Grafik. Das Buch ist gut geeignet für Kinder ab sechs Jahren, kann aber auch für LehrerInnen hilfreich sein, die das Thema Alphabet mit verschiedenen Sinnen erfahrbar machen wollen. Die Bastelideen für Spiele mit Buchstaben, wie etwa Domino, Puzzles oder Würfelspiele sind sehr gut dazu geeignet. Aber auch die Aufforderungen, Visitenkarten, Einladungen oder Pop-ups zu basteln, können vielseitig eingesetzt werden. Die Abbildungen im Buch sind optisch sehr ansprechend arrangiert, die einzelnen Bastelschritte allerdings eher kurz gehalten. Darüber hinaus gibt es zwischendurch Freiflächen für eigene Ideen. Ein empfehlenswertes Buch für Kinder, die gerne drucken, kritzeln, zeichnen, schreiben, Buchstaben aus Draht biegen etc., und für Erwachsene, die in der Vermittlung tätig sind. Barbara Eichinger So einfach ist es, sein eigenes Land zu gründen (für den unwahrscheinlichen Fall, dass man noch ein Stückchen besitzlose Erde gefunden hat): gib deinem Land eine Identität – regiere dein Land – verbünde dich mit deinen Nachbarn (und dann habt eine Menge Spaß). So unterhaltsam und lehrreich ist eine Stunde Demokratie für Kinder ab 10 Jahren, wenn das Buch von Valerie Wyatt stammt. Die Autorin hat bereits mehr als hundert Kinderbücher verfasst und wurde im englischsprachigen Raum dafür mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Nun liegt erstmalig und endlich eine deutsche Übersetzung einer ihrer Titel vor. Die Wahl fiel mit Die Bademattenrepublik auf ein Buch mit einem für Kinder wenig attraktiven Thema. Demokratie- da zieht es einem eher die Schuhe aus als den Bademantel an. Doch Valerie Wyatt brilliert mit kurzen und prägnanten Texten, anschaulichen Beispielen sowie der nötigen Prise Humor – gleichzeitig aber mit viel Bewusstsein für die Ernsthaftigkeit des Themas. Alle wichtigen Elemente verschiedener politischer Systeme und der Staatsform Demokratie im Besonderen werden angesprochen, in Frage gestellt und die Beurteilung letztlich dem lesenden Kind überlassen. Auch Oligarchie, Theokratie und Einparteiensystem werden mit ihren Vor- und Nachteilen erklärt. Die Autorin scheut nicht vor unangenehmen Fragestellungen zurück: Diktatur, Wahlbetrug, Krieg oder Bereicherung auf anderer Menschen Kosten werden nach einer witzig-ernsthaften Erklärung stets noch durch Beispiele aus der neueren Geschichte veranschaulicht. So geht sie auf die turkmenische Diktatur, besonders absurde Gesetze aus verschiedenen Ländern der Welt ein («Alaska: Es ist verboten, einen lebenden Elch aus dem Flugzeug zu schubsen») und erläutert detailliert die möglichen Folgen einer Revolution («.. das könnte äußerst schmerzhaft werden. Für dich. Erinnerst du dich? Seite 17? Geköpft werden?»). Die Seiten des Buches sind bunt und vielschichtig aufgebaut und damit nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch anspruchsvoll. Interessant ist, dass der Illustrator der deutschen Ausgabe ein anderer ist als jener der Originalausgabe. Die Zeichnungen sind längst nicht so abstrakt wie im Original und punkten durch ihren collagenartigen Stil, der den Witz des Textes optimal transportiert. Alles in allem eines der gelungensten Kindersachbücher am Buchmarkt. Magdalena Martha Maria Zelger 50 Besprechungen Winter 2014/15 Am Anfang war das Ende Stefan Casta Am Anfang war das Ende des schwedischen Autors Stefan Casta reiht sich auf den ersten Blick bestens in die Flut von dystopischen Titeln für Jugendliche ein, die seit dem weltweiten Erfolg der Hunger Games-Trilogie aus der Literaturlandschaft nicht wegzudenken sind. Sowohl Cover (wolkengrauer Himmel über sturmgepeitschtem graublauen Meer) als auch der (ausnahmsweise sehr gelungene) deutsche Titel verweisen bereits auf die Ausgangssituation: ein Endzeitszenario in einer nicht näher benannten, vermutlich aber nicht allzu fernen Zunkunft. Der Klimawandel sorgt schon seit Jahren dafür, dass immer mehr Tiere und Pflanzen aussterben – und dann setzen sintflutartige Unwetter ein, die Häuser abdecken, Autos durch die Luft schleudern, Bäume entwurzeln... und schließlich die hölzerne Schulveranda, auf der vier Jugendliche gerade noch Zuflucht gesucht haben, mit sich fortreißen. Und dann sind da nur mehr Regen, Wasser und Dunkelheit. Als Judit, Dinah, Gabriel und David – am Ende ihrer Kräfte und Hoffnungen – schon nicht mehr damit rechnen, stranden sie endlich an einem Ufer. Zuerst überglücklich, noch am Leben zu sein, erkennen sie bald, dass nichts so ist, wie es sein sollte. Es gibt keine Gerüche, kaum Pflanzen, das Wasser ist giftig, die Sonnenstrahlung unerträglich intensiv – eine Umgebung wie sie lebensfeindlicher kaum sein könnte. Als sie schließlich einen abgelegenen Bauernhof finden, währt auch diese Freude nur kurz, denn am Küchentisch sitzt die Familie des Hauses. Tot. Aber irgendwie auch nicht. Und dann stellt sich heraus, dass sie doch nicht allein sind... Das ist der Punkt, an dem Castas Geschichte beginnt, sich von anderen Dystopien zu unterscheiden. Hier wird nichts klar auserzählt, sondern mit fortschreitender Handlung werden immer mehr Fragen aufgeworfen – allen voran jene, was real ist und was nicht. Casta legt seinen Figuren, besonders der Ich-Erzählerin Judit, einige interessante Theorien in den Mund, die man als Lesende/r aufnehmen und weiterdenken kann. Im Endeffekt bleiben aber Figuren wie Lesende im Ungewissen, gefangen in einer Atmosphäre des Unheils und des Unheimlichen. Was Casta diesem Bedrohlichen entgegensetzt, ist der unverbrüchliche Zusammenhalt der Jugendlichen, ihre Hilfsbereitschaft, ihr Gemeinschaftssinn, ihr Verantwortungsbewusstsein. Sie alle, besonders aber Judit, wachsen an den Herausforderungen, entwickeln sich, passen sich an die veränderten Bedingungen an – hier liegt der Hoffnungsschimmer der Geschichte. Am Anfang war das Ende ist keine actionreiche Dystopie mit HeldInnen, die – im übertragenen oder wörtlichen Sinn – Superkräfte entwickeln, sondern eine nachdenklich stimmende Erzählung, die Fragen in den Raum stellt, ohne sie zu beantworten und viel Platz für eigene Interpretation lässt. Dass das Ganze dabei so spannend erzählt wird, dass man fast atemlos bei der letzten Seite ankommt, zeichnet Casta, der bereits 2002 mit dem Astrid-Lindgren-Preis für sein Gesamtwerk geehrt wurde, einmal mehr aus. Und falls das offene Ende den einen oder die andere unruhig zurücklässt, hier die gute Nachricht: 2012 ist in Schweden eine Fortsetzung des Romans erschienen. Andrea Hirn Marienbilder Tamara Bach Die bekannte Jugendbuchautorin (zuletzt Was vom Sommer übrig ist, 2012) veröffentlicht mit Marienbilder nun ihr fünftes Jugendbuch und verwebt darin gekonnt die Geschichte mehrerer Frauengenerationen. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die 16-jährige Mareike, aus deren Sicht aber vor allem 51 Jugendbuch das Leben der Mutter aufgerollt wird. Mareike ist eine «Nachzüglerin» und war kein Wunschkind; die Mutter hatte Sorge ob der Zuverlässigkeit des Kindsvaters. Doch schließlich entscheidet sie sich für das Kind und als Mareike ihres Erachtens alt genug ist, verlässt die Mutter die Familie und bleibt spurlos verschwunden. In vielen kurzen Kapiteln wird nun aus Mareikes Perspektive der Alltag der zurückgelassenen 16-Jährigen erzählt. In zahlreichen Rückblenden erfahren die Lesenden außerdem über das Leben der Mutter und Großmutter als junge Frauen. Stefan Casta Am Anfang war das Ende Aus dem Schwed. Frankfurt am Main: Fischer Sauerländer 2014. 426 S. Tamara Bach Marienbilder Hamburg: Carlsen 2014. S. 134 Martin Baltscheit Die besseren Wälder Weinheim & Basel: Beltz & Gelberg 2013. 249 S. Tamara Bachs Schreibstil ist in seiner knappen Nüchternheit sehr eindringlich. Sie beschreibt Frauen, die sich in jungen Jahren in ihr Schicksal einfügen mussten und deren Beziehungen spracharm und aufs Notwendigste beschränkt sind. Sie sind aber nicht ohne Hoffnungen und Sehnsüchte und diese fügt Tamara Bach stilistisch sehr interessant ein: sie beschreibt sie als mögliche Varianten von Ereignissen und reiht sie nacheinander in den Text. Etwa, wenn sie von der Großmutter im Krieg berichtet, die sich lieber in einen Soldaten verliebt hätte, als von einem vergewaltigt worden zu sein. Da wird zunächst in kurzen Worten erzählt, was ihr widerfahren ist, im nächsten Satz aber wiederum der Wunschtraum so dargestellt, als wäre es real passiert. Mareike selbst wird schließlich ebenso jung und ungewollt schwanger wie ihre Mutter und Großmutter. Im Unterschied zu diesen gelingt es Mareike aber, einen selbstbestimmten Weg zu gehen. Das versöhnliche und zuversichtlich stimmende Ende wird aber gleich darauf von der Autorin in Frage gestellt: das letzte Kapitel leitet sie wie schon das erste mit dem Wörtchen «oder» ein. Doch hat sich die Mutter im Anfangskapitel noch für Mareike entschieden, präsentiert uns Tamara Bach nun ein alternatives Ende (bzw. Anfang): die Mutter beschließt, das ungeplante Kind, also Mareike, abzutreiben. Ein empfehlenswerter, besonderer Jugendroman, eher für geübtere LeserInnen ab 14 Jahren. Barbara Eichinger Die besseren Wälder Martin Baltscheit Peter Härtling Hallo Opa Liebe Mirjam Eine Geschichte in E-Mails Weinheim & Basel: Beltz & Gelberg, 2013. 67 S. «Es kommt nicht darauf an, wo du herkommst, sondern wohin du gehst und mit wem.» Eine Wolfsfamilie flieht in «die besseren Wälder»: hier, in der Welt der Schafe, gibt es mehr zu essen, hier lockt ein Leben voller Sicherheit und Glück – sozusagen ein Land, in dem Schafsmilch und Honig fließen. Doch beim Überqueren der Zäune, die die Schafe vor Eindringlingen und allem Fremden schützen sollen, werden die Eltern erschossen, nur der kleine Wolf bleibt übrig. Von einem kinderlosen Schafspaar aufgenommen, wächst er von nun an als Schaf mit dem Namen Ferdinand auf und erfährt nichts von seiner Herkunft. Ferdinand ist umsorgt, hat Freunde und verliebt sich in Melanie. Doch als diese eines Morgens tot in seinen Armen gefunden wird, ist klar: Ferdinand ist kein Schaf, er ist vielmehr ein Wolf im Schafspelz. Er wird des Mordes bezichtigt, denn durch seine Herkunft scheint es offensichtlich: er ist ein Wolf und wird es bleiben. Doch Ferdinand kann sich an nichts erinnern, flieht schließlich aus dem Gefängnis und wird sich als Teil eines Wolfsrudels seiner 52 Besprechungen Herkunft bewusst. Und er möchte den Tod seiner Eltern rächen – doch es kommt anders. Martin Baltscheit ist mit seiner eigenhändig illustrierten Tierparabel Die besseren Wälder ein wahres Kunstwerk gelungen. Nicht nur sprachlich und thematisch überzeugt dieses Buch, auch die ausdrucksstarken Illustrationen, die die Geschichte kongenial ergänzen, beeindrucken. Die Vorurteilsthematik wird besonders durch die farbige Gestaltung des Buches unterstützt, der Text ist teilweise auf weißen und auf schwarzen Seiten gedruckt, einzelne Passagen sind farbig hervorgehoben. Die bildliche Darstellung des Helden ist mal wölfischer, mal schafsähnlicher. Die Lektüre dieses Werkes, das durchaus auch einer erwachsenen Leserschaft ans Herz gelegt werden kann, beeindruckt, bewegt und regt zum Nachdenken an. Und am Ende ist klar: Dieses vielschichtige Werk muss und will man öfter lesen. Martina Bednar Der Autor – selbst Jahrgang 1933 – vermag, beide Protagonisten überzeugend darzustellen, wenn ihm auch der Sprachduktus des Großvaters authentischer gelingt; Jugendsprache in der Literatur ist häufig problematisch, da sie nicht nur zeit- sondern auch ortsabhängig ist. Die jugendlichen LeserInnen (auch solche mit nicht perfekten Deutschkenntnissen) werden durch den klaren Stil jedenfalls keine Verständnisprobleme haben, ebenso gelingt die Identifikation mit den Teenager-typischen Problemen aus Mirjams Alltag mit Sicherheit. Der Roman bietet eine ideale Antwort auf die oft gehörte Frage von jugendlichen LeserInnen: «Morgen habe ich Referat. Können Sie mir dafür ein dünnes Buch empfehlen?» Die nicht einmal 70 Romanseiten, die teilweise nur halbseitig mit Text befüllt sind, lassen sich in einer nächtlichen Leseaktion bewältigen und bieten genug Anregungen für ein Deutschreferat am nächsten Tag. Katharina Zucker Hallo Opa Liebe Mirjam Eine Geschichte in E-Mails Winter 2014/15 Barbara Eichinger Warum ist Rosa kein Wind? Gedichte und Geschichten vom Leben, Lieben und Fliegen Knödler, Christine (Hrsg.); Harjes, Stefanie (Ill.) Polly Horvath Wie wir das Universum reparierten Wie wir das Universum reparierten Polly Horvath Peter Härtling Der Briefroman ist überholt. Zumindest im Kinder- und Jugendbuchbereich sind Korrespondenzen per E-Mail einfach näher dran an der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen; auch ein renommierter und erfahrener deutscher Kinderbuchautor wie Peter Härtling muss sich dieser veränderten Tatsache stellen. Also ist mit Hallo Opa. Liebe Mirjam sein erster komplett in E-Mail-Form verfasster Roman erschienen. Die vierzehnjährige Mirjam tauscht E-Mails mit ihrem achtzigjährigen Opa aus, in denen es vor allem um Probleme in der Schule, mit ihren Eltern und Freundinnen geht. Mirjam, die mitten in der Pubertät steckt, fühlt sich unverstanden, in ihren E-Mails kann sie sich dem Opa gegenüber öffnen und erhält nicht nur typische Ratschläge, wie man sie von einem Erwachsenen erwarten würde: «Ich verstehe nur zu gut, dass du auf Samanta, von der du gedacht hast, dass sie eine Freundin ist, losgegangen bist und sie verdroschen hast. Bravo, mein Mädel!» Die Nachrichten des Großvaters erzählen von seinen körperlichen und manchmal auch seelischen Beschwerden; seine Lungenkrankheit zwingt ihn schließlich zu einem Aufenthalt in einer Klinik, wo er stirbt. Mirjam, die zunächst noch mit einer Krankenschwester der Klinik korrespondiert hat, verliert ihren E-MailPartner, doch der Nachrichtenaustausch geht noch eine Zeitlang weiter. Die Form der reinen E-MailBerichte wird im Text durchgehend beibehalten. Wie bei vielen Büchern Peter Härtlings gibt es kein versöhnliches, bereinigendes Ende; Mirjam bleibt mit ihren Sorgen und ihrer Trauer alleine. detaillierter die Protagonisten. Der Titel in der deutschen Übersetzung, Wie wir das Universum reparierten, deutet auf den Neuanfang hin, den die beiden Mädchen versuchen und das Thema Trauer ist auch stets im Vordergrund. Dennoch hat die bekannte kanadische Autorin auch hier wieder die für sie typischen skurrilen Figuren und witzigen Situationen geschaffen; insbesondere die Figur des Onkel Martens ist in ihrer Entrücktheit überaus komisch gezeichnet. Horvath spielt dabei vor allem mit Rollenklischees, strickt Verwicklungen sowie überraschende Wendungen in die Erzählung und kreiert auf diese Weise eine tragisch-komische Waisen-Geschichte mit allerdings leider etwas wenig Handlung. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern kommen die beiden Cousinen Jocelyn und Meline bei ihrem Onkel unter, einem reichen Wissenschaftler, der allein und zurückgezogen ein großes viktorianisches Haus auf einer einsamen Insel bewohnt. Obwohl Cousinen, kennen die beiden Jugendlichen einander kaum und auch der Verlust ihrer Eltern hilft ihnen nicht, zu einander zu finden und ihre Trauer gemeinsam zu bewältigen. Zu verschieden sind die versnobte Jocelyn und die impulsivere, bodenständige Meline. Onkel Martens ist allerdings ebenso wenig geeignet, den beiden in ihrer Trauer zur Seite zu stehen. Der schrullige Wissenschaftler ist kaum imstande, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, sein einsames, zurückgezogenes Leben auf der Insel war bewusst gewählt. Doch immerhin soll sichergestellt sein, dass die Primärbedürfnisse seiner Nichten erfüllt werden und daher engagiert er eine Haushälterin. Frau Mendelbaum hat jüdische und Wiener Wurzeln, ist äußerst aufbrausend, in ihren englisch-deutschjüdischen Redeschwallen kaum zu bremsen und sorgt für Leben und Aufregung im Haus. Da ihr aber die Situation über die Ohren wächst, wird zusätzlich ein Butler eingestellt, der als einziger den Überblick bewahrt. Mit stoischem Gleichmut kümmert er sich um den den Haushalt, kocht, als Frau Mendelbaum erkrankt und nimmt gelassen alle Verrücktheiten von Onkel Martens hin, der seiner Rolle als realitätsferner Wissenschaftler mehr als gerecht wird. Polly Horvaths neuer Roman enthält relativ wenig Handlung, beschreibt aber umso 53 Jugendbuch Christine Knödler ist in der Sprache zuhause, sie kann mit eigenen und fremden Worten ganze Universen erschaffen. Auf die Welt der Bilder bezogen gilt dasselbe gilt für Stefanie Harjes. Im Jahr 2010 entwickelten die beiden die Idee, ihre Liebe zu Lyrik, Sprache und Illustrationen in ein gemeinsames Buchprojekt einzubringen. Das Resultat ist: Warum ist Rosa kein Wind? Gedichte und Geschichten vom Leben, Lieben und Fliegen. Es richtet sich laut Verlag primär an weibliche Jugendliche, doch wäre es schade, wenn diese Anthologie kein breit(er)es Publikum fände. Das Buch lädt ein, sich der Kürze des Lebens bewusst zu werden, aber auch dessen Reichtum, Buntheit und Tiefe zu entdecken. Es fordert auf, gewohnte Pfade zu verlassen, offen und neugierig zu sein, sich leiten zu lassen von den eigenen Sinnen und den Angeboten, die einem zugetragen werden. Auswahl und Abfolge der Texte sind sehr bewusst gesetzt, sie beschreiben einen Bogen: den Jahreszeiten folgend von Frühling bis Winter, vom Morgen bis zum Abend, vom Aufbruch bis zum Ende. Mit ihren Illustrationen interpretiert Stefanie Harjes die Texte auf ihre sehr spezielle Art und Weise. Sie malt, zeichnet, collagiert, auch ihre eigenen Illustrationen schneidet sie aus und setzt sie neu zusammen. Die Augen der Dargestellten sind oft geschlossen, der inneren Empfindung hingegeben. Den Gesichtern verleiht sie mit wenigen Strichen einen intensiven Ausdruck. Stefanie Harjes verschränkt das Bild mit der Schrift, letztere ist immer wieder Teil eines Bildes und wird zum Bild. Die stilistische und zeitliche Spannbreite der Gedichte und Prosatexte ist groß: sie reichen von Sappho, dem Hohelied, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine über Paul Celan bis zu Aus dem Engl. München: bloomoon 2014. 300 S. Knödler, Christine (Hrsg.); Harjes, Stefanie (Ill.) Warum ist Rosa kein Wind? Gedichte und Geschichten vom Leben, Lieben und Fliegen Ravensburg: Ravensburger Verlag 2014. 142 S. zeitgenössischen, sehr jungen AutorInnen, die eigens für dieses Buch Gedichte und Geschichten schrieben. Am Ende des Buches lassen Knödler und Harjes fast programmatisch Rose Ausländer sprechen: «… sich freun / trauern / höher leben / tiefer leben / noch und noch / Nicht fertig werden». Martina Adelsberger Liebe ist ein Nashorn Ulrike Leistenschneider Ulrike Leistenschneider Liebe ist ein Nashorn Stuttgart: Kosmos 2013. 254 S. David Levithan Letztendlich sind wir dem Universum egal Aus dem Amerikan. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2014. 397 S. Zu Beginn des neuen Schuljahres herrscht nicht nur die übliche Aufregung nach den Ferien, nein, in Leas Bauch zieht außerdem eine Horde Nashörner ein. Denn sie findet, wie Schmetterlinge – wie alle immer sagen – fühlt sich das wirklich nicht an, was sie empfindet, wenn sie Jan auf dem Schulhof sieht. Da sie aber schüchtern ist und sich niemals trauen würde, ihn anzusprechen, beginnt sie ihm einen Brief zu schreiben (der natürlich in Wirklichkeit niemals in seine Hände geraten darf …). Wie in einem Tagebuch berichtet sie Jan alles was sie so erlebt, vom Familienleben mit Mudda, Papa und dem Troll, von ihrer besten Freundin Pinky und natürlich dem Schulalltag. Um manches anschaulicher zu gestalten, fügt sie außerdem immer wieder kleine Zeichnungen und Comicszenen ein. Obwohl sie das Verliebtsein eigentlich erst mal für sich behalten will, kommt Pinky natürlich schnell dahinter und ist auch sofort mit guten Ratschlägen zur Stelle: die TheaterAG, wo SchülerInnen aus verschiedenen Klassen teilnehmen können, wäre doch die perfekte Gelegenheit um Jan näherzukommen. Und obwohl sie eigentlich schon beim Gedanken an einen Bühnenauftritt nervös wird, lässt sich Lea dazu überreden. Doch der Schock kommt schon in der zweiten Schulwoche: Jan steigt aus der AG aus! Dafür ist Yasar, Jans bester Freund, plötzlich so nett zu Lea … Es folgen weitere Katastrophen: vom Tagebuch-stehlenden Bruder, über Schulstress und missglückte Schminkversuche bis hin bis zum Riesenkrach mit der besten Freundin, kurzum: der ganz normale Wahnsinn im Leben einer 13-Jährigen. Da hat sich Lea am Ende des Briefs das Happy-End wirklich verdient und als Leserin freut man sich mit ihr. Der flotte und kurzweilige (Brief-)Roman von Ulrike Leistenschneider ist wirklich gelungen und von der ersten Seite weg von Isabelle Göntgen liebevoll illustriert. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch nicht die letzte Zusammenarbeit dieser beiden war – ich bin sicher, viele Leserinnen hoffen bereits auf eine Fortsetzung … Letztendlich sind wir dem Universum egal Patrick Ness David Levithan Was wäre wenn – drei kleine Worte, aber sie bieten unendlich viele Alternativen, Möglichkeiten und Varianten, um sein Leben zu gestalten oder einfach nur zu leben: «Hätte ich mich nur dahingehend entschieden...», «Hätte ich damals nur «Ja» gesagt…», «Wäre ich nur nicht im Streit davon gegangen…». All diese Fragen stellen sich dem sechzehnjährigem A im vorliegenden Roman erst gar nicht, denn er bestreitet jeden Tag «seines» Lebens ein jeweils anderes Leben. Wie das möglich ist? Nun, A wacht jeden Tag im Körper eines anderen Menschen auf: Mal ist er ein Junge, mal ein Mädchen; mal hellhäutig, mal dunkelhäutig: mal die eine Nationalität, mal eine andere; mal heterosexuell, mal homosexuell; mal gesund, schlank und sportlich, mal gehandicapt, süchtig oder gar (tod-)krank. Dabei hält er sich an gewisse Grundregeln, wie z.B. sich niemals emotional auf Menschen, die ihm im jeweiligen Leben begegnen, einzulassen oder das individuelle Leben mutwillig durcheinander zu bringen. Eigentlich funktioniert «sein» Leben auf diese Art gut und er ist sogar zufrieden damit, kennt er doch kein anderes Leben, bis er sich Hals über Kopf in ein Mädchen namens Rhiannon verliebt und einfach nur bei ihr und mit ihr zusammen bleiben möchte. Doch ob das überhaupt möglich ist, wenn A täglich jemand Anderes ist und welche individuellen Opfer dafür nötig wären bzw. beide bereit wären, auf sich zu nehmen, muss der/die interessierte LeserIn schon selber herausfinden... Der 1972 geborene amerikanische Autor ist studierter Anglist und Politikwissenschaftler, lehrt heute Creative Writing an verschiedenen US-Schulen und Universitäten und hat bereits zahlreiche Auszeichnungen für seine Jugendromane erhalten. Letztendlich sind wir dem Universum egal ist ein richtig fesselndes Jugendbuch, das auch bereits älteren bzw. erwachsenen LeserInnen Spaß machen wird und das zum Nachdenken und Philosophieren über das eigene Leben anzuregen vermag. Martina Lammel Lisa Kollmer 54 Besprechungen Mehr als das Winter 2014/15 Zeitgleich mit seinem Roman Die Nacht des Kranichs erschien 2014 Mehr als das, das neue Jugendbuch des mehrfach ausgezeichneten amerikanisch-britischen Autors Patrick Ness. Bereits die Eingangsszene, die dem in vier Teile gegliederten Roman gleichsam als Prolog vorangestellt ist, zurrt den Spannungsbogen straff: man begleitet den sechzehnjährigen Protagonisten Seth bei seinem qualvollen Ertrinkungstod, um zwei Seiten später mit ihm ins Leben zurückzufinden. Nur dass diese Wiedererweckung nicht am Strand, in einem Krankenwagen oder Spital stattfindet, sondern in einer surreal anmutenden, von allem Leben leergefegten Umgebung. Geschwächt und verwirrt versucht Seth sich in der kafkaesken Situation zurechtzufinden und erkennt bald, dass er sich in dem Haus seiner Kindheit befindet, das er und seine Familie vor Jahren verlassen haben, als sie von London nach Amerika gezogen sind. Sein erster Gedanke ist, dass er nicht nur tot sondern in der Hölle sei, seiner ganz persönlichen Hölle, die ihn an das Schmerzhafteste erinnern soll, was ihm je passiert ist, an diese eine große Schuld, die er als Kind auf sich geladen hat. Ab diesem Zeitpunkt durchlebt Seth, jedesmal wenn er einschläft, erneut eine maßgebliche Station seines Lebens. Nach und nach erschließt sich in diesen als Rückblenden erzählten Traumsequenzen das Trauma, das seine Familie für immer verändert hat, seine problematische Beziehung zu den Eltern, seine erste Liebe und der Verrat, der ihn in einer kalten Winternacht schließlich ins Meer getrieben hat. Als er in dieser leeren Welt doch noch auf zwei andere Jugendliche trifft, den jüngeren Tomasz und die etwa gleichaltrige Regine, beginnt er, die Situation mit neuen Augen zu sehen. Vielleicht ist er doch nicht in der Hölle, vielleicht gibt es doch eine Erklärung für alles und vielleicht gibt es am Ende Hoffnung, dass da doch «mehr als das» ist. Was Ness in seinem neuen Jugendbuch verhandelt, sind nichts weniger als die großen Themen der Literatur: Schuld, Freundschaft, Liebe, Vergebung, Hoffnung – und das tut er auf gewohnt hohem Niveau mit sprachlicher Eleganz, einem feinen Sinn fürs Dramaturgische und einem sehr genauen Blick auf die Gefühls- und Lebenswelten seiner jungen ProtagonistInnen. Mehr als das ist ein gelungenes Genre-Cross-over, dessen Spannung sich abwechselnd aus der Coming-of-Age-Geschichte in den Rückblenden und der dystopischen Bedrohung der Rahmenhandlung speist. Es wirft sowohl universelle als auch aktuelle Fragen auf, stellt einige Antworten in den Raum, lässt aber (besonders in dem offenen Ende) auch Platz für eigene Gedanken und Interpretation. 55 Jugendbuch Einzig das Cover der deutschsprachigen Ausgabe wird der teils doch sehr düsteren Stimmung in seiner hellen Schlichtheit nicht ganz gerecht. Eine absolute Empfehlung für Jugendliche und junge Erwachsene. Andrea Hirn Herr Ostertag macht Geräusche Andreas Schulze Julian Ostertag ist fünfzehn Jahre alt und ein durchaus ungewöhnlicher Bursche. Er weiß die Antworten auf alle Quizfragen in den Fernsehshows, vermag in kürzester Zeit im Kopf die schwierigsten Aufgaben auszurechnen und erbringt in der Schule außerordentliche Leistungen. Er ist aber keineswegs ein weltfremder Nerd, es scheint ihm prinzipiell alles zuzufliegen und ohne Anstrengung zu gelingen. So ist Julian etwa auch am Skateboard unschlagbar, ohne einen einzigen Sturz oder Kratzer gelingen ihm die waghalsigsten Manöver. Mühelos und unbeeindruckt gleitet er durchs Leben, selbst seiner Mutter ist er unheimlich, sie findet keinen Draht zu ihrem Sohn, der so anders ist als die anderen. Eine Expertin für Hochbegabung wird konsultiert und die konfrontiert Julian mit seiner besonderen, wenn auch nicht einzigartigen Fähigkeit, die ihm seine außerordentlichen Leistungen ermöglicht. Aber Emily, die originelle 80jährige Psychologin ist nicht die Einzige, die um das Geheimnis der mit dieser Fähigkeit Gesegneten weiß. Da gibt es noch einen japanischen Neurologen und der ist nicht in guter Absicht bereits nach Deutschland unterwegs … Das Buch mit dem ungewöhnlichen Titel ist Andreas Schulzes literarisches Debüt. Ungewöhnlich ist auch die Konstruktion, die bei den jugendlichen Leserinnen und Lesern einiges an Leseerfahrung voraussetzt. Wer sich aber auf die nicht lineare Erzählweise einlässt, wird mit einem spannenden und originellen Text belohnt. Vieles wird nur angedeutet, wie zum Beispiel der Schauplatz Dresden. Andreas Schulze hat noch einen auktorialen Erzähler eingeführt, eben jenen Preben Kaas, der auf dem Einband quasi als Autor erscheint. Preben Kaas ist übrigens der Name eines dänischen Schauspielers, der in einer in der DDR populären Krimikomödienserie mitgewirkt hat. Durch seinen an literarischen und populärkulturellen Anspielungen reichen Text macht der Autor sein Publikum zu SpurensucherInnen. Viktoria Zwicker Patrick Ness Mehr als das Aus dem Engl. München: cbt 2014. 508 S. Andreas Schulze Herr Ostertag macht Geräusche Hamburg: Carlsen 2013. 135 S. Besprechungen durchwegs gelungene Kochbuch mit einem übersichtlichen Nahrungsmittel-Register und einer nach Blogs gegliederten Rezeptübersicht. Sachbuch Bettina Raab Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste Stephen Grosz Salvestrole Krebshemmende Substanzen aus der Natur Ein praktischer Ratgeber Barbara Allmann Stephen Grosz Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste Frankfurt am Main: Fischer 2013. 235 S. DAYlicious: 1 Tag, 5 Blogs, 50 Rezepte, 1000 Ideen Wie verläuft eine Psychoanalyse? Eine Frage, die sich schwer beantworten lässt. Dem amerikanischen Psychoanalytiker Stephen Grosz gelingt es allerdings in seinem neuen Buch anhand einer Fülle von Fallbeispielen zumindest Einblicke in diese geheimnisvolle Kunst zu gewähren. In Themenbereiche eingeteilt schildert er Geschichten, die sich zum Beispiel mit Trennungserfahrungen, lebensverändernden Erlebnissen und dem weiten Feld der Liebe beschäftigen. Es werden dabei oft nur kurze Sequenzen geschildert, die einen zum Nachdenken anregen, aber auch die Denkweisen eines Psychoanalytikers verständlicher machen. Es sind auch keine psychoanalytischen Fachkenntnisse erforderlich, um den Dialogen folgen zu können. Die wiedergegebenen Passagen der einzelnen Sitzungen machen vor allem deutlich, was einen tiefenpsychologischen Therapeuten ausmacht: es sind keine Ratschläge oder Handlungsanleitungen, die den in Not geratenen Menschen weiterhelfen sollen, sondern es ist die offene Grundhaltung, der Raum, der hier geschaffen wird, um Menschen ihre Weiterentwicklung zu ermöglichen. Nicht Antworten werden gegeben, sondern Fragen gestellt, die weiterhelfen und neue Perspektiven eröffnen. Krisen werden dargestellt, die Ausdruck innerer Konflikte sind und unmittelbar mit unbewussten Mechanismen in Zusammenhang stehen. Vorausgesetzt man kann sich dieser Vorstellung des Unbewussten anschließen, liegen dort, wie es im Klappentext so schön heißt «unsere Probleme verborgen, aber auch ihre Lösungen», was dem Buch auch eine sehr optimistische und motivierende Note gibt. Auch der Umgang mit den Träumen als deutlichster Ausdruck dieser verborgenen Welt wird geschildert, und man überlegt, ob man diesem weiten Feld nicht doch mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. Alles in allem eine gelungene Einführung in die Welt der Psychoanalyse, die vor allem durch die gewährende Haltung des Therapeuten und seine Offenheit besticht und sicher in vielen Lesern und Leserinnen neue Denkprozesse entstehen lässt. Das Buch liest sich leicht, löst aber vermutlich, wenn man sich tiefer auf die Materie einlässt, viel im Lesenden aus. Christine Trattner Neustadt an der Weinstraße: Umschau 2014. 159 S. DAYlicious: 1 Tag, 5 Blogs, 50 Rezepte, 1000 Ideen Ein Kochbuch zusammengestellt aus repräsentativen Beiträgen aus fünf verschiedenen Foodblogs, das ist die kurzgefasste Beschreibung von DAYlicious. Doch dieses Buch ist weit mehr, es ist ein Einblick in die spannende Welt der lebendigen, sich stets weiterentwickelnden Bloggerszene. Zusammengestellt wurde das Buch von der Hobbybloggerin Ulrike Dittloff, die seit 2011 mit ihrem MEINLYKKELIG-Blog Rezepte und Geschichten rund ums Essen mit ihren Lesern teilt. Sie ist nicht ständig auf der Suche nach neuen Trends, für Dittloff stehen andere Dinge im Vordergrund: «Das Gebackene muss optisch ordentlich was her machen, unwiderstehlich gut schmecken und easy-peasy in der Zubereitung sein.» Wer will das nicht? Ein ziemlich einfaches, doch auch spannendes Konzept. Die Umsetzung gelingt tadellos 56 Besprechungen und regt zum Nachkochen und Schmökern an. Allerdings findet sich im Buch nichts, was der interessierte Leser nicht auch im Blog selbst nachlesen könnte. Neben Dittloffs MeinlykkeligBlog finden sich Rezepte aus vier weiteren Foodblogs: La-petit-cuisine, Törtchenzeit, Lizandjewels und Klitzeklein. Grafik, Schriftart und Layout ändern sich je nachdem, welcher Blogger zitiert wird. Was allen Rezepten gemein ist, ist die überaus ansprechende Präsentation der Speisen und die einfache Zubereitung aus wenigen, aber qualitativ hochwertigen Zutaten. Im Buch finden sich vor allem Rezepte für Süßes sowie unkompliziert gezauberte Kleinigkeiten für den schnellen Hunger zwischendurch. DAYlicious sticht aus der Flut an Neuerscheinungen im Kochbuchbereich zweifellos hervor. Das Cover ist zwar nicht übermäßig originell doch sehr ansprechend: in dezenten Erd- und Weißtönen gehalten, verlockt es zum Lesen und Blättern. Neben Rezepten gibt es hübsche Ideen zum Dekorieren und Verpacken. Abgerundet wird das Winter 2014/15 Berechtigte Hoffnung auf wirkungsvolle Heilmittel gegen Krebs – gibt es die? Wenn man dem von der österreichischen Publizistin Barbara Allmann jüngst in dem auf gesundes und bewusstes Leben spezialisierten Schweizer AT Verlag veröffentlichten Ratgeber Glauben schenken darf, werden solche Wundermittel nicht in Pharmalabors hergestellt , sondern von der Natur selbst als Abwehrstoffe und Teile des Immunsystems in zahlreichen Pflanzen produziert. Salvetstrole heißen diese Geheimwaffen der Mutter Natur, die in 50 Ausformungen in Früchten, Gemüsen und Kräutern vorkommen. Ihre eigentliche Wirkung entfalten diese Pflanzenstoffe laut Allmann «aufgrund ihres Metabolismus mit dem Enzym CYP1B1», das typischerweise nur in Tumorzellen vorhanden ist und diese in Wechselwirkung mit eben den Salvestrolen abtötet. Gerry Potter, Professor an der De Montfort Universität in Leicester und sein in der Krebsforschung tätiges Team entdeckten diese sekundären Pflanzenstoffe Anfang 2002 im Zuge einer großangelegten Testreihe mit Gemüse, Obst und Kräutern. Sie und auch die Autorin plädieren für den ausschließlichen Konsum vollwertiger, biologischer, regionaler und im Idealfall vegetarischer Nahrung, um neben den lebensnotwendigen Vitaminen, Mineralien und sonstigen Spurenelemente auch Salvestrole in möglichst großer Zahl aufzunehmen. In zahlreichen belegten Fallbeispielen zeigt die Autorin die nachhaltig positive Wirkung dieser alternativen Ernährung und gibt Tipps für eine sinnvolle Verwendung in der Küche. Ein ausdrückliches Plädoyer für gesunde, biologische und ausgewogene Ernährung, interessante Einblicke in die einschlägige Forschung, aussagekräftige Interviews mit Fachleuten sowie ein ausführliches Glossar, weiterführende Literaturtipps und Linklisten runden dieses Büchlein ab. Ein Titel, der nicht nun betroffenen Menschen auf – soweit das der Laie beurteilen kann – relativ seriöse Weise Mut macht, sondern uns alle auf die Notwendigkeit einer gesunden Ernährung aufmerksam macht. Wissen über die Heilwirkung der Natur und die verborgenen Kräften der Pflanzen: ein Buch, das neugierig macht und ohne mahnenden Zeigefinger und gut recherchiert ein für uns alle wichtiges Thema anspricht. 57 Sachbuch Medizinisch-biologische Ursachen, Zusammenhänge und Sachverhalte werden verständlich und gut erklärt; das Buch ist übersichtlich gestaltet und gibt das Gefühl, dass wissenschaftliche Forschungsansätze in eine hoffnungsvolle Richtung weisen. Sissy Schiener Die imaginierte «Bettlerflut»: temporäre Migrationen von Roma/Romnija – Konstrukte und Positionen Stefan Benedik Jeder von uns erinnert sich an die (nicht nur) Grazer Debatten um BettlerInnen, die angeblich organisiert für einen großen Boss arbeiten, die sog. ehrliche Arbeit scheuen, ungerechtfertigt nach Mitleid heischen und u.U. auch noch Unterstützung seitens des Staates erhalten. Gerade die Guppe der Roma ist von diesen Vorurteilen betroffen. Einige WissenschaftlerInnen haben im Rahmen eines Forschungsprojektes vom Juli 2010 bis Februar 2011 den Diskurs um bettelnde Roma genauer untersucht, dessen überarbeitete und erweiterte Version hier vorliegt. «Die Intention der […] Studie ist es […], zwei Ebenen zusammenzudenken: Soziale Praktiken in Migrationen werden ebenso diskutiert wie in den Printmedien geführten Debatten»; d.h. nicht die Aussage allein, dass es keine mafiösen Strukturen unter Bettlern in Graz gibt, ist wichtig, sondern wichtiger ist den AutorInnen, ein Bewusstsein für die Komplexität des Themas zu schaffen. «Letztlich geht es darum, den weit verbreitenden und häufig vereinfachenden Images die Perspektiven der BettlerInnen selbst entgegen zu stellen und die Kontexte und Konsequenzen temporärer (Bettel-) Migration zu erörtern.». Im ersten Kapitel werden die Lebenssituationen der BettlerInnen in Graz und in ihren Herkunftsorten gezeigt bzw. «zentrale theoretischmethodische Ausgangspunkte und Forschungsthesen skizziert»; am Ende des ersten Teiles folgen Basisinformationen zu den strukturellen und biografischen Rahmenbedingungen der Bettelmigration. Der zweite Teil widmet sich den Images von bettelnden RomNija in den Medien; dieser Teil ist besonders umfangreich, weil ihm eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung zugesprochen wird. Im dritten Teil werden Netzwerke und Verortungen von MigrantInnen und NGOs zwischen trans-nationalen und regionalen Kontexten dargestellt. Ein kurzes Resümee schließt das Buch ab; es folgen umfangreiche Zusammenfassungen in englischer und ungarischer Sprache sowie ein sehr gutes Literaturverzeichnis. Das Buch zeigt, dass Bettelei nicht nur als «Viktimisierung» gesehen werden darf, sondern Barbara Allmann Salvestrole Krebshemmende Substanzen aus der Natur Ein praktischer Ratgeber Aarau u. München: AT Verlag 2014. 143 S. Stefan Benedik, Barbara Tiefenbacher, und Heidrun Zettelbauer Die imaginierte »Bettlerflut« g an ish din Engl clu In sive ary y ten mm eg yar su maz mag laló rtal es Ta elm szefog ed ös tet terj lvű jeze nye fe ex Temporäre Migrationen von Roma/Romnija – Konstrukte und Positionen Stefan Benedik Die imaginierte «Bettlerflut»: temporäre Migrationen von Roma/Romnija – Konstrukte und Positionen Klagenfurt: Drava-Verlag 2013. 157 S. Zeitenwende 1914 Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg Steffen Bruendel Steffen Bruendel Zeitenwende 1914 Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg München: Herbig-Verlag 2014. 303 S. Das Verlagsjahr 2014 beschert dem Buchmarkt genau 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Fülle an aktueller Literatur zu eben diesem Thema: emotionsbeladene und rein fiktive Familien- und Gesellschaftsromane, neu überarbeitete Kinder- und Jugendsachbücher, Sonderausgaben von populärwissenschaftlichen Hochglanzmagazinen und seriöse wissenschaftliche Forschungsliteratur mit neuen Erkenntnissen zur Chronologie oder einer genreübergreifenden Darstellung des damaligen Geschehens aus originellen Blickwinkeln. Ein absolutes Highlight dieser Jubiläumsliteratur stellt sicherlich das vorliegende Werk dar, denn der Historiker Steffen Bruendel analysiert und reflektiert den Ersten Weltkrieg als «Krieg der Geister» und lässt die intellektuelle Elite der damaligen Zeit mittels zahlreicher Textzitate durch ihre Werke sprechen. Während sich Schriftsteller per Waffe oder per Feder in den Dienst für das Vaterland stellen und als nationale Vordenker in sogenannten Kriegsschriften revolutionäres Ideengut entwickeln oder eindringlich warnen, suchen Philosophen und Theologen nach dem höheren Sinn eines blutigen Gemetzels. Künstler und Musiker brechen mit Altbewährtem und fordern die Moderne mit allen Mitteln ein. Historiker, Juristen und Wirtschaftsexperten befassen sich theoretisch wie auch praktisch mit dem Krieg und dessen desillusionierenden Auswirkungen auf alle Bereiche des täglichen Lebens, Naturwissenschaftler und Techniker entwickeln die profitable Kriegsmaschinerie indes munter weiter und weiter... Alle jedoch sehen in ihrem politischen Engagement die Möglichkeit, in eine bessere Welt, in eine neue Ära aufzubrechen und erhoffen sich vom Krieg die ideelle Reinigung und Befreiung ihrer selbst, ihrer Gesellschaft und der Menschheit schlechthin. Das Buch liest sich zwar oberflächlich gesehen leicht und locker (trotz der vielen Namen, Jahreszahlen und Referenzen), doch der Leser kann genauso gut Stunden über Kapitel, Paragraphen oder gar einzelne Sätze nachdenken, denn es ist inhaltlich durchaus anspruchsvolle Kost! Darüber hinaus gibt es ein mehr als umfangreiches und absolut wissenschaftlich bibliographiertes Literaturverzeichnis mit Anmerkungen, das die jeweiligen Zitate/Werke der Schriftsteller miteinander bzw. mit den Aussagen des Autors in Kontext setzt. Alles in allem ein aufwendig erarbeitetes und wirklich sehr gut geschriebenes Werk, das faszinierende Einblicke in die Gedanken und literarischen Werke einer intellektuellen Elite zur Zeit des Fin de Siècle gewährt – unbedingte Empfehlung! Martina Lammel Ella Berthoud, Susan Elderkin Die Romantherapie 253 Bücher für ein besseres Leben Aus dem Engl. Berlin: Insel-Verlag 2013. 430 S. auch als selbstbestimmte Strategie gegen Armut, da nach dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989 viele RomNija ihre – wenn auch schlecht bezahlten – Arbeitsplätze verloren haben. Medien erzeugen Grundbilder, die die Gefahr dieser Menschen für unsere Gesellschaft verdeutlichen sollen, durch z.B. militärische Metaphern (Bettler-Armee), Imaginieren einer Masse (Bettlerflut), Hervorrufen eines (kriminellen) Kollektivs mit einem Boss im Hintergrund etc., die nicht der Realität entsprachen und entsprechen, wie auch die Staatsanwaltschaft Graz selbst feststellte. Die AutorInnen folgern, «[d]ass der kriminelle Charakter des Bettelns quer durch die österreichische Medienlandschaft […] für lange Zeit als selbstverständlich angesehen wurde [und] für MigrantInnen wie für RomNija generell eine Pauschalkriminalisierung» gelte, wobei die «fehlende Beweisbarkeit der Vorwürfe mit einer umso drastischeren Sprachwahl kaschiert» wird. Das Buch ist eine wissenschaftlich seriöse Aufarbeitung und auf jeden Fall über die steirischen Grenzen hinaus von Relevanz. dem jeweiligen Thema befassen. Es folgen Inhaltsangabe, Anmerkungen zu Stil und Aufbau des jeweiligen Romans und eine Erklärung, wie der Leser oder die Leserin seelisch von der Lektüre profitieren kann. Außerdem gibt es Listen mit den besten Romanen für jedes Lebensjahrzehnt und bestimmte Themen, sowie Tipps für Leseleiden (z.B.: «Zeit zum Lesen, keine haben»). Da Berthoud und Elderkind Engländerinnen sind, liegt der Schwerpunkt auf angloamerikanischer Literatur: von Lawrence Sterne bis Nick Hornby reicht die Bandbreite, dazwischen finden sich aber auch Titel von Murakami und Tolstoi. Für die deutschsprachige Ausgabe hat der Insel Verlag die Literaturkritikerin und Autorin Traudl Bünger engagiert, die das Buch mit deutschsprachigen Romanen ergänzt hat. Das hat z.B. zur schönen Folge, dass gleich das erste Stichwort, »Abschied», auf einen Text von Friederike Mayröcker verweist. Auch wenn es keine belletristische Empfehlung für tropfende Wasserhähne gibt und die Lektüre von Patricia Highsmith vielleicht nicht sofort den Liebeskummer beendet (wobei man hier noch unter dem Stichwort «Herz, gebrochenes» auf Charlotte Bronte verwiesen wird, was gewiss ein guter Tipp ist), so wird man doch beim Lesen der vorgestellten Romane für eine Zeitlang Trost und vielleicht ein bisschen Zuversicht finden. Und für ein Problem ist dieses Buch ganz bestimmt das richtige: Wer nicht weiß, was er gerade lesen soll, wird angesichts der Fülle an vorgestellten Romanen, die noch dazu so beschrieben sind, dass man Lust bekommt sie alle und sofort zu lesen, auf jeden Fall fündig werden. Georgia Latzke Die Romantherapie 253 Bücher für ein besseres Leben Ella Berthoud, Susan Elderkin Menschen, die Büchereien besuchen, muss man nicht extra darauf hinweisen: Lesen hilft, ob bei der Reparatur tropfender Wasserhähne oder bei Liebeskummer, passender Rat findet sich in der Bibliothek. Dass man diesen nicht nur in der Sachbuchabteilung finden kann, beweist das vorliegende Buch. Ella Berthoud und Susan Elderkind sind Literaturwissenschaftlerinnen und Bibliotherapeutinnen. Bibliotherapie ist eine Form der Kunsttherapie, in der KlientInnen zur Unterstützung des Heilungsprozess Texte verfassen und ausgewählte Belletristik lesen. Die Autorinnen empfehlen 253 Bücher zu verschiedenen, alphabetisch aufgelisteten Leiden, von A wie Abschied bis Z wie Zurückweisung – für jedes Problem nennen sie einen oder mehrere Texte, die sich mit Die Sehnsucht im Herzen der Artischocke Eine Gemüsekulturgeschichte Evelyne Bloch-Dano Evelyne Bloch-Dano ist eine deutsch-französische Autorin, die bei renommierten Zeitschriften schreibt und für ihre Biografien mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Im vorliegenden Titel widmet sie sich dem lange eher stiefmütterlich behandelten Gemüse. Es zur bloßen Beilage zu degradieren und ihm darüber hinaus wenig Aufmerksamkeit zu schenken, sei verfehlt und so schafft Bloch-Dano der Pflanzenkost ein solides kulturgeschichtlichphilosophisches Fundament. Eigentlich ist dieses Werk ein Sinnieren über Gemüse; Tomate, Topinambur, Artischocke, Kohl, Pastinake, Karotte, Erbse, Bohne, Kürbis, Chili und Paprika werden in jeweils eigenen Kapiteln behandelt. Unglaublich viel verstecktes Wissen über die einzelnen Gemüsesorten wird zusammengetragen Rainer Grill 58 Besprechungen Winter 2014/15 59 Sachbuch und in flüssig zu lesenden Essays präsentiert. Es ist gleichsam eine Reise durch Philosophie, Geographie, Geschichte und nicht zuletzt Kulinarik. Die Autorin zeigt Zusammenhänge soziologischer und geografischer Natur, informiert über Herkunft und Verwendung der diversen Gemüsesorten und verwebt die Geschichte und Geschichten mit eigenen Kindheitserinnerungen und Erfahrungen. Evelyne Bloch-Dano schreibt über Wildformen der Pflanzen, über deren Kultivierung und somit Veränderung und über den wechselnden Stellenwert der essbaren Gewächse. Es fehlt auch nicht eine Historie des (guten) Geschmacks sowie gelegentlich eine Bemerkung zu Tischmanieren. Stilistisch wirkt es wie leichtes Geplauder, doch bleibt der Text inhaltlich keineswegs an der Oberfläche, sondern fördert viel Wissenswertes zutage. Kurz Susanne Der Iceman Die Jagd auf Amerikas brutalsten Killer Anthony Bruno Diese erstmals 1993 veröffentlichte und jetzt von Hannibal Crime neu aufgelegte True Crime Story berichtet von der Jagd auf einen der brutalsten amerikanischen Serienverbrecher. Der Hauptteil handelt von Geschehnissen aus dem Jahr 1986, vorangestellt bzw. eingestreut finden sich Berichte aus der Jugend des Verbrechers sowie Rückblenden zu Verbrechen aus der Sicht des sog. «Iceman» (der zu diesem Namen kam, weil eines seiner Opfer jahrelang zur Verschleierung des Tatzeitpunktes auf Eis lag). Richard Kuklinski ist 14 als er zum ersten Mal einen Menschen tötet. Aus desolaten Familienverhältnissen stammend, geprügelt von seinen Eltern und gemobbt von Schulkollegen, beschließt er eines Tages sich zu wehren: sein Opfer ist der Anführer der Bande, die ihn tagtäglich schikaniert und schlägt. Als er am nächsten Tag erfährt, dass er Johnny nicht nur verprügelt, sondern erschlagen hat, rechnet er völlig panisch damit, überführt, verhaftet und eingesperrt zu werden. Als nichts dergleichen passiert, beginnen sich seine Werte zu verschieben; er erinnert sich an das Gefühl der Macht während seiner Tat und sein Selbstvertrauen steigt. Dieser Schritt markiert den Beginn seiner Entwicklung zum Serienmörder. 37 Jahre später– Kuklinski ist inzwischen 51 – setzt die Erzählung von neuem ein. Kuklinski hat sich zu einem skrupellosen Mörder entwickelt, der versteckt hinter der Fassade des biederen Familienvaters aus unterschiedlichsten Motiven mordet. Da bis zu diesem Zeitpunkt nur Indizienbeweise gegen ihn vorliegen, entschließt sich die Bundespolizei zu einer gewagten Vorgehensweise. Evelyne Bloch-Dano Die Sehnsucht im Herzen der Artischocke Eine Gemüsekulturgeschichte München: Carl Hanser 2013. 153 S. Anthony Bruno Der Iceman Die Jagd auf Amerikas brutalsten Killer Aus dem Amerikan. Höfen: Hannibal 2013. 271 S. Dominick Polifrone wird ausgewählt, im Rahmen einer waghalsigen Undercovermission dem «Iceman» das Handwerk zu legen. Zwei Jahre dauert die Aktion, bei der Polifrone, selbst Familienvater, in die Tiefen der Unterwelt eintaucht und dabei fast sein Leben verliert. Der Iceman ist in 34 Kapitel gegliedert, die Sprache ist einfach, leicht lesbar und ungeschminkt. In dem sorgfältig recherchierten Buch erhält der Leser sowohl in die Ermittlungsmethoden der Polizei als auch in die Denkweise des Täters Einblick. Die Story basiert auf Vernehmungs- und Verhandlungsprotokollen, den Erinnerungen einiger beteiligter Personen sowie zahlreichen Interviews des Autors mit Kuklinski. Das ob der einfachen Sprache leicht lesbare und mit zahlreichen Fotos angereicherte Taschenbuch ist nicht allzu empfindsamen Lesern durchwegs zu empfehlen. In welcher Art diese Absicht von Managern akzeptiert werden kann, entzieht sich dem Wissen der Öffentlichkeit. Fernöstliches Gedankengut hat sich zwar längst in der abendländischen Kultur niedergelassen, manchmal jedoch um den hohen Preis ihrer Verfälschung. Worin Aikido auf jeden Fall lehrreich ist, ist die Achtung des Gegners, die darin gipfelt, ihm sein Tun vor Augen zu stellen. Insofern erweist sich diese Kampfkunst sogar als eine Form der Kommunikation, deren Pflege umso dringlicher wird als uns die Technologie und der – ökonomische – Wettkampf das Wort abzuschneiden drohen. Der vorliegende Titel reiht sich in die Ratgeberliteratur ein; an Interessenten und Betroffenen dürfte es nicht fehlen, ob und wie diese die zahlreichen praxisnahen Hinweise der engagierten Autoren umsetzen, ist freilich fraglich. Andreas Agreiter Bettina Raab Robert Burdy, Philippe Orban Das Aikido-Prinzip Nutze die Kraft deines Gegners Berlin: Econ 2013. 263 S. Egon Schwarz Wien und die Juden Essays zum Fin de siècle München: C.H.Beck Verlag 2014. 172 S. Das Aikido-Prinzip Nutze die Kraft deines Gegners Wien und die Juden Essays zum Fin de siècle Egon Schwarz Robert Burdy, Philippe Orban Das Buch, in Gemeinschaftsarbeit verfasst von Robert Burdy, vormals Korrespondent und nunmehr Moderator beim MDR, und dem Franzosen Philippe Orban, seines Zeichens professioneller Aikidomeister, wendet sich ausdrücklich an Manager und Führungskräfte, in weiterem Sinne wohl auch an niedrigere Chargen. Die betriebliche Führungsebene stellt sich zuweilen als eine Kampfzone dar, die man angesichts zu erwartender Verluste besser meidet. Auch und gerade in kleineren Betrieben läuft das Management nicht friktionsfrei, es gilt, sich sowohl persönlich als auch als Repräsentant der Firma gegen (vermeintliche) Attacken zur Wehr zu setzen. An diesem unbestreitbar heiklen Punkt setzen die Autoren an: sie möchten aufzeigen, dass ein Konflikt nicht notwendig die (wirtschaftliche) Vernichtung des Gegners zur Folge hat. Dazu bemühen sie die japanische Kampfkunst Aikido, die sich als Verteidigungsstrategie versteht. Die hohe Kunst des Aikido liegt im Erkennen der Offensivität, mit der ein Aggressor auftritt. Wird ein Angriff als solcher wahrgenommen, so versucht der Aikidoka, den feindlichen Schlag bereits in dessen Entwicklung zu unterbinden. Aikido ist demnach nicht rein defensiv, sondern gleicherweise initiativ – der Verteidiger übernimmt die aktive Rolle, um den Gegner zu entschärfen. Die Leitidee bleibt dabei, den Angreifer unversehrt zu lassen; diesem sollen – vermittels des Verteidigenden – seine ihn treibenden unlauteren Beweggründe zur Tat nahegebracht werden. Die höchste Absicht des Aikido wäre demnach der Friede zwischen Konfliktparteien. 60 Besprechungen «Was ist ein Jude?», «Was macht das jüdische Selbstverständnis bzw. die jüdische Identität aus?» und wie sahen jüdische Autoren sich und ihr Werk im Wien der Jahrhundertwende, das ein atmosphärisch vergifteter Schmelztiegel war? Die unterschiedlichsten Nationalitäten, Sprachen und Religionen trafen hier aufeinander und verachteten und misstrauten sich gegenseitig. Und auch innerhalb der jüdischen Bevölkerung gab es Unterschiede und Antipathien: den assimilierten, säkularisierten und weltlich-orientierten Juden war oft der gesellschaftliche Aufstieg gelungen. Sie galten als fortschrittlich, modern und aufgeklärt, lebten in (relativem) Wohlstand und gehörten größtenteils zur kulturellen und wissenschaftlichen Elite der österreichisch-ungarischen Monarchie. Wohingegen die aus dem Schtetl in die Stadt drängenden orthodoxen Juden aus den östlichen Kronländern in ihren Strukturen und Traditionen verhaftet blieben und sich in Folge der beängstigenden neuen Lebensumstände erst recht auf ihr Judentum besannen Doch assimiliert oder unnachgiebig auf die eigenen Werte und Wurzeln bedacht, seiner Herkunft könne, so Arthur Schnitzler, niemand entkommen. Diese Problematik der Aufgabe bzw. Wahrung seiner Kultur inmitten eines Vielvölkerstaates beschäftigte unter anderem auch Sigmund Freud, Otto Weininger und Theodor Herzl. Der 1922 in Wien geborene Autor jüdischer Herkunft erläutert die Geschichte der Judenfeindlichkeit, die in der christlichen Welt zunächst religiös, später vermehrt wirtschaftlich und sozial begründet war. Doch erst im 19. Jahrhundert kam zum Antisemitismus eine rassistische Winter 2014/15 Wien 1914 Alltag am Rande des Abgrunds Edgard Haider Der Böhlau Verlag hat, seiner inhaltlichen Linie verpflichtet, anlässlich des Gedenkjahrs zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Vielzahl an Publikationen auf den Markt gebracht. Dem schon jetzt als Standardwerk gehandeltem, über 1000 Seiten starken Buch von Manfred Rauchensteiner (Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie) steht Edgard Haiders Buch über Wien im Jahr 1914 zur Seite. Darin widmet sich der Historiker dem Alltag in der Kaiserstadt – von den Festen zum Jahreswechsel bis zu den Kaiserfeiern anlässlich des 84. Geburtstag Franz Josephs am 18. August 1914. Alltag am Rande des Abgrunds heißt es wissend im Untertitel; dass sich die Menschen im Jahr 1914 weniger am Ende einer Epoche, als vielmehr im Aufbruch in eine neue Zeit wähnten, wird in dem als Panorama von Zeitdokumenten angelegten Buch sehr gut herausgearbeitet. Der als ORF-Redakteur bekannte Autor porträtiert sämtliche Gesellschaftsschichten und lässt wichtige Akteure der Zeit selbst zu Wort kommen. Ein sehr großer Teil des Textes sind Originalzitate aus Zeitungsberichten; zahlreiche Fotos und graphische Darstellungen (etwa Werbeplakate oder Karikaturen) aus der Zeit ergänzen die Dokumentation. Ein umfangreicher Anhang mit Personenregister, Bild- und Zitatnachweis macht seine Quellen recherchierbar. Interessant ist auch das Glossar, das nötig geworden ist, um die oft allzu langen Zitate zur Gänze verständlich zu machen. Niemand verwendet heute noch die vielen französischen Wörter, die in der damaligen Presse alltäglich waren: da gibt es «Honneurs» und eine «Malice» und so exotische Verben wie «haranguieren» (i.e. das große Wort führen), wenn von der «Jeunesse dorée» die Rede ist. Was sich die Mächtigen und Reichen leisten konnten – moralisch wie materiell, und wie sich das «gemeine Volk» über die Runden gebracht hat, wird ebenso geschildert, wie die großen Pläne, die in den Jahren vor dem Krieg gemacht wurden. Edgard Haider hat bereits mehrere historische Publikationen mit Architekturbezug veröffentlicht, daher ist es wenig erstaunlich, dass jene Kapitel, die sich den baulichen Veränderungen in der Kaiserstadt widmen, besonders gelungen sind. Der speziell wienerische Antisemitismus, wie er im Vorfeld von Teilwahlen zum Wiener Gemeinderat im März 1914 beschrieben wird, ist ein schockierender Teil des gesellschaftlichen Panoramas. Der Autor widmet sich auch den schmutzigen Seiten der Stadt – dass die Tuberkulose in Medizinerkreisen auch «morbus viennensis» genannt wurde, spricht für sich. Die Müllentsorgung in der Millionenmetropole mittels offenem Pferdewagen war eine stinkende und gesundheitsgefährdende Angelegenheit. Von den Modepalästen der Mariahilfer Straße bis zu den Mülldeponien am Laaer Berg, vom Narrenabend des Wiener Männergesangsvereins bis zur Spende des Aschenkreuzes im Stephansdom durch Kardinal Piffl spannt Edgard Haider den Bogen. Zum Ende hin wird das Buch zu einer Chronik des letzten Sommers vor dem Krieg: vom Tod der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner eine Woche vor dem Attentat, über die Abreise der «feindlichen» Botschafter nach Russland, England und Frankreich nach der Kriegserklärung bis zu den überschwänglichen Kaiserfeiern, in denen das Volk «Gut und Blut für unseren Kaiser» geben will. Im Epilog schreibt Edgard Haider vom «Kopfschütteln» das ein Feulletonist rhetorisch den Nachgeborenen über jene Zeit andichtet. Auch wenn vieles unverständlich bleibt, weil wir heute nicht mehr so denken und handeln wie vor 100 Jahren, bringt die Lektüre von Wien 1914 viel Erhellendes in die Auseinandersetzung mit dieser Epoche. Josef Mitschan Komponente hinzu: eine Konvertierung zum Christentum reichte fortan nicht mehr aus, um nicht mehr als «jüdisch» zu gelten. Die vorliegenden Essays wurden zwischen 1975 und 2003 veröffentlicht, beleuchten den Einfluss der Geschichte auf die literarischen Werke zumeist jüdischer Autoren (wie z.B. Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Arthur Schnitzler und Franz Werfel) und beinhalten fundierte historischsoziologische Analysen jüdischen Lebens, wobei den Germanisten Egon Schwarz vor allem die 61 Sachbuch vor diesem Hintergrund entstandene Literatur beschäftigt. Der Sammelband bietet eine umfangreiche Bibliographie sowie zahlreiche Anmerkungen und Fußnoten und ein alphabetisch gelistetes Personenverzeichnis. Trotz der Fülle an soziokulturellen Erläuterungen und historischen Verweisen und Jahreszahlen liest sich das Werk leicht und flüssig, bietet einleuchtende Erläuterungen und macht vieles verständlich(er). Martina Lammel Edgard Haider Wien 1914 Alltag am Rande des Abgrunds Wien (u.a.): Böhlau 2013. 300 S. Franz Ferdinand Die Biografie Alma Hannig Alma Hannig Franz Ferdinand Die Biografie Wien: Amalthea 2014. 349 S. Das Jahr 2014, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal jährt, beschert uns auch neue Biografien über den Thronfolger Franz Ferdinand, dessen Ermordung in Sarajewo gemeinhin als Auslöser der Kriegshandlungen gilt. Die im Amalthea Verlag erschienene Biografie der deutschen Historikerin Alma Hannig, die seit Jahren zur Geschichte Österreich-Ungarns forscht, hat laut Aussage der Autorin den Anspruch, sowohl für Fachhistoriker als auch für interessierte Laien geeignet zu sein. Durch die Einbeziehung neuer Quellen versucht sie sich darin der Frage anzunähern, inwieweit der ewige Thronfolger Einfluss auf die Regierungsgeschäfte seines Onkels Kaiser Franz Joseph nehmen konnte beziehungsweise welche eigenen Ziele und Interessen er für eine zukünftige Regentschaft verfolgte. Auf knapp 350 Seiten schildert Hannig chronologisch aufgebaut die Lebensgeschichte Franz Ferdinands, angefangen bei seiner Kindheit, in der er den frühen Tod seiner Mutter verarbeiten musste, über seine Jugendzeit beim Militär, die Jahre seiner schweren Krankheit bis hin zur offiziellen Ernennung zum Thronfolger und seiner für die damalige Zeit ungewöhnlichen und vom Kaiser lange abgelehnten Liebesheirat mit der nicht standesgemäßen Sophie Gräfin Chotek. Anschließend versucht sie sich der Person Franz Ferdinands in mehreren Kapiteln auch thematisch zu nähern, indem sie sich kritisch mit seiner Jagdleidenschaft, seiner Feindschaft gegenüber Ungarn und der stets schwierigen Beziehung zu seinem Onkel auseinandersetzt. Hannig widmet sich darüber hinaus auch intensiv seinen politischen Vorstellungen und analysiert sein umfassendes Regierungs- und Reformprogramm. So gelingt es ihr, seinen bisher zu gering eingeschätzten Einfluss auf die Außenpolitik aufzuzeigen und mit Mythen aufzuräumen, etwa wenn sie seinen Ruf als «Friedensfürsten» in Frage stellt. Entstanden ist eine mit zahlreichen Abbildungen, umfangreichen Literaturangaben und Anmerkungen ausgestattete, gut recherchierte Biografie Franz Ferdinands, der nach dem Tod von Kronprinz Rudolf überraschend und ohne die entsprechende Ausbildung genossen zu haben, zum zukünftigen Regenten des Habsburgerreiches avancierte. Der Autorin gelingt es in ihrem differenzierten und angenehm lesbaren Buch, sich sowohl der privaten als auch der politischöffentlichen Persönlichkeit des Thronfolgers anzunähern. Carina Brandstetter Gerhard Falschlehner Die digitale Generation Jugendliche lesen anders Wien: Ueberreuter 2014. 223 S. Die digitale Generation Jugendliche lesen anders Gerhard Falschlehner Das Buch liest sich – um das gleich vorwegzunehmen – wie das resignierte Hinnehmen von etwas schicksalhaft Gegebenem: die (vermeintliche) Abneigung der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Buch, dem Lesen, ja der Kultur insgesamt. Die Ränge, die Österreich in diversen PISA-Studien belegt, gießen zusätzlich Öl ins Feuer. Dementsprechend verhärtet sind die Fronten zwischen kulturkonservativen Pessimisten und solchen, die neuen und neuesten Medien offen gegenüberstehen. Der Autor, von Beruf Lehrer und Geschäftsführer des Österreichischen Buchklubs der Jugend und der BücherBühne im KinderLiteraturHaus Wien, schickt sich an, zwischen diesen Fronten zu vermitteln. Zu diesem Zweck gibt Falschlehner einen Überblick, in dem die «heutige Jugendkultur» zur Darstellung gelangt; dabei wird Jugendkultur als 62 Besprechungen Medienkultur identifiziert – auch die Jugend liest, schreibt und kommuniziert, und zwar in quantitativ noch nie dagewesenem Ausmaß. Welche zwischenmenschliche- oder Bildungsqualität hier ins Spiel gebracht wird, muss der Autor allerdings offen lassen. Um aber überhaupt kontaktfähig zu werden, bedarf es schon bestimmter grundlegender Lese- und Schreibtechniken, die vor dem Multimediakonsum erworben werden müssen. Der Erwerb fundamentaler Lesekompetenz führt Falschlehner zur Frage, was denn Lesen sei; dazu bemüht er Neurobiologie, Kulturgeschichte und Linguistik. Lesen muss nicht zwangsläufig das Lesen eines Buches meinen, es existieren verschiedene gleichberechtigte Formen des Lesens bzw. der Aufnahme von Informationen, wie eben herkömmliches Lesen, digitales Lesen von virtuellen Botschaften oder Bilderlesen, das in der Kunst zur Anwendung gelangt. Der abschließende Teil widmet sich dem wohl umstrittensten Thema: wie kann sich eine Lesekultur angesichts der vielgestaltigen Alternativen zum althergebrachten Bücherlesen behaupten? Hier schlägt der Lehrer im Autor durch, der für Winter 2014/15 alternative Pädagogiken wirbt, mittels derer Schülern das (analoge) Lesen schmackhaft gemacht werden kann. Fazit: Falschlehner ist ein engagierter Autor, der weiß, wovon er schreibt, ist er doch auch Kindesvater; zuweilen ist sein Plädoyer etwas überschwänglich und salopp formuliert; dennoch bemüht er sich, beide Lesekulturen – die analoge wie die digitale – zu würdigen. Lokalität; neben den «kulinarischen» Aspekten fasziniert vor allem der Lokalkolorit. Sabine Baumann Schöne Tage 1914 Vom Neujahrstag bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Gerhard Jelinek Andreas Agreiter Tschocherl Report Arthur Fürnhammer, Peter M. Mayr Tschocherl – ein unverkennbar wienerischer Ausdruck – bedeutet laut dem Glossar am Ende des Buches: «Kleines Lokal, meist als Café, Espresso oder Stüberl geführt». Der Begriff «Espresso» stammt aus den 50er Jahren als in der Nachkriegszeit die Italiensehnsucht mit dieser neuen Form des Kaffeehauses befriedigt wurde. Das «Tschocherl» ist heutzutage vielfach vom Aussterben bedroht, überleben kann es vor allem wegen seines treuen Stammpublikums. Und hier ergibt sich bereits die erste Schwierigkeit; (noch) Nicht-Stammgäste kostet es zunächst eine gewisse Überwindung derartige Etablissements zu betreten. Hat man diese Hürde aber überwunden und bestellt ohne den geringsten Zweifel an seiner Zugehörigkeit aufkommen zu lassen, einen kleinen Mocca, ein Seidel oder ein Achtel Weiß gespritzt, wird man meist umgehend akzeptiert. In sämtlichen Wiener Bezirken findet man etliche der titelgebenden Lokalitäten, im vorliegenden Band werden zwanzig ausgewählte Tschocherl vorgestellt. Ursprünglich sind die kommentierten Reportagen in der ObdachlosenZeitung «Augustin» erschienen. Abseits von Rauchverbot, Biowahn und Smartphone existiert im Tschocherl noch eine Szene, die keine sein will und trotzdem etwas Singuläres darstellt. Jeder ist willkommen sofern er sich an gewisse Spielregeln hält, deren wichtigste lautet, den anderen so zu akzeptieren wie er ist. Zuweilen wird man bei der Lektüre an eine Folge der Alltagsgeschichten von Elizabeth T. Spira erinnert. Das Vorwort wurde von keinem geringeren als Kurt Palm, der die unabdingbaren Merkmale eines «Tschocherls» auf den Punkt bringt, verfasst. Auch wenn er genau wie die journalistisch tätigen Autoren kein geborener Wiener ist, tut dies der Authentizität keinen Abbruch. Die tollen Photographien, die günstigen Getränkepreise und die blumige Beschreibung des jeweiligen Ambientes («Donauromantik», «Landgasthaus mit Balkanflair», «Bunter Stilmix mit Asia-Elementen», «fliesenlastigen Wartehallenromantik») wecken die Neugier auf den Besuch einer einschlägigen 63 Sachbuch Nach dem großen Erfolg von 1913 – Der Sommer eines Jahrhunderts, in dem sich Florian Illies durch ein Jahr gezappt hat, kommt nun Schöne Tage 1914 pünktlich zum hundertsten Jahrestag des Kriegsausbruchs heraus. Der Autor Gerhard Jelinek ist Jurist und prominenter Fernsehjournalist, der schon andere historische Themen auch in Buchform kulinarisch aufbereitet hat. Die schönen Tage des Sommers 1914 werden noch in vollen Zügen genossen, niemand wähnt sich am Rande des Abgrunds. In Form eines Tagebuchs, das vom Jahreswechsel 1913/14 bis zur Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich am 3. August reicht, lässt uns Jelinek teilhaben am gesellschaftlichen Leben in der kaiserlichen Residenzstadt Wien. Die Zeit ab dem Attentat beansprucht die letzten achtzig Seiten des Buchs. Die Geschehnisse den Jahres 1914 werden vornehmlich aus der Perspektive prominenter Persönlichkeiten geschildert; so erfahren wir, dass Schnitzler an der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand wenig Anteil nahm und ausführlicher in seinem Tagebuch vermerkte, wie das Wetter auf der Landpartie war, die er an diesem «schönen Sommertag» mit Freunden gemacht hat. Diese Vorgehensweise bringt es mit sich, dass ein Gutteil des Textes aus Zitaten besteht, die gut lesbar und vom Autor kommentiert aneinander montiert sind. Was aus Briefen, Tagebucheintragungen und vor allem Presseberichten herauszulesen ist, hat der Autor mit viel Feingefühl arrangiert und der Verlag hat wenige aber aussagekräftige Illustrationen beigesteuert. Schöne Tage 1914 lässt sich angenehm in kleinen Häppchen lesen und man gewinnt dabei ein immer anschaulicheres Bild einer dem Untergang geweihten Epoche. Der Erste Weltkrieg ist sozusagen das Ziel, auf das der Autor hinschreibt indem er Anekdoten und Weltpolitik, persönliche Befindlichkeiten und Mentalitätsgeschichte geschickt zusammen führt. Im Nachwort findet Jelinek ein erschreckendes Bild für die 15 Millionen Todesopfer des Ersten Weltkriegs: wenn jedes Schriftzeichen seines Buches einen Toten repräsentierte, wäre erst mit 26 aufeinander gestapelten Büchern aller getöteten Soldaten und Zivilisten gedacht. Josef Mitschan Arthur Fürnhammer, Peter M. Mayr Tschocherl Report Wien: Löcker 2013. 169 S. Gerhard Jelinek Schöne Tage 1914 Vom Neujahrstag bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Wien: Amalthea 2013. 318 S. Wikinger selbst erleben! Kleidung, Schmuck und Speisen – selbst gemacht und ausprobiert Christoph Lauwigi Wien Geheimnisse einer Stadt Rätselhafte Zeichen | verschlüsselte Botschaften Richard Strauss Die Opern Ein musikalischer Werkführer Im Mittelalter Handbuch für Zeitreisende Ian Mortimer Laurenz Lütteken Gabriele Lukacs Christoph Lauwigi Wikinger selbst erleben! Kleidung, Schmuck und Speisen – selbst gemacht und ausprobiert Darmstadt: Theiss 2014. 96 S. Gabriele Lukacs Wien – Geheimnisse einer Stadt. Rätselhafte Zeichen – verschlüsselte Botschaften Wien: Pichler 2013. 206 S. Die rasant fortschreitende Entwicklung technischer Untersuchungsmethoden hat auch die Geschichtswissenschaft und ihre Hilfswissenschaften revolutioniert und so eine Fülle von neuen Erkenntnissen um Kultur und Alltag vergangener Völker und Zeiten ermöglicht. Dies hat in weiterer Folge auch nachhaltige Auswirkung auf die Präsentation historischer Fakten in der modernen Museumspädagogik, wie man recht anschaulich in den zahlreichen Museumsdörfern und authentisch nach- und ausgebauten Ausgrabungsstätten wie in Carnuntum/NÖ sehen kann. Der für seine pädagogisch wertvollen und wissenschaftlich fundierten Publikationen bekannte Konrad Theiss Verlag hat sich nun auch des Feldes der «Living History» bemächtigt und in dem vorliegenden Werk mit dem Titel Wikinger selbst erleben! – einem Gemeinschaftsprojekt – eine Plattform geboten, um handwerkliches Können und vor allem Expertenwissen einem breiten Publikum zu präsentieren. Nach einer kurzen Einführung in Werkzeug- und Materialkunde (wertvolle Einkaufstipps werden im Anhang gegeben) werden in den einzelnen Kapiteln allgemeine Informationen über Lebenswelt und Alltag der Wikinger – zum Beispiel Körperpflege oder Wohnen – gegeben und typische Gerätschaften aus diesem Bereich in ihrer Herstellung erklärt. Einfache Anleitungen inklusive anschaulicher Abbildungen ermöglichen ein unkompliziertes Nachbauen oder Nähen der Gegenstände und sind für interessierte Laien jeglichen Alters geeignet: einfache Holzschwerter, Spazierstöcke aus Tierknochen, eine Gugelhaube für den Kopf, ein Glättbrett für Bekleidung, Truhen und Sitzmöbel für das eigene Wikingerheim und sogar Rezepte für eine typische Mahlzeit mit Bier- oder Metumtrunk zu einem mit nachgebauten Knochenflöten musikalisch umrahmten Fest werden vorgestellt. Sollte der geneigte Leser nun Lust auf mehr Information und weiterführende Literatur bekommen haben, so findet sich diese im rückwärtigen Teil des Buches. Das optisch ansprechende und inhaltlich gut strukturierte Büchlein ist nicht nur für Fans der «gelebten Geschichte» ein gutes Grundlagenwerk, sondern vor allem auch für den zeitgemäßen modernen Geschichtsunterricht sowie jegliche pädagogische Projekte als Begleittext bestens geeignet. Sissy Schiener Gabriele Lukacs ist als geprüfte Fremden- und Wanderführerin in Wien und in Niederösterreich unterwegs. Ihr Vorliebe für das Mystisch-Geheimnisvolle verraten schon die Titel ihrer bereits erschienen Werke: Kraftorte in Niederösterreich, Geheimnisvoller Da-Vinci-Code in Wien, Das geheime Netz der Templer, Unheimliches Wien oder Geheimnisvolle Unterwelt in Wien. Mit ihrer jüngsten Veröffentlichung über rätselhafte Zeichen und verschlüsselte Botschaften in Wien knüpft sie an ihre Vorbände an. Sie lädt ihre Leser zu einer faszinierenden Entdeckungsreise durch die Bundeshauptstadt ein und macht neugierig darauf, die vorgestellten Schauplätze selbst zu erkunden. In der Architektur von Schloss- und Parkanlagen, in Kirchen, auf Plätzen oder Hausmauern spürt sie verborgene Zeichen und Codes auf. Zu Beginn verweist sie zunächst auf die mittelalterliche Stadtgründung von Wien, die die Anordnung der Kirchen im Zeichen des Kreuzes (TAU-Formation) vorsah. Kaum zu glauben, dass Schönbrunn voll ist mit magischen Zeichen und Symbolen. Was hat das Zunftzeichen der Bierbrauer mit dem Davidstern gemeinsam? Welche Symbolik verbirgt sich hinter der Pestsäule am Graben? Handelt es sich beim Tormuster des Bundeskanzleramtes tatsächlich um Runen? Warum konnte das Voynach Manuskript bis heute nicht entschlüsselt werden? Warum sollte man die Minoritenkirche besuchen, um den Da Vinci Code aufzuspüren? Auf welchen Hausmauern ist heute noch der Code des NS-Widerstandes zu finden? Auf diese und zahlreiche weitere Fragen weiß Lucacs ausführliche Antworten. Sie stützt sich dabei auf die neuersten Erkenntnisse der Wissenschaft, wobei verwunderlich ist, dass einige Rätsel erst vor kurzem entdeckt bzw. entschlüsselt worden sind, wie etwa im Jahre 2005 die Hieroglyphen-Dechiffrierung des Obelisken in Schönbrunn oder 2012 die Entdeckung einer «Nazibotschaft», einzementiert unter einer Soldatenskulptur in der Krypta des Heldenplatzes. Der Text ist voller wissenswerter Informationen, kurz gehalten, spannend zu lesen und gut ergänzt durch die stimmungsvollen Bilder von Sven Posch. Ein absolutes Muss für alle historisch Interessierten, die auch gerne einmal mit dem Buch unterm Arm auf Erkundungstour gehen wollen. 150 Jahre und kein bisschen leise – Richard Strauss ist auf den großen Opernbühnen der Welt so präsent wie kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts. Als einer der letzten Meister der tonalen Musik werden viele seiner Bühnenwerke – allen voran sein «Rosenkavalier» – vom Publikum geliebt, während manche Musiktheoretiker in ihm einen ultrakonservativen Verräter an der modernen Musik sehen. Sein Schaffen ist jedenfalls gekennzeichnet von dem Versuch, aus dem übermächtigen Wagnerschen Ideendrama mit einer neuen Art musikalischen Theaters herauszufinden. Alle seine 15 Opern sowie sein Ballett «Josephs Legende» sind unterschiedliche Ausformungen eines neuen Musiktheaters, das sich nicht mehr mit grundsätzlichen Ideen und allgemeingültigen Mythen, sondern mit dem Menschen und seinen realen Verhältnissen beschäftigt. Die Sprach- und Kommunikationslosigkeit der Moderne versucht Strauss mit einer neuen Spielart des Musiktheaters zu überwinden, wobei jedes Bühnenwerk seine spezifische individuelle Ausprägung erhält, was auch in den sehr unterschiedlichen Bezeichnungen – von Oper, Musikdrama, Komödie mit Musik bis komische Oper und heitere Mythologie – zum Ausdruck kommt. Den Opern von Richard Strauss hat nun der Beck-Verlag im Themenbereich «Musik» seiner kompakten Taschenbuch-Reihe «Wissen» einen eigenen Band als «musikalischen Werkführer» gewidmet. Laurenz Lütteken, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich, erläutert darin umfassend die Entstehungsgeschichte und den Inhalt aller Bühnenwerke von Richard Strauss und analysiert detailliert die Hintergründe und tiefere Bedeutung der einzelnen Werke. Er fasst sie dabei dabei in drei Gruppen zusammen: die drei frühen Opern vor Hofmannsthal, die sieben Werke aus der ungemein glücklichen Zusammenarbeit mit Hofmannsthal sowie die sechs Werke nach Hofmannsthals Tod. Schade ist nur, dass der Autor immer wieder in ein musikwissenschaftliches Fachkauderwelsch verfällt, das die Verständlichkeit des kleinen Büchleins gelegentlich doch sehr beeinträchtigt. Alles in allem jedoch eine gute Einführung in das Schaffen eines der größten Opernkomponisten aller Zeiten. Anita Pravits Isabelle Bene Ian Mortimer ist britischer Historiker und ein in England erfolgreicher Autor von Sachbüchern und historischen Romanen. Nun ist erstmals die deutsche Übersetzung eines seiner Werke erschienen und zwar über das Leben im England des 14. Jahrhunderts. Er nennt es frech ein Handbuch für Zeitreisende bzw. im Original The time traveler’s guide to medieval England. Der deutsche Buchtitel ist bewusst nicht auf England bezogen, denn wie schon das Vorwort verspricht, kann der Inhalt auch auf das mittelalterliche Kontinentaleuropa umgelegt werden und so ziehen auch alle Zeitreisende außerhalb der Insel ihren Nutzen aus dieser Lektüre. In elf Kapiteln gibt Mortimer Tipps, wie Sie sich als Zeitreisender richtig verhalten, um in der Welt des Mittelalters nicht aus dem Rahmen zu fallen und was Sie auf Ihrer Reise erwartet. Was ist der Mensch im Mittelalter für ein Mensch? Die Antwort ist wenig schmeichelhaft: gewaltbesessen und gesegnet mit sarkastischem Humor. Mortimer lässt kaum einen Aspekt des täglichen Lebens aus, er schildert auch interessante Details: es gab bereits flüssiges Waschmittel aus Fässern für die Reinigung der Kleider. Die Zahnpflege erfolgte mit einer Paste aus Kräutermischung, denn schlechter Atem wurde als Auslöser und Verbreiter von Krankheiten angesehen. Zucker als Lebensmittel war bereits weit verbreitet und folglich auch Karies. Allerdings wurde dieser als Würmer im Zahn gedeutet, die man mit Feuer ausbrannte. Drei große Krankheiten bestimmten das Leben der Menschen im 14. Jahrhundert, neben Lepra und Tuberkulose allen voran die Pest: das Große Sterben, wie es damals hieß, tötete in mehreren Wellen bis zu einem Drittel der Bevölkerung Englands und Europas. Ganze Dörfer wurden entvölkert, es durften keine Totenglocken mehr geläutet werden, sonst wären diese den Tag über nicht mehr stillgestanden. Es ist wohl kein Trost zu wissen, dass die Medizin im 14. Jahrhundert auf Magie, das Gottesurteil und Sternendeutung vertraute. Obwohl populärwissenschaftlich aufgemacht, ist dieses Buch doch eher etwas für Geschichtejunkies, die sich genauer mit der Materie des 14. Jahrhunderts auseinandersetzen wollen. Sehr gut sind die Quellenangaben, falls ein allzu skeptischer Leser der Wahrheit der Aussagen nachgehen will. Insgesamt ist es ein optisch nett gestaltetes historisches Sachbuch, das durch seinen etwas saloppen Stil nicht ganz so wissenschaftlich wirkt. Verena Brunner 64 Besprechungen Winter 2014/15 65 Sachbuch Laurenz Lütteken Richard Strauss Die Opern Ein musikalischer Werkführer München: C.H.Beck 2013. 128 S. Ian Mortimer Im Mittelalter. Handbuch für Zeitreisende Aus dem Engl. Göttingen: Steidl 2011. 110 S. Unterwegs in Wien Kulturhistorische Streifzüge Kulturgeschichte der österreichischen Küche Der Mann der mit den Stürmen spricht Lesereise Kanadas Norden Peter Peter Helge Sobik Der Historiker und Stadtforscher Peter Payer widmet sich seit mehreren Jahren der Erforschung der Wiener Stadtgeschichte und hat bereits mehrere Bücher zu ihren kultur- und alltagsgeschichtlichen Aspekten publiziert. In seinem neuen, vom Czernin-Verlag herausgegebenen Band nimmt er den Leser bereits zum zweiten Mal mit auf kulturhistorische Streifzüge durch Wien, wobei sein Fokus diesmal auf den weniger beachteten Aspekten des Alltagslebens liegt. Payer konzentriert sich in seinen 25 Essays, die zuvor bereits in verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen zu lesen waren, auch auf die unterschiedlichen Sinneseindrücke, die die Stadt bietet. Ausgehend von der Wandlung Wiens zur modernen Metropole ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert spannt er den Bogen bis ins 21. Jahrhundert. Er führt den Leser an Orte, an denen der Großstadtlärm besonders stark war, wie etwa an die Opernkreuzung, wo lange Zeit ein Polizist den Verkehr regelte. Als 1923 die flächendeckende elektrische Straßenbeleuchtung eingeführt wurde, avancierte Wien bald zu einer der bestbeleuchteten Städte der Welt. Neben dem ganzen Trubel bot Wien aber immer auch Möglichkeiten des auditiven Kulturgenusses beispielsweise im Musikverein oder Konzerthaus. Dass der öffentliche Raum vielfach als Bühne genutzt wurde, belegen am besten die Wiener Typen des Würstelstandbetreibers und des Maronibraters; letzterer gehörte bereits seit dem Barock zum Stadtbild. Auch die dunklen Seiten der Stadt werden nicht ausgespart, wenn der Autor seine Leser in die Elendsviertel der Stadt der vorigen Jahrhundertwende führt. Abgerundet wird die Essaysammlung durch die Schilderung einiger sensationeller Ereignisse, etwa als 1929 beim größten Eisstoß die Donau zufror oder der Hochseilakrobat Josef Eisenmann und seine Tochter Rosa 1949 bei der Überquerung des Donaukanals vom Seil stürzten und tödlich verunglückten. Payer gelingt es, in den in diesem Band versammelten Essays das Wesen der Stadt facettenund detailreich zu beschreiben und dabei die sinnliche Wahrnehmung der Leser anzuregen, wenngleich die Auswahl etwas willkürlich wirkt. Angereichert mit zahlreichen alten Fotografien, Postkarten und Druckgrafiken leistet der Autor so einen Beitrag gegen das Vergessen. Genau genommen und im Detail betrachtet ist die Geschichte der österreichischen Küche eine internationale: verschiedenste Einflüsse aus den ehemaligen Kronländern beeinflussten schon seit jeher den Gaumen und Geschmack der «ÖsterreicherInnen» und sind bis in die heutige Zeit überall spürbar und geschätzt. Vielfältige regionale Unterschiede in Rezeptur und auch im landestypischen Vokabular offerieren eine reichhaltige Auswahl an kulinarischen Köstlichkeiten. Der deutsche Restaurantkritiker und Dozent für Kulinaristik Dr. Peter Peter hat in den letzten Jahren bereits mehrere profunde Werke über verschiedene europäische Küchen veröffentlicht und nimmt sich in seinem aktuellen Buch unserer heimischen österreichischen Ess- und Trinkkultur an. Vom Urknödel der Jäger und Sammler über Krebspastete als Barockschmankerl hin bis zur modernen Nouvelle Cuisine spannt er den Bogen und gibt auf unterhaltsame und höchst spannend zu lesende Weise Zeugnis seines umfangreichen historischen und kulturhistorischen Wissens. Aufgelockert durch teils humoristische Verse und Zitate, zeit- und lokaltypische Rezepturen werden Tafelsitten, kulturelle, künstlerische und historische Ereignisse und Personen in ihrem zeitlichen Rahmen eingebettet und analysiert. Bedeutende Köchinnen und Köche kommen zu Wort, bekannte Lokalitäten und Getränkeproduzenten werden genannt und auch die wirtschaftlichen Gegebenheiten in Bezug auf Export und Import von Nahrungsmitteln sind ein nicht vernachlässigbares Faktum in der Kulturgeschichte der Kulinaristik. Eine Vielzahl an historisch interessanten und ansprechenden schwarz-weiß-Abbildungen lockert den Text gefällig auf und macht das Buch zu einem interessanten Nachschlagewerk sowohl für den kulturgeschichtlich interessierten Laien als auch für den eingelesenen Fachmann. Flüssig und spannend zu lesen, verständlich erklärt, gespickt mit viel Detailwissen und gewürzt mit einer Prise Humor ist die Lektüre eine höchst angenehme und befriedigende. Ein ausführlicher Anhang mit Karten, österreichisch-deutschem kulinarischen Lexikon, einem Verzeichnis der Zitate und Anmerkungen sowie einem breiten Literatur- und Rezepturverzeichnis runden das gelungene Werk ab. So mancher Leser kennt sicher die eine oder andere Reisereportage von Helge Sobik aus der Tageszeitung Der Standard oder aus Der Zeit. Der umtriebige Reisejournalist berichtete schon aus vielen Ecken unserer Welt, Kanada scheint es ihm aber besonders angetan zu haben. Der schneereiche, menschenleere Norden des amerikanischen Kontinents ist für viele Zivilisationsmüde oder – skeptische schon lange ein Sehnsuchtsort. Atemberaubende Landschaften soweit das Auge reicht, unberührte Natur und herzliche Menschen beschreibt und porträtiert Sobik mit spürbarer Begeisterung und Sympathie für Land und Leute. Er verschließt die Augen jedoch nicht vor den Problemen und Schattenseiten des Lebens am eisigen Rand der Welt. Die Jungen interessieren sich größtenteils nicht mehr für ein traditionelles Leben im Einklang mit den Jahreszeiten und der Natur, der Mangel an beruflichen Perspektiven lässt Alkoholismus zu einem weit verbreiteten Phänomen werden. Dennoch verlässt kaum jemand freiwillig den Norden Kanadas und jährlich kommen mehr Touristen, die dann auch gerne das ein oder andere Gläschen des raren kanadischen Weins trinken, belächelt von den Einheimischen, die lieber auf niederösterreichischen Tetra-Pak-Wein zurückgreifen, den ihnen der Kellner aus Österreich nähergebracht hat. Interessant ist immer das Fremde und Exotische und so führt der Autor seine Leserschaft auch an eher unbekannte Orte im hohen Norden wie zum Beispiel nach Iqaluit, der Hauptstadt von Nunavut. Pointiert, ohne überflüssige Ausschmückungen geschrieben, mit einem geschärften Blick für das Kleine und oft unbemerkt Besondere, macht Sobik große Lust auf eine Reise in den Norden Kanadas. Wenn manche von einer Welt ohne Reizüberflutung, ohne permanente Werbeverführung zu Kauf und Konsum träumen, so scheinen sie zwischen Buschpiloten und Inuitkünstlern, zwischen Moschusochsen und Caribous ihre Traumdestination gefunden zu haben. Wem die Reise zu beschwerlich und der Weg zu weit ist, dem bleibt allemal dieser Band der Lesereisereihe, was kein zu kleiner Trost sein sollte. Peter Payer Peter Payer Unterwegs in Wien. Kulturhistorische Streifzüge Wien: Czernin 2013. 260 S. Peter Peter Kulturgeschichte der österreichischen Küche München: C.H.Beck 2013. 258 S. Sissy Schiener Carina Brandstetter 66 Besprechungen Winter 2014/15 Helge Sobik Der Mann der mit den Stürmen spricht. Lesereise Kanadas Norden Wien: Picus 2013. 132 S. Irene Scheiber Italien vegetarisch Claudio Del Principe, Katharina Seiser Kochbücher zur italienischen Küche sind zahlenmäßig nicht gerade unterrepräsentiert, jede Region wurde schon mit zahlreichen Publikationen bedacht und ist kulinarisch bestens erschlossen. Auch zum Thema der vegetarischen Küche in Italien gibt es bereits Titel wie zum Beispiel Cucina Vegetariana von Cettina Vicenzino. Trotzdem vermag Italien vegetarisch durch seine stimmige Rezeptauswahl, die schöne Aufmachung und die durchdachte Gliederung zu begeistern. Das Buch ist nach Österreich vegetarisch und Deutschland vegetarisch die dritte Publikation aus der Länderreihe des Brandstätter-Verlags, die bekannte Journalistin und Autorin Katharina Seiser fungiert auch hier wieder als Herausgeberin, der Foodblogger Claudio Del Principe ist für den Rezeptteil und die Fotos verantwortlich. Der vorliegende Band zeichnet sich durch dieselben Qualitäten wie die anderen Exemplare der Reihe aus: Neben einer vorbildlichen Aufgliederung der Rezepte auf die vier Jahreszeiten (inklusive einem Abschnitt, der mit «Jederzeit» betitelt ist) findet sich eine weitere Unterteilung in «Antipasti, Pane & Pizza», 67 Sachbuch «Suppen», «Salate & Gemüse», «Pasta, Polenta & Reis» und «Süßes». Die Rezepte selbst sind für vier Personen gedacht, Ausnahmen werden explizit gekennzeichnet. Zu finden sind neben Klassikern wie der Caponata, diversen Pizzavarianten und Lasagne durchaus auch unbekanntere Rezepte. Die Gerichte selbst sind – so zumindest der Selbstversuch – problemlos nach zu kochen, die Zutaten sind in den allermeisten Fällen leicht zu beschaffen. Natürlich ist die Auswahl keineswegs vollständig, das Buch überzeugt jedoch durch seine schöne Aufmachung und die appetitlichen Fotos zu beinahe allen Gerichten. Details wie die drei Lesebändchen, die in den Farben der italienischen Flagge gehalten sind (auch wenn das Rot eher Orange ist), runden den Eindruck eines gelungenen, liebevoll gestalteten Kochbuchs ab. Italien vegetarisch sticht aus der Flut an vegetarischen Kochbüchern positiv hervor und ist Italienliebhaberinnen und –liebhabern die sich am Herd betätigen möchten, uneingeschränkt zu empfehlen. Bernhard Pöckl Claudio Del Principe, Katharina Seiser Italien vegetarisch Wien: Brandstätter 2014. 272 S. Camus allzu unkritisch darzustellen, wir lernen ihn als Dandy, Genießer, Frauenheld kennen, dem aber auch die Schattenseiten der Existenz wie Zweifel, Grübelei, Selbstisolation nicht fremd sind. Im Ganzen ein sehr gelungenes, solides Buch. Die Zahl, die aus der Kälte kam Wenn Mathematik zum Abenteuer wird Rudolf Taschner Andreas Agreiter Rudolf Taschner Die Zahl, die aus der Kälte kam. Wenn Mathematik zum Abenteuer wird München: Hanser 2013. 243 S. Der Titel verspricht Spannung und überrascht wohl viele von uns, die Zahlen mit unpersönlichen Fakten und unangenehmen schulischen Erinnerungen in Verbindung bringen. Doch die Assoziation mit einem bekannten Spionagethriller ist nicht nur Aufmerksamkeit erregend, komplexe Zahlentransaktionen spielen tatsächlich eine große Rolle in Verschlüsselungsverfahren der Geheimdienste. Das Wissen über Zahlen und Mathematik bedeutete vielfach Macht, aber sowohl dem, als auch der ungeliebten Rolle der Mathematik möchte Rudolf Taschner Mathematik als kulturelle Errungenschaft gegenüber stellen, die unser Leben prägt und unterstützt. Anhand vieler Geschichten und Anekdoten zur Geschichte der Mathematik arbeitet er deren Leitfragen, Leistungen und Bahn brechenden Erkenntnisse heraus und macht sie verständlich. Der Bogen spannt sich von Tutanchamun bis zum größten Logiker des 20. Jahrhunderts, Kurt Gödel; von den astronomisch berechneten Nilhochwassern bis zur Frage «Was ist Mathematik?» und dem Rechnen mit unendlichen Dezimalzahlen. Es fasziniert, wie er den Anfang des Zählens in der Steinzeit nachvollzieht, die Entwicklung der Zahlzeichen und die Kenntnis des Zählens und Rechnens, die mit der Bekanntmachung der arabischen Ziffern in Europa ab 1550 plötzlich allgemein verbreitet wurde. Er erzählt von den Herausforderungen, vor denen die Menschen standen, als sie die Vermessung der Erde durch die Beobachtung der Himmelskörper und die Abstandmessung zum Mond vornahmen. Er erzählt von den schlauen Fragen und mathematischen Rätseln, denen sich die Mathematiker stellten, allen voran Archimedes, und den noch schlaueren Antworten darauf, die oft erst nach Jahrhunderten gefunden wurden. Schritt für Schritt bauen über die Jahrhunderte Erkenntnisse aufeinander auf, die schließlich zur Entwicklung des Computers geführt haben und an denen viele Mathematiker wie Mathematikerinnen beteiligt waren. Taschner erklärt einige dieser Erkenntnisse nicht nur historisch, sondern auch rechnerisch. Umfangreiche Anmerkungen vertiefen Erklärungen und zeigen komplexere Rechenschritte. Unterhaltsam und interessant zeigt Taschner, wie sehr unser Leben und unser heutiges Wissen von Mathematik durchdrungen sind. Die Kenntnis der Grundrechenarten, von Prozenten und Potenzen bedeuten tatsächlich eine grundlegende Unabhängigkeit für jeden von uns. Taschner schafft es wunderbar leicht, ein Gefühl dafür und eine Faszination für die komplexeren Formen der Mathematik zu vermitteln. Veronika Freytag Iris Radisch Camus – Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie Reinbek: Rowohlt 2013. 349 S. Camus Das Ideal der Einfachheit Eine Biographie Iris Radisch 2013 jährte sich der Geburtstag Albert Camus’ zum hundertsten Mal, Grund genug also für Verlagshäuser, Biographen und Literaturwissenschafter, dem Schriftsteller und Philosophen ihre Reverenz zu erweisen. Camus ist ja nie gänzlich in Vergessenheit geraten, man erinnere sich an das autobiographische Romanfragment Der erste Mensch, das in dem Unfallauto gefunden wurde, in dem Camus zu Tode kam und das Jahrzehnte später publiziert wurde – oder Romane wie Die Pest oder Der Fremde, die längst schon moderne Klassiker sind. Mit der Beschreibung der Leere der eigenen Existenz gepaart mit der Abwesenheit jedweden Sinnes hat Camus die geistige Verfassung nicht nur seiner Zeitgenossen, sondern auch die der Nachkommen gründlich getroffen. Iris Radisch, ihres Zeichens Literaturkritikerin bei der Zeit hat dem Jubilar gleichsam postum eine 68 Besprechungen würdige Festgabe bereitet; ihre Biographie ist nicht nur die Nachzeichnung eines Lebensweges, sie erhellt auch die auf diesem Lebensweg erwachsene Philosophie: «Sein [Camus’] Denken entspringt einer existenziellen Lebensweise; alles, was er nicht aufgrund eigener Erfahrung selbst zu Ende gedacht hat, verkommt ihm zur Ideologie.» Damit ist der eine, tragende Pfeiler des Camusschen Denkens genannt: die Ideologie samt ihren Vertröstungs- und Unterdrückungstechniken. Der zweite Pfeiler ist die – zum billigen Schlagwort herabgesunkene – Absurdität: sie offenbart sich als Empfindung, die beinahe allen Menschen widerfährt, man steht morgens auf, geht einer bezahlten Tätigkeit nach und kehrt anschließend wieder in das traute Heim zurück, jedoch ohne das Gefühl, etwas Bleibendes geschaffen oder Sinn-stiftendes erwirkt zu haben. Die Kluft zwischen Sinnanspruch und dessen Erfüllung ist unüberbrückbar, in der Flut des Absurden haben allein die Natur, die Einfachheit und die Solidarität bis hin zur Partnerschaft mit den Anderen Bestand. Radischs Werk ist keine reine Lebensbeschreibung, sie ist Biographie und Werkbeschreibung gleichermaßen. Dabei vermeidet sie den Fehler, Winter 2014/15 Blackbox Gardening Mit versamenden Pflanzen Gärten gestalten Jonas Reif, Christian Kress, Jürgen Becker Wenn der weltberühmte Gartenfotograf Jürgen Becker, der passionierte Gartenjournalist Johannes Reif und der kompetente und erfahrene Gartenbautechniker Christian Kreß zusammen ein Buch schreiben, dann darf man gespannt sein: die Natur nicht einzugrenzen und zu zähmen, sondern sie mit dezent korrigierenden Maßnahmen in ihrer überbordenden Vielfalt und Fülle dynamisch und zufällig walten zu lassen, ist die oberste Prämisse ihres neuen Experimentes moderner Gartengestaltung: Blackbox Gardening heißt das Zauberwort und funktioniert mit Hilfe frei gewählter, selbstaussamender Pflanzen, die sich in ihrer Vielfalt, ihrem Wachstum und ihrer Ausbreitung in unseren heimischen Gärten selbst regulieren sollten. An und für sich ist diese Philosophie des Gärtnerns nicht neu; auf natürlichen Blumenwiesen oder in alten Bauerngärten kaufte man schließlich auch nicht verschwenderisch und großzügig diese oder jene Pflanze bei einem Qualitätsgärtner ein, um sie dann im Herbst nach der Vegetationszeit auszuhebeln und zu entsorgen. Daher wird in diesem Buch besonderes Augenmerk auf die Vorbereitung des Gartens, die Auswahl der Initialpflanzen und die verschiedenen Gestaltungsstrategien gelegt. In den Grundzügen gut durchdacht und geplant, ist diese Art des Gärtners auch für Anfänger relativ leicht erlernbar und belohnt Laien wie Fachleute mit interessanten Einblicken und höchst intensivem Erleben der Lebenszyklen von Pflanzen verschiedenster Spezies. Neben einer guten und erklärenden Einführung in die Philosophie des Blackbox Gardenings, ihrer praktische Umsetzung und einer Auflistung der dafür geeigneten Pflanzen werden auch drei gut gelungene Prachtgärten vorgestellt. Wolfram Kunick, der als einer der Ersten selbstaussamende Pflanzen bewusst zur gärtnerischen Gestaltung einsetzte, wird ebenso ein Denkmal gesetzt wie dem niederländischen Maler Ton ter Linden, der die Vielfalt der Pflanzen sowohl in seinem eigenen Garten als auch auf Papier höchst kreativ umsetzt. Das mit vielen wunderbaren Fotos illustrierte Buch ist nicht nur optisch äußerst ansprechend; fachlich höchst informativ und auch für Laien in leicht verständlicher Sprache geschrieben ist 69 Sachbuch dieser Gartenratgeber ein qualitätsvoller «Anreißer» zu einem hoffentlich zukunftsweisenden Thema moderner Gartengestaltung. Sissy Schiener 1918 Die Stunden des Untergangs Johannes Sachslehner Der Historiker Johannes Sachslehner, 1957 in Scheibbs geboren, unterrichtete lange Jahre an der Universität in Krakau ehe er als Verlagslektor und Autor historischer Sachbücher tätig wurde. Anlässlich 100 Jahre Erster Weltkrieg wurde nun sein 2005 erschienenes Buch Der Infarkt ÖsterreichUngarns unter dem Titel 1918 neu herausgegeben. Buchstäblich minutiös schildert der Autor darin einen einzigen Tag, den 28. Oktober 1918, der für das endgültige Schicksal der Donaumonarchie von großer Bedeutung sein sollte. Längst ist die anfängliche Kriegseuphorie Resignation und Elend gewichen, die Spanische Grippe und eine Hungersnot wüten im Habsburgerreich. Alte Staaten befinden sich in Auflösung, neue Staaten sind im Entstehen. An einigen Frontstellungen wo die Soldaten noch nicht meutern, versucht die k. u. k. Armee verbissen Widerstand gegen die unaufhaltsam vorrückenden Alliierten zu leisten. Sachslehner führt den Leser an unterschiedliche Schauplätze wie etwa nach Wien, wo über einen neuen Staat verhandelt wird, nach Budapest, Prag und Krakau, wo bereits die Embleme der Habsburger von den Gebäuden gerissen werden und an die Piave-Front in Italien, wo noch erbittert gekämpft wird. In den letzten Kriegswirren treten für die spätere Geschichte wesentliche Personen auf, wie die Oberleutnante Arthur Seyß-Inquart und Engelbert Dollfuß sowie der Flottenkommandant Miklos Horthy. Auch der damals siebenjährige Bruno Kreisky, der an diesem Tag um 7 Uhr 30 in Hietzing mit seinem Bruder beim Frühstück sitzt, findet Erwähnung. Das Buch endet mit der Beschreibung eines ruhelosen Kaiser Karl in Schönbrunn und den Worten «Noch hält die Front», die der Generalmajor in Udine in sein Tagebuch schreibt. Dem Autor gelingt mit 1918 eine anschauliche Chronologie jener 24 Stunden, in denen der Untergang der Donaumonarchie zur Gewissheit wurde. In den exemplarischen Schilderungen werden die chaotischen Zustände der letzten Kriegstage und die zerstörerische Kraft dieses ersten globalen Konflikts deutlich. Angereichert mit Bildmaterial, Zeitungsartikeln, Augenzeugenberichten und literarischen Dokumenten bietet das Buch dem Leser einen ungewöhnlichen und spannenden Blick auf die finalen Ereignisse des Ersten Weltkrieges. Empfehlung! Carina Brandstetter Jonas Reif, Christian Kress, Jürgen Becker Blackbox Gardening Mit versamenden Pflanzen Gärten gestalten Stuttgart: Ulmer Vlg. 2014. 187 S. Johannes Sachslehner 1918 Die Stunden des Untergangs Wien u.a.: Styria Premium 2014. 291 S. Bienendemokratie Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können Amon Mein Großvater hätte mich erschossen Kleine Hände im Großen Krieg Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg Jennifer Teege, Nikola Sellmair Yury und Sonya Winterberg Der Besuch einer Bibliothek verändert das Leben der 38jährigen Jennifer Teege für immer, als ihr ein Buch in die Hände fällt, in dem sich ihre Mutter mit ihrer Herkunft auseinandersetzt. Denn was die Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen, die als Baby in ein Pflegeheim gegeben und später adoptiert wurde, bis dahin nicht wusste – ihr leiblicher Großvater ist Amon Göth, der als Kommandant des Konzentrationslagers Plaszów in Polen für den Tod Tausender Menschen verantwortlich zeichnete und als Gegenspieler von Oskar Schindler im Film «Schindlers Liste» vielen ein Begriff sein dürfte. Nach anfänglichem Schock beginnt Jennifer Teege alles zu lesen, was sie über Amon Göth, die Geschichte der Konzentrationslager und den Holocaust finden kann. Sie reist nach Polen und besichtigt die Villa, in der ihr Großvater mit seiner Geliebten Ruth Irene Kalder, der Großmutter, ganz in der Nähe des Lagers gelebt hat. Im Gegensatz zu Amon Göth, der 1946 hingerichtet wurde und den Jennifer Teege nie kennengelernt hat, hatte die Autorin ein inniges Verhältnis zu ihrer Großmutter Ruth. Nun muss sie erkennen, dass die geliebte Großmutter den Schlächter von Plaszow bis zum Ende verehrt und seine Taten in Interviews stets verharmlost hat. Im Laufe des Buches gelingt es Jennifer Teege, die aufgrund all dieser Erkenntnisse in eine schwere Identitätskrise stürzt, letztendlich in der Auseinandersetzung mit der Mutter Monika Göth und ihrer Adoptiv-familie Frieden mit ihrer Vergangenheit zu schließen. Sie findet schließlich auch die Kraft, den Freundinnen in Israel, wo sie mehrere Jahre studiert und gelebt hat, ihre Geschichte zu erzählen. Jennifer Teeges von unglaublichen Zufällen geprägte Lebensgeschichte ist ein unsentimentales Zeitzeugnis des schwierigen Umgangs der Nachkommen von NS-Tätern mit der eigenen Herkunft; gleichzeitig ist es auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Adoption. Dabei wechseln sich der von Jennifer Teege offen und reflektiert erzählte Aufarbeitungsprozess mit erklärenden Passagen der Stern-Journalistin Nikola Sellmair ab, womit der Spagat zwischen packendem Erlebnisbericht und analytischem Geschichtswerk gelingt.Ein ausgesprochen lesenswertes Stück Zeitgeschichte! Anlässlich des Gedenkjahrs 2014 hat sich der deutsche Schriftsteller und Drehbuchautor Yury Winterberg gemeinsam mit seiner Frau, der Journalistin Sonya Winterberg, mit der Frage beschäftigt, wie die Kinder in den am Ersten Weltkrieg beteiligten Nationen diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts erlebt haben. Aus ihren Forschungen gingen das hier vorliegende Sachbuch Kleine Hände im Großen Krieg sowie eine gleichnamige achtteilige Fernsehserie hervor. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, ist die Generation der Heranwachsenden erstmals weitgehend alphabetisiert und so beginnen viele Kinder aus anfänglicher Kriegseuphorie ein Tagebuch zu verfassen und Briefe an Familienmitglieder an der Front zu schreiben. Diese Dokumente bilden die Forschungsgrundlage für die hier versammelten Stimmen sowohl berühmter Zeitgenossen, wie etwa der späteren Schriftstellerin Anais Nin oder des Regisseurs Alfred Hitchcock, als auch unbekannter Kindersoldaten, Kinderkrankenschwestern und Schulkinder. Während zu Beginn in den Schilderungen die Zuversicht in die eigene Armee und ein rasches siegreiches Ende vorherrscht, mischen sich in die Erzählungen der Kinder bald Angst und Not, als die ersten verwundeten Soldaten beziehungsweise die Front die vormals sichere Heimat erreichen und die Lebensmittel knapp werden. Unzählige Kinder wachsen in den Jahren des Krieges ohne Vater auf oder müssen dessen Verwundung oder Tod verarbeiten. Viele beteiligen sich auch aktiv am Krieg und melden sich, obwohl noch minderjährig, in großer Zahl zum Dienst im Feld, von wo massenhaft Feldpost zwischen Schützengraben und Heimat hin und her geht, in der die jungen Soldaten das Grauen kaum in Worte fassen können. Nur wenige von ihnen überleben und werden von der Propaganda zu Helden stilisiert, wie etwa die Russin Marina Yurlova. Die Schrecken des Krieges aus der Perspektive von Kindern zu zeigen, ist Yury und Sonya Winterberg auf anschauliche und bewegende Weise gelungen. Durch die vielfältigen Quellen ergibt sich das facettenreiche Bild einer Generation, die erstmals mit Luftangriffen, Giftgas und einem Sterben in ungeahntem Ausmaß konfrontiert ist – und dennoch nur wenige Jahrzehnte später an einem weiteren Weltkrieg maßgeblich beteiligt sein wird. Obwohl das Buch weitgehend chronologisch gegliedert ist, ist eine vorherige Kenntnis der wesentlichen Ereignisse für die Lektüre hilfreich. Thomas D. Seeley Thomas D. Seeley Bienendemokratie Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können Aus dem Amerikan. Frankfurt am Main: Fischer 2014. 317 S. Jennifer Teege, Nikola Sellmair Amon Mein Großvater hätte mich erschossen Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013. 271 S. Bienen (gemeint sind Honigbienen) sind ein exotisches Thema – interessant ausschließlich für Imker, Insektenforscher und verschrobene Hobbyforscher; ist das so? Man braucht nicht darauf hinzuweisen, dass die Honigbienen seit Jahrtausenden Begleiter der Menschen sind und ihr Produkt seit Ewigkeiten nicht nur für die Süße im Essen sorgte, sondern ihm in allen Kulturen auch heilende Wirkung zugeschrieben wurde und in der Alternativmedizin noch immer wird. Aber leider begleiten diese Sammlerinnen seit einigen Jahren vermehrt schlechte Nachrichten: vom rätselhaften, bis heute nicht geklärten Bienensterben war die Rede und selbst in der österreichischen Innenpolitik spielte die apis mellifera im letzten Jahr eine wichtige Rolle. Mit diesem Insekt beschäftigt sich die ausführliche Studie von Thomas D. Seeley, einem renommierten amerikanischen Verhaltensbiologen und Entomologen und Schüler von Martin Lindauer, der wiederum selbst Doktorand des berühmten österreichischen Nobelpreisträgers Karl von Frisch war, der als Erster die Tänze der Bienen entschlüsselte. In Seeleys Buch geht es nach einer allgemeinen Einführung über die Honigbienen und etwas Wissenschaftsgeschichte vor allem aber um das Thema, wie die Bienen aufgrund einer gemeinschaftlichen Entscheidung (Seeley spricht eben von Demokratie) die beste Stelle für die neuen Schwärme ausfindig machen. Dabei muss eine Einigung innerhalb des Schwarmes erzielt werden, bevor dieser den neuen Nistplatz aufsucht und dorthin fliegt. Dieser komplexe Entscheidungs-findungsprozess war bis dato nicht bekannt und die Wissenschaft auf Vermutungen angewiesen. Nicht die Königin spielt hier die Hauptrolle, sondern Kundschafterinnen, die ihre «Mitbienen» «demokratisch» überzeugen müssen. Der deutsche Untertitel kommt im englischen Original nicht vor, aber Überlegungen in die Richtung, wie Menschen von diesen Bienenschwärmen und ihrer Suche nach Übereinstimmung lernen können, bilden aber schon ein eigenes Kapitel, wenn es auch nicht so gewichtet ist wie der deutsche Untertitel suggeriert. Es ist ein tolles Buch für Menschen, die sich für Insekten und/oder Bienen interessieren, vor allem aber eher für ein Fachpublikum (Biologinnen, Imkerinnen) geschrieben – nicht aufgrund der Komplexität der Sprache, sondern wegen der genauen Beschreibung des Phänomens. Carina Brandstetter Rainer Grill 70 Besprechungen Winter 2014/15 Yury und Sonya Winterberg Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg Berlin: Aufbau-Verlag 2014. 366 S. Carina Brandstetter Hercules Tsibis Hercules Cocktailbar Hercules Cocktailbar Hercules Tsibis Darf man den Angaben des vorliegenden Buches glauben, so handelt es sich bei dem Autor Herucles Tsibis um einen der «erfahrensten und erfolgreichsten Barkeeper der Welt»; neben zahlreichen anderen Auszeichnungen gewann der gebürtige Grieche im Jahr 2000 die Weltmeisterschaft der Bartender. Unter Mithilfe zahlreicher Personen entstand schließlich sein erstes Cocktail-Buch, das durchaus zu empfehlen ist. Es enthält über 130 Rezepte, wobei einige davon Ableitungen von sehr bekannten Cocktails sind. So kann zum Beispiel durch das Ersetzen von CocaCola durch Red Bull aus dem klassischen Long Island Iced Tea der sogenannten Salzburg Iced Tea gemixt werden; nimmt man stattdessen Champagner, wird das Mixgetränk zum Beverly Hills Iced Tea. Im Buch finden sich neben Klassikern wie Caipirinha, Bloody Mary oder Piña Colada auch weniger bekannte Cocktails wie Desert Rose oder Secret of Paris. Im Kapitel «Fitness-Mocktails» 71 Sachbuch finden sich auch Rezepte für alkoholfreie Cocktails. Abschließend werden noch einige – überflüssige – Zaubertricks präsentiert, mit denen der Bartender «wohlverdienten Applaus ernten» könnte (wenn sie nicht derart schlecht und leicht zu durchschauen wären). Sehr praktisch, wenn auch nicht wahnsinnig geschmackvoll umgesetzt, sind die bei den meisten der Cocktails angeführten QR-Codes, die zu Videos führen, in denen Hercules Tsibis das entsprechende Getränk zubereitet. Das Register teilt sich sinnvollerweise in ein herkömmliches, alphabetisches Rezeptregister und in ein Spirituosenregister (Drinks mit Gin, Wodka, Rum, Tequila, Whiskey, Cognac, Aperol, Campari, Wermut und Champagner). Vor dem eigentlichen Rezeptteil werden das (teilweise nicht unbedingt) benötigte Equipment, die unterschiedlichen Glas-Formen und eine Grundausstattung für eine wohlsortierte Hausbar beschrieben. Insgesamt ein sehr brauchbares Cocktail-Buch. Zu bemängeln ist lediglich die dunkelrote Farbe der Zwischenüberschriften, die das Lesen auf grauem Hintergrund erschwert. Katharina Marie Bergmayr München: Südwest-Verlag 2013. 128 S. Büchereien Wien – Standorte Schlank mit Kräutern Meine besten Rezepte zum Abnehmen Melanie Wenzel Melanie Wenzel Schlank mit Kräutern. Meine besten Rezepte zum Abnehmen München: Gräfe und Unzer 2014. 192 S. Zirkusgasse: 1020, Zirkusgasse 3, T 01-4000-02165 oder Breitnerhof: 1140, Linzer Straße 309, T 01-4000-14165 Engerthstraße: 1020, Engerthstraße 197/5, T 01-4000-02 161 Schwendermarkt: 1150, Schwendergasse 39–43, T 01-4000-15161 Erdbergstraße: 1030, Erdbergstraße 5–7, T 01-4000-03 161 Meiselmarkt: 1150, Hütteldorfer Straße 81a, T 01-4000-15165 Die in Köln lebende Melanie Wenzel ist zertifizierte Heilpraktikerin und seit 2004 als Kräuterexpertin für die Sendung «Daheim und unterwegs» beim WDR tätig. 2013 erschien ihr erstes Buch Meine besten Heilpflanzenrezepte für eine gesunde Familie. In ihrem neuen Buch Schlank mit Kräutern präsentiert sie den Lesern wieder neue Rezepte, diesmal rund um das Thema Kräuter. Nach einer grundsätzlichen Einführung zum Thema gesunde Ernährung folgt eine übersichtliche und ausführliche Präsentation von etwa 30 wegen ihrer speziellen Bedeutung für die Ernährung ausgesuchten Kräutern. Diese finden sich in alphabetischer Reihenfolge, jeweils versehen mit einem ansprechenden Foto sowie einer Kurzbeschreibung zu Vorkommen, Aussehen, Geschmack und Wirkungsweise. Praktisch sind die farblich abgesetzten Hinweise «Küchentipp» für eine gezieltere Verwendung und «Vorsicht» bei Kräutern, die bei Schwangerschaft oder bestimmten Erkrankungen eine kontraproduktive Wirkung haben. Von Gänseblümchen über Portulak bis zur exotischen Moringa ist für jeden Gaumen etwas dabei. Die Wirkung der Kräuter differiert entsprechend ihren Inhaltsstoffen unter anderem von appetitzügelnd über stoffwechselanregend bis fettverbrennend. Als Homöopathin sieht Wenzel in diesen einfachen Hilfsmitteln aus dem Garten eine ideale und preiswerte Unterstützung für die Zubereitung von geschmackvollen Mahlzeiten. Danach folgen ca. 70 unkomplizierte Rezepte, wobei einige über den Schwierigkeitsgrad von hausgemachten Kartoffelchips nicht hinausgehen. Viele schnelle Salate, Aufstriche, Marmeladen und Suppen stehen Seite an Seite mit IngwerTartar-Bällchen, Dill-Forelle und Hirseauflauf mit Thymian. Allen Speisen gemein ist die großzügige Verwendung von Kräutern, die – gesünder und langfristiger als eine radikale Diät – den Abnehmprozess unterstützen sollen. Wenzel engagiert sich für einen bewussteren Umgang mit Nahrungsmitteln und so ist ihr in launigem Gesprächston verfasstes Buch ein Plädoyer für gesunde Ernährung. Das Buch selbst ist nach dem bewährten G&U Konzept gestaltet. Es verfügt über ein wunderschönes, farblich stimmiges Layout samt knackig grünem Cover und lädt den Leser zum Blättern, Schmökern und Ausprobieren ein. Die FoodStylisten haben in dem in Pastelltönen gehalten Ratgeber gute Arbeit geleistet. Die Fotos zum jeweiligen Rezept sind appetitlich und regen zum Nachkochen an. 0676-8118 63804, [email protected] oder 0676-8118 63840, [email protected] oder 0676-8118 63812, [email protected] Fasanviertel: 1030, Fasangasse 35–37, T 01-4000-03168 oder 0676-8118 63805, [email protected] Rabenhof: 1030, Rabengasse 6, T 01-4000-03 165 oder 0676-8118 63807, [email protected] Wieden: 1040, Favoritenstraße 8, Eingang Paulanergasse 1, T 01-4000-04 161 oder 0676-8118 63806, [email protected] Margareten: 1050, Pannaschgasse 6, T 01-4000-05 161 oder 0676-8118 63808, [email protected] Mariahilf: 1060, Gumpendorfer Straße 59–61, T 01-4000-06161 oder 0676-8118 63810, [email protected] Hauptbücherei am Gürtel: 1070, Urban-Loritz-Platz 2a, T 01-4000-84500, [email protected] Alsergrund: 1090, Simon-Denk-Gasse 4–6, T 01-4000-09161 oder 0676-8118 63813, [email protected] Im Bildungszentrum Simmering: 1110, Gottschalkgasse 10, 0676-8118 63836, [email protected] Hernals: 1170, Hormayrgasse 2, T 01-4000-17 162 oder 0676-8118 63839, [email protected] Währing: 1180, Weimarer Straße 8, T 01-4000-18 161 oder 0676-8118 63841, [email protected] Billrothstraße: 1190, Billrothstraße 32, T 01-4000-19 162 oder 0676-8118 63853, [email protected] Heiligenstadt: 1190, Heiligenstädter Straße 155, T 01-4000-19165 oder 0676-8118 63843, [email protected] Pappenheimgasse: 1200, Pappenheimgasse 10–16, T 01-4000-20161 oder 0676-8118 63847, [email protected] Leystraße: 1200, Leystraße 53, T 01-4000-20165 oder T 01-4000-10 161 oder 0676-8118 63816, [email protected] oder 0676-8118 63835, [email protected] Ottakring: 1160, Schuhmeierplatz 17, T 01-4000-16165 oder Hasengasse: 1100, Hasengasse 38, T 01-4000-10 165 bzw. 10 166 Laxenburger Straße: 1100, Laxenburger Straße 90a, oder 0676-8118 63831, [email protected] Sandleiten: 1160, Rosa-Luxemburg-Gasse 4, T 01-4000-16161 oder 0676-8118 63814, [email protected] oder 0676-8118 63827, [email protected] oder 0676-8118 63832, [email protected] Per-Albin-Hansson-Siedlung: 1100, Ada-Christen-Gasse 2, T 01-4000-10168 oder 0676-8118 63815, [email protected] 0676-8118 63845, [email protected] Schlingerhof: 1210, Brünner Straße 36, T 01-4000-21161 oder 0676-8118 63848, [email protected] Großjedlersdorf: 1210, Brünner Straße 138, T 01-4000-21163 oder 0676-8118 63852, [email protected] Großfeldsiedlung: 1210, Kürschnergasse 9, T 01-4000-21165 oder 0676-8118 63850, [email protected] T 01-4000-11 165/66 oder 0676-8118 63818, [email protected] Donaustadt: 1220, Bernoullistraße 1, T 01-4000-22 161 Am Leberberg: 1110, Rosa-Jochmann-Ring 5, T 01-4000-11 162 Stadlau: 1220, Erzherzog-Karl-Straße 169, T 01-285 65 51 oder 0676-8118 63819, [email protected] Am Schöpfwerk: 1120, Am Schöpfwerk 29, T 01-4000-12 164 oder 0676-8118 63821, [email protected] Philadelphiabrücke: 1120, Meidlinger Hauptstr. 73, Einkaufszentrum Arcade Meidling, T 01-4000-121 60, [email protected] Hietzing: 1130, Hofwiesengasse 48, T 01-4000-13161 oder 0676-8118 63826, [email protected] Penzing: 1140, Hütteldorfer Straße 130d, T 01-4000-14 161, [email protected] oder 0676-8118 63849, [email protected] oder 0676-8118 63846, [email protected] Kaisermühlen: 1220, Schüttaustraße 39, T 01-4000-22164 oder 0676-8118 63803, [email protected] Aspern: 1220, Siegesplatz 7, T 01-4000-22168 oder 0676-8118 63851, [email protected] Alterlaa: 1230, Anton-Baumgartner-Straße 44 (Wohnpark Top 48), T 01-4000-23165 oder 0676-8118 63856, [email protected] Liesing: 1230, Breitenfurter Straße 358, T 01-4000-23 161 oder 0676-8118 63854, [email protected] Impressum Medieninhaber und Verleger Verein der Freunde der Büchereien Wien, unterstützt von der Magistratsabteilung 13 und dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur. Für den Inhalt verantwortlich: Markus Feigl Bildnachweis S. 1 und 4 © Alles Frisch: neue Erzählungen aus Finnland Umschlagabbildung © plainpicture/Gorilla Redaktion Monika Reitprecht Adresse der Redaktion Urban Loritz-Platz 2a, 1070 Wien T +43-1-4000-845 67 [email protected] Bettina Raab Grafische Gestaltung Martha Stutteregger Designassistenz Anna Kranebitter 72 Besprechungen Winter 2014/15 73 Belletristik www.buechereien.wien.at www.kirango.at www.virtuellebuecherei.wien.at www.facebook.com/buechereien.wien www.twitter.com/buechereiwien Verein der Freunde der Büchereien Wien Besprechungen 5 Inhalt 1 «Coole Geschichten aus dem hohen Norden» Finnland zu Gast bei der Frankfurter Buchmesse 2014 Belletristik 6 Mário de Andrade Macunaíma 6 Milena Agus Die Welt auf dem Kopf 7 Johan Bargum Septembernovelle 7 Theodora Bauer Das Fell der Tante Meri 8 Frank Bill Cold Hard Love 8 Nadja Bucher Die wilde Gärtnerin 8 Sorj Chandalon Rückkehr nach Killybegs 9 James Carlos Blake Das Böse im Blut 9 Bonnie Jo Campbell Stromschnellen 10Erri De Luca Fische schließen nie die Augen 10Andrea Drumbl Narziss und Narzisse 10Jean Echenoz 14 11Giorgio Faletti Falsches Spiel 11T. J. Forrester Kings of Nowhere 12Karl-Markus Gauß Das Erste, was ich sah 12Paolo Giordano Der menschliche Körper 12Andrew Sean Greer Ein unmögliches Leben 13Norbert Gstrein Eine Ahnung vom Anfang 13Woody Guthrie Haus aus Erde 14Gertraud Klemm Herzmilch 14Helene Hegemann Jage zwei Tiger 15Wolfgang Herrndorf Arbeit und Struktur 15Evelina Jecker Lambreva Vaters Land 15Tim Krohn Aus dem Leben einer Matratze bester Machart 16 Ben Lerner Abschied von Atocha 16 Lorenz Langenegger Bei 30 Grad im Schatten 17Sung-U Lee Das verborgene Leben der Pflanzen 17Ulla-Lena Lundberg Eis 18Arto Paasilinna Der Mann mit den schönen Füßen 18Tanja Maljartschuk Biografie eines zufälligen Wunders 19Georges Perec Der Condottiere 19Colum McCann TransAtlantik 20Mike Mignola Joe Golem und die versunkene Stadt 20Walther Rode Der Fall der Baronin Bibu 20Parinoush Saniee Was mir zusteht 21David Schönherr Der Widerschein 21Noam Shpancer Der glücklose Therapeut 22Zadie Smith London NW 23Bettina Spoerri Konzert für die Unerschrockenen 23Marlene Streeruwitz Nachkommen 23Justin Torres Wir Tiere 24Erwin Uhrmann Ich bin die Zukunft 24Andreas Unterweger Das Kostbarste 25Birgit Vanderbeke Der Sommer der Wildschweine 25Dimitri Verhulst Der Bibliothekar, der lieber dement war Belletristik – Krimi und Thriller Aldo Cazzullo Bitter im Abgang Hermann Bauer Lenauwahn Gillian Flynn Gone Girl Sven Koch Totenmond Louise Erdrich Das Haus des Windes Henning Mankell Mord im Herbst Jutta Mehler Mord und Mandelbaiser Dror Mishani Vermisst Sabine Naber Caddielove C.S. Forester Tödliche Ohnmacht Andreas Pittler Charascho Nic Pizzolatto Galveston Petra Reski Palermo Connection Karin Wahlberg Tod in der Walpurgisnacht Chris Womersley Beraubt 26 26 27 27 28 28 29 29 29 30 30 31 31 32 32 Kinderbuch – Bilderbuch und Sachbilderbuch 33 An Mac Barnett, Jon Klassen Extragarn 33 Nadia Budde Und irgendwo gibt es den Zoo 34 Nadia Budde Tierisch zahlreich 34 Owen Davey Laika 35 Torben Kuhlmann Lindbergh 35 Paul Fleischman, Bagram Ibatoulline Das Streichholzschachtel-Tagebuch 36 Timothy Knapman, David Tazzyman Ellis Augenbrauen 36 Christine Knödler Ich schenk dir die Farben des Windes 37 Norman Messenger Das Land Manglaubteskaum 37 Lorenz Pauli, Kathrin Schärer Das Beste überhaupt 74 Besprechungen 38 38 39 39 40 40 41 Michael Roher Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? Viola Rohner, Dorota Wünsch Das Wild im Marmeladenglas Lemony Snicket, Jon Klassen Dunkel Guido Van Genechtte Mamas mit ihren Kindern Claudia de Weck, Georg Kohler Jakob, das Krokodil Vincent Cuvellier, Charles Dutertre Das erste Mal in meinem Leben... Shaun Tan Die Regeln des Sommers Sharon M. Draper Mit Worten kann ich fliegen Lena Avanzini Hugo, streck die Fühler aus! Rosemarie Eichinger Essen Tote Erdbeerkuchen? Levi Henriksen Astrids Plan vom großen Glück Timo Parvela Ella und der Millionendieb Holly-Jane Rahlens Stella Menzel und der goldene Faden Jens Rassmus Kann ich mitspielen? Geoff Rodkey Dreckswetter und Morgenröte Geckos große Geschichtenwelt 42 42 43 43 44 44 45 45 46 Kinderbuch – Erzählendes Kinderbuch – Sachbuch 47 47 48 48 49 49 50 50 Aleksandra Mizielinska, Daniel Mizielinski Alle Welt Françoize Boucher 59 gute Gründe Bücher zu lieben, auch wenn du Lesen hasst! Anna Claybourne Die 100 tödlichsten Dinge der Welt Christian Dreller Haben Elefanten wirklich Angst vor Mäusen? Sonja Eismann, Chris Köver, Daniela Burger Glückwunsch, du bist ein Mädchen Jan von Holleben Denkste?! Claudia Huboi, Susanne Nöllgen Kritzeln, krakeln, schreiben Valerie Wyatt Die Bademattenrepublik Jugendbuch 51 51 52 52 53 53 54 54 55 55 Stefan Casta Am Anfang war das Ende Tamara Bach Marienbilder Martin Baltscheit Die besseren Wälder Peter Härtling Hallo Opa – Liebe Mirjam Polly Horvath Wie wir das Universum reparierten Christine Knödler, Stefanie Harjes Warum ist Rosa kein Wind? Ulrike Leistenschneider Liebe ist ein Nashorn David Levithan Letztendlich sind wir dem Universum egal Patrick Ness Mehr als das Andreas Schulze Herr Ostertag macht Geräusche Sachbücher 56 Stephen Grosz Die Frau, die nicht lieben wollte 56 DAYlicious: 1 Tag, 5 Blogs, 50 Rezepte, 1000 Ideen 57 Barbara Allmann Salvestrole 57 Stefan Benedik Die imaginierte «Bettlerflut» 58 Steffen Bruendel Zeitenwende 1914 59 Ella Berthoud, Susan Elderkin Die Romantherapie 59 Evelyne Bloch-Dano Die Sehnsucht im Herzen der Artischocke 59 Anthony Bruno Der Iceman 60 Robert Burdy, Philippe Orban Das Aikido-Prinzip 60 Egon Schwarz Wien und die Juden – Essays zum Fin de siècle 61 Edgard Haider Wien 1914 – Alltag am Rande des Abgrunds 62 Alma Hannig Franz Ferdinand – Die Biografie 62 Gerhard Falschlehner Die digitale Generation 63 Arthur Fürnhammer, Peter M. Mayr Tschocherl Report 63 Gerhard Jelinek Schöne Tage 1914 64Christoph Lauwigi Wikinger selbst erleben! 64 Gabriele Lukacs Wien – Geheimnisse einer Stadt 65 Laurenz Lütteken Richard Strauss. Die Opern 65 Ian Mortimer Im Mittelalter 66 Peter Payer Unterwegs in Wien 66 Peter Peter Kulturgeschichte der österreichischen Küche 67Helge Sobik Der Mann der mit den Stürmen spricht 67 Claudio Del Principe, Katharina Seiser Italien vegetarisch 68Rudolf Taschner Die Zahl, die aus der Kälte kam 68 Iris Radisch Camus – Das Ideal der Einfachheit 69 Jonas Reif, Christian Kress, Jürgen Becker Blackbox Gardening 69 Johannes Sachslehner 1918 – Die Stunden des Untergangs 70Thomas D. Seeley Bienendemokratie 70 Jennifer Teege, Nikola Sellmair Amon 71 Yury & Sonya Winterberg Kleine Hände im Großen Krieg 71 Hercules Tsibis Hercules Cocktailbar 72Melanie Wenzel Schlank mit Kräutern Winter 2014/15