Besprechungen Heft 5/Winter 2014/2015

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Besprechungen Heft 5/Winter 2014/2015
Besprechungen
Berichte und Rezensionen
aus den Büchereien Wien
Heft 5
Winter 2014/2015
Coole Geschichten aus dem hohen Norden
Finnland zu Gast bei der Frankfurter Buchmesse 2014
Liebe Leserinnen und Leser,
intensiv wie selten zuvor werden derzeit die gesellschaftliche
Bedeutung und die Aufgaben der öffentlichen Bibliotheken
und Büchereien diskutiert. Die Suche nach einem zeitgemäßen Berufsbild beschäftigt Bibliothekarinnen und Bibliothekare praktisch über den ganzen Globus.
Als Gründe für eine von vielen als notwendig angesehene
Neuorientierung der Bibliotheken werden markante Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur ebenso angeführt
wie gravierende Änderungen im Leseverhalten vor allem
junger Menschen und die immer stärkere Verbreitung elektronischer Medien.
Die in vieler Hinsicht vorbildlichen skandinavischen Bibliotheken betonen in dieser Situation durch eine Ausweitung
der vor Ort verfügbaren Angebote die Rolle der Bibliotheken
als Treffpunkt und Kommunikationszentrum. Finnland, dem
ein Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe der Besprechungen
gewidmet ist, nimmt dabei wie so oft im Bildungsbereich eine
besondere Stellung ein.
Die Büchereien Wien beschäftigen sich ebenfalls seit
mehr als einem Jahr in einem breit angelegten Organisationsentwicklungsprozess offensiv mit allen diesen geänderten
Umwelten und generell der Rolle der Büchereien Wien und
ihrer Aufgabe in der Stadt.
Keinesfalls ändern wird sich jedenfalls, dass wir weiterhin
für Sie die besten Bücher, Musik CDs, DVD s, Konsolenspiele
etc. auswählen und bereitstellen.
Markus Feigl
Bibliothekarischer Leiter der Büchereien Wien
Der Finnland. Cool. Pavillon
© FILI / Katja Maria Nyman
Finnland. Cool. – so lautete der Titel
des diesjährigen Gastlandauftritts in Frankfurt, der nach nur drei Jahren wieder
ein nordisches Land zur weltweit wichtigsten
Buchmesse bringt. Und das aus gutem
Grund, denn genau wie in Island gibt es auch
in Finnland eine spannende und lebendige Literaturszene, die hierzulande größtenteils unbekannt ist.
Zwar sind einige große Namen der finnischen Literatur – Sofi Oksanen, Leena
Lehtolainen, Taavi Soininvaara oder Arto Paasilinna – dem mitteleuropäischen Lesepublikum durchaus geläufig, darüber hinaus gibt es aber noch sehr viel Interessantes zu
entdecken. Gelegenheit dazu gibt es zurzeit genug: Anlässlich der Frankfurter Buchmesse
wurden rund 130 finnische Titel ins Deutsche übersetzt. Eine literarische Fundgrube.
Finnland und Island haben noch mehr gemeinsam als die Lage im hohen Norden
am Rande Europas. In beiden Ländern gibt es eine besondere Beziehung zum Geschichten
erzählen und es wird überdurchschnittlich viel gelesen und geschrieben. Das zeigt sich
schon an der Buchproduktion: Allein in Finnland erscheinen jährlich mehr als 13.000 Bücher,
davon etwa 4.000 Neuerscheinungen. Damit gehören die Finnen zur Weltspitze – sie
werden nur von den Isländern getoppt, die im Verhältnis zur Einwohnerzahl noch mehr
Bücher veröffentlichen.
Kalevala
nacherzählt von
Tilman Spreckelen
Berlin: Galiani 2014.
193 S.
Die Literatur hat in Finnland einen besonderen Stellenwert und ist selbstverständlicher Teil der Alltagskultur. Geschrieben wird in drei Sprachen – Finnisch, Schwedisch und
Samisch – und Bücher genießen hohes Ansehen, ebenso Schriftsteller, die mitunter so
prominent sind, dass sie nicht selten in den Klatschspalten der Boulevardpresse auftauchen.
Auch das Lesen ist in Finnland ziemlich angesagt, was nicht zuletzt einem umfassenden
und kostenlosen öffentlichen Bibliotheksnetz zu verdanken ist.
Bibliotheken haben in Finnland eine lange Tradition, und der freie Zugang zu Informationen ist ein wichtiges Gleichberechtigungsprinzip der finnischen Kulturpolitik. Die Zahlen
sprechen für sich: 80 % der Finnen nutzen Bibliotheksservices, 40 Prozent haben einen
Bibliotheksausweis (im Vergleich dazu sind es in Österreich gerade mal 10 Prozent) 1 und die
durchschnittliche Anzahl der Ausleihen pro Einwohner liegt bei gut 13 Titeln pro Jahr (in
Österreich sind es knapp zwei Titel).2 So eine Leseförderung hinterlässt naturgemäß Spuren:
Nicht umsonst erzielen finnische Schüler bei den PISA-Tests regelmäßig Höchstwerte.
Auch für die Schriftsteller ist das Bibliothekswesen nicht unwesentlich, denn die Bibliotheksstipendien sind für viele eine wichtige Einnahmequelle. 3
Wirklich alt ist die finnische Literatur hingegen nicht. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte
sich in Finnland, das jahrhundertelang politisch zu Schweden gehörte und von 1809 bis
1917 ein Teil von Russland war, eine eigenständige Literatur in finnischer Sprache. Davor
wurde vorwiegend auf Schwedisch geschrieben und publiziert, der Sprache des Bildungsbürgertums. Die Spätromantik und die Abkoppelung von Schweden brachten neue Ideen
und Impulse: plötzlich suchte man nach einer eigenen, nach einer finnischen Identität.
Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatte ein junger finnischer Gelehrter
namens Elias Lönnrot, der sich im Jahre 1828 auf den Weg machte, um in abgeschiedenen
Gegenden Kareliens nach alten Liedern zu suchen. Dieses Liedgut wurde von KanteleSängern, einer Art Mischung aus Dorfweisen und Schamanen, mündlich überliefert
und von Generation zu Generation weitergegeben. Für Lönnrot blieb es nicht bei dieser
einen Reise; insgesamt unternahm er in mehreren Jahren elf Reisen, meist zu Fuß,
zu Wasser oder sogar mit Skiern, um auch in die entlegensten Wald- und Seengebiete
vorzudringen. Dabei legte er mehr als 20.000 Kilometer zurück und konnte etwa
65.000 Verse sammeln.
Schon bald gelangte Lönnrot zu der Ansicht, dass die uralten Lieder miteinander
verbunden und Teil einer großen Geschichte seien. Er begann, sie zu einer umfangreichen
Verserzählung zusammenzufassen, die er Kalevala nannte. Das Epos berichtet von
der Entstehung der Welt und vom ewigen Kampf Gut gegen Böse. Der größte Held der
Geschichte ist der wackere alte Väinämöinen, ein mächtiger Zauberer, begnadeter
Sänger und Erfinder der Kantele, der finnischen Zither mit fünf Saiten. Ihm zur Seite steht
Schmied Ilmarinen, der die schönste Frau des Nordens begehrt und dafür den geheimnisumwobenen Sampo schmieden muss. Der Sampo ist ein nicht näher definierter
magischer Gegenstand, eine Zaubermühle und eine Art heiliger Gral, der den Menschen
Gutes und Wohlstand bringen soll. Allerdings wird er von Louhi, der bösen Hexe
und Herrscherin des Nordlandes, aus Raffgier in einen Felsen gesperrt. Später machen
sich Väinämöinen und Ilmarinen auf den Weg, um den Sampo zu rauben. Unterstützt
werden sie dabei vom feschen Lemminkäinen, dem finnischen Casanova, vor dem keine
Jungfrau sicher ist ...
Die Kalevala gilt heute als finnisches Nationalepos und gleichzeitig als Grundstein der
finnische Literatur. Elias Lönnrot war aber auch maßgeblich daran beteiligt, dass sich
das Finnische, das bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast nur im Alltag der bäuerlichen Bevölkerung verwendet wurde, zu einer Kultursprache entwickeln konnte. Darüber hinaus hatten die mythologischen Helden der Geschichte auch identitätsstiftende
Funktionen und übten einen großen Einfluss auf andere Künstler aus, wie zum Beispiel auf
den Komponisten Jean Sibelius und insbesondere auf J. R. R. Tolkien, der sich reichlich
am Sagenschatz der Kalevala bediente. Väinämöinen könnte nicht nur als Vorbild von
Gandalf durchgehen, im Herrn der Ringe stößt man zuhauf auf Motive aus der Kalevala.
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Das Epos erschien in unterschiedlichen Versionen zwischen 1835 und 1849. Aus diesem
Jahr datiert auch die Standardfassung mit 50 Gesängen und 22.795 Versen, die in 51 Sprachen
übersetzt wurde. Die aktuellste deutsche Übersetzung stammt von Gisbert Jänicke und
ist 2004 beim österreichischen Verlag Jung und Jung erschienen. Wer sich mit den Versen
nicht unbedingt anfreunden möchte, kann unbesorgt die brandneue Prosaausgabe von
Tilman Spreckelsen zur Hand nehmen. Der bibliophile Band ist bei Galiani in Berlin erschienen und wurde mit prächtigen Illustrationen von Kat Menschik versehen. Und falls
jemand gar nicht lesen möchte, dann gibt es auch noch eine fulminante und höchst empfehlenswerte Hörbuchfassung, gelesen vom ehemaligen Burgschauspieler Markus Hering.
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert erscheinen zahlreiche Romane auf der finnischen Bildfläche. Einer der berühmtesten aus dieser Zeit ist bis heute ein Klassiker: Sieben
Brüder von Aleksis Kivi. Das 1870 veröffentlichte Buch gilt als der erste Roman in finnischer
Sprache und wurde bis heute in über 30 Sprachen übersetzt. Pünktlich zur Buchmesse ist
bei Jung und Jung eine neue Übersetzung erschienenen, ebenfalls von Gisbert Jänicke.
Der humoristische Roman erzählt aus dem Leben von sieben Brüdern, allesamt kräftige
und widerborstige Kerle, die eines Tages beschließen, den elterlichen Bauernhof und die
Dorfgemeinschaft zu verlassen, um in die Wildnis zu gehen und in den Wäldern ein freies
Leben wie die «Wolfswelpen» zu führen, ganz im Geiste von Rousseau. Sie erleben und
überstehen zahlreiche Abenteuer und Katastrophen, werden aber letztendlich doch von der
Zivilisation eingeholt und müssen wohl oder über lesen lernen, wenn sie als vollwertige
Mitglieder ihrer Gemeinde anerkannt werden wollen.
Der Clou von Kivis Roman besteht darin, dass die Ereignisse andauernd von den
Brüdern kommentiert werden. Nicht die Abenteuer stehen im Mittelpunkt, sondern die
Bemühungen der ungehobelten Typen, verbal mit Gott und der Welt fertig zu werden. Im
ersten Roman finnischer Sprache wird also unablässig geredet. 4 Ganz schön stark für eine
Nation, von der Bertolt Brecht einmal gesagt hat, dass sie «in zwei Sprachen schweigt.»
In der Folge entstehen weitere Romane, die wie die Sieben Brüder vorwiegend auf dem
Land angesiedelt sind, obwohl sie sehr oft von einem städtischen Publikum gelesen werden.
Dazu gehören auch die Werke von Frans Emil Sillanpää, der 1939 als bislang einziger
Finne mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Sein Roman Frommes Elend
von 1919, der zuletzt auf Deutsch neu aufgelegt wurde, hebt sich in seiner Modernität
ganz deutlich von all den anderen europäischen Bauernromanen jener Zeit ab. Sillanpää
lässt seine Protagonisten in einer ländlichen Welt agieren, der alle Romantik fehlt und
in der Armut, Hunger und Lebensgefahr allgegenwärtig sind, Solidarität unter den Ärmsten
aber nicht zu finden ist. 5
Die moderne finnische Literatur ist sehr facettenreich. Wie in anderen Ländern gibt
es neben anspruchsvoller Literatur auch ein breites Angebot an Krimis, Kinder- und Jugendliteratur sowie eine eigene Spielart der Science Fiction, die als Finnish Weird gelabelt
wird. Darunter versteht man nordische Mythologie, gepaart mit beißendem Humor und
einer Prise Horror, Fantasy und Surrealismus.
Als stilistisches Paradebeispiel dieser Richtung gilt Johanna Sinisalos Troll: Eine
seltsam bezaubernde Liebesgeschichte rund um ein mythisches Wesen. Das Buch ist im
Jahr 2000 erschienen und hat zu einem regelrechten Boom der finnischen Phantastik
geführt. Nicht selten bewegen sich diese Geschichten in realistischen Umgebungen, sind
aber auf gewisse Weise bizarr, sodass sie sich klar von der traditionellen Erzählweise
abgrenzen. «Fantastische Figuren, die nordische Sagenwelt, Mythologie und bizarre Erzählstränge bilden wichtige Elemente dieser fiktiven Literatur – eben ganz Finnish Weird,
so Maria Antas, die Leiterin des literarischen Programms Finnland. Cool. bei der Frankfurter Buchmesse. 6
Die Finnen haben aber auch ein Faible für Historisches. Das mag daran liegen, dass
das Land noch sehr jung ist; Finnland wurde erst 1917 unabhängig und hatte im Laufe des
20. Jahrhunderts einiges durchzumachen. Wie auch immer, historische Romane haben
in Finnland Hochkonjunktur. Und das schon seit langem, denn als finnischer Auflagenkönig
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Besprechungen
Aleksis Kivi
Sieben Brüder
Salzburg: Jung und Jung 2014.
438 S.
Frans Eemil Sillanpää
Frommes Elend
Berlin: Guggolz 2014.
285 S.
Johanna Sinisalo
Troll
Suttgart: Klett-Cotta 2000.
264 S.
Mika Waltari
Sinuhe der Ägypter
Köln: Bastei Lübbe 2014.
1102 S.
Mademoiselle Chair
© FILI / Katja Maria Nyman
Sofi Oksanen
Fegefeuer
Köln: Kiepenheuer &
Witsch 2010.
395 S.
Katja Kettu
Wildauge
Berlin: Galiani 2014.
141 S.
gilt Mika Waltari, der Autor von Sinuhe der Ägypter. Dabei handelt es sich um eines der
berühmtesten Bücher aus Finnland, wenngleich der darin behandelte Stoff herzlich wenig
mit dem Land selbst zu tun hat und viele Leser gar nicht wissen, woher der Autor stammt.
Trotzdem entwickelte sich die bewegende Geschichte eines ägyptischen Arztes zur Zeit der
Pharaonen zu einem Klassiker des Genres.
Auch die neueste Literatur aus Finnland beschäftigt sich gerne mit der Vergangenheit, wenngleich sie nicht so weit zurückblickt. Dafür wird die Aufarbeitung der jüngsten
Geschichte, vor allem die Rolle Finnlands während und nach dem Zweiten Weltkrieg,
zu einem großen Thema. Eines der aktuellsten Beispiele dafür ist Wildauge von Katja Kettu,
ein Roman, der in Finnland für großes Aufsehen gesorgt hat. Erzählt wird die Geschichte
einer Hebamme, die sich während des Zweiten Weltkriegs in einen in Lappland stationierten SS-Mann verliebt. Freiwillig und aus Liebe folgt sie ihm in ein Kriegsgefangenenlager
und wird dort in grauenvolle Ereignisse verwickelt.
An diesem Roman scheiden sich die finnischen Geister: die einen preisen die brillante
Sprachkunst und die genialen Wortschöpfungen der nordfinnischen Autorin, die anderen
stoßen sich an einem Tabuthema, das erst in jüngster Zeit literarisch aufgearbeitet wird.
Noch vor kurzer Zeit wäre es, wie Katja Kettu selbst sagt, undenkbar gewesen über Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und finnischen Frauen zu sprechen, geschweige denn
darüber zu schreiben. In ihrer Kindheit – Kettu wurde 1978 geboren – hätte es Andeutungen
gegeben, Flüstereien, nicht mehr. Die Korrespondenz ihrer Großmutter brachte sie schließlich auf die Idee, einen Roman darüber zu schreiben und lieferte ihr das Vorbild für dessen
weibliche Hauptfigur. 7
Jene historische Epoche ist auch die Zeit, in der die Romane des derzeit unbestrittenen Superstars der finnischen Literatur angesiedelt sind. Finnlands dunkle Königin titelte
Die Zeit und platzierte Sofi Oksanen medienwirksam auf dem Titelblatt der Zeitung.
Das kam nicht von ungefähr, denn die stets dunkel gekleidete Schriftstellerin mit den
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lilaschwarzen Dreadlocks war auf der Frankfurter Buchmesse omnipräsent und ist
gegenwärtig das Aushängeschild der finnischen Literatur.
Sofi Oksanens Thema ist die Geschichte Estlands, vor allem in der Zeit der Besatzung
durch Nazis und Sowjets und in Bezug auf Widerstand und Kollaboration. Ihr zweiter
Roman Fegefeuer wurde ein Riesenerfolg und brachte der schillernden Autorin den internationalen Durchbruch. Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet und in 43 Sprachen
übersetzt – das ist absoluter Rekord für ein Buch aus Finnland. Derzeit arbeitet Sofi
Oksanen an einer Tetralogie über die estnische Zeitgeschichte, deren dritter Band – Als
die Tauben verschwanden – soeben erschienen ist. Dennoch versteht sie sich nicht primär
als Autorin von historischen Romanen, vielmehr möchte Sofi Oksanen mittels historischer
Stoffe auf aktuelle Probleme hinweisen. Das kann man der umtriebigen Autorin, die
nebenbei auch noch Verlegerin ist und Bücherregale designt, auch durchaus glauben, denn
Sofi Oksanen beteiligt sich aktiv an gesellschaftlichen und politischen Debatten.
Auch einer der wichtigsten finnlandschwedischen Autoren des Landes, Kjell Westö, hat
die Handlung seines neuesten Romans in der jüngeren Vergangenheit angesiedelt. Das
Trugbild ist ein Porträt der zunehmend faschistisch geprägten Atmosphäre in Helsinki am
Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Für Aufsehen sorgte in Finnland besonders eine Sequenz
des Romans, die von der Einweihung des Olympiastadions in Helsinki 1938 erzählt. Damals
gewann der finnische Jude Abraham Tokazier den 100-Meter-Lauf. Gleichwohl setzte
ihn das Kampfgericht auf den 4. Rang. Erst jetzt, nach 75 Jahren, korrigierte der Sportverband das Resultat und sprach Tokazier postum den Sieg zu. Man hatte 1938 nicht gewagt,
angesichts der deutschen Prominenz auf der Tribüne einen Juden als Sieger auszurufen.8
Im Oktober 2014 wurde Kjell Westö für Das Trugbild der Literaturpreis des Nordischen
Rates verliehen. Der Preis, den vor vier Jahren schon Sofi Oksanen für Fegefeuer erhalten
hatte, gilt als wichtigste literarische Auszeichnung des Nordens und ist im Fall von Westö
auch als Anerkennung für das Genre des finnischen historischen Romans zu verstehen.
Dank der Buchmesse sind aber nicht nur viele exquisite Romane erschienen, sondern
auch eine Vielzahl von Kinder- und Jugendliteratur, Graphic Novels, Comics und nicht
zuletzt Anthologien mit Erzählungen und Kurzgeschichten, die einen raschen Einstieg in
die finnische Literatur gewähren. Zwei davon sind besonders empfehlenswert: Alles absolut
bestens bei mir, erschienen in der Edition Fünf, präsentiert zwölf Erzählungen von acht
finnischen Autorinnen. Sie schreiben von finnischen Frauen aus hundert Jahren, von
Frauen, die eigene Wege gehen, die einen Alleingang wagen und sich gegen gesellschaftliche Konventionen auflehnen. Das literarische Spektrum reicht von der Finnlandschwedin
Solveig von Schoultz, einer angesehenen Autorin des 20. Jahrhunderts nach der ein finnischer Literaturpreis benannt wurde, bis hin zu Rosa Liksom, die auch im deutschen Sprachraum sehr bekannt ist und deren Bücher in 20 Sprachen übersetzt wurden.
27 weitere neue Erzählungen aus Finnland finden sich in der soeben erschienenen
Anthologie Alles frisch, herausgegeben von Stefan Moster. Das Besondere an dieser Auswahl
ist, dass sowohl prominente, als auch relativ unbekannte Schriftsteller, die zum ersten
Mal ins Deutsche übersetzt wurden, vertreten sind. Auch das Cover ist richtig cool, im wahrsten Sinne des Wortes: Ein junges Mädchen schwebt lesend in einem Eisloch, daneben
ein Stapel Bücher im Schnee. Glücklicherweise hält der Inhalt des Buches, was das kongeniale
Cover verspricht – im coolen Finnland gibt es eine Menge cooler Geschichten.
Thomas Geldner
Büchereiperspektiven 3 (2014) S. 16; http://derstandard.at/2000007118664
Gerald-Leitner-Wir-stellen-nicht-nur-Buecher-bereit
2http://finnlandcool.fi/?m=201402&lang=de
3http://finland.fi/public/default.aspx?contentid=160077&contentlan=33&culture=de-DE
4http://www.taz.de/!146079/
5http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buchmesse/ehrengast-finnland/
literatur-aus-dem-buchmesse-gastland-finnland-13192484.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
6http://blog.buchmesse.de/2014/07/29/finnish-weird/
7http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-11/schriftstellerinnen-rosa-liksom-katja-kettu-sofi-oksanen-finnland
8http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/finnischer-triumph-1.18414700
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Besprechungen
Alles absolut bestens
bei mir
Gräfelfing: Edition Fünf 2014.
174 S.
Alles frisch
Neue Erzählungen aus Finnland
München: dtv 2014.
270 S.
Besprechungen–Belletristik
Septembernovelle
Johan Bargum
Macunaíma
Der Held ohne jeden Charakter
Mário de Andrade
Mário de Andrade
Macunaíma
Der Held ohne jeden Charakter
Aus dem brasilianischen Portug.
Berlin: Suhrkamp 2013.
219 S.
Milena Agus
Die Welt auf dem Kopf
Aus dem Ital.
München: dtv 2013.
199 S.
2013 wurde Brasilien bereits zum zweiten Mal als Ehrengast zur Frankfurter Buchmesse eingeladen. Anlässlich dieses Auftritts ist eine ganze Reihe von Werken der brasilianischen Literatur ins
Deutsche übersetzt worden, manche davon erstmals.
Zu den bemerkenswertesten Neuauflagen dieses «brasilianischen Bücherherbstes» zählt
Macunaíma. Der Held ohne jeden Charakter von Mario de Andrade (1893–1945). Dieses Buch, das
als Hauptwerk des brasilianischen Modernismus bezeichnet wird, ist ursprünglich 1928 erschienen und 1982 erstmals ins Deutsche übersetzt worden. Seine Bedeutung für die brasilianische
Literaturgeschichte ist nicht hoch genug zu schätzen, denn der Modernismus markiert den
Übergang zu einer völlig neuen Form des Schreibens in Brasilien. Zuvor hatten sich die Autoren
stets an den europäischen Vorbildern orientiert, nun gilt es, die eigene nationale Identität literarisch zu entdecken und zu definieren. Mario de Andrade bewerkstelligt dieses Vorhaben mit der
Hinwendung zu den Mythen und Tradi­tionen seines Landes, insbesondere zu jenen der indianischen Ureinwohner. In einem ganz eigenen, fast experimentell anmutenden sprachlichen Stil, der
sich an der Ausdrucksweise der einfachen Menschen orientiert, kreiert er einen modernen
Schelmenroman, der märchenhaft, schräg und äußerst komisch daherkommt.
Macunaíma vom Stamm der Tapanhumas wird tief im brasilianischen Urwald geboren, wo er
ein faules und sorgloses Leben lebt. Darüber hinaus stellt er allen möglichen Damen nach und
vermählt sich letztendlich mit Ci, einer Amazonenkriegerin und Mutter des Urwalds. Sie schenkt
ihm einen Glücksstein in Form eines Kaimans, der über besondere Kräfte verfügt. Doch der
Talisman geht verloren und Macunaíma muss seine vertraute Umgebung verlassen, um den Stein
wiederzufinden. Die Suche führt ihn in die Millionenstadt São Paulo, wo er mit den aberwitzigen
Sitten der modernen Welt konfrontiert wird. In dieser «Welt der Maschinen», die trotzdem
von allerlei mythischen Gestalten bevölkert ist, gibt es einen menschenfressenden Riesen, der
den kostbaren Stein gefunden und durch dessen Zauberkraft zu einem reichen Industriemagnaten geworden ist. Das kann Macunaíma natürlich nicht auf sich sitzen lassen…
Macunaíma ist kein einfaches Buch, man sollte sich Zeit nehmen und auf den Text einlassen.
Ist der Zugang aber einmal gefunden, wird man mit einem prächtigen Kaleidoskop von Geschichten, Mythen und Poesie belohnt.
Thomas Geldner
Die Welt auf dem Kopf
Milena Agus
Schauplatz des Romans Die Welt auf dem Kopf
von Milena Agus ist die Hafenstadt Cagliari auf
Sardinien. In einem alten Patrizierhaus wohnen
die Literaturstudentin Alice, der ehemals äußerst
erfolgreiche amerikanische Geigenvirtuose
Johnson und die Putzfrau Anna. Als Mr. Johnson
von seiner Frau verlassen und Anna seine Haushälterin wird, entwickelt sich zwischen den sehr
unterschiedlichen Bewohnern des Hauses eine
tiefe Freundschaft und Verbundenheit, zwischen
Mr. Johnson und Anna schlussendlich sogar
Liebe. Für Alice sind diese Menschen ihre Familie,
vor allem als Johnson Junior zusammen mit sei-
nem Sohn Giovannino in das Haus einzieht,
scheint ihr Leben eine glückliche Wendung zu
nehmen.
Milena Agus ist mit Die Welt auf dem Kopf
ein kurzweiliger und leicht zu lesender Roman
gelungen, der den/die LeserIn vor keine allzu
großen geistigen Herausforderungen stellt;
die 200 Seiten lassen sich mit ein bisschen gutem
Willen in einem Zug durchlesen. Wer auf der
Suche nach einer leichten Urlaubslektüre ist, wird
mit diesem Roman durchaus zufrieden sein,
Tiefgang darf man sich jedoch keinen erwarten.
Die teilweise recht oberflächliche Zeichnung der
Charaktere erschwert eine Identifizierung mit
diesen und die klischeehafte Konstruktion
der weiblichen Protagonistinnen (die sich vor
allem um ihre sexuelle Wirkung auf Männer sorgen) wird Feministinnen vermutlich missfallen.
Gleich vorweg, dieses Buch ist ein Glücksfall. Bereits nach wenigen Sätzen ist man mittendrin
in einer Geschichte, die einen nicht mehr loslässt und einen ungeheuren Sog entwickelt. Dabei
ist nicht einmal klar, um welches Genre es sich genau handelt. Ist es ein Krimi? Oder ein Liebesroman? Wahrscheinlich beides.
Genauso undefinierbar wie das Genre sind die Protagonisten dieser Geschichte – und das
macht sie auch so spannend. Erzählt wird von zwei älteren Herren, Olof und Harald, die gemeinsam eine Bootsfahrt durch die finnische Schärenlandschaft unternehmen. Doch nur Olof kehrt
von dieser Reise zurück, Harald ist verschwunden. War es ein Unfall oder ein Verbrechen, vielleicht sogar Mord? Wenn ja, welchen Grund hätte Olof gehabt, dem bereits todkranken Harald
etwas anzutun?
Diese Fragen muss Olof im ersten Teil des Buches der Polizei beantworten. Während des
Verhörs schildert er seine Sicht der Dinge und bald wird klar, dass die beiden durch eine Frau
miteinander verbunden sind. Elin war viele Jahre mit dem bodenständigen Handwerker Harald
verheiratet, bevor sie ihn für den smarten Banker Olof verlassen hat. Doch auch diese Beziehung ist nicht von Dauer, Elin wird nicht glücklich mit ihrem neuen Mann und kommt einige Zeit
später bei einem Autounfall ums Leben.
Im zweiten Teil des Buches erfolgt ein Perspektivenwechsel. Nun kommt Harald zu Wort,
und zwar in einem Brief, den die Polizei im Segelboot gefunden hat. Und seine Version unterscheidet sich beträchtlich von der seines ehemaligen Nebenbuhlers…
Es gibt Romane, die auf knapp hundert Seiten mehr erzählen als so manch dicker Wälzer.
Septembernovelle ist so ein Buch: alle großen Themen der Literatur – Liebe und Tod, Schicksal
und Religion – werden auf vergleichsweise wenig Seiten angesprochen ohne dass das Ganze
überladen wirkt. Sehr reizvoll sind auch der kunstvolle Aufbau – manche Kapitel sind sehr kurz und
wirken wie Prosaminiaturen –, die unterschiedlichen Erzählperspektiven sowie die klare und
lyrische Sprache.Septembernovelle ist ein echtes literarischen Kleinod: poetisch, tiefgründig
und unglaublich spannend. Der finnlandschwedische Autor Johan Bargum muss hierzulande
noch entdeckt werden. Aber den Namen sollte man sich merken.
Winter 2014/15
Hamburg: Mare 2014.
108 S.
Thomas Geldner
Das Fell der Tante Meri
Theodora Bauer
Drei Erzählstränge führen die LeserInnen durch
eine Geschichte, die in den letzten Kriegsjahren in
Wien beginnt und nach einer Zwischenstation
in Chile in einem kleinen österreichischen Dorf in
den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts endet.
Dort leben Tante Meri und Ferdl, die eigentlich
in keinem Verwandtschaftsverhältnis stehen, dennoch erbt Ferdl nach dem Tod der «Tante» eine
Menge Geld. Er beginnt daraufhin über die nicht
sehr innige Freundschaft zwischen seiner ebenfalls bereits verstorbenen Mutter und Tante Meri
nachzudenken. Die Gründe dafür werden in einer
zweiten Handlungsebene dargelegt: Ferdls Mutter hat als junge Frau im Zweiten Weltkrieg einen
hochrangigen SS-Offizier kennengelernt und eine
Affäre mit ihm begonnen. Als sie in den letzten
Kriegsmonaten schwanger wird, verschafft ihr
der SS-Mann gefälschte Papiere und bringt sie mit
dem neugeborenen Ferdl aufs Land. Dort treffen
sie auf Tante Meri, die Ehefrau des SS-Offiziers,
die sich fortan vor allem finanziell um die beiden
Martina Bednar
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Besprechungen
Johan Bargum
Septembernovelle
kümmert. Den Ehemann und Geliebten sehen
die beiden Frauen nach Kriegsende nicht wieder:
mit einer neuen Identität hat er sich nach Chile
abgesetzt und versucht dort Fuß zu fassen – davon
berichtet die dritte Geschichte.
Die allmähliche Zusammenführung der drei
­Erzählstränge liest sich spannend und kurzweilig.
Die erst 1990 in Wien geborene Autorin Theodora
Bauer präsentiert einen kunstfertigen, kritischen
und unterhaltsamen Debütroman. Die LeserInnen
werden von Kapitel zu Kapitel wissender und
doch bleibt ihnen – wie auch dem Protagonisten
Ferdl – eine endgültige Erklärung versagt, man
wird dazu angehalten eigene Schlüsse zu ziehen.
Vokabel wie «Löfferl», «Bub» und «Pyjama»
erfreuen österreichische LeserInnen (auch wenn
sich der Ausdruck «Pfütze» dazwischen schwindelt), am deutschen Buchmarkt würden sie
wohl eher Erstaunen hervorrufen. Der umgangssprachliche Schreibstil ist Geschmackssache
und erinnert unter anderem an den Krimistil von
Wolf Haas. Das Fell der Tante Meri entzieht sich
aber solchen Kategorisierungen, das Buch ist
weder Heimatroman noch Österreich-Krimi; in
jedem Fall ist es ein gelungenes Stück junge
österreichische Literatur.
Katharina Zucker
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Belletristik
Theodora Bauer
Das Fell der Tante Meri
Wien: Picus Verlag 2014.
199 S.
Cold Hard Love
Frank Bill
suhrkamp nova
cold
hard
love
Frank
Bill
Stories
Frank Bill
Cold Hard Love
Aus dem Amerikan.
Berlin: Suhrkamp 2012.
268 S.
Nadja Bucher
Die wilde Gärtnerin
Wien: Milena 2013.
349 S.
In den Kurzgeschichten von Cold Hard Love geht
es nicht gerade beschaulich zu: Gewalt und Mord
sind an der Tagesordnung, es wird geprügelt,
geschossen und gewürgt. Betrunkene Jäger und
Polizisten, Süchtige und Gangster, Kriegsheimkehrer und Familienpatriarchen geben sich ein Stelldichein. In den Texten eskaliert ein Versicherungsbetrug ebenso wie der Streit um einen gestohlenen
Hund oder ein Familienzwist schnell zu einer
Gewaltorgie, Sicherheit und Hoffnung gibt es in
der rauen Welt von Southern Indiana nicht.
Cold Hard Love aus dem Jahr 2011 ist das
jetzt übersetzte Debütwerk von Frank Bill, einem
Vertreter der sogenannten Grit Lit (abgeleitet
vom englischen gritty – wirklichkeitsnah, ungeschminkt, hart). Unter dieser losen Definition
werden Texte subsumiert, die das harte Leben
in den ländlichen, von Arbeitslosigkeit, Brutalität
und Verfall geprägten, südlichen Gebieten der
usa beschreiben.
Auch Frank Bills Geschichten fügen sich in
diesen Rahmen ein, seine Texte sind kurze,
bewusst stilisierte Einblicke in eine grausame
Welt. Die einzelnen Kurzgeschichten sind
lose durch vorkommende Personen verbunden,
die Gemeinsamkeiten sind jedoch vor allem
thematischer Natur: dysfunktionale Familien
und Beziehungen, unverarbeitete Kriegstraumata,
die alles bestimmende Drogensucht und Armut
sind omnipräsent und verknüpfen die Texte.
Der Autor nimmt sich bei seinen Schilderungen
kein Blatt vor den Mund, die Gewaltdarstellungen
sind drastisch, tendenziell überzeichnet – ein
Etikett, das sicherlich nicht nur die Sprache,
sondern alle Facetten des Werks gut beschreibt.
Für nicht allzu zart besaitete Leserinnen
und Leser durchaus empfehlenswert.
Bernhard Pöckl
Die wilde Gärtnerin
Nadja Bucher
Sorj Chandalon
Rückkehr nach Killybegs
Aus dem Franz.
München: dtv 2013.
312 S.
In Die wilde Gärtnerin beschreibt die junge, aus
der Poetry Slam-Szene bekannte Nadja Bucher
Strategien zur Bewältigung der aktuellen Krise,
in der die Politik das Primat über die Wirtschaft
verloren hat. Man kann sich in den eigenen Garten
zurückziehen, wie das Helen nach dem Unfalltod ihres geliebten Gefährten Leo getan hat, die
Wohnung und Garten höchstens für einen Besuch
bei ihrer Freundin Toni verlässt. Man kann aber
auch Terroristin werden, wie Berta, die junge Frau,
die in die Wohnung gegenüber von Helen ein.
gezogen ist. Männer spielen in diesem Buch mit
Ausnahme von Leo keine oder zumindest
keine sympathische Rolle. In einem zweiten Erzählstrang schildert Nadja Bucher die Familiengeschichte Helens zurück bis in die k.u.k-Zeit;
so ist das Buch auch ein klein wenig eine Geschichte Österreichs, gut recherchiert und
packend geschrieben.
Diese Autorin kann wunderbar erzählen: es
ist keine hochliterarische Sprache, die Nadja
Bucher verwendet, umso autentischer wirken ihre
Dialoge und Milieuschilderungen.
Ein ausgesprochen gut und leicht lesbarer
Roman, nicht nur für leidenschaftliche GärtnerInnen, sondern auch für all jene, die sich auf
unterhaltsame Art und Weise mit unserer aktuellen Wirtschafts- und Gesellschaftssituation
und alternativen Lebensweisen auseinandersetzen wollen.
Christian Jahl
Rückkehr nach Killybegs
Sorj Chandalon
Der Franzose Sorj Chalandon berichtete als Journalist drei Jahrzehnte lang von internationalen
Krisenherden und gilt als anerkannter Fachmann
für den Nordirlandkonflikt; im vorliegenden Werk
bearbeitet er das Thema belletristisch.
2006 kehrt der 81-jährige Tyrone Meehan an
den Ort seiner Kindheit, Killybegs in Nordirland,
zurück, wo er die Rache seiner Kameraden aus
der ira erwartet.
1942, nach dem frühen Tod des Vaters, übersiedelt die Familie vom Land nach Belfast, wo
der 17-jährige Tyrone einer Jugendorganisation
der ira beitritt. Bedingungslos setzt er sich für
die Anliegen der Bewegung ein und erkämpft sich
schließlich einen Platz an der Führungsspitze.
Doch 2006 wird der ranghohe Kämpfer als Spion
des verhassten Gegners Großbritannien enttarnt.
Der britische Geheimdienst mi5 erpresst den
Iren mit einem dunklen Geheimnis aus dessen
Kämpfervergangenheit. Mit diesem Ereignis
möchte sich Tyrone in der ländlichen Abgeschiedenheit auseinandersetzen und seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen verständlich machen,
wie und warum es zu seinem folgenschweren
Verrat kommen konnte.
Der Autor, der viele Jahre mit einem führenden
ira-Kämpfer befreundet war, lässt seinen Protagonisten eine Rückschau auf ein Leben voller
Höhen und Tiefen abhalten und eine durchwegs
kritische Bilanz ziehen. Ergebnis ist eine sehr
ehrliche, aufrüttelnde und unsentimentale Biographie, die für den strahlenden Helden von einst
ein tragisches Ende bereithält. Chandalons klarer,
schnörkelloser Stil verleiht der Geschichte Authentizität und vermag dennoch – oder gerade deswegen – Betroffenheit hervorzurufen. Rückkehr
nach Killybegs ist kein Agententhriller, sondern ein
profundes Stück europäischer Zeitgeschichte.
Das Böse im Blut
James Carlos Blake
Florida, 1842: Die durch eine familiäre Katastrophe zu Waisen gewordenen Brüder Edward und
John beschließen, sich in Texas eine neue Existenz aufzubauen. Auf ihrem Weg in den Westen
werden die beiden jedoch in New Orleans getrennt und finden sich schließlich auf unterschiedlichen Seiten im Amerikanisch-Mexikanischen Krieg wieder.
Die Western-Literatur ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, als ihr Vater gilt James Fenimore
Cooper mit seinen Lederstrumpf-Romanen – und bis vor wenigen Jahren schienen diese auch
den literarischen Höhepunkt des Genres zu markieren. Der klassische Western zeichnet sich
durch ein relativ starres Inventar von Stilmitteln, Protagonisten, Handlungssträngen und Themen
aus. Zentrale Motive sind die «Frontier», die Grenzerfahrung im buchstäblichen Sinne, und die
sogenannte «Regeneration through Violence», der Glauben daran, dass sich Amerika durch
ständigen Kampf und Gewalt erneuere und verbessere. Die Fronten in diesem Kampf sind klar
gezogen, die traditionelle Gut-Böse-Dichotomie erfuhr zwar im Lauf der Zeit Umdeutungen
(Indiander als «edle Wilde», Weiße als brutale Kolonisatoren), wurde aber selten aufgebrochen.
Gewalt gibt es auch bei Blake zur Genüge: Menschen werden auf alle vorstellbaren und
auch unvorstellbaren Arten zu Tode gebracht – erschossen, erstochen, erschlagen, verbrannt,
bei lebendigem Leib gehäutet, ausgeweidet, skalpiert, gepfählt – die der Autor leider mit viel
Liebe zum Detail schildert. Nach all dem sinnlosen Gemetzel und Leiden sehnt sich der Leser umso mehr nach einem erlösenden Happy End – und soviel sei verraten, das Hoffen ist vergeblich.
Es greift allerdings viel zu kurz, den Roman auf diese, wiewohl sehr eindrücklichen, Grausamkeiten zu reduzieren. Blake schreibt den zentralen Westernmythos, die zwar gewaltsame aber
glanzvolle Geburt einer Nation, in Grund und Boden. Nichts an den hier geschilderten Kämpfen
ist glorios, übermenschlich, einer höheren Sache verpflichtet; Antriebskräfte sind auf allen Seiten
niedrige menschliche Instinkte, vor allem anderen die menschliche Gier nach materiellem
Reichtum. Natürlich ist diese Interpretation nicht gänzlich neu, vor Blake haben sich bereits
Autoren wie Cormac McCarthy (Die Abendröte im Westen, 1996) um die Erneuerung des Genres
verdient gemacht hat. Das Böse im Blut ist aber nicht nur ein akribisch recherchierter, auf
historischen Tatsachen beruhender Western Noir, Blake ist vor allem ein Schreiber von alttestamentarischer Wucht. Ein Buch wie ein Faustschlag, das den Leser im wahrsten Sinne atemund fassungslos zurücklässt.
James Carlos Blake wurde 1947 in Mexiko geboren, nach langjähriger Unterrichtstätigkeit
am College lebt er heute als freier Schriftsteller in Arizona. Das amerikanische Original In
the Rogue Blood erschien bereits 1997 und wurde mit dem Los Angeles Times Book Prize for
Fiction ausgezeichnet.
Monika Reitprecht
Stromschnellen
Bonnie Jo Campbell
Die knapp sechzehnjährige Margot beschließt
nach einer familiären Tragödie alleine und im Einklang mit der Natur auf dem Stark River zu leben.
Doch die vermeintliche Freiheit und Unabhängigkeit hat ihren Preis: Margot wird in kriminelle
Machenschaften verstrickt und tötet schließlich
sogar, um selbst zu überleben. Letztendlich muss
Margot erst zu sich selbst finden, um den Wert
des Lebens richtig schätzen zu können.
Die 1962 geborene Autorin wuchs auf einer
kleinen Farm im Herzen Michigans auf. Ihre Kurzgeschichten mit zumeist weiblichen Heldinnen
wie z.B. Women and other Animals oder American
Salvage wurden für diverse Literaturpreise
nominiert und auch mehrfach ausgezeichnet.
Ingrid Sieger
8
Besprechungen
Winter 2014/15
9
Belletristik
James Carlos Blake
Das Böse im Blut
Aus dem amerikan. Engl.
München: Liebeskind 2013.
448 S.
Bonnie Jo Campbell
Stromschnellen
Aus dem Engl.
München: Piper 2013.
397 S.
Mehr Informationen zur Autorin, die auch
regelmäßig bloggt und twittert, können interessierte LeserInnen auf ihrer Webseite nachlesen,
wo sich auch eine skizzierte Landkarte mit der
Umgebung des Stark River und den wichtigsten
Schauplätzen der Geschichte finden lässt. Leider
wird diese Landkarte nicht im vorliegenden
Werk abgedruckt bzw. mitgeliefert, denn sie gibt
Aufschluss über die ungeheure Dimension des
Flusses und den damit verbundenen Herausforderungen für die Protagonistin. Darüber hinaus
ist das Cover der deutschsprachigen Ausgabe
leider ein wenig reißerisch ausgefallen, es zeigt
eine junge Frau in Westernhemd und Cowboyhut
mit Gewehr im Anschlag; eventuell eine Anlehnung an die von Margot verehrte Kunstschützin
Annie Oakley.
Alles in allem trotz gewisser Längen ein
mitreißender Roman mit sehr plastischen Naturbeschreibungen, bei dem man nebenbei viel
Wissenswertes über die Flora und Fauna des ländlichen Michigan lernen kann. Allerdings braucht
man einen wirklich guten Magen, wenn man bei
der Tötung, Häutung und Ausweidung der diversen erlegten Tiere hautnah dabei ist.
Martina Lammel
Fische schließen nie die Augen
Erri De Luca
Erri De Luca
Fische schließen nie die Augen
Aus dem Ital.
München: Graf 2013.
148 S.
Andrea Drumbl
Narziss und Narzisse
Wien: Edition Atelier 2014.
143 S.
Es ist ein Sommer in den 1960er Jahren, der zehnjährige Protagonist verbringt seine Ferien auf
einer Insel im Golf von Neapel. Zunächst passiert
nicht viel, der Junge ist schweigsam, zurückgezogen und sucht keinen Kontakt zu Gleichaltrigen;
auch das etwas ältere Mädchen, das am Strand
Krimis liest, spricht er nicht an. Sie ist es schließlich, die diesen Schritt setzt und damit die Handlung des Buches ins Rollen bringt. Plötzlich sehen
die anderen Buben in dem Einzelgänger einen
Feind, einen Konkurrenten um das Mädchen, und
da auch sie keine Freunde großer Worte sind,
sprechen bald die Fäuste. Und wieder ist es das
Mädchen, die handlungsbestimmend eingreift
und die Wogen glättet – schließlich kommt der
Junge zu seinem ersten Kuss.
Erri De Luca ist ein in seiner Heimat Italien
populärer Autor, einige seiner Werke wurden auch
ins Deutsche übersetzt. 1950 in Neapel geboren,
ging er mit 19 Jahren nach Rom um sich politisch
auf Seiten der Linken zu engagieren. Sein Geld
verdiente er in dieser Zeit als Arbeiter bei Fiat, als
Maurer und als lkw-Fahrer. Im Selbststudium
brachte er sich Althebräisch bei, um Teile des
Alten Testaments übersetzen zu können. Erst mit
vierzig Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch.
Der vorliegende Roman ist eine autobiographische Kindheitserinnerung. De Luca schildert
aus der Perspektive des Erwachsenen, in der
Ich-Form geschrieben, ein Ferienerlebnis. Die
Erzählung wird immer wieder durch Reflexionen
über das Schreiben und weitere Ereignisse seines Lebens unterbrochen.
Die Beschreibung jenes Feriensommers ist trotz
der klaren, nüchternen Sprache sehr stimmungsvoll – das Buch bietet einen atmosphärisch dichten
Einblick in das Italien der beginnenden 60er Jahre.
Georgia Latzke
Jean Echenoz
14
Aus dem Franz.
München: Hanser 2014.
124 S.
10
Besprechungen
Narziss und Narzisse
Andrea Drumbl
Narziss und Narzisse ist der zweite Roman von
Andrea Drumbl.
Die österreichische Autorin erzählt darin die
ausgesprochen unheilvolle Geschichte der Familie
Rosenblüm. Im Mittelpunkt steht das verhängnisvolle Schicksal von Gisela und Jakob, den Eltern
von Judith und Nurit. Als Nurit stirbt, wird die
Mutter Gisela depressiv und muss in die Nervenheilanstalt. Schlussendlich verlässt Jakob die
Familie und gibt Judith in die Obsorge von Bekannten. Drumbl verflicht kunstvoll die Geschichten der einzelnen Protagonisten, aus den Überlebenden zweier Familien entsteht eine neue
Familie und am Ende gibt es sogar ein kaum für
möglich gehaltenes Happy End.
Die Sprache der Autorin ist klar und unpathetisch, dennoch – oder vielleicht gerade deswegen –
so unglaublich intensiv, dass es einem manches
Mal geradezu die Sprache verschlägt. Der kurze
Roman vermag mitzureißen und gleichzeitig
traurig und hoffnungsvoll zu stimmen; auf nur
143 Seiten spielt Drumbl virtuos auf der kompletten Klaviatur der Gefühle. Ein grandioser, zutiefst gefühlvoller und hochliterarischer Roman,
der nachhaltig beeindruckt.
Rudolf Kraus
14
Jean Echenoz
Der 1947 in der Provence geborene Autor Jean
Echenoz war bis zum Erscheinen seines aktuellen
Romans 14 nur einer kleinen Leserschaft bekannt, obwohl er bereits 1999 für seinen Roman
Ich gehe jetzt den bekanntesten und renommiertesten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt,
erhielt. Sein Bekanntheitsgrad hat sich wohl mit
seinem jüngsten Roman schlagartig erhöht. 14 ist
einer der zahlreichen Publikationen die anlässlich des Gedenkjahrs 2014 (100 Jahre Erster Weltkrieg) erschienen.
Im Zeitraffer schildert Echenoz, wie fünf
Männer den Beginn und den Verlauf des Ersten
Weltkriegs erleben. Um welchen Krieg es sich
konkret handelt, scheint jedoch sekundär: bis auf
wenige Hinweise auf den historischen Kontext
stehen die Einzelschicksale der Protagonisten im
Vordergrund. Nicht alle überleben den großen
Krieg, unversehrt bleibt niemand. Insbesondere
die Beiläufigkeit und der scheinbar nicht oder nur
kaum individuell beeinflussbare Fortgang der
Ereignisse zeichnen den Roman aus. Bis auf eine
Ausnahme eint die Männer eine gewisse Passivität, die den Eindruck der Existenz einer höheren
Winter 2014/15
Gewalt verstärkt. Diese Passivität setzt sich auch
nach Ende des Krieges fort, diesmal aber wohl aus
anderen Gründen: wofür lohnt es sich nach dieser Hölle noch zu kämpfen?
Der Titel kann nicht nur im Jubiläumsjahr
2014 der Leserschaft guten Gewissens empfohlen
werden: Echenoz beweist, dass es möglich ist,
einen Weltkrieg auf wenigen Seiten eindrücklich
zu schildern, sein Buch ist zwar rasch gelesen,
wirkt aber noch lange nach.
Katharina M. Bergmayr
Falsches Spiel
Giorgio Faletti
Silvano «Silver» Masoero ist Trikotwart bei ­
einem zweitklassigen italienischen Fußballklub.
Einst ein vielversprechendes Boxtalent, musste
er für einen geschobenen Kampf ins Gefängnis.
Seine Frau ist mittlerweile gestorben, das Verhältnis zu seinem Sohn, dem Profifußballer Roberto
ist distanziert. Als Silvano durch Zufall auf eine
geplante Spielmanipulation, in die auch sein Sohn
verwickelt zu sein scheint, stößt, ist die fragile
Vater-Sohn-Beziehung noch mehr gefährdet. Der
alte Boxer versucht, seinen Sprössling davor zu
bewahren, seinen eigenen Fehler zu wiederholen.
Falsches Spiel ist der sechste Roman des bekannten italienischen Schriftstellers und Komponisten Giorgio Faletti und im Gegensatz zu seinen
früheren Werken ein schmales Buch. Als Hintergrund der Vater-Sohn-Geschichte wählt Faletti ein
eher unverbrauchtes Thema – den Profifußball
und dessen Schattenseiten, Spielmanipulation und
Wettbetrug. Der sprachlich solide Roman konzentriert sich dabei vor allem auf die Stunden rund
um das entscheidende Spiel um den Aufstieg, in
kurzen Rückblenden wird auf Silvanos Vergangenheit eingegangen. Faletti gelingt es, die Spannung,
die über dem entscheidenden Match liegt, einzufangen und den Lesenden zu vermitteln. Gleichzeitig zeichnet er ein soziales Panorama
des Spielbetriebs fernab der millionenschweren
Stars, beschreibt die Hoffnung und die Gier nach
Geld und gesellschaftlichem Aufstieg. Mit der
Plausibilität der Handlung nimmt es der Autor
nicht so genau, der Zufall spielt im Text eine große Rolle. Was einem längeren Roman sehr zum
Nachteil gereichen würde, ist bei diesem Werk zu
verschmerzen. Auch die willkürliche Übersetzung
des italienischen Titels ist wohl den Verkaufszahlen geschuldet, bezieht sich aber zumindest
auf den Text.
Mit Falsches Spiel legt Giorgio Faletti einen
kurzen, unterhaltsamen Roman mit kleinen Schwächen vor, der auch KrimileserInnen gefallen
dürfte und getrost als Lektüre für Zwischendurch
empfohlen werden kann
Bernhard Pöckl
11
Belletristik
Kings of Nowhere
T. J. Forrester
Kann der Mensch sich ändern? Die junge Wissenschaftlerin Simone sagt nein, sie glaubt fest an
genetische Codes, die jedem Individuum von Geburt an quasi eingebrannt sind und das weitere
Leben maßbeglich bestimmen. Dabei hätte
Simone eine Veränderung bitter nötig: sie leidet
unter dem zwanghaften Drang, Menschen aus
großer Höhe in die Tiefe zu stoßen. Unglücklicherweise hat sie dieser Neigung schon einige
Male nachgegeben …
Simone befindet sich auf dem Appalachian Trail,
der mit etwa 3500 Kilometern zu den längsten
Weitwanderwegen der Welt gehört. Der Weg führt
von Georgia im Süden der Vereinigten Staaten bis
hinauf nach Maine, hart an der Grenze zu Kanada.
So wie Simone sind noch andere Typen auf dem
Trail unterwegs: Da wäre etwa Taz, ein ehemaliger
Junkie, der gerade aus dem Gefängnis entlassen
wurde und durch das Wandern wieder Klarheit in
sein Leben bringen will. Oder Richard, ein angeblicher Halbindianer, der von seinem Alkoholproblem loskommen möchte. Sie alle träumen davon,
in ihrem Leben noch einmal so richtig durchzustarten und sind bereit, dafür auch beträchtliche
körperliche Strapazen in Kauf zu nehmen.
Kings of Nowhere erzählt aber nicht nur von diesen drei Protagonisten, sondern auch von anderen
Menschen, die mit dem Trail und den Wanderern
auf die eine oder andere Art verbunden sind.
Dadurch wirkt der Roman manchmal wie eine
Ansammlung von Kurzgeschichten, die zwar lose
miteinander verbunden sind, andererseits aber
auch genauso gut für sich selbst stehen könnten.
Die Geschichten handeln zumeist von ziemlich
schrägen Typen, die sich in teilweise bizarren
Situationen befinden. Mit der Zeit wird es auch
richtig brutal, sodass nach und nach der Eindruck
entsteht, der Appalachian Trail wäre mit Leichen
gepflastert. Das kommt nun doch ein wenig
übertrieben rüber, genauso wie etliche Klischees,
die leider immer wieder bedient werden.
Dennoch: T. J. Forrester ist ein erzählerisches
Talent und das Buch trifft einen Nerv unserer Zeit.
Es spricht Themen an, die die Menschen von
heute interessieren. Pilgern ist angesagt, ebenso
Selbstfindungtrips, und entsprechende Bücher
und Reiserouten boomen. Und wenn das Ganze
auch noch so gut geschrieben ist wie Kings of
Nowhere, dann soll es uns recht sein.
Thomas Geldner
Giorgio Faletti
Falsches Spiel
Aus dem Ital.
München: Goldmann 2014.
158 S.
T. J. Forrester
Kings of Nowhere
Aus dem amerikan. Engl.
Berlin: Blumenbar 2013.
236 S.
Karl-Markus Gauß
Das Erste, was ich sah
Wien: Zsolnay 2013.
107 S.
Paolo Giordano
Der menschliche Körper
Aus dem Ital.
Hamburg: Rowohlt Verlag 2014.
411 Seiten.
Andrew Sean Greer
Ein unmögliches Leben
Aus dem amerikan. Engl.
Frankfurt am Main: S. Fischer 2012
317 S.
Das Erste, was ich sah
Der menschliche Körper
Karl-Markus Gauß
Paolo Giordano
Schriftsteller sind berufsbedingt meist mit dem
Erzählen von Dingen und Begebenheiten oder mit
der Beschreibung von Charakteren beschäftigt.
Manchmal aber kehren sie ihr Inneres nach außen,
sodass sie selbst, ihr Leben und dessen Entwicklung Gegenstand der Betrachtung werden. Eine
lineare Lebensbeschreibung, in der auch noch das
irrelevanteste Detail als schicksalsbestimmend
angeführt wird, setzt sich mit Recht dem Verdacht
des Gekünstelten aus, verläuft doch ein Leben,
und erst recht ein Künstlerleben, selten geradlinig ohne Brüche oder Einschnitte. Karl-Markus
Gauß vermeidet diesen Fehler, indem er einen
anderen Ausgangspunkt wählt. Seine Erzählung ist
nicht strikt chronologisch, es werden keine Jahreszahlen erwähnt, man weiß nur, dass es um Familie Gauß im Salzburg der Nachkriegszeit geht.
Zeitangaben beschränken sich auf die Erwähnung
einzelner Wochentage und Tageszeiten.
Gauß kümmert sich nicht um Tabellarisches
oder Kalendarisches, das Feststell- und Fixierbare
interessiert ihn nicht, wohl aber das vermeintlich
Unscheinbare, das flüchtig Hingeworfene. So
kommt es, dass er seine Kindheit eher szenenartig
ins Wort bringt; er zieht sozusagen Proben aus
seine Entwicklung und präsentiert uns die prägendsten und denkwürdigsten. Schlüsselereignisse
werden meist erst später als solche wahrgenommen. Die Aufgabe eines Autors besteht darin,
solche Ereignisse festzuhalten, wie es Gauß mit
Blick auf den Stellenwert der Literatur tut: «Die
Welt bestand aus Büchern und richtigen Büchern.
Ich lernte erst lesen, da wusste ich bereits, dass
es eine Hierarchie der schriftlichen Werke zu
beachten galt. Bücher waren etwas für gewöhnliche Leute, die lasen, um sich zu zerstreuen oder
die Zeit zu vertreiben, und daran war nichts
Schlechtes. Die richtigen Bücher aber wurden
nicht gelesen, damit man der Langeweile entrinne oder Trost im Unglück finde, sondern um
sich einer edlen Anstrengung zu unterziehen und
unerschrocken dem menschlichen Schicksal
zu stellen.»
Gauß spürt das auf, was ihn nachmalig geprägt,
was ihm zu denken gegeben hat. Die geschilderten
Erlebnisse sind keine Suche nach der verlorenen
Zeit, weil eben das Prägende in Gauß weiterhin
wirkt und sich entfaltet. Daher hat er auch keinen
Grund, dieser Zeit nachzutrauern, wie dies nicht
selten geschieht. Nach der Lektüre sieht man
einen Autor, der sein Leben in Verantwortung und
Großmut annimmt.
Bereits mit seinem Debüt Die Einsamkeit
der Primzahlen gelang dem Turiner Autor Paolo
Giordano der internationale Durchbruch. In
seinem aktuellen Buch widmet er sich dem Truppendasein italienischer Soldaten in Afghanistan.
Im Hauptquartier, einem abgelegenen, von
Sandödnis umgebenen Stützpunkt, verbringen
die jungen Männer zunächst ihre Zeit mit kleinen
Aufträgen, Erkundungsfahrten, Kartenspielen
und Erotik-Chats. Die Zeit der relativen Untätigkeit findet ein jähes Ende als die Ermordung
und Verstümmelung eines afghanischen lkwFahrers die Kompanie zu einem gefährlichen Einsatz zwingt: in einem Begleit-Konvoi sollen sie
die restlichen afghanischen Fahrer durch ein enges, von der Taliban kontrolliertes Tal nach Hause
geleiten. Tatsächlich gerät die unerfahrene
Truppe in einen tödlichen Hinterhalt …
Paolo Giordano hat seinem Roman ein Zitat aus
Remarques Im Westen nichts Neues vorangestellt.
Auch hinsichtlich Struktur und Aufbau scheint dieser weltbekannte (Anti-)Kriegsroman wichtiges
Vorbild für den jungen Autor gewesen zu sein. Wie
Remarque erzählt er aus unterschiedlichen
Perspektiven, wechselt immer wieder die Zeitebenen und vermag es doch einen packenden
Handlungsbogen zu schaffen. Besonders die vielschichtige Beschreibung der Charaktere ist gelungen. Da wäre unter anderen Alessandro Egitto,
der Militärarzt, der heimlich Medikamente
nimmt, oder der Feldwebel Antonio René, der zu
Hause ein Doppelleben als Callboy führt, oder
der naiv-sensible Ietri, der in der größten Gefahr
überraschenden Mut zeigt. Giordano beschreibt
subtil das komplexe Gefüge der Truppe und die
gruppendynamischen Prozesse. Ohne Werturteile
abzugeben, zeigt er, was der Krieg aus den Soldaten macht, zeigt wie Scham und Empörung
schwinden: «Viele Merkmale, die den Menschen
vom Tier unterscheiden, sind nicht mehr wieder
zu erkennen,» sagt Egitto an einer Stelle.
Ein lesenswerter, packender Roman, der die
Lesenden länger nicht mehr los lässt.
Andreas Agreiter
12
Besprechungen
Daniela Raunig
Ein unmögliches Leben
Andrew Sean Greer
Greta Wells ist in einer Zeitschleife gefangen.
Alles beginnt mit einer Elektroschockbehandlung
im Jahr 1985: sie stellt fest, dass sie abwechselnd
in die Jahre 1918, 1941 und 1985 katapultiert wird.
Zu jeder Zeit gibt es eine Greta im gleichen Alter,
aber die Umstände um sie herum sind anders.
Winter 2014/15
1941 hat sie einen Sohn, 1918 einen jungen Verehrer, 1985 ist ihr Zwillingsbruder Felix tot. Greta
Wells muss auf ihren Reisen durch die Zeit
schmerzlich feststellen, dass sie in keinem Jahr
das angestrebte Leben führen kann. So sehr sie
sich bemüht, die richtige Zeit für ein richtiges
Leben zu finden, es geschieht immer Unvorhergesehenes. Ihre größte Motivation ist die Liebe
zur Nathan, ihrem Ehemann bzw. Lebenspartner
zu jeder Zeit. In den 1980er Jahren betrügt und
verlässt er sie und so ist es nur allzu verständlich,
dass Greta im wahrsten Sinne des Wortes andere Zeiten herbeisehnt. Was kann sie tun, um die
erste Liebe zu halten? Wie kann sie verhindern,
dass ihr geliebter Zwillingsbruder Felix stirbt? Wie
kann sie ihn vor einem falschen Leben in einer
Ehe mit einer Frau retten und mit dem Mann verkuppeln, der irgendwann seine große Liebe wird?
Viele Moralvorstellungen und Prinzipien muss
Greta auf ihrer Reise durch die Zeit zurücklassen.
Auch sie wird zur Ehebrecherin und verliebt sich
in einen jungen Mann. Doch ist das nicht die
andere Greta? Schließlich gibt es insgesamt drei
Versionen ihrer Person, die nach jeder Elektroschockbehandlung ihren Platz in der Geschichte
tauschen.
Andrew Greers aus der Sicht einer Frau geschriebener Roman bringt vieles auf den Punkt.
«Nennt sie mir also, meine Herren, nennt mir Zeit
und Ort, wo es leicht ist, eine Frau zu sein.» Ein
tolles Buch, das das Motiv der Identitätsfrage und
des «Was wäre wenn» in eine originelle und
spannende Geschichte verpackt.
Verena Brunner
Eine Ahnung vom Anfang
Norbert Gstrein
Anton, Lehrer in einer österreichischen
Provinzstadt und Ich-Erzähler, trägt schwer an der
Erinnerung an seinen jüngeren Bruder Robert,
der als Jugendlicher Selbstmord begangen hat. Roberts Bücher verborgt der Lehrer später
an seinen Lieblingsschüler Daniel, mit dem ihn ein
bemerkenswerter Sommer verbindet: nach dem
Schulabschluss verbringt Daniel mit einem Freund
und Anton die Zeit in dessen altem Haus am Fluss
mit lesen, baden und diskutieren. Als die Kleinstadt zehn Jahre später mit zwei Bombendrohungen konfrontiert wird, fällt der Verdacht auf
Daniel, der bereits zu Schulzeiten durch religiösen
Übereifer aufgefallen war. Es wird die Frage nach
der Verantwortung des Lehrers für eine solche
Entwicklung seines Schülers aufgeworfen; mancherorts wird die Vermutung geäußert, Anton
selbst könne der Verfasser der Bombendrohungen
sein. Zusätzlich schwelen Gerüchte über eine
homoerotische Beziehung zwischen Schüler und
Lehrer.
13
Belletristik
Norbert Gstrein berührt viele Themen in seinem Roman: von der persönlichen Verantwortung
des Lehrers für seine Schüler über das (emotionale) Eingesperrt-Sein in der Enge des Kleinstadtgefüges bis zum Fremdsein in Istanbul, wo der
Lehrer eine Zeitlang lebt und unterrichtet, bis hin
zum Fremdenhass und dem Konflikt zwischen
Israelis und Palästinenser. Doch der Autor bleibt
oft auf der Ebene des Atmosphärischen, Angedeuteten und lässt den LeserInnen einigen Raum für
Interpretationen. Das ergibt einen langsamen,
sprachlich schön gearbeiteten Roman, der sich oft
auf die Analyse eines Blickes oder einer Handbewegung, auf die Interpretation einer Aussage
konzentriert.
Katharina Zucker
Haus aus Erde
Woody Guthrie
Woodrow Wilson «Woody» Guthrie wurde 1912
in Oklahoma geboren und war Zeit seines Lebens
politisch aktiv. Als linker Liedermacher, der sich
für die Rechte sozial Benachteiligter einsetzte,
beeinflusste er nachfolgende Generationen von
Folksängern und Liedermachern maßgeblich.
Dankenswerter Weise hat der US-amerikanische Schauspieler Johnny Depp gemeinsam mit
dem Historiker Douglas Brinkley nun die Veröffentlichung des einzigen Romans Woody
Guthries veranlasst.
Haus aus Erde erzählt die (Liebes-)Geschichte
von Ella und Tike, einem verarmten Farmerehepaar, das ein Leben am Rande des Existenzminimums führt, vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre. Die beiden leben
in der texanischen Staubebene in einem verrotteten Haus, besitzen ein paar Tiere und ringen
dem kargen Boden mehr schlecht als recht ihren
Lebensunterhalt ab.
Doch wer nun literarische Sozialkritik im
Brechtschen Stil erwartet, wird enttäuscht werden,
Guthrie lässt den Klassenkämpfer in sich außen
vor. Im Vordergrund steht die Beziehung von Ella
und Tike, die Guthrie sehr anschaulich schildert –
auch vor expliziten Sexszenen macht er nicht halt.
Guthrie ist ein wirklich starkes Stück Literatur
gelungen, fast möchte man John Steinbeck als
Referenz zitieren. Vor allem beeindruckt immer
wieder die großartige, sehr direkte Sprache in der
diese archaische Geschichte erzählt ist.
Peter Hörschelmann
Norbert Gstrein
Eine Ahnung vom Anfang
München: Carl Hanser Verlag 2013.
349 Seiten.
Woody Guthrie
Haus aus Erde
Aus dem amerikan. Engl.
Köln: Bastei Lübbe 2013.
302 S.
Gertraud Klemm
Herzmilch
Graz: Droschl 2014.
237 S.
Herzmilch
Arbeit und Struktur
Gertraud Klemm
Wolfgang Herrndorf
Herzmilch ist eine Coming-of-Age-Geschichte: ein kleines Mädchen wächst in einer großbürgerlichen Familie auf, die einen ehrwürdigen Gründerzeitaltbau im Speckgürtel von Wien bewohnt.
Die junge Ich-Erzählerin ist etwas anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen und interessiert
sich so gar nicht für die Dinge, die gleichaltrige Mädchen faszinieren. Stattdessen spielt sie lieber
mit den Buben oder ist in der freien Natur unterwegs, wo sie mit Vorliebe Wasserkäfer oder
ähnliches Getier studiert.
Schon bald bemerkt das kleine Mädchen, welche Rolle die Frauen in ihrer Welt spielen und
zu spielen haben; sie bemerkt die Doppelbelastung der Mutter, die nicht nur den ganzen Haushalt
schaukeln, sondern auch immer schön, perfekt gestylt und eine mustergültige Begleitung für
ihren Akademikergatten sein muss. Und sie bemerkt, dass diese Rolle letztendlich auch für sie
selbst vorgesehen ist. Keine vielversprechenden Aussichten…
Der Roman ist in fünf Teile gegliedert, die sich jeweils einem Lebensabschnitt der Protagonistin widmen. Auf die relativ glückliche Kindheit im Großfamilienhaus folgen eine schwierige Pubertät mit allen möglichen altersbedingten Eskapaden, die Studienzeit mit wechselnden Beziehungen und erste Jobversuche. Im letzten Teil des Buches ist aus der rebellischen und zutiefst
traurigen jungen Frau eine alleinerziehende Mutter geworden. Durch die Geburt ihrer Tochter
wird sie mit Gewalt in jene Rolle gedrängt, die sie zeitlebens vermeiden wollte: aus der Karrieresau wird das Muttertier, eine Aufgabe, der sie sich noch dazu völlig alleine stellen muss.
Herzmilch steht durchaus in der Tradition der großen Frauenliteratur der 60er und 70er Jahre,
insbesondere von Brigitte Schwaiger, die Gertraud Klemm als ihre Mentorin bezeichnet und
die sie auch zum Schreiben ermutigt hat. Die Geschichte beginnt sehr stark, flaut im Mittelteil
etwas ab und wird dann am Ende, sprich im Kinderkapitel, noch mal richtig heftig. Viele Frauenthemen werden im Text behandelt, meist eindringlich, manchmal auch leider etwas klischeehaft. Bemerkenswert sind der Erzählfluss sowie die glasklare, bildhafte und poetische Sprache
des Buches. Insgesamt ist ein Herzmilch beeindruckendes Romandebüt, das trotz aller
Schwermut auch erstaunlich viel Humor und Zuversicht in sich birgt.
Der 1963 geborene Wolfgang Herrndorf wurde
2010 mit seinem Jugendroman Tschick mit einem
Schlag einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Tschick wurde in 16 Sprachen übersetzt, stand
über ein Jahr auf der deutschen Bestsellerliste
und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter
2010 den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Im selben Jahr wurde bei Herrndorf ein
Glioblastom festgestellt – ein bösartiger Hirntumor und sicheres Todesurteil. Wenige Wochen
nach der Diagnose begann der Autor Anfang März
mit seinem Tagebuch: dem Blog Arbeit und
Struktur (www.wolfgang-herrndorf.de ), der anfänglich nur für Freunde gedacht war, nach Drängen dieser aber seit September 2010 frei im
Internet zugänglich ist. Vier Monate nach Herrndorfs Selbstmord am 26. August 2013 erschien
er bei Rowohlt in Buchform. Er legt Zeugnis über
den Verlauf seiner tödlichen Krankheit ab;
insbesondere gegen Ende des über 400 Seiten
starken Berichts wird die Lektüre durch die
kontinuierlich kürzer werdenden und in immer
größeren Abständen niedergeschriebenen
Einträge zunehmend bedrückend – sechs Tage,
bevor sich Wolfgang Herrndorf am Ufer des
Hohenzollernkanals mit einer Schusswaffe das
Leben nahm, endet sein Blog mit einem letzten,
nur aus einem Namen bestehenden, Eintrag.
Zwischen der Diagnose und Herrndorfs Tod lag
eine Zeit schierbar unglaublicher Produktivität,
die ihm das Leben mit der Krankheit erleichterte.
So erschien 2011 sein über 500 Seiten umfassender Roman Sand, der 2012 mit dem Preis der
Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde.
Doch ist die Lektüre von Arbeit und Struktur keineswegs so deprimierend wie man in Anbetracht
der Umstände annehmen könnte. Insbesondere
Herrndorfs Gedanken über Literatur und den
Literaturbetrieb lassen mitunter laut auflachen.
Arbeit und Struktur ist das leider letzte Werk
eines Autors, von dem mit Sicherheit noch viel
Lesenswertes gekommen wäre.
Thomas Geldner
Jage zwei Tiger
Helene Hegemann
Jage zwei Tiger
München: Hanser 2013.
320 S.
Helene Hegemann
Die 1992 geborene Helene Hegemann wurde
einem größeren Publikum vor allem durch die im
Feuilleton geführte Plagiatsdebatte um ihr Debüt
bekannt; die Autorin hatte mehrere Passagen
unzitiert aus einem Blog übernommen. Mittlerweile wurde Axolotl Roadkill in 20 Sprachen übersetzt und Hegemann, die auch für Theater und
Oper inszeniert, hat nun ihren zweiten Roman
vorgelegt.
In Jage zwei Tiger schildert sie die Geschichte
zweier Jugendlicher aus reichem Elternhaus,
deren Lebenswege sich zufällig in München kreuzen. Zu Beginn muss der 11jährige Kai miterleben,
wie seine Mutter, von einem Stein getroffen,
am Steuer ihres Autos stirbt. Der Junge flüchtet
daraufhin vor den Helfern in den Wald, wo er
auf Zirkusartisten trifft und sich in Samantha verliebt. Zwei Jahre später lebt Kai bei seinem Vater
Detlev, einem Kunsthändler, und lernt dort Cecile,
die 17jährige Freundin seines Vaters kennen. In
Rückblenden folgt der Leser daraufhin Cecile auf
ihrem bisherigen Lebensweg vom Luxusdomizil
14
Besprechungen
der Eltern, die sich nicht um die Tochter kümmern
über eine Kiffer-WG bis zu jener Bar, in der sie
Detlev kennen gelernt hat. Zu diesem Zeitpunkt
hat das junge Mädchen bereits eine Kokainabhängigkeit hinter sich und kämpft mit ihrer Essstörung sowie einem Hang zur Selbstverletzung. Cecile hat zwar für ihre auf Äußerlichkeiten
und Statussymbole fixierte Umgebung nur Gleichgültigkeit und Verachtung übrig, kann dieser
Welt jedoch auch nichts entgegensetzen.
Dass sie sich am Ende des Romans Kai zuwendet und mit ihm gemeinsam nach Samantha sucht,
wirkt wie ein verzweifelter Versuch nach Selbstbestimmung.
Helene Hegemann, die Tochter eines bekannten deutschen Dramaturgen, kennt die Welt ihrer
ProtagonistInnen sehr genau und vermag es, die
Ziel- und Sinnlosigkeit ihres Daseins treffend und
bisweilen quälend zu schildern. Sie bedient sich
dabei einer Sprache die zwischen Jugendjargon,
greller Überzeichnung und komplex-verschachtelten Satzkonstrukten changiert, was die Lektüre
schwierig gestaltet. Zudem lassen die eindimensional und stereotyp charakterisierten Hauptfiguren das Interesse für sie bzw. am Fortgang der
Handlung ziemlich bald erlahmen.
Carina Brandstetter
Winter 2014/15
Katharina-Marie Bergmayr
Vaters Land
Evelina Jecker Lambreva
Inna Kamenarova wird in den 1960er-Jahren in
Bulgarien als Tochter eines Ärztepaares geboren.
Besonders ihr Vater eckt mit seiner kritischen
Haltung gegenüber dem kommunistischen Regime und mit seiner Liebe für Deutschland
und die deutsche Sprache immer wieder an – der
streitbare und eigensinnige Mann isoliert sich
15
Belletristik
und seine Familie zunehmend. Jahrzehnte später,
der Ostblock ist längst Geschichte und Inna in
die Schweiz emigriert, erhält sie die Nachricht vom
Tod ihres Vaters. Mit ihrem Sohn und ihrem Mann
Theo macht sie sich in ihr Heimatland auf, um
ihren Vater zu beerdigen. Diese Reise ist nicht nur
eine Reise in ihre persönliche Vergangenheit,
sondern auch in die Vergangenheit Bulgariens.
Vaters Land ist nicht das Erstlingswerk der als Psychiaterin und Psychotherapeutin tätigen Jecker
Lambreva, allerdings der erste auf Deutsch verfasste Roman der Autorin. Er ist die Aufarbeitung
einer problematischen Vater-Tochter-Beziehung
wie auch eine Abrechnung mit dem kommunistischen Bulgarien und all seinen Ungerechtigkeiten.
Jecker Lambreva präsentiert die Handlung in
zwei Zeitebenen – Innas Weg zum Begräbnis und
die Erinnerungen, die diese Reise in der Frau
wachrufen. Durch diese Erzählweise sind es vor
allem die Kontraste, die das Buch prägen. Der
herrische und brutale Vater, an den Inna zurückdenkt, steht im Gegensatz zum liebevollen und
sanften Großvater, den ihr Sohn Danail kennt.
Gegensatzgeprägt ist auch die väterliche Vorliebe
für das Deutsche und die Verachtung für den
kommunistischen Staat, dessen Absurdität anekdotenhaft – in Form von Familienerinnerungen –
geschildert wird. Die sprachlichen Qualitäten des
Textes treten vor allem in den Naturschilderungen
hervor, die die Autorin oft für Überleitungen nutzt.
Mit Vaters Land gelingt Evelina Jecker Lambreva
ein vielschichtiger und unterhaltsamer Roman, in
dem sich Familien- und Zeitgeschichte verschränken und für die Lesenden greifbar werden. Wolfgang Herrndorf
Arbeit und Struktur
Berlin: Rowohlt 2013.
444 S.
Bernhard Pöckl
Aus dem Leben einer Matratze
bester Machart
Tim Krohn
Im Jahr 1935 erwirbt der frisch verheiratete
Immanuel Wassermann während seiner Flitterwochen die titelgebende Matratze bester Machart
– doch weder er noch seine Frau Gioia sind lange
im Besitz des edlen Stücks, vielmehr wechselt die
Matratze in den nächsten 57 Jahren Besitzer, Zweck
und Ort. Sie ist Schutz im Bunker, Rettungsring bei
Seenot, Kranken- und Ruhelager zugleich und
begleitet eine Vielzahl an Menschen durch mehrere europäische Länder.
Der preisgekrönte Schriftsteller Tim Krohn legt
mit Aus dem Leben einer Matratze bester Machart
ein originelles Buch vor. In acht Episoden schildert
er traurige, komische, nachdenkliche aber vor
allem unterhaltsame Abschnitte aus dem Leben
der verschiedensten Besitzer der Matratze. Dieses
ereignisreiche Matratzenleben bildet den Rahmen
für die einzelnen Kapitel, die sich durch sprach-
Evelina Jecker Lambreva
Vaters Land
Wien: Braumüller 2014.
241 S.
Tim Krohn
Aus dem Leben einer Matratze
bester Machart
Berlin: Galiani 2014.
118 S.
Abschied von Atocha
Ben Lerner
Ben Lerner
Abschied von Atocha
Aus dem Engl.
Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 2013.
253 S.
Adam Gordon ist ein ziemlich schräger Vogel: der junge Lyriker von der amerikanischen Ostküste
hat für ein Projekt über den spanischen Bürgerkrieg ein Stipendium bekommen und verbringt
ein Jahr in Madrid, wo er ein ausgesprochenes Bohemien-Leben führt. Schon zum Frühstück gibt
es neben starkem Kaffee auch einen fetten Joint, dann wird reichlich Innenschau gehalten, herumphilosophiert und spazieren gegangen. Trotzdem ist Adam alles andere als glücklich. Er steht
erst ganz am Anfang seiner literarischen Laufbahn und die Suche nach seiner künstlerischen
Identität wird von plagenden Selbstzweifeln und der regelmäßigen Einnahme von Beruhigungstabletten begleitet. Obwohl ihm seine eigenen Unzulänglichkeiten durchaus bewusst sind und er
sich selbst sogar für einen Heuchler hält, ist der Protagonist eitel, selbstverliebt und noch dazu
ein notorischer Lügner, der seinen beiden Freundinnen das Blaue vom Himmel herunter flunkert.
Trotz allem oder vielmehr gerade deswegen, ist Adam durchaus erfolgreich. Bei einer Lesung
trägt er Gedichte vor, die er selbst für Schrott hält – und wird dafür gefeiert. Schließlich kommt er
ja von weit her und hat ein wichtiges Stipendium, da scheint es zu genügen, einfach auf die
Bühne zu steigen und einstudierte Plattitüden von sich zu geben. Doch dann passiert der blutige
Al-Qaida-Anschlag auf den Bahnhof Puerta de Atocha vom 11. März 2004 und es ist vorbei mit
der Phrasendrescherei, denn nun erwartet man ein politisches Statement von einem aufstrebenden wichtigen Künstler…
Nach drei Lyrikbänden hat der amerikanische Autor Ben Lerner jetzt einen bemerkenswerten
und sprachlich geschliffenen Debütroman vorgelegt, der von der US-Kritik enthusiastisch gefeiert
wurde. Das Buch ist nicht nur ein gut konstruierter Künstlerroman, sondern auch eine bittersüße
Parodie auf einen Literatur- und Kunstbetrieb, der zunehmend zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten
verkommt. Stilistisch und auch inhaltlich erinnert der Roman an Thomas Bernhard und insbesondere an Das bin doch ich von Thomas Glavinic, der eine ebenso schonungslose und zugleich
komische Selbstvorführung seines Protagonisten zelebriert. Und wie bei Glavinic ist auch bei
Lerner zu befürchten, dass der Roman autobiographische Züge trägt – der Autor lebte
schließlich selbst einige Zeit als Stipendiat in Spanien.
Thomas Geldner
Der Autor hat eine Geschichte der Durchschnittlichkeit geschrieben und einen Protagonisten kreiert, der in seiner Mittelmäßigkeit förmlich aufblüht. «Er hat nie verstanden, was die
Menschen dazu drängt, herauszustechen (…). Der
verbreitete Wunsch nach Aufmerksamkeit und
Einzigartigkeit ist ihm fremd» heißt es im Text.
Trotzdem ist Walter unzufrieden mit seinem
bisherigen Leben, er möchte mehr, kann aber
nicht aus seiner Haut heraus und scheitert
letztendlich an sich selbst.
Dennoch bringt Walters Selbstfindungstrip in
Griechenland etliche Erkenntnisse, unter
anderem, dass ein wirklicher Ausbruch aus der
Gesellschaft für ihn nicht möglich ist. Und beim
Anblick von Menschen, die sich in einer langen
Schlange für Arbeit anstellen, kommt er zu dem
Schluss, dass sein sicherer und langweiliger Job
zuhause doch nicht so schlecht war und dass man
ihm eine Woche unentschuldigtes Fernbleiben
eventuell nachsehen könnte…
Bei 30 Grad im Schatten ist ein leiser und feiner
Roman, der mit sehr präzisen Beschreibungen
und poetischen Stimmungen aufwarten kann.
Stellenweise ist der Text auch fast humoristisch,
denn trotz seiner deprimierenden Lage ist Walter
auch durchaus fähig zur Selbstironie. Und darüber hinaus macht das Buch vor allem eines –
Lust auf Griechenland.
Thomas Geldner
Das verborgene Leben der Pflanzen
Sung-U Lee
Lorenz Langenegger
Bei 30 Grad im Schatten
Salzburg: Jung und Jung 2014.
140 S.
liche Solidität und Einfallsreichtum auszeichnen.
Trotz der Kürze des Buches und der einzelnen
Episoden gelingt es Krohn, Sympathie und Interesse für seine Protagonisten zu wecken. Deren
Schicksale sind geprägt durch die wechselvolle
Geschichte der 57 Jahre, die sich geradezu in den
Stoff der Matratze einprägt – nicht umsonst wird
das Bild der Landkarte mehrfach bemüht, beginnend mit dem Blut von Gioia Wassermann,
dessen Verlauf auf der Matratze an die Karte von
Amerika erinnert. Durch einen schönen Kunstgriff findet Krohn einen gelungenen Abschluss für
das Buch, der nachdenklich zurücklässt.
Aus dem Leben einer Matratze bester Machart
ist ein gut geschriebener, kurzer wie kurzweiliger
Text. Das literarisch hochwertige Buch ist nicht
nur als leichte Urlaubslektüre zu empfehlen. Die
große Drucktype macht das Buch insbesondere
für sehschwache Lesende interessant.
Bernhard Pöckl
16
Besprechungen
Bei 30 Grad im Schatten
Lorenz Langenegger
Walter ist ein unauffälliger und durchschnittlicher
Mensch. Der Schweizer arbeitet als Sachbearbeiter
bei der Berner Finanzverwaltung und ist seit zehn
Jahren mit Edith verheiratet. Eines Tages, nach
einem heftigen und ziemlich dummen Streit der
wieder einmal von Nichtigkeiten entfacht wurde,
wird Walter von Edith verlassen.
Als Reaktion darauf packt Walter seinen Rucksack und macht sich auf eine Reise ohne bestimmtes Ziel. Er will einfach fort, alles hinter sich lassen, die gemeinsame Wohnung und den sicheren
aber langweiligen Arbeitsplatz. Zunächst geht die
Reise nach Zürich, dann nach Italien und weiter
nach Griechenland. Dort lernt Walter die hübsche
Hotelerbin Natalia kennen und es kommt zu
einem Rendezvous, doch leider wird nicht mehr
daraus. Auf dem Weg zum Peloponnes läuft Walter
ein Hund zu, der ihn eine Weile begleitet. Aber
auch der Hund hält es nicht lange mit Walter aus;
er wird ihn nach einiger Zeit wieder verlassen, was
schon wieder (unfreiwillig) komisch wirkt.
Winter 2014/15
Ki-Hyeon schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch
und erledigt Botengänge und kleinere Arbeiten.
Als er einen Auftrag als Privatdetektiv bekommt
und eine Beschattung übernehmen soll, hofft
er vor allem auf angemessene Entlohnung. Zwar
zögert er, da es sich bei der Zielperson um seine eigene Mutter handelt, lässt sich aber dann doch
vom anonymen Anrufer überreden. Dieser zuerst
so einfach wirkende Auftrag zwingt Ki-Hyeon
zur Auseinandersetzung mit den Geheimnissen
seiner Familie: Führt seine Mutter ein Doppelleben? Was steckt hinter dem tragischen Armeeunfall seines Bruders? Was geht im Kopf des einst
begnadeten Fotografen, der jetzt im Rollstuhl
sitzt, wirklich vor? Warum hat ihn dessen große
Liebe so plötzlich verlassen? Ki-Hyeon muss
aus seiner Rolle als nichtsnutziger Sohn herauswachsen und das «verborgene Leben» seiner
Familie ergründen.
Mit Das verborgene Leben der Pflanzen veröffentlicht der Unionsverlag einen Roman des in seiner
Heimat Südkorea bekannten und ausgezeichneten
Schriftstellers Lee Sung-U aus dem Jahr 2000. Die
im Buch geschilderte Familie ist im Unglück erstarrt, wie die titelgebenden Pflanzen schweigt die
17
Belletristik
Familie, jegliche Kommunikation ist erloschen.
Es liegt an Ki-Hyeon, genau hinzuhören und die
Aura der Geheimnisse endgültig zu durchbrechen. Diese Entdeckungsreise schildert der Autor
auf sehr poetische Weise, die Sprache dient als
Brücke zwischen den märchenhaften und realistischen Elementen des Romans. Die Natur
und deren Erscheinungen sind hier Spiegel- und
Sehnsuchtsbild der menschlichen Existenz. Hinter
den rätselhaften Vorgängen lauern Abgründe der
Traurigkeit, des Unglücks und der Schuld, trotzdem hat der Text einen versöhnlichen Unterton.
Die Geheimnisse und unerklärlichen Verhaltensweisen der handelnden Personen sind der
Spannung zuträglich und machen den Reiz des
Buches aus.
Das verborgene Leben der Pflanzen ist ein gelungener, sprachlich schöner Roman über Familiengeheimnisse und die Liebe, der einer breiten
Leserschaft empfohlen werden kann.
Bernhard Pöckl
Eis
Ulla-Lena Lundberg
Dem Umstand, dass Finnland Gast der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt war, verdanken
wir eine Reihe neuer Übersetzungen, zu denen
auch Eis von Ulla-Lena Lundberg gehört. Die
hierzulande weitgehend unbekannte finnlandschwedische Autorin, die 1947 auf den AlandInseln geboren wurde, veröffentlicht seit den
1970er Jahren und ihre Prosa wurde mehrfach
ausgezeichnet. So erhielt sie unter anderem 2012
den Finlandia-Preis für ihren jüngsten Roman.
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges
versammelt sich eines Morgens ein Empfangskommitee der zwischen Finnland und Schweden
gelegenen Örar-Inseln, um den neuen Pfarrer
Petter Kummel, seine Frau Mona und deren
Tochter Sanna zu begrüßen. Rasch lebt sich die
Familie ein und erliegt bald dem Charme der rauen,
aber idyllischen Landschaft des Schärengürtels.
Besonders Petter Kummel tritt seinen Mitmenschen unvoreingenommen entgegen und geht mit
so viel Enthusiasmus an seine Tätigkeit, dass er
und seine Frau, die sich um das Pfarrhaus sowie die
Kühe und Schafe kümmert, von der eingeschworenen Gemeinde herzlich aufgenommen werden.
Das Leben der Inselbewohner ist von harter Arbeit
und den Naturgewalten einer Region, in der das
jährliche Eis eine gefährliche, aber auch integrative
Rolle spielt, bestimmt. Die Kummels scheinen
ihr Glück gefunden zu haben, als ein zweites Kind
zur Welt kommt – doch dann erschüttert ein
schwerer Schicksalsschlag ihr Leben.
Ulla-Lena Lundberg besitzt großes Erzähltalent, sie schildert detailreich und vielleicht stellenweise etwas zu ausführlich das karge Leben
Sung-U Lee
Das verborgene Leben der Pflanzen
Aus dem Korean.
Zürich: Unionsverlag 2014.
219 S.
Ulla-Lena Lundberg
Eis
Aus dem Schwed.
Hamburg: Mare 2014.
527 S.
Arto Paasilinna
Der Mann mit den schönen Füßen
Aus dem Finn.
Köln: Lübbe Ehrenwirth 2014.
239 S.
Der Mann mit den schönen Füßen
Der Condottiere
Arto Paasilinna
Georges Perec
Am Anfang war alles in Ordnung, wie so oft. Aulis Rävänder ist ein erfolgreicher Mann, ein
wohlhabender Reeder und aus «aus zweierlei Gründen glücklich. Er hatte einen guten Schlepper
und eine gute Frau.» Beides bedeutet ihm viel, und zwar genau in dieser Reihenfolge.
Doch eines Tages ist es mit dem Glück zu Ende, denn seine Frau Liisa eröffnet ihm kurz und
nicht ganz schmerzlos – «Du bist egoistisch…, dick…, stinkst nach Schweiß und Öl…, redest
dauernd von Geld…, schnarchst…, (…) bist Tag und Nacht auf dem Meer…, (…) hast ein Benehmen
wie ein Trampeltier…» – dass es mit ihrer Ehe vorbei sei und dass sie eine Trennung wünsche.
Aulis ist völlig perplex, hatte er doch nicht im Geringsten mitbekommen, dass Liisa schon seit geraumer Zeit einen Liebhaber hat, dem sie nun ihre ganze Aufmerksamkeit schenken möchte. So
verlässt der gehörnte Reeder völlig geknickt die gemeinsame Wohnung in einem Helsinkier
Nobelviertel und zieht sich in sein Wochenendhaus auf einer entlegenen Schäreninsel zurück.
Allerdings lindert die Einsamkeit seinen Kummer keineswegs, vielmehr wird ihm nun seine traurige Lage erst so richtig bewusst. In seiner Not wendet sich Aulis Rävänder an die Telefonseelsorge, wählt aber die falsche Nummer und landet bei der Fußpflegerin Irene Oinonen, der er
nichtsdestotrotz seine Geschichte erzählt. Die resolute Dame fasst sich ein Herz, holt den Mann
von der Insel und nimmt ihn mit nach Hause. Doch damit ist die Sache keineswegs erledigt, denn
das ist erst der Startschuss für eine ganze Reihe von Abenteuern, die mit einem ausgestopften
Wildschwein beginnen und nach durchzechten Nächten mit dem Nebenbuhler letztendlich
in einem Mordkomplott münden.
Der vorliegende Roman ist ein typischer Paasilinna, ziemlich skurril und durchgeknallt,
mit einer ganz eigenen Art von Humor. Allerdings ist das Original bereits 1985 erschienen und
erst jetzt, wohl im Zuge des Gastlandauftritts Finnlands bei der Frankfurter Buchmesse, auf
Deutsch erschienen. Dadurch wirkt der Text stellenweise etwas altbacken, was aber den Unterhaltungswert nicht schmälert. Im Gegenteil, mit diesem schrägen und fantasievollen Roman hat
der finnische Erfolgsautor sein humoristisches Talent wieder einmal hinlänglich bewiesen.
Gaspard Winckler ist ein begnadeter Fälscher. Seit zwölf Jahren hat er sich für seinen Auftraggeber Madera in Kellern und Ateliers durch die Kunstgeschichte gefälscht und dabei größte Meisterschaft erlangt. Frei von Geldsorgen konnte sich Gaspard nach seiner Ausbildung auf seine
Arbeit, seinen einzigen Lebensinhalt, konzentrieren. Andere Facetten der menschlichen Existenz
wie seine Liebesbeziehung mussten sich unterordnen und waren damit zum Scheitern verurteilt.
Mit seinem letzten Auftrag, ausgehend vom «Condottiere» des italienischen Malers Antonello
da Messina einen eigenständigen «Condottiere» zu schaffen, manövriert sich Gaspard jedoch in
die Katastrophe. Monatelang bemüht er sich zunehmend verzweifelt in einem verliesähnlichen
Atelier, doch das Werk will ihm nicht gelingen und zwingt ihn schließlich zu einem Verbrechen.
Mit Der Condottiere wurde 2012 einer von Georges Perecs frühesten Romanen posthum in
Frankreich veröffentlicht. Perec, der zu den wichtigsten französischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zählt, beschäftigt sich in diesem Buch mit der Ambivalenz von Kunstwerken und der
Selbstfindung von Künstlern – Gaspard ist Zeit seines Lebens ein Imitator, ein genialer Nachahmer,
doch bei der Schaffung von neuer, eigenständiger Kunst scheitert er, er kann sich nicht von seinen Vorbildern befreien. Sein Dasein ähnelt nicht nur aufgrund seiner kriminellen Tätigkeit dem
eines Gefangenen, er ist auch in der Nachahmung gefangen und kann sich nur durch einen
Gewaltakt befreien.
Der Roman selbst ist als Rückblick angelegt. Im Dialog mit einem Freund erzählt Gaspard von
seinem Leben, doch auch dieser Form bleibt Perec nicht treu, oftmals wird aus dem Gespräch ein
Monolog, was dem Text sprachlich wie inhaltlich einen fragmentarischen Charakter verleiht. Im
Condottiere werden bereits viele Motive und Themen aus den späteren Texten des Autors vorweggenommen, das Motiv der Fälschung hat im Werk von Perec einen prominenten Platz. Selbst
die Figur des Gaspard Winckler findet sich in Perecs berühmten Roman Das Leben Gebrauchsanweisung wieder. Der Condottiere bietet einen spannenden, wenn auch nicht ganz einfach zu
lesenden Einblick in das Frühwerk des Schriftstellers. Wer Perec bereits kennt, wird den Text
mit Freude lesen, bei allen anderen bleibt zu hoffen, dass das Buch als Köder fungiert.
Thomas Geldner
Georges Perec
Der Condottiere
Aus dem Französ.
München: Hanser Verlag 2013.
159 S.
Bernhard Pöckl
Tanja Maljartschuk
Biografie eines zufälligen Wunders
Aus dem Ukrain.
St. Pölten: Residenz Verlag 2013.
267 S.
einer abgeschiedenen Gemeinschaft, in der
Religion und Aberglaube wichtige Rollen spielen
und verleiht dabei jedem Dorfbewohner eine
Stimme. Viel Raum nehmen die kraftvollen
und plastischen Schilderungen der rauen Schönheit der Natur ein. Keine spannende oder rasant fortschreitendeHandlung macht den Reiz
dieses Romans aus, sondern die langsame
und sensible Erzählweise, die einen in die Geschichte eintauchen lässt.
Carina Brandstetter
Biografie eines zufälligen Wunders
Tanja Maljartschuk
Der neue Roman der in Wien lebenden ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk erzählt vom
Leben Lenas, die im «ukrainischen San Francisco» aufwächst. Sie scheint schon im Kindergarten
einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu haben,
nimmt sich kein Blatt vor den Mund und lässt
sich durch nichts von ihren Vorhaben abbringen.
Ihre erste «Mission» ist der Einsatz für die russischsprechende Kindergärtnerin – viele weitere
sollen noch folgen: Sie nimmt sich streunender
Hunde an, kämpft wie besessen um die Rechte
18
Besprechungen
einer Freundin gegenüber dem Sozialamt,
zwischendurch ist sie sogar in einer politischen
Untergrundgruppe aktiv. Das titelgebende
Wunder zieht sich – in Form einer fliegenden Frau
mit Kopftuch, die Leuten in Not erscheint – wie
ein roter Faden durch Lenas Leben und sie ist
mehr oder weniger besessen auf der Jagd danach.
Der Roman erzählt über Lena in der dritten
Person, doch wirkt es passagenweise wie eine
Ich-Erzählung, so stark ist Lenas Stimme – eingeflochten über viele direkte Reden. Bis kurz vor
dem Ende bleibt überhaupt unklar, wer eigentlich
die Erzählstimme ist, doch immer mehr entsteht
der Eindruck, Lena wäre zum Zeitpunkt der
Erzählung nicht mehr gegenwärtig. Die Erzählerin
stellt sich dann am Ende als eine heraus, deren
Sichtweise auf die Welt man nicht unbedingt
trauen kann, was sehr gut in den generellen Ton
des Romans passt.
Erzählt wird nicht nur die Geschichte einer
außergewöhnlichen jungen Frau, man erfährt
auch sehr viel über das Leben und die Alltagsprobleme in der Ukraine – ein Land, das durch die
politischen Ereignisse verstärkt in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt ist. Eine Leseempfehlung für alle!
Lisa Kollmer
Winter 2014/15
TransAtlantik
Colum McCann
Wer auf der Suche nach inhaltlich und sprachlich
eher leichterer Urlaubslektüre ist, wird vermutlich
nicht auf das vorliegende Werk zurückgreifen,
doch wer an stürmisch-kalten Wintertagen Zeit
und Muße für ein ausgesprochen stimmungsvolles und sprachgewaltiges Epos hat, möge sich
an TransAtlantik erinnern.
Auf zahlreichen kunstvoll ineinander verwobenen (Ort- und Zeit-)Ebenen entfalten sich in mehr
oder weniger chronologischen Sequenzen die
Leben real existierender und historisch wichtiger
Persönlichkeiten: der freigekaufte ehemalige
Sklave Frederick Douglass, der im 19. Jahrhundert
als Abolitionist in die Geschichte eingehen wird
und in einem von Armut und Hungersnot gebeutelten Irland für die Freiheit und Gleichheit aller
Menschen Amerikas kämpft; die Pioniere der
Luftfahrt John «Jack» Alcock und Arthur Whitten
«Teddie» Brown, die 1919 in einer aus Holz,
Leinen und Draht selbst zusammengebauten
Maschine den ersten Nonstopflug über den
Atlantik wagen; der US-Senator George Mitchell,
der 1998 maßgeblich an den nordirischen
19
Belletristik
Friedensverhandlungen in Belfast beteiligt ist
und diese letztendlich auch zum langersehnten
Abschluss bringen kann. Parallel zum Lauf der
großen Weltgeschichte und ihren männlichen
Protagonisten schildert der Autor einige Frauenschicksale: die irische Hausmagd Lily Duggan, die
ihr Glück im fernen Amerika (ver)sucht; ihre Tochter Emily Ehrlich und Enkelin Lottie Tuttle, die
den Transatlantikflug als Reporterin und Fotografin mitverfolgen und über Neufundland wieder
nach Nordirland zurückkehren; und ihre Urenkelin Hannah Carson, die beinah am Ende ihres
Lebens einen über die vier Generationen hinweg
weitergegebenen und nie geöffneten Brief lesen
wird, der alle Personen auf geheimnisvolle Weise
wieder miteinander in Beziehung setzen wird…
Der 1965 in Dublin geborene Autor studierte
Journalismus und war auch einige Zeit als Reporter tätig, bevor ihm 1994 mit seiner ersten Kurz­geschichtensammlung der literarische Durchbruch gelang. Seitdem hat er zahlreiche nationale
und internationale Auszeichnungen erhalten;
hierzulande ist er vor allem für seine Romane Der
Tänzer, Zoli oder Die große Welt bekannt. Sein
aktuelles Werk ist inhaltlich wie sprachlich
anspruchsvoll und absolut empfehlenswert!
Martina Lammel
Colum McCann
TransAtlantik
Aus dem Engl.
Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 2014.
381 S.
Joe Golem und die versunkene Stadt
Mike Mignola
Der Fall der Baronin Bibu und andere
Geschichte aus dem Leben
Walther Rode
Mike Mignola
Joe Golem und
die versunkene Stadt
Aus dem amerikan. Engl.
Köln: Bastei Lübbe 2013.
299 S.
Walther Rode
Der Fall der Baronin Bibu
und andere Geschichte
aus dem Leben
Wien: Czernin 2013.
165 S.
Durch Naturkatastrophen sind Teile von New
York seit den 1920er Jahren überschwemmt,
trotzdem leben auch jetzt, ein halbes Jahrhundert
später, immer noch Menschen in dieser verarmten, «versunkenen Stadt». Dazu zählen auch Felix
Orlov, alternder Magier und Medium, und seine
junge Assistentin Molly McHugh. Orlov ist kein
Scharlatan, seine Fähigkeit mit den Toten Kontakt
aufzunehmen ist echt und sichert ihm und Molly
mehr schlecht als recht ein Auskommen. Als
Felix während einer Seance von bedrohlichen,
maskierten Männern entführt wird und Molly auf
der Flucht dem geheimnisvollen Joe begegnet,
überschlagen sich die Ereignisse und bald steht
weit mehr als das Schicksal der beiden Helden
auf dem Spiel.
Joe Golem und die versunkene Stadt ist nicht
die erste Zusammenarbeit von Christopher Golden und Hellboy-Schöpfer Mike Mignola und
wie Baltimore, oder der standfeste Zinnsoldat und
der Vampir ist auch dieses Buch ein von Mignola
illustrierter Roman. Als wüster und äußerst
unterhaltsamer Genre-Mix lässt der Roman die
Lesenden keine Minute zur Ruhe kommen –
neben Anleihen bei Horrorikone H.P. Lovecraft
und den hardboiled Novels, finden sich als weitere Zutaten alte Artefakte, Monster, Geisterscheinungen, wahnsinnige Bösewichte und ein
Schuss Dystopie. Der liebevolle Umgang mit den
verschiedenen Versatzstücken aus Literatur,
Comic und Film macht den Reiz des Buches aus
und ist ja auch eines der Erfolgsrezepte von
Mignolas Comics. Trotzdem wirkt der Text nie
zerfahren, sondern – verstärkt durch die Illustrationen und die klare Sprache – in sich stimmig.
Golden und Mignola legen ein gutes Gefühl für
Rhythmus an den Tag, das Buch weist keine
Leerläufe auf und ist durchgehend spannend.
Joe Golem und die versunkene Stadt ist ein
unterhaltsamer und kurzweiliger Roman, der
sich über Genregrenzen hinwegsetzt und einen
guten Einstieg in das Schaffen von Mignola
und Golden ermöglicht. Für Fans ohnehin Pflicht,
ist das Buch für Lesende mit einem Faible für
Fantastik oder Horror zu empfehlen.
Walther Rode ist ein Unbekannter der österreichischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts –zu Unrecht vielleicht. Mit dem hier vorliegenden Bändchen, erschienen in der Reihe
Bibliothek der Erinnerung des Czernin Verlages,
soll dieser Umstand hinterfragt werden. Der Autor
war von Brotberuf Rechtsanwalt und berichtete
über besonders spektakuläre Fälle in Zeitungsartikeln. In Wien machte er sich als Chronist und
Kritiker der Rechtsbürokratie einen Namen. Sein
Engagement gegen den Austrofaschismus gipfelte
in der Verbrennung seiner Bücher im Jahre 1933,
Rode war bereits Ende der 1920er Jahre in die
Schweiz gegangen, wo er 1934 auch verstarb.
Parallel zu seiner Korrespondententätigkeit für
das renommierte «Prager Tagblatt» veröffentlichte er auch belletristische Texte, die im vorliegenden Band präsentiert werden. Neben den
manchmal etwas sperrigen, aber durchaus auch
humorvollen Kurzgeschichten, die von unterschiedlicher Qualität sind, ist der titelgebende, in
Fortsetzung erschiene, längste Text zu erwähnen. Die Gerichtsfälle sind in der österreichischen
Monarchie, der Schweiz, Italien oder Frankreich
angesiedelt und die Menschen haben Berufe wie
Dragonermajore, Kostümzeichner oder Kragenfabrikanten. Ein Satz wie «Und wenn vornehme
Leute herunterkommen, so müssen sie, nach dem Gesetz der Schwingung, tiefer herunterkommen, als
jemand herunterkommen kann, der nie oben gewesen
ist.» könnte von Heimito von Doderer sein. Ob
Rode, wie der Herausgeber Alfred Noll meint, in
die Nähe von Altenberg, Kuh, Polgar oder
Tucholsky zu rücken ist, sei dahingestellt und
kann meines Erachtens auf Grund des schmalen
Oeuvre nicht beurteilt werden. Fakt ist jedenfalls,
dass es sich um durchaus lesenswerte Literatur
eines vergessenen Wiener Autors handelt.
Sabine Baumann
Was mir zusteht
Parinoush Saniee
Bernhard Pöckl
Bereits im Jahr 2003 erschien Parinoush Saniees
Debütroman Was mir zusteht im Iran und avancierte, nachdem er monatelang von den iranischen
Zensurbehörden zurückgehalten worden war,
schnell zu einem Bestseller. Auch in den folgenden Jahren sollten Nachdrucke immer wieder
verhindert werden. Nachdem das Buch im Jahr
2010 seinen Weg nach Italien fand und dort
ausgezeichnet wurde, erschien es im vergangenen Jahr im Rest Europas.
Parinoush Saniee
Was mir zusteht
Aus dem Pers.
München: Knaus 2013.
479 S.
20
Besprechungen
Winter 2014/15
In Was mir zusteht schildert Saniee auf sehr
eindrucksvolle und einfühlsame Weise das Schicksal der Iranerin Masumeh. In eine traditionell
eingestellte Familie hineingeboren und stets unterdrückt, wird sie schließlich, nachdem sie sich
unerlaubterweise in einen Apotheker verliebt hat,
zwangsverheiratet. Ihr Mann bedeutet für sie
Glück und Unglück zugleich. Dieser ist fortschrittlich eingestellt, erlaubt Masumeh den Besuch der
Schule und Universität und möchte, dass sie ein
absolut unabhängiges und modernes Leben führt.
Doch arbeitet er auch im Untergrund, interessiert
sich wenig für seine Frau und Kinder und bringt
diese durch seine politische Tätigkeit in große
Gefahr. Masumeh ist die meiste Zeit auf sich allein
gestellt und muss sich in der Rolle als Tochter,
Mutter, Hausfrau, Studentin und später auch als
Ehefrau eines inhaftierten Dissidenten behaupten.
Immer wieder erfährt sie schmerzhaft, wie sehr
die iranische Gesellschaft den überkommenen
Strukturen und Traditionen verhaftet ist. Wird
Masumeh am Ende ihr Glück finden und bekommen, was ihr zusteht?
Parinoush Saniee ist ein berührender und
fesselnder Roman gelungen, der tiefe Einblicke
in die iranische Gesellschaft und die Rolle der
Frauen gibt. Der Leser erfährt interessante Details
über die in Europa wohl häufig recht unbekannte
Geschichte eines Landes. Zahlreiche Themen
werden zur Sprache gebracht: die Liebe, das Zusammenleben in einer Ehe, die Geschichte
und politischen Entwicklungen eines Landes,
die Unterdrückung und Emanzipation der Frauen, die schwer zu überwindenden Traditionen.
Martina Bednar
Der Widerschein
David Schönherr
Die Niederlande im 18. Jahrhundert bilden
den Hintergrund für die Lebensgeschichte des
Protagonisten Ferdinand Meerten, der als
Waisenkind zunächst in die Obhut eines Pfarrers
gegeben wird. Schon als Kleinkind zeigt er ein
erstaunliches Talent zum Zeichnen – seine Bilder
lösen bei den Betrachtern jedoch nicht nur Bewunderung, sondern ganz unterschiedliche,
in jedem Fall aber sehr intensive Gefühle aus, die
sich mitunter zu rausch- oder alptraumhaften
Zuständen steigern. Der Pfarrer verstirbt sogar bei
der Betrachtung einer Zeichnung, die Ferdinand
ihm zurückgelassen hat, als er zu seiner Lehrstelle
bei Malermeister Bros aufbricht. Meister Bros,
selbst nicht herausragend begabt, profitiert von
den Künsten seines Lehrlings ungemein indem er
dessen Werke als seine eigenen ausgibt. Doch
auch ihm ist ein frühes Ableben beschieden, ebenso wie dem kunstsammelnden Nachbar und Bros’
Ehefrau. Leichen bleiben meist zurück, sobald
21
Belletristik
Ferdinand Meerten von einer Station seines
Lebens zur nächsten zieht. Eine zarte, nur
angedeutete Liebesgeschichte zu einer magiebegabten Frau entspinnt sich, danach wird
Ferdinand Teil einer als Vagabunden umherziehenden Gruppe, die schließlich verhaftet und
großteils zum Tode verurteilt wird. Ferdinand
entgeht diesem Schicksal und wird vom Richter aufgenommen, landet später allerdings in
einem Irrenhaus, wo ihn endlich der Kunsthändler Gerlach aufstöbert, der schon so lange nach
Ferdinand gesucht hat und mit der geheimnisvollen Wirkung der Werke selbst seine Erfahrungen gemacht hat. Nach dem Brand des Irrenhauses
findet sich Gerlach mit Ferdinand auf einem Boot
wieder; hier endet der Roman im Ungewissen,
ohne weitere Perspektive und ohne Ansätze einer
Erklärung für die rätselhaften Vorgänge.
Die Figur des Ferdinand bleibt im gesamten
Roman merkwürdig blass – seine Gefühle und Gedanken werden nicht beschrieben, keines seiner
Worte überliefert. Dagegen äußert sich das Figureninventar rund um Ferdinand immerhin in
indirekter Rede – kunstfertig strikt durchgehalten
bis zum Ende der Erzählung – und zeigt zwar
wenig sympathische Züge, ist aber in der jeweiligen Motivation und Zielgerichtetheit durchaus
glaubwürdig. Ferdinand treibt anscheinend absichtslos zwischen den Orten und Personen, seine
Zeichnungen bringen die Schattenseiten der
BetrachterInnen ans Tageslicht.
Der Widerschein ist und bleibt für die LeserInnen ein rätselhafter Roman, einzelne Handlungsstränge enden abrupt und werden nur durch den
Protagonisten verknüpft. Sprachlich entwickelt die
Erzählung rund um Ferdinand Meerten eine intensive Sogwirkung, die eingeschobenen Bemerkungen zum historischen, soziologischen oder
politischen Hintergrund wirken dagegen wenig
integriert und bleiben an der Oberfläche. Auf
weitere Werke des 1980 geborenen Leipziger
Autors und Dramaturgen David Schönherr darf
man nach diesem interessanten Debütroman
gespannt sein.
Katharina Zucker
Der glücklose Therapeut
Noam Shpancer
David Winter ist glücklich verheiratet, Vater
einer Tochter, arbeitet als Psychologe und scheint
ein rundum gelungenes Leben zu führen. Als er
mit Barry Long einen neuen Klienten in seine Kartei aufnimmt, denkt David zuerst an einen Fall
von Depression, doch die Behandlung des Gutachters für Autoversicherungen erweist sich als
schwieriger als erwartet. Auch sein alter Mentor
Dr. Helprin kann dem Therapeuten nicht helfen,
gleichzeitig gerät auch sein Privatleben immer
David Schönherr
Der Widerschein
Frankfurt am Main:
Frankfurter Verlagsanstalt 2013.
253 S.
Noam Shpancer
Der glücklose Therapeut
Aus dem amerikan. Engl.
München: Knaus 2013.
252 S.
Zadie Smith
London NW
Aus dem Engl.
Köln: Kiepenheuer &
Witsch 2014.
432 S.
London NW
Konzert für die Unerschrockenen
Zadie Smith
Bettina Spoerri
Selten war sich das (deutschsprachige) Feuilleton so einig wie bei diesem Buch: Zadie Smiths
tragikomischer Roman wurde allseits gelobt, der Rezensent der faz hat ihn gar dreimal gelesen,
so begeistert war er.
Wie schon ihr Debüt Zähne zeigen spielt auch Smiths aktuelles Werk im diesmal sogar titelgebenden Nordwesten Londons. Die vier Protagonisten, wie die Autorin in eben diesem Teil der
britischen Hauptstadt Mitte der 1970er Jahre geboren, wachsen in dem fiktiven Sozial-Wohnbau
Caldwell auf. Während Felix und Nathan im Drogensumpf versinken, schaffen Leah und Keisha
den sozialen Aufstieg, erklimmen allerdings unterschiedlich hohe Sprossen der Karriereleiter.
Die studierte Philosophin Leah hat einen schlecht bezahlten Job in der Administration einer ngo,
die sich mittlerweile Natalie nennende Keisha ist erfolgreiche Wirtschaftsanwältin. In den ersten
beiden Teilen des Buches, in deren Mittelpunkt Leah bzw. Felix stehen, zeigt sich einmal mehr,
warum Zadie Smith oftmals als legitime Nachfolgerin Charles Dickens gehandelt wird. Die Autorin
entwirft ein plastisches Bild ihres multikulturellen Heimatbezirks, beschreibt eindrücklich
ethnische und vor allem ökonomische Spannungen. Smith gelingt das Kunststück, ihre Protagonisten primär anhand knapper Dialoge zu charakterisieren, auf elaborierte psychologische
Deutungen verzichtet sie. Im dritten Teil wechselt die Autorin vom vergleichsweise konventionellen epischen Erzählen zur Technik des Bewusstseinsstrom und ähnelt dann stilistisch eher Virgina
Woolf und James Joyce als Dickens. In 185 kurzen chronologischen Sequenzen erhalten wir
schlaglichtartige Einblicke in das Leben von Keisha alias Natalie.
Rezensenten im angloamerikanischen Raum monierten, dass es sich bei Smiths Figurenarsenal
um Stereotypen, deren Schicksal höchst beliebig anmute, handle, Gründe für Erfolg oder Scheitern würden nicht tiefergehend untersucht. Eine Kritik, der ich mich allenfalls partiell anschließen
kann; tatsächlich sind nicht alle Entwicklungen, die die Charaktere durchmachen, sehr plausibel,
insgesamt sind die Protagonisten aber viel zu komplex und facettenreich gezeichnet um als holzschnittartig durchzugehen. Das Postulat einer soziologischen Analyse wurde von der Autorin
selbst nie erhoben, insofern ist ihr auch aus deren Fehlen kein Vorwurf zu machen.
Die Handlung ist nicht das dominierende Element dieses Romans, auf über 400 Seiten
passiert nichts, was sich nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen ließe. Dass es sich bei London
NW dennoch um ein höchst kurzweiliges Lesevergnügen handelt, liegt am vielgelobten Erzähltalent von Zadie Smith, die vor unseren Augen ein literarisches Kaleidoskop ihres Herkunftsorts
entstehen lässt.
Konzert für die Unerschrockenen ist der Debütroman der 1968 geborenen Schweizerin Bettina
Spoerri, die nach einem längeren Aufenthalt in
Israel heute in Zürich lebt und das Literaturhaus
in Lenzburg leitet.
Als ihre Großtante, die bekannte Cellistin Leah,
stirbt, reist die junge Zürcher Studentin Anna zum
Begräbnis nach London, wo ihr der Cousin zwei
Tagbücher von Leah überlässt. Die Großtante schildert darin nicht nur ihre erfolgreiche Musikkarriere und ihr bewegtes Leben, das sie von Wien
über Manila, Shanghai, Palästina und schließlich
nach London führte, sondern auch die Schwierigkeiten denen sie als Jüdin nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war.
Die Lektüre setzt bei Anna die Auseinandersetzung mit der schwierigen Familiengeschichte in
Gang, denn nicht nur die Ehen der Großtante und
Großmutter, sondern auch die ihrer Eltern endeten mit einer Scheidung. Zurück in Zürich erfährt
sie vom Herzinfarkt ihres Vaters. Für Anna eröffnet sich so nicht nur die Chance auf eine Annäherung an ihre Familie, sondern auch an sich selbst.
Trotz des Spannungsfeldes, das durch die
Gegensätzlichkeit der Hauptfiguren, der starken
und selbstbewussten Leah und der unsicheren und
zurückhaltenden Anna, erzeugt wird und der
interessanten Frage nach der jüdischen Identität,
findet man bei der Lektüre keinen rechten Zugang zu der an Figuren und Schicksalen reichen
Familiengeschichte, die von Trennungen und
Distanziertheit geprägt ist. Vieles bleibt in der
Schwebe. Mit Ausnahme Leahs wirken die Protagonisten wenig greifbar, obwohl Bettina Spoerri
eine gute Beobachterin ist, die alltägliche Situationen und Stimmungen in einer präzisen und
feinen Sprache zu beschreiben vermag.
Monika Reitprecht
mehr aus dem Gleichgewicht. Die Probleme in
Beziehung und Familie geraten außer Kontrolle
und stürzen David Winter in eine tiefgehende
Krise, die ihn ebenso wie die Behandlung von
Barry Long zu überfordern droht.
Nach dem großen Erfolg mit Der gute Psychologe
legt Noam Shpancer einen weiteren Roman vor,
der um die Welt der Therapie kreist und zeigt, dass
auch die besten Therapeuten vor privaten Problemen nicht gefeit sind. Insofern ist Der glücklose
Therapeut über weite Strecken auch die Geschichte
eines Scheiterns, bietet aber auch Einblick in den
Alltag eines Psychotherapeuten und die damit
verbundene Praxis. Der selbst als Therapeut tätige
Autor vermeidet im Text allzu offensichtliche
Klischees, weswegen der vorliegende Titel sicher
zu den gelungeneren Romanen dieses Themenkreises gezählt werden kann. Mit lakonischer
Sprache und einem guten Blick für Details schildert Sphancer Arbeit und Privatleben des Helden
und verknüpft beides zu einem unterhaltsamen,
aber auch ein wenig melancholischen Text.
22
Besprechungen
Lesenden mit Interesse an der Psychotherapie
ist der Roman durchaus zu empfehlen. Fans von
Irvin D. Yalom kann das Buch aufgrund der
thematischen Nähe ebenfalls nahegelegt werden,
auch wenn bei Shpancer philosophischen
Überlegungen weniger Platz eingeräumt wird.
Bernhard Pöckl
Katharina M. Bergmayr
Bettina Spoerri
Konzert für die Unerschrockenen
Wien: Braumüller 2013.
462 S.
Marlene Streeruwitz
Nachkommen
Frankfurt am Main: Fischer 201 4,
431 S.
Wir Tiere
Justin Torres
Carina Brandstetter
Nachkommen
Marlene Streeruwitz
Marlene Streeruwitz erhielt für einige ihrer
Romane zahlreiche Auszeichnungen. Ihr vorletzter Roman Die Schmerzmacherin befand sich
2011 sogar auf der Shortlist für den Deutschen
Buchpreis. Die Autorin weiß also, wovon sie in
ihrem aktuellsten Roman Nachkommen. erzählt:
die 20jährige Nelia Fehn hat es mit ihrem
Debütroman Die Reise einer jungen Anarchistin
in Griechenland auf die Shortlist des Deutschen
Buchpreises geschafft. Sie fliegt direkt vom
Begräbnis ihres Großvaters in Niederösterreich
nach Frankfurt, um an der Preisverleihung
Winter 2014/15
teilzunehmen. Dort wird die junge Frau mit den
Härten des Literaturbetriebs konfrontiert:
paternalistische und geizige Verleger, eifersüchtige Verleger-Geliebte, arrogante Literaturprofessoren, der ganz normale Buchmesse-Wahnsinn
also. Doch Fehn ist vor allem mit ihrer Familiengeschichte beschäftigt, trifft sie doch in Frankfurt
erstmals ihren leiblichen Vater. Aber nicht nur das:
sie wird auch mit seiner (und damit ihrer eigenen)
Vergangenheit, seinen Geliebten und ihrer nun
um das väterliche Erbe besorgten Halbschwester
konfrontiert. Somit bildet die Abrechnung mit
dem Literaturbetrieb die Kulisse für die Themen,
die Streeruwitz seit jeher beschäftigen: familiäre Verstrickungen und die Degradierung der
Frau. Nur leider geht die Kritik an herrschenden
Machtverhältnissen insbesondere gegen Ende
des Romans in allzu konstruiert anmutenden,
völlig uninteressanten Familienintrigen unter.
Der Feuilleton zeigte sich allerdings durchwegs
begeistert: «eindrucksvoll», «fulminant»,
«Buchpreis-verdächtig» liest man in sämtlichen
Rezensionen. Damit sich der Kreis schließt,
drückte der Literaturjournalismus die Daumen,
dass Streeruwitz mit diesem Roman ein weiteres
Mal auf die Shortlist kommt – diesmal vielleicht
sogar als Gewinnerin hervorgeht. Und wenn es
mit Nachkommen. nicht klappt, dann vielleicht mit
Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland,
der kommende Roman von «Marlene Streeruwitz
als Nelia Fehn» (Verlagsangabe), der im Herbst
im S. Fischer-Verlag erscheinen wird.
Sprachlich arbeitet Streeruwitz vor allem mit
dem von ihr perfekt beherrschten Stilmittel:
der tempomachenden Ellipse, die sowohl der Protagonistin als auch den Leserinnen und Lesern
kaum Zeit zum Nachkommen. lässt.
23
Belletristik
Wir Tiere ist der Debütroman des 1980 geborenen New Yorker Schriftsteller Justin Torres. Peter
Torberg hat eine kongeniale Übersetzung für
Torres verknappte, fast kurzatmig wirkende Sprache gefunden und macht dieses schmale Buch
so auch für das deutschsprachige Publikum zu
einem herausragenden Leseerlebnis.
Es ist die Geschichte eines namenlos bleibenden Jungen und seiner beiden Brüder, die in
Brooklyn in einer etwas ungewöhnlichen Familie
aufwachsen. Ihre raue, ungeschliffene Art des
Umgangs lässt die Familie von Beginn an zu etwas
Außergewöhnlichem werden. Es scheint als ob
für diese Familie eigene Gesetze gelten, denn
Liebe und Brutalität liegen ganz nahe beieinander.
Die von Torres sehr intensiv geschilderten Familienszenen wirken manchmal geradezu verstörend
Justin Torres
Wir Tiere
Aus dem amerikan. Engl.
München: dtv 2013.
168 S.
und man muss das Buch kurz weglegen um das
eben Gelesene zu verdauen. Einerseits scheint den
drei Jungen alles erlaubt zu sein, was manchmal
fast zur Katastrophe führt, andererseits sind die
Reaktionen der Eltern sehr heftig und logisch
nicht nachzuvollziehen.
«Ich wollte ein Buch über eine Familie schreiben, die so kompliziert, so voller Liebe und zugleich voller Makel ist, dass die Leute dem Drang
zu kategorisieren widerstehen», gab der Autor in
einem Interview zum Buch an. Torres Familienmodell steht in diametralem Gegensatz zum durchorganisierten, behüteten Umgang mit Kindern
in unserer Wohlstandsgesellschaft und gerade das
macht den Reiz dieser Story aus – und lässt sie so
verstörend wirken.
Peter Hörschelmann
Ich bin die Zukunft
Wir sind die Zukunft ist eine raffiniert konstruierte Endzeitgeschichte, die einen kräftigen
Wandel durchmacht. Zunächst denkt man an eine
klassische Aussteigergeschichte à la Thoreaus
Walden und Leitner erinnert auch ein wenig an
Melvilles Bartleby. Doch dann wird aus der
fröhliche Einsiedlerpartie eine düstere Endzeitvision bzw. eine Zombie-Apokalypse. Und das
Heftigste daran ist, dass das Ganze gar nicht so
unrealistisch ist, trotz aller Sci-Fi-Elemente, die
den zweiten Teil des Buches dominieren.
Fazit: ein spannend geschriebener und eindringlich erzählter Roman mit einer starken und
brandaktuellen Message.
Thomas Geldner
Das Kostbarste aller Geschenke
Notizen 10. 05. 2010 – 09. 07. 2012
Andreas Unterweger
Erwin Uhrmann
Erwin Uhrmann
Ich bin die Zukunft
Innsbruck: Limbus 2014.
174 S.
Andreas Unterweger
Das Kostbarste aller Geschenke
Graz: Droschl 2013.
179 S.
«An einem Sonntagabend im Juli begann Sebastian
Leitner zu schweigen.» So beginnt die Geschichte,
die von einem jungen Mann erzählt, der nach
einem Streit mit seiner Frau Hanna alles zurücklässt und sich auf den Weg in die Berge macht.
Davor gibt es noch einen Termin bei seiner Bank,
die ihm den Kredit für sein Haus fällig gestellt
hatte. Leitner sitzt schweigend vor seinem Bankberater Ganslick, der unaufhörlich auf ihn einredet
und in Leitners Wahrnehmung immer mehr zu
Gustav Gans aus Entenhausen wird – eine köstliche Szene. Leitner zieht sich tief in die Alpen zurück und gelangt schließlich zu einem Berghaus,
wo eine alte Dame völlig allein und zurückgezogen
lebt. Er mietet sich für einen Monat ein und geht
seiner Wirtin bei allerhand Arbeiten zur Hand.
Aus einem Monat werden etliche Jahre und nachdem die Alte stirbt, bleibt Leitner alleine in dem
Berghaus zurück. Er hält Tiere, baut Gemüse
an und fristet ein vergnügliches Einsiedlerdasein.
Doch dabei soll es nicht bleiben, denn merkwürdige Dinge geschehen. Zunächst ändert sich
das Wetter, es wird zusehends wärmer und die
vier Jahreszeiten verwandeln sich in eine Nassund eine Sonnenzeit. Auch die Landschaft verändert sich: es wird immer trockener und auch die
Baumgrenze verschiebt sich in immer höher
gelegene Bereiche. Als dann auch die Materialseilbahn ihren Dienst quittiert und gerade noch
eine Nachricht schickt, aus der hervorgeht,
dass es keine Banken mehr im Tal gibt, wird die
Sache unheimlich. Zuletzt erscheint auch noch
die Nichte der alten Dame im Berghaus und
berichtet von einem schrecklichen Chaos in der
Welt, ausgelöst durch Umweltkatastrophen und
einem «Systemfall»…
Kinder brauchen Zeit, das ist nichts Neues. Das
gilt auch für Schriftsteller, die sich in der «Papaisierung» üben müssen. Da bleibt zum Schreiben
wenig Zeit. Daher ist die Notiz für Andreas
Unterweger jene literarische Form, «die sich mit
seinem neuen Dasein als Familienvater noch am
ehesten vereinbaren lässt. (Wenn er nur eine Hand
frei hätte, denkt er, um das aufzuschreiben.)»
Folglich wählt der junge Autor die Notiz, um
den Prozess des Vaterseins literarisch darzustellen. Was am Anfang ein wenig fremd anmutet,
wird im Laufe der Lektüre zu einer höchst interessanten und ansprechenden Leseerfahrung. In
mathematisch penibel angeordneten Abschnitten
erzählt Andreas Unterweger vom Dasein als Vater
und von den mannigfachen Erfahrungen, die
damit einhergehen. Die Sprachfindung und die
ersten Wörter des Kindes sind dabei genauso
Thema wie das Leben in einer Patchwork-Familie,
verschiedene Reisen (Frankfurter Buchmesse,
Berlin) und natürlich der ständige Kampf mit dem
Schreiben bzw. mit dem Ringen um die Zeit, die
einem dafür zur Verfügung steht. Garniert wird
das Ganze mit einer ganzen Reihe von Zitaten
namhafter Persönlichkeiten wie etwa Goethe, Bob
Dylan oder Philip K. Dick, der schon beim Titel
Pate gestanden hat.
Es ist erstaunlich, wie sich all diese Notizen
zu einem Sprachmosaik zusammenfügen, das in
knappster Form eine umfassende und in sich
schlüssige Geschichte erzählt. Dabei sind die einzelnen Notizen durchaus unterschiedlich, mal
lyrisch oder philosophisch, dann wieder sehr
komisch und sprachspielverliebt, z.B. bei all den
Wortkreationen, die das Kind zustande bringt: so
sagt es Pflaxta statt Pflaster, Lalabär statt Koala
oder Neemann und Muh zu Schneemann und Kuh,
wobei der Weihnachtsmann und sein Rentier
gemeint sind. Auch die Selbstironie kommt nicht
zu kurz, etwa wenn der Vater seine Tochter beruhigen möchte: «Wenn der Papa da ist, brauchst
du keine Angst zu haben, sagt er. Sie lächelt (milde,
denkt er) – und schüttelt den Kopf.»
Insgesamt ist das Das Kostbarste aller Geschenke
ein reizvoller und absolut lesenswerter autobiographischer Text. Allein schon durch die Form,
denn nur mittels Notizen auf diese Art zu erzählen, ist eine beachtenswerte und innovative
Leistung.
Thomas Geldner
Der Sommer der Wildschweine
Birgit Vanderbeke
Birgit Vanderbeke gewann 1990 mit ihrer
Erzählung Das Muschelessen den Ingeborg-Bachmann-Preis. Seit dem hat sie einige weitere
Literaturpreise gewonnen und zahlreiche Romane
und Erzählungen vorgelegt. Ihr jüngster Roman
Der Sommer der Wildschweine spielt in Südfrankreich, in der Wahlheimat der deutschen Autorin.
Die Protagonistin Leo und ihr Mann Milan
verbringen den Sommer in einem Ferienhaus im
Languedoc. Zu Beginn schafft es Vanderbeke
durchaus Spannung aufzubauen und die Neugierde der Leserschaft zu wecken: «Und es war der
Sommer, in dem alles anders wurde.» Man meint,
es handle sich um einen Sommer der Krise in der
Ehe des Paares, durch einen besonderen Vorfall
hervorgerufen, der irgendetwas mit dem hohen
Zaun zu tun haben dürfte, der das Grundstück, auf
dem das Ferienhaus steht, umgibt. Der Zaun soll
die Gärten und Felder der Bewohner vor den
Wildscheinen schützen, die immer öfter aus den
Cavennen in die Täler kommen, um dort alles zu
zerstören. Die Spannung kommt zum Höhepunkt,
als ein großes Unwetter aufzieht, das Leo und
Milan beinahe komplett von der Außenwelt abschneidet: ohne Strom, Internet und Telefon ist das
Paar kurze Zeit auf sich alleine gestellt, beginnt
sich zu sorgen, ob die mittlerweile erwachsenen
Kinder nicht versuchen, ihre Eltern zu erreichen.
Doch anstatt eines «Erdbebens» der Ereignisse,
passiert so gut wie nichts. Viele Themen werden
von Vanderbeke ganz nebenbei angerissen: Terrorismus, Naturkatastrophen, Ökologie, Wirtschaftskrise etc. ohne dabei auch nur annähernd
in die Tiefe zu gehen. Es ist nicht schwer, den
Gedankengängen der Autorin zu folgen, doch es
scheint kein konkretes Ziel zu geben, keine
Schlüsse, keine Betrachtungen, die es wert sind,
darüber länger nachzudenken. Die Sätze ziehen
vorbei, das nur 151 Seiten kurze Buch wird länger und länger, ohne auch nur den Hauch einer
Spur im Gedächtnis der Lesenden zu hinterlassen.
Worum geht es Vanderbeke tatsächlich? Eine
Frage, die von Seiten der Rezensentin nicht beantwortet werden kann.
Katharina-Marie Bergmayr
24
Besprechungen
Winter 2014/15
25
Belletristik
Der Bibliothekar, der lieber dement
war als zu Hause bei seiner Frau
Dimitri Verhulst
Der 1972 geborene flämische Schriftsteller Dimitri
Verhulst, dessen vorangegangenen Romane mit
zahlreichen Preisen bedacht und in 25 Sprachen
übersetzt wurden, wagt sich in Der Bibliothekar,
der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau an
das schwierige Unterfangen, das Thema Demenz
humorvoll zu betrachten.
Désiré Cordier ist knapp über siebzig als er
beschließt, dass sein Leben nicht so weitergehen
kann wie bisher. Der pensionierte Bibliothekar,
dessen körperliche Kräfte zunehmend schwinden,
sieht sich in einer kleinen Wohnung eingesperrt,
zusammen mit einer Ehefrau, die ihn permanent
kritisiert und mit Genuss vor der Familie lächerlich macht. So kommt Désiré auf die Idee, in die
Rolle eines Demenzkranken zu schlüpfen, um der
drückenden Enge seines Daseins zu entkommen.
Es beginnt mit kleinen Vergesslichkeiten, dank
seiner akribischen Studien des Krankheitsbildes
verschlechtert sich der Zustand des falschen
Kranken aber rapide und sehr überzeugend, bis
die Situation für seine Frau schließlich unerträglich wird. Schließlich erreicht er, ins Pflegeheim
Winterlicht gebracht zu werden, wo er nicht
nur auf einen unverbesserlichen Nazi, sondern
auch auf seine alte Jugendliebe Rosa Rozendaal
trifft. Doch was Désiré als einfaches, ruhiges
Leben ohne Verantwortung erscheint, entpuppt
sich schließlich als schwieriger als angenommen…
Dimitri Verhulst hat einen Unterhaltungsroman geschrieben, dem es stellenweise gelingt, ein
ernstes Thema humorvoll zu vermitteln und in
dem berechtigte Kritik am Umgang mit Demenzkranken geübt wird. Doch auch wenn die Grundidee reizvoll erscheint, entwickelt sich eine
vorhersehbare Geschichte ohne viel Gehalt, für
die selbst bescheidene 140 Seiten noch zu lang
erscheinen. Auch die teilweise recht derbe Sprache
sowie die expliziten Schilderungen körperlicher
Vorgänge tragen nicht zum Lesevergnügen bei. So
erweist sich Der Bibliothekar, der lieber dement war
als zu Hause bei seiner Frau als wenig anspruchsvolle Lektüre für zwischendurch.
Carina Brandstetter
Birgit Vanderbeke
Der Sommer der Wildschweine
München: Piper 2014.
151 S.
Dimitri Verhulst
Der Bibliothekar,
der lieber dement war
als zu Hause bei seiner Frau
Aus dem Niederländ.
München: Luchterhand 2014.
140 S.
Besprechungen
Krimi und Thriller
Gone Girl
Das perfekte Opfer
Totenmond
Sven Koch
Gillian Flynn
Bitter im Abgang
Aldo Cazzullo
Aldo Cazzullo
Bitter im Abgang
Aus dem Ital.
München: C.H. Beck 2014
151 S.
Italien ist ein ausgesprochen dicht besiedeltes Krimi-Land – kaum ein Landesteil, der nicht auf
seinen eigenen Commissario verweisen kann. Das Piemont war bis jetzt Schauplatz der Krimis
von Michael Dibdin oder Michael Böckle, nun gesellt sich ein schmaler, ungewöhnlicher Kriminalroman von Aldo Cazzullo dazu. Cazzullo schrieb jahrelang für den Politikteil der renommierten
Tageszeitung La Stampa und debütiert mit Bitter im Abgang als Buchautor. In klarer, kühler und
einfacher Sprache wird vom Mord an einem alten Mann erzählt. Der erfolgreiche Weinbauer
Moresco, Partisane im Zweiten Weltkrieg und mittlerweile einer der reichsten Männer der Trüffelstadt Alba, wird erschossen im Wald gefunden. Getreu dem Motto, dass das Vergangene nie
vorüber ist, liegt der Schlüssel zur Aufklärung in der Vergangenheit des Opfers versteckt. Anders
als bei den erfolgreichen Reihen von Donna Leon oder Henning Mankell bleibt Aldo Cazzullos
Kommissar dezent im Hintergrund. Sein Name bleibt ungenannt und man erfährt kaum etwas
über sein Privatleben. Weder wird im Kreis der Familie zu Abend gegessen, noch werden
seelische Befindlichkeiten vor der Leserschaft ausgebreitet. Der Autor verbindet gekonnt den
Kriminalfall mit einer Liebesgeschichte und der Geschichte der Partisanenkämpfe im Piemont
und flicht diese drei Erzählstränge, unterschiedliche Zeitebenen verbindend, zu einem stimmigen, kurzweiligen und Interesse an der jüngeren italienischen Geschichte weckenden Krimi.
Viel zu wenig weiß man, oder zumindest die Rezensentin, von den Partisanenkämpfen in Italien.
Vielleicht kennt und kann man «Bella Ciao» mitsingen, jedoch ist einem nach der Lektüre dieses Buches klar, dass die PartisanInnen selbst dieses Lied nie angestimmt haben.
Es ist Cazzullo ein kurzer, klassisch anmutender Kriminalroman gelungen, der auch historisch
Interessierte ansprechen wird.
Irene Scheiber
Lenauwahn
Ein Wiener Kaffehauskrimi
Hermann Bauer
Lenauwahn
Ein Wiener Kaffehauskrimi
Meßkirch: Gmeiner-Verlag 2013.
307 S.
Hermann Bauer
Eine Verbrechens-Serie um Allerheiligen rückt
das Traditionscafé Heller in Wien-Floridsdorf in
den Mittelpunkt der von Oberinspektor Juricek
geführten Ermittlungen. Das Grab eines pensionierten Gymnasialprofessors wird geschändet,
sein Neffe verschwindet spurlos, ein Schüler wird
auf dem Friedhofsgelände bewusstlos geschlagen,
und zu guter Letzt findet man auch noch den
Pianisten des Kaffeehauses erdrosselt auf. Oberkellner Leopold, ein passionierter HobbyKriminalist, nimmt eigene Ermittlungen auf:
mit Hilfe eines befreundeten Stammgastes sucht
er nach einer Verbindung zwischen den scheinbar zusammenhanglosen Verbrechen. Durch die
Entschlüsselung einiger in Anagramm-Form
abgefasster Gedichtzeilen aus dem Nachlass des
verstorbenen Gymnasiallehrers stößt er auf die
Gruppe der »Lenaubrüder«, einen Stockerauer
Absolventen-Verein des Floridsdorfer Gymnasiums zur Pflege des Andenkens an den Biedermeier-Dichter Nikolaus Lenau…
26
Besprechungen
Lenauwahn ist der bereits sechste Band einer
»Kaffeehaus-Krimireihe« um den Floridsdorfer
Oberkellner Leopold Hofer. Damit ist Hermann
Bauer auf dem besten Weg, sich im ständig
wachsenden Genre österreichischer RegionalKrimis zu etablieren, das von AutorInnen wie
Edith Kneifl, Eva Rossmann, Wolf Haas und
Alfred Komarek populär gemacht wurde. Dramaturgische wie stilistische Schwächen tun dem
Lese-Vergnügen keinen Abbruch. Der hohe Wiedererkennungs- und Identifikationswert der
Krimireihe sollte vor allem bei »gelernten Wienern« gut ankommen. Mit dem Wienerischen
nicht so Vertraute können auf ein Glossar von im
Buch verwendeten Ausdrücken im Anhang zurück greifen.
Den einzelnen Kapiteln sind Kurz-Zitate aus
Lenau-Gedichten vorangestellt. Das wirkt etwas
aufgesetzt und riecht nach einem »volksbildnerischen« Ansatz, ist aber nicht weiter verwunderlich, wenn man weiß, dass der Autor im Brotberuf als Deutschlehrer tätig ist. Vor Lenau
war Nestroy dran (im Roman Nestroy-Jux), im
kommenden Buch soll Arthur Schnitzler eine
Rolle spielen…
Liebe, Täuschung, Betrug, Hass und Rache sind
nur einige der Zutaten, die die New Yorker
Jungautorin Gillian Flynn in ihrem dritten, von der
internationalen Presse hochgelobten und als
Mega-Filmdeal fixierten Bestseller Gone Girl zu
einem Ehethriller der Sonderklasse vermischt.
Amy, einst Vorbild für die Kinderbuchserienheldin
«Amazing Amy», und Nick Dunne sind Mitte
Dreißig, Journalisten und arbeitslos, ihre Ehe
scheint zumindest nach außen hin glücklich. Die
Handlung des Buches setzt am fünften Hochzeitstag des Paares ein und eröffnet ein perfides
und grauenvolles Spiel um Angst, Lüge und Rache:
Nick wird von seinem Nachbarn nach Hause
gerufen, da einige Dinge seltsam erscheinen: Die
Eingangstüre steht offen, das Haus ist verwüstet
und Amy scheint spurlos verschwunden. Schon
bald rückt Nick als Hauptverdächtiger ins Visier
der Ermittler und gerät in Panik. Im ersten Teil
des Romans mit dem Titel Junge verliert Mädchen
gewinnt man als Leser die Erkenntnis, dass die
Ehe der beiden Protagonisten in Wahrheit ein
Martyrium ist und jeder dem anderen etwas vorspielt. Den Inhalt des zweiten Teils Junge trifft
Mädchen zu verraten, würde der Spannung
Abbruch tun, nur so viel sei gesagt: er erzeugt ein
Wechselbad der Gefühle und Mutmaßungen.
Was ist tatsächlich passiert? Wo ist Amy wirklich?
Wer ist schuldig, wer das Opfer?
Die Autorin versteht es brillant, ein überzeugendes Psychogramm der beiden Protagonisten
zu zeichnen, Gut und Böse bis in den tiefsten
Abgrund hinein auszureizen und dem Leser raffiniert konstruiert vor Augen zu führen, zu welchen grausamen Taten Ehepartner fähig sein
können. Geschickt verquickt Flynn die verschiedenen, immer wieder unvorhergesehen die
Richtung wechselnden Handlungsstränge und
präsentiert einen Roman, der sich genremäßig
nicht ganz eindeutig dem Psychothriller zuordnen
lässt: für einen Krimi oder Thriller scheint mir
vor allem im ersten Teil zu wenig nachhaltige Spannung aufgebaut zu werden. Über längere Strecken hinweg erfordert die Lektüre Durchhaltevermögen, wer sich aber über die erste Hälfte des
Buches hinweggekämpft hat, wird im zweiten und
dritten Teil mit viel Gänsehaut belohnt. Wermutstropfen ist der etwas an den Haaren herbeigezogene und nicht wirklich stimmige Schluss.
Sissy Schiener
Franz Plöckinger
Winter 2014/15
27
Krimi und Thriller
2010 veröffentlichte der Journalist und Fotograf
Sven Koch seinen ersten Kriminalroman Purpurdrache rund um die attraktive Polizeipsychologin Alexandra von Stietencron, zwei Jahre später
folgte Brennen muss die Hexe; mit Totenmond liegt
nun der bereits dritte Fall der Reihe vor.
Wie schon in den beiden Vorgängern spielt die
Handlung auch diesmal wieder in der fiktive Stadt
Lemfeld in Nordrhein-Westfalen. Ein makaberer
Leichenfund ruft die Kripo Lemfeld an den Schauplatz eines besonders brutalen Verbrechens. Ein
junges Mädchen wurde ausgeweidet und an einem
Seil aufgeknüpft. Am Tatort finden sich neben
Prankenspuren an der Leiche auch Haare vom Fell
eines Leoparden, unbekannte Schriftzeichen an
den Wänden lassen auf einen Ritualmord schließen. Natürlich bleibt es nicht bei einer Toten, und
als Alexandra feststellt, dass der Mörder immer
in Vollmondnächten zuschlägt und ihr zuvor Briefe mit Hinweisen in Liedform auf das nächste
Opfer sowie den nächsten Tatort zuspielt, erkennt
sie, dass der Killer ein perfides Katz-und-MausSpiel mit ihr spielt. Er stilisiert sie zur Jägerin und
zugleich zum nächsten Opfer. Eine Spur führt Alex
bis an die Elfenbeinküste, wo sie die ersten Opfer
ihres Killers aufspürt und von ihrem afrikanischen
Polizeikollegen vom Mythos der Leopardenmenschen erfährt.
Totenmond ist kurzweilig und spannend,
wenngleich die Handlung bisweilen etwas konstruiert wirkt. Die Motive des Mörders wurzeln in
frühkindlichen Traumata, was dem Autor bzw.
seiner Protagonistin Alexandra von Stietencron
reichlich Gelegenheit für psychologische Erklärungen gibt. Sven Kochs Krimis ist aus formalen
(spannende Schreibweise) wie inhaltlichen
(Ritualmörderthematik kombiniert mit ProfilingElementen) Gründen ein treues Publikum sicher.
Bettina Raab
Gillian Flynn
Gone Girl
Das perfekte Opfer
Aus dem amerikan. Engl.
Frankfurt am Main:
Fischer 2013.
575 S.
Sven Koch
Totenmond
München: Droemer 2013.
395 S.
Das Haus des Windes
Mord und Mandelbaiser
Louise Erdrich
Jutta Mehler
Vermisst
Avi Avraham ermittelt
Dror Mishani
Louise Erdrich
Das Haus des Windes
Aus dem Amerikan.
Berlin: Aufbau 2014.
383 S.
Am Anfang steht ein grauenhaftes Verbrechen, das eine ganze indianische Reservation in
North Dakota erschüttert: die Mutter des 13jährigen Ojibwe Joe Coutts wird brutal vergewaltigt
und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Völlig traumatisiert zieht sich die Frau in ihr Zimmer
zurück und lange Zeit spricht sie kein Wort, auch nicht zum Tathergang. Trotzdem kann nach
einiger Zeit ein Verdächtiger ausgeforscht und festgenommen werden. Doch die Erleichterung
ist nur von kurzer Dauer, denn was nun folgt ist eine juristische Farce, die es in dieser Form auch
in der Realität immer wieder gegeben hat: da der genaue Ort des Verbrechens nicht lokalisiert
werden kann und somit die Frage offen bleibt, ob die Tat inner- oder außerhalb des Reservats
begangen wurde, fühlt sich keine Behörde zuständig und der mutmaßliche Täter wird freigelassen.
Joe und seine Familie sind am Boden zerstört, doch der couragierte Junge will nicht resignieren
und diese Ungerechtigkeit einfach hinnehmen: er beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und
nimmt die Sache letztendlich selbst in die Hand…
Louise Erdrich weiß genau, wovon sie schreibt; sie ist selbst in einer Reservation in North
Dakota aufgewachsen und ist mit der Situation und Mentalität der Menschen dort bestens vertraut. Daher gelingt es ihr, eine sehr authentische Geschichte vorzulegen, die trotz der traurigen
Thematik mit viel Esprit, Witz und Humor erzählt wird.
Der Roman lebt von der liebevollen Darstellung der einzelnen Charaktere, die das Buch zu
einem wunderbaren Porträt der indianischen Welt machen: Joe ist ein echter Kämpfer, der sich
schützend vor seine Familie stellt und binnen kürzester Zeit erwachsen werden muss. Der Vater
ist sehr besonnen und versucht ständig, mäßigend auf den Sohn einzuwirken. Onkel Whitey hingegen ist eine Art «Indianer-Elvis», der gerne einen über den Durst trinkt, vorzugsweise mit seiner
feschen Freundin Sonja, die wiederum dem Rest der Männerwelt den Kopf verdreht. Dann gibt
es noch Mooshum, den hundertjährigen Großvater, der oft von alten Zeiten und vergangenen
Liebschaften spricht, am liebsten mit Grandma Thunder, die Joe und seine stets hungrigen
Freunde nicht nur gerne bekocht, sondern den Jungs auch deftige Ratschläge in Sachen Erotik
mit auf den Weg gibt.
Mit dem Haus des Windes ist Louise Erdrich ein wirklich großer Wurf gelungen. Das Buch, das
von der Kritik hochgelobt und in den USA mit dem National Book Award 2012 ausgezeichnet
wurde, ist spannend bis zur letzten Seite, ein brillanter literarischer Thriller, der tief berührt und
lange nachwirkt.
Thomas Geldner
Henning Mankell
Mord im Herbst.
Ein Fall für Kurt Wallander
Aus dem Schwed.
Wien: Zsolnay 2013.
140 S.
Mord im Herbst
Ein Fall für Kurt Wallander
Henning Mankell
Den schwedischen Bestsellerautor Henning
Mankell braucht man wohl nicht mehr näher
vorzustellen. Im Fernsehen ist sein Kommissar
Wallander vor kurzem mit Alzheimer in die
wohlverdiente Pension geschickt worden. Auch
die Romanserie galt als abgeschlossen, doch wie
so oft bei Bestsellerautoren taucht dann zur
Freude der Verleger und der Fans doch noch
unveröffentlichtes Material auf. Im vorliegenden
Fall handelt es sich um eine Wallander-Geschichte
aus dem Jahre 2004. Mord im Herbst wurde in
Holland im Rahmen einer Gratisbuchaktion verteilt und erst vor kurzem vom Autor zur Veröffentlichung freigegeben. Zeitlich ist die Geschichte
zwischen Vor dem Frost und Der Feind im
Schatten angesiedelt.
28
Besprechungen
Wie zumeist bei Wallander-Krimis changiert
die Stimmung zwischen Melancholie und
Depression, der in die Jahre gekommene Kommissar steht am Rande des Burnouts. Seine Tochter Linda wohnt noch bzw. wieder bei ihm und er
träumt von einem ruhigen Leben am Land. Da
kommt das Angebot seines Kollegen Martinsson
für ein Haus gerade recht. Sehr interessiert fährt
Wallander zur Besichtigung und stolpert prompt
über eine skelettierte Hand; bald darauf wird im
Garten noch ein zweites Skelett gefunden. Statt
des erhofften Hauses hat Wallander jetzt einen
mysteriösen Doppelmord aufzuklären, der anscheinend weit in die Vergangenheit zurückreicht.
Die Qualität der Geschichte reicht nicht ganz
an die übrigen Wallander-Krimis heran; das mag
auch der Grund für die späte Veröffentlichung
sein. Der wirkliche Wermutstropfen für die Fangemeinde wird aber wohl eher die Kürze des
Buches sein…
Jutta Mehler ist dem deutschsprachigen Krimipublikum spätestens seit ihren Romanen um die
Hausfrau Fanni Rot ein Begriff. Im vorliegenden Kriminalroman Mord und Mandelbaiser spioniert aber nicht die umtriebige Fanni Rot, sondern
drei noch sehr rüstige Damen in ihren Sechzigern.
Ermittelt wird wie gehabt in Niederbayern,
in den fiktiven Städtchen Moosbach, Granzbach,
Scheuerbach und Straubing. Die charakterlich
sehr unterschiedlichen Damen blicken auf eine
gemeinsame Schulzeit im Straubinger Ursulinenkloster zurück und erneuern ihre Freundschaft
jeden Mittwochnachmittag im Café Krönner,
einem Mehlspeisparadies. Bei einem dieser
Treffen hat Hilde, die ehemalige Besitzerin eines
Bestattungsunternehmens, das jetzt von ihrem
Neffen Rudolf geführt wird, ungewöhnliche
Neuigkeiten. Sie erzählt ihren Freundinnen Wally
und Thekla, dass ihr Neffe an der Leiche des
ortsbekannten Dichters Hermann Lanz ominöse
Hausausschläge entdeckt hat. Mehr aus Neugier denn aus kriminalistischem Interesse macht
sich das Dreigespann daran, der Ursache der
ungewöhnlichen Bläschen auf die Spur zu
kommen. Hilde erhofft sich Aufklärung von
Thekla, die in der Apotheke ihres Bruders
mitarbeitet und seit jeher großes Interesse an der
Pharmazie hat. Schon bald entdeckt Thekla in
einer Überdosierung von Barbituraten die
wahrscheinlichste Ursache für die Flecken und
kommt dadurch noch weiteren verdächtigen
Todesfällen auf die Spur. Das lockt allerdings den
skrupellosen Mörder, der bisher unbemerkt töten
konnte, aus seinem Versteck und bringt die drei
Miss Marples in höchste Gefahr.
Die Handlung der Geschichte umfasst drei
Wochen und hat mit den drei älteren Damen und
dem jeweiligen familiären Umfeld ein ausbaufähiges Personeninventar zu bieten. Neben der
ruppigen Hilde und der umgänglichen Thekla
komplettiert Wally, die korpulente und naive
Tischlergattin, die Mehlspeisrunde. Durch die
plastische Umsetzung der Figuren und deren unterschiedliche Ermittlungsmethoden entwickelt
der Kriminalroman eine reizvolle Dynamik.
Wer Jutta Mehlers Fanni Rot-Bücher zu schätzen
weiß, wird aber auch hier voll auf seine Kosten
kommen. Wie gewohnt eine harmlose, dahinplätschernde, aber durchaus unterhaltsame Story
und vermutlich der Auftakt zu einer neuen Reihe.
Bettina Raab
Peter Hörschelmann
Winter 2014/15
29
Krimi und Thriller
Als Inspektor Avi Avraham mit einer Vermisstenanzeige betraut wird, denkt er zunächst an
einen Routinefall. Ofer, ein 16-jähriger Junge aus
einer Satellitenstadt Tel Avivs, ist nicht von der
Schule nach Hause gekommen. Die Recherchen
ergeben, dass offenbar niemand an besagtem Tag
Ofer gesehen oder mit ihm Kontakt hatte. Einzig
Seev Avni, ein Nachbar der Familie und Ofers
Nachhilfelehrer, scheint an dem Fall interessiert
zu sein. Er will die Polizei bei ihren Nachforschungen unterstützen und beginnt fiktive Briefe,
geschrieben aus der Sicht des Jungen an Ofers
Eltern zu schicken, was diese jedoch für sich behalten. Als Seev der Polizei schlussendlich gesteht,
Autor der Briefe zu sein, bekommt der Fall eine
völlig neue Wendung und Ofers Eltern geraten ins
Zentrum der Ermittlungen. Der Inspektor
Avraham ist ein dicklicher Mann voller Selbstzweifel. Als Jude aus dem Mittleren Osten erfreut
er sich bei den alteingesessenen Israelis nur
mäßiger Beliebtheit, im Grunde wird ihm nicht
zugetraut, schwierige Aufgaben zu lösen.
Der Autor Dror Mishani hat als Lektor eines
israelischen Verlags die Wallander-Krimis bearbeitet, mit Vermisst gelingt dem Literaturwissenschafter nun ein spannender Debütroman. Israel
hat nach Batya Gur wieder einen Krimiautor von
internationalem Format und man darf gespannt
auf weitere Bücher mit Avi Avraham warten.
Jutta Mehler
Mord und Mandelbaiser
Köln: Emons 2013.
219 S.
Thomas Buraner
Caddielove
Ein Fall für Mayer und Katz
Sabine Naber
Ein Mord auf einem Wiener Golfplatz ist eine
nicht alltägliche Begebenheit, sodass die beiden
Ermittler Mayer und Katz zunächst vor einem
scheinbar unlösbaren Rätsel stehen.
Chefinspektor Katz recherchiert als Undercoveragent heimlich den Lebenswandel einiger
Clubmitglieder; bald schon führen die Ermittlungen zu weit in der Vergangenheit liegenden dramatischen Ereignissen. Als schließlich ein weiterer Mord passiert, ist den Polizisten klar, dass
die Aufklärung des Verbrechens weit diffiziler ist
als vorerst angenommen.
Sabine Naber gelingt mit Caddielove, dem
zweiten Roman um das Duo Mayer &Katz, ein
solider Thriller, der sich auf sehr speziellem
Terrain bewegt. Die studierte Theaterwissenschafterin folgt der klassischen Vorgabe der
Dror Mishani
Vermisst
Avi Avraham ermittelt
Aus dem Hebr.
Wien: Zsolnay 2013.
350 S.
Sabine Naber
Caddielove
Ein Fall für
Mayer und Katz
Meßkirch: Gmeiner 2014.
341 S.
C.S. Forester
Tödliche Ohnmacht
Aus dem Engl.
München: Deutscher
Taschenbuch Verlag 2013.
277 S.
Tödliche Ohnmacht
Galveston
C.S. Forester
Nic Pizzolatto
Der englische Schriftsteller und Journalist Cecil Lewis Troughton Smith, bekannt unter seinem
Pseudonym C.(ecil) S.(cott) Forester zählte mit seinen marinehistorischen Hornblower-Romanen
zu den beliebtesten Autoren der 50er und 60erJahre des letzten Jahrhunderts. Er bewegte sich
aber, wie ein 1935 entstandener, lange verschollener und 2011 unter dem englischen Titel The
Persuade publizierter Kriminalroman zeigt, auch überaus versiert in anderen literarischen Genres.
Der nun im Dt. Taschenbuchverlag ins Deutsche übersetzte und unter dem Titel Tödliche
Ohnmacht herausgegebene Kriminalroman durchleuchtet die psychologischen Tiefen der
menschlichen Seele und zieht den Leser in den Bann eines Ränkespiels um Liebe und Leidenschaft, Eifersucht und Mord, eingebettet in die Londoner Gesellschaft der Dreißigerjahre.
Marjorie, mit dem herrischen, lieblosen und gleichgültigen Ted verheiratete Hausfrau und Mutter
zweier Kinder, kommt nach einem Treffen mit ihrer besten Freundin Millicent Dunne heim und
findet ihre babysittende Schwester Dot leblos auf dem Küchenboden, den Kopf im Gasherd. Alles
deutet auf Selbstmord hin, doch sie und ihre Mutter glauben nicht daran, sondern vermuten
eine verhängnisvolle Affäre zwischen Ted und Dot; als bekannt wird, dass Dot schwanger war,
ensteht ein perfider Plan, Ted für seine mutmaßlichen Taten zu bestrafen.
Obwohl der Leser von Anfang an ahnt, wer der Mörder ist, gelingt es Forester auf unnachahmliche Weise, Spannung zu erzeugen und bis zur letzten Seite aufrecht zu erhalten. Psyche und
emotionale Befindlichkeiten der Protagonisten werden plastisch aber unpathetisch beschrieben
und ihre Handlungen logisch nachvollziehbar in einen sich stets steigernden und verdichtenden
Spannungsbogen eingeflochten. Ihre Charaktere sind nicht überzeichnet, sondern schildern
Menschen wie du und ich. Foresters Kriminalroman ist kurzweilig, zeitlos und aktuell, was Thema
und Stil betrifft. Eine ansprechende Lektüre für ent- und trotzdem spannende Mußestunden.
Roy Cady, Berufskiller und Eintreiber im Dienste des Gangsterboss‘ Stan Ptitkos hat nicht gerade
seinen besten Tag – gerade eben wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert, dazu entpuppt sich
der abendliche Auftrag als Falle seines eifersüchtigen Chefs. Zwar kann Roy gerade noch entkommen, findet sich aber in Gesellschaft der jungen Rocky, die er zuerst nur widerwillig auf seine
Flucht in die titelgebende Stadt Galveston mitnimmt. Dennoch fassen der alternden Killer und die
jugendliche Gelegenheitsprostituierte Vertrauen zueinander und es entwickelt sich so etwas wie
Zuneigung zwischen den beiden. Letztendlich muss sich Roy sowohl den Schatten seiner Vergangenheit stellen, als auch eine schwerwiegende Entscheidung treffen.
Galveston ist das Romandebüt des Amerikaners Nic Pizzolatto, der sich als Drehbuchautor und
Erfinder der Serie True Detective einen Namen gemacht hat. Der vorliegende Roman lässt sich
irgendwo zwischen den unscharfen Genrebezeichnungen Noir, Pulp und Hard-boiled verorten –
die Charaktere sind Außenseiter, Verlierer, ja klassische Antihelden, die sich in einer brutalen und
ungerechten Welt behaupten müssen. Trotz greller Gewalt- und Milieuschilderungen und
lakonischer Dialoge ist Galveston von einem zutiefst humanistischen Weltbild geprägt. Auch ist
Pizzolatto ein kluger Autor, der das Tempo der Geschichte zu drosseln versteht. Die zwei Zeitebenen erhöhen noch die Spannung des ohnehin fesselnden Romans, der Einblick in die Gedankenwelt des Roy Cady, aus dessen Perspektive erzählt wird, verleiht dem Buch Tiefe. Zusätzlich findet
sich für interessierte Lesende noch ein kurzes Nachwort des Übersetzers, der das Werk in der
Tradition des Noir lokalisiert.
Galveston ist ein gelungener und unterhaltsamer Debütroman, der Lesenden, die sich von den
teilweise drastischen Gewaltschilderungen nicht abschrecken lassen, durchaus gefallen wird.
Nic Pizzolatto
Galveston
Aus dem Amerikan.
Berlin: Metrolit 2014.
253 S.
Bernhard Pöckl
Sissy Schiener
Andreas Pittler
Charascho
Inspektor
Bronstein kehrt zurück
Wien: Echomedia 2014.
373 S.
Einheit von Zeit, Ort und Handlung und schafft
somit eine hermetisch abgeschlossene Atmosphäre, deren Rahmen der exklusive und elitäre
Golfsport ist. Die beiden Protagonisten wirken
äußerst sympathisch und authentisch und haben
somit hohes Identifikationspotential.
Der eigentliche Plot ist etwas gewöhnungsbedürftig, überrascht immer wieder mit skurrilen
Momenten und vergisst auch nicht auf die
humorvoll-ironische Auseinandersetzung mit dem
Thema Golf. Die Autorin gesteht auf intensive
Nachfrage 38 Morde in ihren Kurzgeschichten und
Romanen, man darf also gespannt sein, wie viele
noch folgen werden. Für Sportbegeisterte und
Detailinteressierte findet sich im Anhang ein
Glossar.
Thomas Buraner
Charascho
Inspektor Bronstein kehrt zurück
Andreas Pittler
Endlich liegt mit Charascho der sechste (oder
siebente, wenn man Mischpoche, eine Kurzgeschichtensammlung rund um David Bronstein
dazu zählen will) Band der sogenannten «Bronstein-Serie» vor. Nachdem Zores mit Bronsteins
Flucht vor den Nazis per Eisenbahn einen recht
ungewissen Ausgang hatte, können die Fans von
30
Besprechungen
Andreas Pittler und David Bronstein nun aufatmen: Die Handlung des Romans setzt mit dem
Ende des Zweiten Weltkriegs ein, Bronstein hat
überlebt und schafft es über Umwege zurück nach
Wien. Hier muss er sich aber erst wieder einleben – die Kaffeehäuser sind geschlossen, die
Lebensmittelknappheit beherrscht den Alltag und
nicht einmal Trinkwasser ist einfach zu besorgen.
Trotz aller Widrigkeiten gelingt es Bronstein,
erneut bei der Polizei zu arbeiten und mit seinem
neuen Chef Heinrich Dürmayer begibt er sich auf
Naziverbrecherjagd.
Andreas Pittler gelingt es auch in Charascho auf
bewährte Art und Weise, Realität mit Fiktion zu
verquicken und so erhalten die LeserInnen neben
einem spannenden Wienkrimi auch noch eine
überaus unterhaltsame und lehrreiche Unterrichtsstunde in jüngster Zeitgeschichte. Heinrich
Dürmayer und Siegfried Seidl haben ebenso
existiert wie Franz Honner und natürlich Oskar
Helmer. Alles Namen, die der durchschnittliche
Österreicher wahrscheinlich noch nie gehört hat
und doch macht sie Pittler lebendig und man
beginnt sich unwillkürlich für ihr Schicksal und die
historischen Geschehnisse zu interessieren.
Wenn man den Gerüchten im Internet glauben
schenken darf, ist Carascho noch nicht der letzte
Band der beliebten Krimireihe, vielmehr wird
David Bronstein noch ein endgültig letztes (?) Mal
im Jahr 1955 ermitteln.
Winter 2014/15
Der studierte Historiker, Germanist und
Politologe verfasst intelligente Wienkrimis mit
fundiertem historischem Hintergrund, die nicht
nur lehrreich, sondern auch ausgesprochen
unterhaltsam und spannend sind.
Elisabeth Ghanim
Palermo Connection
Serena Vitale ermittelt
Petra Reski
Staatsanwältinnen haben es nicht leicht, schon
gar nicht in Süditalien, wie seit Allein gegen die
Mafia wohl Common Sense sein dürfte. Dementsprechend hart ist auch das Los von Serena
Vitale, Staatsanwältin und Heldin von Petra Reskis
Palermo Connection, die gerade einen aufsehenerregenden Prozess gegen einen Minister mit
vermeintlichen Verbindungen zum organisierten
Verbrechen führt. Drohbriefe, Verleumdungen
und Bespitzelung sind Begleiterscheinungen von
Serenas Job, doch zumindest gibt es mit dem Flirt
mit dem attraktiven Polizisten Romano einen
Lichtblick. Auch der deutsche Journalist Wieneke,
der sich ebenfalls in Palermo aufhält, findet sich
bald im Dunstkreis des Prozesses wieder. Er und
sein windiger Fotograf Giovanni hoffen auf eine
aufsehenerregende Geschichte über die Mafia mit
Deutschlandbezug und Einblick in die finsteren
Geschäfte.
31
Krimi und Thriller
Die bekannte deutsche Autorin und Journalistin Petra Reski publiziert bereits seit Jahren zum
Thema Mafia und kann auf eine beträchtliche
Liste von Veröffentlichungen zurückblicken.
Anders als der reißerische Titel vermuten lässt, ist
Palermo-Connection daher ein gut recherchierter,
nicht ganz unironischer Politthriller, der die
kritiklose Übernahme tradierter Mafiaklischees
hinterfragt. Das Spannungsfeld zwischen Politik,
Verbrechen und durch die wirtschaftlichen
Verhältnisse bedrängten Medien wird anschaulich
analysiert. Als Expertin reichert Reski ihren
Roman mit Anspielungen an, die die Lesenden
erst bei näherer Beschäftigung mit der Materie
verstehen können, Parallelen zu in Italien berühmten Mafiaopfern und –skandalen sind nicht von
der Hand zu weisen. Trotzdem ist der Text weder
belehrend noch sprachlich überfrachtet, die
Autorin präsentiert mit Serena Vitale eine
sympathische und überzeugende Heldin und
somit ein kurzweiliges, unterhaltsames Buch.
Palermo Connection ist ein spannender Roman,
der trotz des Themas nicht ohne Humor auskommt und für interessierte Thriller- und
Krimilesende sicherlich zu empfehlen ist. Bernhard Pöckl
Petra Reski
Palermo Connection.
Serena Vitale ermittelt
Hamburg: Hoffmann
und Campe 2014. 288 S.
Tod in der Walpurgisnacht
Karin Wahlberg
Karin Wahlberg
Tod in der Walpurgisnacht
Aus dem Schwed.
München: btb 2013.
603 S.
Chris Womersley
Beraubt
Aus dem Engl.
München:
Dt.-Verlag Anst. 2013.
308 S.
Karin Wahlberg stammt aus dem südschwedischen Kalmar und auch ihre Bücher haben
ihren Erzählmittelpunkt im Weichbild von Lund,
Kalmar und Oskarshamn. Eine Gegend, die
Krimilesern wohl bekannt sein dürfte, denn
Schwedens bekanntester Kommissar – Henning
Mankells Kurt Wallander – ermittelt an der
Südspitze des Landes in Ystad.
Nach etlichen Jahren als Lehrerin studierte
Wahlberg erst spät Medizin und arbeitet nun als
Ärztin an der Universitätsklinik von Lund. Gleich
mit ihrem Debütroman Die falsche Spur (2001)
erklomm sie die skandinavischen Bestsellerlisten
und mit Tod in der Walpurgisnacht liegt nun der
achte Krimi um den liebenswerten Kommissar
Claes Claesson und seine Frau, die Chirurgin
Veronika Lundborg, vor.
Hjortfors, ein alter Ort mit lebendiger Glasbläsertradition, idyllisch an einem See gelegen, ist
das Zentrum der Geschichte. Hier kommt es am
Abend des Walpurgistages zu einer schrecklichen
Entdeckung: eine brennende Leiche im Walpurgisfeuer beendet die Feierlichkeiten schlagartig.
Wie gut, dass die Polizei in Person von Claes
Claesson samt Familie sowie einem Kollegen an
Ort und Stelle ist und sofort eine Untersuchung
einleiten kann. Der Tote ist Johannes Skoglund,
ein alter, krebskranker Mann, der eine dominante
Rolle in der Gemeinde von Hjortfors und der
Glashütte gespielt hat. Doch wer sollte einen
Todkranken töten wollen?
In einer Parallelhandlung steht die Jungärztin
Hilda Glas, die von Veronika Claesson ausgebildet
wird, im Mittelpunkt. Das Mädchen hat seine
Wurzeln in Hjortfors, wo sie und ihr Bruder schon
in jungen Jahren auf tragische Weise zu Waisen
wurden und danach in Pflegefamilien aufwuchsen. Hilda findet im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung in alten Akten zufällig nähere
Informationen zum Tod der eigenen Mutter,
die in krassem Widerspruch zu den ihr überlieferten Berichten stehen. Ihre Nachforschungen
bringen die junge Frau bald in Lebensgefahr.
Stilistisch ist Wahlberg mit ihren schwedischen
Kolleginnen Ann Rosman, Camilla Läckberg oder
Viveca Sten vergleichbar. Auch hier werden die
Protagonisten und ihr Umfeld gut ausgeleuchtet,
jedoch geschieht dies bei Wahlberg noch sehr viel
ausufernder. Historische Abrisse, seitenweise
Beschreibungen des Krankenhausalltags sowie
Lokalkolorit in Hülle und Fülle stellen den Leser
bisweilen auf eine harte Geduldsprobe. Die Erzählspanne beträgt drei Monate, wobei aber
ständige Brüche in der Chronologie den Fluss
der Geschichte immer wieder bremsen. Für den
Spannungsaufbau bis hin zum Finale ist das zwar
32
Besprechungen
essentiell, doch tut es dem Lesevergnügen
gehörigen Abbruch. Ein strafferer Stil hätte dem
Plot gut getan, dennoch ist das Buch vor allem
wegen der wirklich gelungenen Auflösung der
vielen Parallelhandlungen lesenswert.
Besprechungen–Kinderbuch
Bilderbuch und Sachbilderbuch
Bettina Raab
Beraubt
Extragarn
An Mac Barnett, Jon Klassen
Chris Womersley
Die Handlung von Beraubt ist rasch erzählt: 1919
kehrt der nunmehr 26jährige Sergeant Quinn
Walker aus dem Ersten Weltkrieg nach Australien
zurück, nachdem er vor zehn Jahren seine Heimatstadt Flint nach dem Mord an seiner damals
12-jährigen Schwester Sarah fluchtartig verlassen
musste. Der wahre Täter wurde nie gefasst und so
versteckt sich der schwerhörige und durch eine
Narbe entstellte Ex-Soldat in den Bergen des
australischen Outbacks, wo er auf das gerissene,
lebenskluge Waisenmädchen Sadie Fox trifft. Das
Kind hätte von seinem Onkel Robert Walker, dem
nunmehrigen Distriktpolizisten, nach dem Tod
ihrer alleinerziehenden Mutter angeblich in ein
Kirchenhaus nach Bathurst gebracht werden sollen. Sadie, die die Rückkehr ihres im Krieg verschollenen Bruders Thomas abwarten will, hilft
Quinn, sich seiner Vergangenheit zu stellen…
Die Geschichte wird aus der Sicht des traumatisierten Quinn Walker erzählt; lediglich Prolog
und Epilog sind in auktorialer Erzählperspektive
verfasst. Wer einen klassischen Whodunnit-Kriminalroman erwartet, wird von Beraubt wohl enttäuscht sein: Sarahs Mörder wird nach den ersten
100 Seiten enthüllt, dennoch bietet das vorliegende Buch Spannungsliteratur im besten Sinne:
Der Protagonist macht dank der tatkrätigen
Unterstützung der resoluten, entschlossenen
Sadie eine tiefgreifende Wandlung von einem
verschlossenen, ängstlichen Einzelgänger zu
einem Mann, der Gerechtigkeit sucht, durch.
Der Roman besticht durch ungewöhnliche
Metaphern und Bilder der unwirtlichen Landschaft West-Australiens, die ihre formale
Entsprechung in der verknappten Sprache des
preisgekrönten australischen Autors finden.
Dagmar Feltl
Winter 2014/15
Jon Klassen, der mit Wo ist mein Hut? 2013 den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie
Bilderbuch gewonnen hat, illustriert in Extra Garn eine märchenhafte Geschichte des im deutschen Sprachraum kaum bekannten US-amerikanischen Autors Mac Barnett: Annabelle findet
eine Truhe mit einem Knäuel Wollgarn und zwei Stricknadeln – und strickt sich damit einen
Pullover. Doch das Garn ist danach noch nicht zu Ende, also strickt sie auch noch einen Pullover
für ihren Hund. Doch auch dann ist immer noch Garn in der Kiste, also strickt sie weiter – Pullover
für ihre KlassenkameradInnen, für Leute in der Stadt, für Tiere und sogar für Dinge, die üblicherweise keine Pullover tragen – und immer noch ist Garn in dem Kästchen. Mittlerweile hat sich das
Phänomen des nie endenden Garns herumgesprochen und ein habgieriger Erzherzog segelt
mit dem Schiff heran und will es Annabelle abkaufen. Da sie nicht bereit ist es herzugeben,
engagiert er drei Räuber, die das Kästchen stehlen. Doch als er in seinem Schloss angekommen
ist, sind darin nur die zwei Stricknadeln, das Garn ist verschwunden. Verärgert wirft er die kleine
Truhe aus dem Fenster und sie findet übers Meer zurück zu Annabelle und ist – dort angekommen – wieder mit dem bunten, endlosen Garn gefüllt. Die Moral der Geschichte muss wohl nicht
lang erklärt werden …
Der Text ist schlicht und erzählt auf ruhige und unaufgeregte Art. Die Illustrationen sind sehr
gelungen, fast bräuchte es den Text nicht, weil die Erzählung in den Bildern so deutlich umgesetzt ist. Die anfangs triste Stimmung in schwarz-braun-weiß ändert sich mit den farbigen
Maschen, die immer stärker die Bilder dominieren, die Menschen beginnen zu lächeln, die Stadt
wirkt lebendiger, das Garn wird – auch bildlich umgesetzt – zu einem verbindenden Element
und Annabelles Pullover wärmen so auch die Herzen. Extra Garn hat in den USA schon etliche
Preise bekommen und ist auch hierzulande (nicht nur im Winter) allen wärmstens zu empfehlen.
An Mac Barnett, Jon Klassen
Extragarn
Aus dem Engl.
Stuttgart:
Freies Geistesleben 2013.
20 Bl. Ab 4 Jahren
Lisa Kollmer
Und irgendwo gibt es den Zoo
Nadia Budde
Schon ein erster Blick auf Cover und Titel
erzeugt einen starken Wiedererkennungseffekt:
Und irgendwo gibt es den Zoo trägt eindeutig die
Handschrift von Nadia Budde, einer der bekanntesten Bilderbuchautorinnen und Illustratorinnen
von Kinderbüchern im deutschsprachigen Raum.
Wir begegnen einer Figur aus ihrem Bilderbuch
Und außerdem sind Borsten schön wieder und auch
thematisch gibt es Parallelen: in beiden Büchern
geht es um das Aussehen.
In diesem charmanten Bilderbuch vergleicht
sich der Ich-Erzähler mit einem Pinguin. Auch alle
seine Bekannten und Verwandten ähneln den verschiedensten Tieren: so hat beispielsweise Tante
Anne Lene eine «gelbe Löwenmähne». Anderen
Figuren werden tierische Attribute zugeordnet.
Auch die Spielgefährten ähneln nicht nur Tieren,
sie benehmen sich auch echt tierisch. Die Mutter, die ihnen zuerst «Futter» gibt, verwandelt sich
dann in eine «Rabenmutter» als sie nicht mehr
33
Kinderbuch
Zeit hat, die Meute zu bedienen. Kindliche
Alltagssituationen werden so verfremdet und
fantasievoll überzeichnet.
Die lustigen Reime und Wortspiele sind in
kindlicher Schreibschrift gehalten – einmal ist
sogar ein Satz durchgestrichen und korrigiert –
und laden zum Weiterreimen ein. Wie viele
Tiere fallen uns in unserem Bekanntenkreis ein?
Witzig auch das Spiel mit den (Tier-)Namen: so
gibt es einen Herrn Rieger, eine Frau Grosch, einen
Herrn Neule…
Die Illustrationen dominieren die stark
schwarz umrandeten Figuren, in Kombination
mit dem Text sorgen sie für gelungene Situationskomik. Wer sich fragt, wann der Zoo an sich ins
Spiel kommt, muss auf die Schlusspointe warten,
in der sich der Pinguin die Frage stellt, wozu es
den Zoo eigentlich gibt; wenn man diese ganze
Tierwelt schon zu Hause hat, erübrigt sich ein
Zoobesuch wirklich…
Gabriela Müller
Nadia Budde
Und irgendwo gibt es den Zoo
Wuppertal: Hammer 2013.
32 S. Ab 3 Jahren
Tierisch zahlreich
Lindbergh
Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus
Nadia Budde
Torben Kuhlmann
Nadia Budde
Tierisch zahlreich
Hamburg: Aladin Verlag 2014.
24 S. Ab 5 Jahren
Die deutsche Grafikerin und Kinderbuchillustratorin Nadia Budde ist bereits eine bekannte Größe
am Bilderbuchmarkt (siehe auch Rezension S. 33 ): Seit ihrem 1999 veröffentlichten Erstlingswerk Eins, zwei, drei, Tier hat sie sich mit Reim- und ABC-Büchern wie Trauriger Tiger toastet
Tomaten oder Kurz nach sechs kommt die Echs in die Herzen der sehr jungen LeserInnen sowie
deren Eltern geschrieben. Ihr neuestes Werk heißt Tierisch zahlreich und ist 2014 im Aladin Verlag
erschienen. Jede Doppelseite verbindet eine Zahl von Null bis Zehn mit ungewöhnlichen Tieren in
der jeweiligen Anzahl, die teilweise kuriose Sportarten betreiben. Das klassische Zahlenbilderbuch, in dem möglicherweise sechs Lämmchen auf der Weide grasen, wird konterkariert – Nadia
Budde präsentiert stattdessen: «Sechs-Streifen-Langschwanz-Eidechsen fahren Schleifen auf
Gummi-Kunstrad-Einzelreifen.» Die Illustrationen der Autorin dazu bieten nichts Niedliches,
sondern – wie von Nadia Budde gewohnt – witzige, farbkräftige Bilder von einem außergewöhnlichen Tierinventar bevölkert. Auf jeder Doppelseite findet sich die Zahl, dazu ein kurzer gereimter
Text in Großbuchstaben, der höchstens zwei Sätze umfasst.
Einiges Welt- und Wortvorwissen der jungen LeserInnen wäre günstig, der Rezensentin
erscheint das Buch vor allem für Kinder ab ca. 5 Jahren geeignet. Für neugierige, interessierte
BilderbuchleserInnen gibt es viel zu entdecken, zu lachen und zu fragen: Wie spielt man Rugby?
Was heißt «dribbeln»? Was ist ein «Neunauge»? – da müssen vielleicht auch die Eltern ein Lexikon
bemühen und lernen noch etwas dazu. Dabei kommt der gemeinsame Spaß beim Bilderbuchanschauen und Erklären nicht zu kurz – LeserInnen, die bereits Nadia Budde-Fans sind oder solche,
sie sich eine etwas andere Optik im Bilderbuch wünschen, werden mit Tierisch zahlreich auf jeden
Fall auf ihre Kosten kommen.
Katharina Zucker
Laika
Die Kosmonautin
Owen Davey
Owen Davey
Laika
Die Kosmonautin
Aus dem Engl.
Berlin: Ueberreuter 2013.
16 Bl. Ab 5 Jahren.
Das erste Lebewesen, das von der Erde aus in
den Weltraum flog, war eine Hündin aus der ehemaligen Sowjetunion; ihr Name war Laika und
noch heute erinnern Statuen, Denkmäler und
Sonderbriefmarken an sie. Im November 1957
machte sich Laika an Bord der Sputnik 2 auf den
Weg unseren Planeten zu umkreisen und wie
vor einigen Jahren bekannt wurde, verstarb sie
wenige Stunden nach Beginn der Mission an
Überhitzung und Stress. Zum fünfundfünfzigsten
Jahrestag dieses Ereignisses veröffentlichte der
britische Autor und Illustrator Owen Davey
vorliegendes Kinderbuch, das die kurze Lebensgeschichte der ersten hündischen Kosmonautin erzählt.
Mit wenigen Worten wird von der kleinen
Streunerin Laika erzählt, die durch Zufall ausgewählt wird, Tests und Training bestehen muss,
um schließlich ins Weltall fliegen zu können.
Owen Davey findet jedoch ein glückliches
Alternativende für die Hündin, die, unbemerkt
von den Wissenschaftlern, auf der Erde landen kann und in einer liebevollen Familie ein
neues Zuhause findet.
Die graphische Gestaltung des Buches ist
wunderschön. Holzschnittartig und in matten
34
Besprechungen
Farben, die nur auf manchen Seiten von einem
kräftigen Rot ergänzt werden, entstehen sehr
aussagekräftige und ausdrucksstarke Bilder, die
Gefühle und Stimmungen anschaulich vermitteln
können. Einsamkeit und Isolation sind so eindringlich dargestellt, wie es oft wortreiche
Beschreibungen nicht vermögen und der stolzen
Laika würde man am liebsten anerkennend über
den Kopf streicheln.
Auch wenn das neue Ende den Leser glücklicher
und fröhlicher zurücklassen mag, finde ich es nicht
ganz gelungen. Die Wahrheit ist und war eine
andere und auch wenn ein Bilderbuch vielleicht
nicht der richtige Ort ist, um den oft sehr fragwürdigen Umgang mit Tieren in der Wissenschaft und
Forschung zu thematisieren und der Autor am
Ende anmerkt, dass das glückliche Ende einer
wahren Entdeckerin gerecht wird, hätte die wahre
Geschichte von Laika wenigstens im Anhang
erwähnt werden sollen; dies wäre einer wahren
Entdeckerin viel mehr gerecht geworden.
Nichtsdestotrotz ist das Buch Laika – Die Kosmonautin ein wunderschönes Bilderbuch, das in
seiner zurückhaltenden und etwas nostalgisch
anmutenden Gestaltung viel Raum für Phantasie
lässt.
Irene Scheiber
Winter 2014/15
Lindbergh, das erste Bilderbuch des jungen deutschen Illustrators Torben Kuhlmann, das aus
seiner Abschlussarbeit für sein Illustrations-Studium hervorgegangen ist, erzählt die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus. Den Text dazu hat er in Zusammenarbeit mit Suzanne
Levesque verfasst.
Eine Besonderheit, die an dem Bilderbuch sofort auffällt, ist sein Umfang: auf über 80 Seiten
statt der gewohnten 32 wird die Geschichte hier entfaltet, wobei die ausgesprochen feine,
detailierte Auserzählung vor allem auf der Bildebene stattfindet. Während der sehr gelungene,
poetische Text kurz und episodisch gestaltet ist, erhält die verspielte Detailverliebtheit Kuhlmanns in den Aquarellen großzügigen Raum, die Illustrationen kommen auf so mancher Doppelseite mit minimalem Text und manchmal gar ohne Worte aus.
Die in Sepiatönen gehaltenen Bilder entführen die BetrachterInnen ins Hamburg des frühen
20. Jahrhunderts. Als die nicht näher benannte Maus – Lindbergh mag sowohl für ihren Namen als
auch den des historischen Atlantiküberquerers stehen – feststellt, dass all ihre Freunde wegen
der Erfindung der Mausefalle nach Amerika ausgewandert sind, die Schiffe nach Übersee aber
von hungrigen Katzen patroulliert werden, beschließt sie, ihnen auf dem Luftweg zu folgen. Ihre
Versuche, flugtaugliche Maschinen zu erfinden, zeichnen die Geschichte der frühen Luftfahrt
kindertauglich nach und einige misslungene Experimente später ist es soweit: der Luftweg über
den Atlantik wird erfolgreich zurückgelegt.
Zusätzliche Dramatik erhält die Geschichte durch einen weiteren Konflikt: die Eulen, im
mäusefreien Hamburg genauso hungrig wie die Katzen, heften sich auf die Fersen der ebenso
technikaffinen wie tapferen Maus und die immer rasanter werdende Verfolgungsjagd lässt Kinder
wie VorleserInnen atemlos um ein Happy End bangen.
Im Anhang finden schließlich noch die bekanntesten Pioniere der Luftfahrt kurz und kindgerecht Erwähnung.
Lindbergh ist ein außergewöhnliches Bilderbuch, das sich an der Grenze zur Graphic Novel
bewegt und das sowohl Kinder ab dem Vorschulalter als auch Erwachsene mit einem Faible für
Technik und Ästhetik ansprechen und begeistern wird.
Torben Kuhlmann
Lindbergh
Die abenteuerliche
Geschichte einer fliegenden Maus
Zürich: NordSüd 2014.
ca. 84 S. Ab 5 Jahren
Andrea Hirn
Das Streichholzschachtel-Tagebuch
Paul Fleischman, Bagram Ibatoulline
Die erste Doppelseite des Buches zeigt ein kleines
Mädchen und einen alten Mann in einem großen
gediegenen, fast museal anmutenden Raum,
voller Regale, Vitrinen und Bücher. «Such dir aus,
was dir am besten gefällt. Dann erzähle ich dir die
Geschichte dazu.» wird das Mädchen aufgefordert – und wir erfahren, dass es sich um Urgroßvater und Urenkelin handelt, die sich hier offenbar
zum ersten Mal sehen. Das Mädchen sucht sich
eine Kiste voll alter Zündholzschachteln aus und
es stellt sich heraus, dass es sich um das Tagebuch
des alten Mannes handelt. In jeder Schachtel
befindet sich ein kleiner Gegenstand, der ihn an
ein Erlebnis seiner Kindheit erinnert. Als erstes
finden sie einen Olivenkern, der den alten Mann
an die harte Kindheit in Italien erinnert – seine
Mutter hat ihm, wenn er hungrig war, so einen
Kern gegeben um daran zu lutschen und so gegen
den Hunger zu kämpfen. In der nächsten Schachtel ist ein altes Foto eines Mannes – der Vater, der
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Kinderbuch
nach Amerika gegangen ist, um dort zu arbeiten.
In der Folge erzählen die Schachteln die Auswanderergeschichte des kleinen Jungen, der mit seiner
Mutter und den Schwestern dem Vater nachfolgt
und den schweren Start im ersehnten Land
Amerika. Das kleine Mädchen ist von der Geschichte ebenso gebannt wie die Rezensentin
– und das letzte Bild schließt den Erzählbogen mit
dem Beginn eines neuen Tagebuch, nämlich
das des kleinen Mädchens, das als erste Dinge
zwei Erinnerungen an diese Begegnung mit dem
Urgroßvater in seine Schachtel legt.
Die Illustrationen sind sehr realitätsnah und
detailreich – die Gegenwart in Farbe, die Szenen
aus der Geschichte des Urgroßvaters in vergilbtem
Schwarzweiß. Besonders in den Gesichtern der
Figuren liegt sehr viel Ausdrucksstärke. Eines der
tollsten (Sach-)Bilderbücher, das in den letzten
Jahren erschienen ist, es ist allen LeserInnen – ob
jung oder alt – wärmstens zu empfehlen.
Lisa Kollmer
Paul Fleischman,
Bagram Ibatoulline
Das Streichholzschachtel-Tagebuch
Aus dem Engl.
Berlin: Jacoby&Stuart 2013.
22 Bl. Ab 5 Jahren.
Ellis Augenbrauen
Timothy Knapman, David Tazzyman
Timothy Knapman,
David Tazzyman
Ellis Augenbrauen
Aus dem Engl.
Oldenburg: Lappan Verlag 2013.
Ab 5 Jahren.
Christine Knödler
Ich schenk dir die Farben
des Windes: Kunst,
Gedichte und Geschichten
für Kinder und Erwachsene
München u.a.: Prestel 2014.
159 S. Ab 8 Jahren.
«Wozu um alles in der Welt gibt es Augenbrauen?»
fragt sich Elli. «Es sind nur zwei blöde, gammelige,
haarige, kleine Fusseldinger!» Wo sie nicht
erwünscht sind, wollen die Augenbrauen auch
nicht bleiben – ihre anschließende Reise führt sie
in das Schmetterlinghaus im Zoo, danach
versuchen sie sich als Zwirbelbart für einen Zauberer, als wollige Handwärmer für schöne Käferdamen, als falsche Beine für eine riesige Ameise oder
als Reifen am Motorrad einer Stabheuschrecke.
Elli vermisst ihre Augenbrauen kein bisschen,
bis Oma bei ihrem Anblick schreiend davonläuft.
Elli versucht einen Ersatz für ihre Augenbrauen
zu finden, sie aufzumalen oder die Haare ins
Gesicht zu kämmen. Sie erkennt, wie «wild und
wunderbar» Augenbrauen waren und vermisst
ihre eigenen nun sehr. Sie malt eine Suchanzeige
auf einen Lastwagen, die schließlich von den
Augenbrauen entdeckt wird. In der Nacht kehren
sie zu Elli zurück, die nun weiß, wozu Augenbrauen da sind: «Ganz allein, um sie glücklich zu
machen!»
Es gibt Bücher für Kinder zu verschiedensten
Themen, aber Augenbrauen als Helden eines
Kinderbuches scheinen doch erstmalig aufzutreten. Witzig-grotesk erzählt Timothy Knapman die
Geschichte von den Augenbrauen, die auszogen,
um ihr und ihrer Trägerin Glück zu finden. Die
Illustrationen von David Tazzyman, ein Mix aus
Collage, Malerei, feinen, einfachen Zeichnungen
und viel Leerraum, unterstreichen den Humor
und die Absurdität der Geschichte. Die Moral aus
der Geschichte: verschmähe nie einen Teil deines Körpers, auch wenn du nicht weißt wozu er
gut sein soll; das könnte sich rächen. Darüber und
über Augenbrauen lässt sich nach der Lektüre
vortrefflich reden. Es empfiehlt sich jedoch, das
Buch ungeachtet etwaiger moralischer Botschaften einfach zu lesen, darüber zu lachen
und es zu genießen.
Martina Adelsberger
Ich schenk dir die Farben des Windes:
Kunst, Gedichte und Geschichten
für Kinder und Erwachsene
Christine Knödler
«Ich schenk dir die Farben des Windes, damit du
weiter lesen, leben, schauen, denken, fühlen
kannst , und fliegen. Höher, tiefer, gegen und mit
dem Wind» schreibt Christine Knödler im
Vorwort zu ihrem gleichnamigen Kunst- und
Gedichtband – und verspricht damit nicht zuviel.
Die Sammlung von Texten und Bildern, die sie
für den im Prestel-Verlag erschienenen Band
zusammengestellt hat, zeichnet sich einerseits
durch eine enorme Bandbreite und andererseits
durch ein ausgesprochen feinsinniges Gespür
für Zusammenhänge aus. Der Bogen spannt sich
dabei über die Jahrhunderte: auf der Bildebene vom Spätmittelalter, auf der Wortebene vom
17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Das Spektrum der DichterInnen reicht von den Klassikern
(Goethe, Heine, Günderrode, Eichendorff, …) über
zeitgenössische WortkünstlerInnen (Hesse, Jandl,
Mayröcker, Kirsch, …) bis zu den Größen der
aktuellen Kinderliteratur (Abedi, Ende, Richter,
Maar, …). Ebenso bieten die Bilder einen Streifzug
durch die Epochen und die Vielfalt der Kunststile.
In fünf nach Farben sortierten Kapiteln (rot,
gelb, grün, blau und bunt) finden sich auf jeder
Doppelseite ein Text (meistens Gedicht, seltener eine Geschichte, ein Rätsel oder Lied), dem
ein Bild beigestellt ist. Wie die beiden in Beziehung stehen, ist nur manchmal offensichtlich.
In vielen Fällen bleibt es den Betrachtenden
überlassen, die (oder eine mögliche) Verbindung
zu entdecken.
Aufmachung und Ausstattung des Bandes sind
von höchster Qualität, die Farben und Kontraste
der Bilder sind brillant, die Gedichte sind nicht nur
in diversen Farben und unterschiedlichsten Typen
gesetzt, sondern oft auch in originellen Formen,
das Papier ist angenehm dick und glatt.
In den beiden im Anschluss aufgelisteten
Verzeichnissen der MalerInnen und DichterInnen
werden nicht nur die Quellennachweise ihrer
Werke sondern auch ihre Lebensdaten angeführt,
sodass eine zeitliche Einordnung auch jener
KünstlerInnen, die einem noch nicht bekannt
waren, leicht möglich ist.
Ich schenk dir die Farben des Windes ist ein Buch
für alle und für viele Gelegenheiten: für Jung und
Alt, zum Allein- und Gemeinsam-Lesen, zum
Immer-wieder-Anschauen und zum Herschenken.
Es ist ein Buch, das den Spagat zwischen Bildung
und Unterhaltung im allerbesten Sinne schafft und
als All-Ager Kindern wie Erwachsenen allerwärmstens empfohlen sei!
Andrea Hirn
36
Besprechungen
Winter 2014/15
Das Land Manglaubteskaum
Norman Messenger
Ganz im Stil eines Entdeckers des 18. Jahrhunderts führt uns der im englischsprachigen Raum
preisgekrönte Illustrator Norman Messenger (u.a. Die Erschaffung der Welt) auf eine Insel, so
wundersam, dass er sie nur «Manglaubteskaum» nennen kann. Dem Text vorangestellt ist eine
Einführung, in der Messenger uns erzählt, wie er übers Meer segelte, durch reinen Zufall die Insel
entdeckte und sofort erforschte, kartographierte und in Bild und Text verewigte – was deswegen
erwähnenswert ist, weil diese Insel sich nämlich alle unvorhersehbare Zeiten auf Beine erhebt
und in Windes Eile an einen anderen Platz begibt, weshalb sie niemals zweimal aufgesucht
werden kann.
Anstelle eines Inhaltsverzeichnisses folgt eine Karte der wolfsförmigen Insel mit Kurzbeschreibungen der einzelnen Orte, die im Folgenden in einzelnen Kapiteln dar- und vorgestellt werden.
Mit der Akribie und Detailverliebtheit eines humanistischen Weltreisenden beschreibt, skizziert
und erklärt Messenger jeden Aspekt dieser fantastischen Welt: das Dorf mit seinen BewohnerInnen (ausgesprochen liebenswürdig), die Flora (merkwürdige Bäume und äußerst ungewöhnliche
Waldbäume) und die Fauna (beheimatet in dem Zaubersee, den Schären, einem Spukgebirge
oder auf einer fröhlichen Lichtung). Den Abschluss bildet der für Buchaffine wohl wundersamste
Ort: der Bücherberg, dessen Felsformationen in Buchform mit der Zeit ihre steinernen Seiten
öffnen und den Inselbewohner­Innen nächtens Geschichten zuraunen.
Messengers Illustrationen zeichnen sich durch Liebe zum Detail und überbordende Phantasie
aus. Der exakte, kleinteilige Stil und die Farbgebung in ihrer pastellkreidigen Buntheit erinnern
tatsächlich an handcolorierte Bebilderungen alter Reisebeschreibungen.
Jedes Kapitel erstreckt sich über eine Doppelseite, die jeweils rechte Seite lässt sich um eine
weitere Seitenhälfte ausklappen und enthüllt zusätzliche Details und Informationen. Die Illustrationen und Texthäppchen verteilen sich sachbuchartig frei auf den Seiten. Der Text ist in
zarten, leicht verschnörkelten Typen gesetzt, die andeutungsweise handschriftähnlich gestaltet,
aber gut lesbar sind.
Das Land Manglaubteskaum ist ein Kunstwerk, das sich einer genauen Zielgruppendefinition
entzieht: als besonderes Bilderbuch, das der Vermittlung bedarf, eignet es sich zum GemeinsamAnschauen schon für Vorschulkinder, zum Selberlesen und –erschließen kann es als fantastisches
Buch für Kinder ab ca. acht Jahren eingestellt werden. Auf jeden Fall regt es die eigene Fantasie
in hohem Maße an, schon während der ersten Lektüre kommt Lust auf, die Geschichten weiterzuspinnen und sich weitere Besonderheiten dieser einzigartigen kleinen Welt auszudenken.
Andrea Hirn
Norman Messenger
Das Land Manglaubteskaum
Aus dem Engl.
Hildesheim: Gerstenberg 2013.
28 S.
Ab 5 Jahren zum Vorlesen
oder ab 8 Jahren zum Selberlesen
Lorenz Pauli, Kathrin Schärer
Das Beste überhaupt.
Meerschwein sein
Zürich: Atlantis-Verlag 2013.
32 S. Ab 4 Jahren.
Das Beste überhaupt.
Meerschwein sein
Lorenz Pauli, Kathrin Schärer
Kathrin Schärer und Lorenz Pauli sind ein
bewährtes Duo im Bilderbuch, wie die Pippilothek
(2011) oder zuletzt nur wir alle (2012) gezeigt
haben. Im Mittelpunkt der neuen Zusammenarbeit steht diesmal ein Meerschweinchen namens
Miro, und zwar im buchstäblichen Sinn. Miro ist
weder besonders groß oder klein, noch kann er
Außergewöhnliches – Miro ist einfach mittendrin
zwischen all den anderen Meerschweinen und er
fühlt sich auch so.
Als eines Tages die Wahl zum Besten Meerschwein überhaupt ansteht, pilgern all die kleinen
und in unseren Breiten gern als Haustiere
gehaltenen Fellträger dorthin. Das beste Meerschwein darf ein ganzes Jahr lang am sogenannten
37
Kinderbuch
Gewinnerstein sitzen. Also versuchen alle am
Weg zur Wahl sich besonders hervor zu tun: das
eine versucht möglichst schnell und sportlich zu
sein, bricht sich aber, beim Versuch über den
Fluss zu springen ein Bein, andere suchen Abkürzungen oder beißen mutig in den Schwanz eines
Jaguars. Miro hält diese Aktionen schlichtweg für
dumm, dafür hilft er den anderen und stützt das
verletzte Meerschweinchen. Darüber hinaus tut er
nicht so, als könne er etwas besonders gut, ein
Verhalten, das ihn schlussendlich aus der Masse
an Meerschweinen herausstechen lässt. Also ist
bald klar: Miro hat es sich am meisten verdient,
gewählt zu werden, denn er will nicht um jeden
Preis etwas Besonderes sein. So wird er am Ende
zum besten Meerschwein gewählt und wünscht
sich nur eines: nicht am Gewinnerstein zu sitzen,
wie auf einem Thron, sondern weiterhin mittendrin zu sein, denn das ist das Beste überhaupt.
Die Geschichte beschreibt ein Gefühl, das schon
so manche Identitätskrise ausgelöst hat: sich
durchschnittlich fühlen. Lorenz Pauli und Kathrin
Schärer vermitteln die Botschaft, dass man nicht
zwanghaft das Besondere in sich suchen muss, um
Freunde zu haben und Teil der Gemeinschaft zu
sein.
Die Geschichte besticht mit prägnanten Sätzen
und mit Kathrin Schärers Illustrationen. Sehr
gelungen finde ich dabei, wie die ausgesprochen
realistisch gezeichneten Meerschweinchen durch
das gesamte Buch wuseln. Vor allem am Vor- und
Nachsatzpapier findet sich eine ganze Sippe der
kleinen Tierchen. Die Betrachter sollen raten,
welches davon Miro ist, aber aufgelöst wird das
Rätsel nicht. Denn wie am Nachsatzpapier zu
lesen ist: «Miro ist mittendrin […]. Ich weiß nicht,
welches Meerschwein Miro ist. Aber Miro weiß,
wer er ist».
Barbara Eichinger
Wer stahl dem Wal sein Abendmahl?
Gedichte
Michael Roher
Wer stahl dem Wal sein
Abendmahl?
Wien: Luftschacht-Verlag 2013.
ca. 136 S.
Ab 6 Jahren
Viola Rohner, Dorota Wünsch
Das Wild im Marmeladenglas
Wuppertal:
Peter Hammer-Verlag 2013.
24 S. Ab 4 Jahren.
Michael Roher
auf und transportieren auch seinen Witz kongenial. Roher experimentiert mit verschiedenen
Stilrichtungen, er collagiert, strichelt und schraffiert mit feiner Feder oder mit Linoldruck-artig
dickem Strich.
Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? ist ein
Gedichtband, bei dem von Herzen gelacht werden kann, der aber auch zum Nachdenken und
Darüber-Reden anregt. Als All-Ager eignet er
sich zum Vorlesen schon fürs Vor- und frühe
Volksschulalter, zum Selberlesen für eher ältere
Kinder, die auch den sehr kleinen, eng gesetzten Druck bewältigen. Einzelne Gedichte eignen
sich durchaus auch für den Unterricht oder
Projekte mit Jugendlichen, und erwachsene (Vor-)
LeserInnen mit Sinn für skurrilen Humor und
kritische Töne werden ebenfalls auf ihre Rechnung kommen.
Mit seinem neuen Werk präsentiert sich
Michael Roher nicht nur einmal mehr als Ausnahmekünstler im Kinderbuch- und Illustrationsbereich, sondern entstaubt auch das Genre des
Gedichts und beweist, dass Lyrik aktuell, zeitgemäß und höchst unterhaltsam sein kann.
Andrea Hirn
Neben dem Bilderbuch Papilios Welt und dem
Märchenband Wer fürchtet sich vorm lila Lachs, die
beide gemeinsam mit Elisabeth Steinkellner entstanden sind, legte der junge österreichische
Illustrator und Kinderbuchautor Michael Roher
2013 auch einen illustrierten Gedichtband vor.
Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? versammelt
verschiedene gereimte Kurztexte wie Gedichte, Nonsense-Verse, Auszählreime, MiniMärchen, Zwei- und Vierzeiler, ein Inserat sowie
eine (Frosch-)Ballade. Was all diese Texte
verbindet, ist Rohers scharfes Auge für soziale
Schieflagen, gesellschaftliche Veränderungen,
unangepasste Leben und sein stets spürbarer
Respekt vor individuellen, unkonventionellen
Lebensentwürfen. So erhält der wohnungslose
«Penner Bonne» eine Stimme, Leonie verliebt sich nicht nur in Karl sondern auch gleich
in seine Frau Sophie und dass die Liebe überdies
kein Alter kennt, davon erzählt das Inserat der
70-jährigen Gastwirtin, die einen «trainierten
jungen Mann» sucht.
Wie schon im Märchenbuch vom «Lila Lachs»
bürstet Roher auch in seinem Gedichtband Altes
gegen den Strich, so darf die Hexe bei ihm gut sein
und fleischlose Soße kochen, während Gretel
«sich heut im Wald / die Zehennägel angemalt - /
rabenschwarz, denn dieses Gretchen / ist ein
wirklich wildes Mädchen», und wenn Siegfried im
Kampf gegen Kriemhild verliert, weint er bitterlich, stapft davon und «spielt einfach nicht mehr
mit». Der Grundton aller Gedichte ist ein
humorvoller, die Bandbreite erstreckt sich dabei
von hintersinnig skurril bis wahnwitzig lustig.
Seine schwarz-weißen Illustrationen nehmen
das Besondere seiner Gedichte auf der Bildebene
38
Besprechungen
Das Wild im Marmeladenglas
und droht den beiden Buben mit dem Monster,
die sich – nach einem Besuch im Wald – tatsächlich
davon einschüchtern lassen. Am Ende schließt
Kira mit dem Wild Freundschaft und zuletzt sogar
mit Max und Oliver.
Das querformatige Bilderbuch thematisiert
Ängste und deren Bewältigung. Die Protagonistin
schafft es ohne nennenswerte erwachsene Hilfestellung ihre Ängste zu besiegen und sogar noch
in eine Stärke zu verwandeln.
Dorota Wünsch‘ Illustrationen sind sehr flächig
und ungeachtet der Thematik auch sehr fröhlich.
Nur der Wald ist recht bedrohlich dargestellt,
meist von unten aus der Froschperspektive und in
grünlich-braunen Farbschattierungen. Die Figuren
wirken aber alle sehr freundlich und der eher
knapp gehaltene Text fügt sich gut in die Zeichnungen ein.
Das Ergebnis ist ein Bilderbuch mit einer
einfachen Geschichte zum Thema Angst, das auch
Freiraum lässt zum Nachdenken und Reflektieren
des Themas.
Barbara Eichinger
Dunkel
Lemony Snicket, Jon Klassen
Viola Rohner, Dorota Wünsch
Die Schweizer Gymnasiallehrerin, Autorin und
Verfasserin von Bühnentexten für Erwachsene,
Viola Rohner, und die aus Polen stammende und
bereits mehrfach in der Kinderliteratur in Erscheinung getretene Illustratorin Dorota Wünsch
haben mit Wie Großvater schwimmen lernte (2011)
schon ein gemeinsames Bilderbuch veröffentlicht.
Das Wild im Marmeladeglas ist nun das Ergebnis
der zweiten Zusammenarbeit.
Kira muss auf dem Weg in den Kindergarten
ein Stück Wald queren. Doch dieser Weg ist schwierig für Kira, denn in den Bäumen des Waldes sitzt
das «Wild» und Kira hat große Angst davor. Es
fletscht nämlich immer seine Zähne, stellt Kira
manchmal sogar ein Bein und lacht sie aus, wenn
sie stolpert.
Kira hat solche Angst, dass sie eines Morgens nicht
in den Kindergarten will, also nimmt Papa sie mit
ins Büro. Dort darf sie nichts machen, was Spaß
macht, aber schließlich zeichnet sie «das Wild»
eingesperrt in einem Marmeladenglas. Papa sperrt
die Zeichnung noch zusätzlich in seinen Rollcontainer, d.h. nun kann nichts mehr passieren und
tatsächlich ist am nächsten Tag der Weg in den
Kindergarten auf einmal leichter. Das Wild scheint
gebändigt zu sein.
Nur im Kindergarten selbst ist es nicht so
einfach, denn dort wird sie von Max und Oliver
geärgert. Doch plötzlich weiß sich Kira zu helfen.
Auf einmal wünscht sie sich das Wild zurück
Winter 2014/15
Wenn sich Lemony Snicket (Eine Reihe betrüblicher
Ereignisse) und Jon Klassen (Wo ist mein Hut?)
zusammentun, sind die Erwartungen an das Ergebnis hoch. Dunkel erfüllt sie allemal, es ist ein
wunderbar gelungenes Bilderbuch.
Leo, ein kleiner Junge, fürchtet sich vor dem
Dunkel, aber es ist eine Tatsache, dass das Dunkel
im selben Haus wie Leo wohnt. Es versteckt sich in
allen möglichen Ecken (zum Beispiel in Kästen
und hinter Duschvorhängen), aber meist ist es im
Keller, wo es den ganzen Tag abwartet, bevor es
in der Nacht dann hervorkommt und sich überall
verteilt. Leo schaut jeden Tag bei der Kellertüre
hinunter zum Dunkel, mit dem Hintergedanken:
«Wenn er das Dunkel in dem Zimmer besuchte, wo es wohnte, würde das Dunkel ihn in seinem
Zimmer nicht besuchen.» Doch eines Nachts
kommt das Dunkel – und fordert Leo auf mitzukommen, weil es ihm etwas zeigen möchte und
Leo lässt sich, bewaffnet mit seiner Taschenlampe,
darauf ein. Ganz wohl ist ihm nicht dabei, aber die
nächtliche Erkundung gemeinsam mit dem
Dunkel lohnt sich – und er ist von da an mit ihm
versöhnt.
Dem Dunkel selbst eine Stimme zu verleihen ist
eine gute und gelungen umgesetzte Idee – das
ganze Buch fokussiert so auf die beiden Protagonisten in einer sonst figurenlosen Welt.
Die Illustrationen passen perfekt zum knappen
und ohne übertriebene Emotionen auskommenden Text. So ein dunkles Bilderbuch ist wirklich
eine Seltenheit; dass der Verlag sich darauf
39
Kinderbuch
eingelassen hat, ist vermutlich dem Bekanntheitsgrad der beiden Autoren zu verdanken. Viele
Seiten sind fast ausschließlich schwarz, nur
durchbrochen vom Lichtkegel von Leos Taschenlampe und auch in den restlichen Illustrationen
dominieren gedeckte Farben. Im Zusammenspiel
mit dem Text erhält das Schwarz bzw. «das
Dunkel» jedoch verschiedene Facetten und Qualitäten, von bedrohlich und unheimlich bis hin zu
versöhnlich und vertraut. Ein Buch, das für alle
sehr zu empfehlen ist!
Lisa Kollmer
Mamas mit ihren Kindern
Guido Van Genechtte
Guido van Genechten, in den letzten Jahren
besonders bekannt geworden mit den Büchern
vom kleinen weißen Fisch (zuletzt Der kleine
weiße Fisch wird groß, 2012), hat nun wieder ein
grafisch sehr ansprechend gestaltetes Büchlein
für die Allerkleinsten herausgebracht. Es
zeigt in schlichten schwarz/weiß-Collagen 10
Tier-Mamas mit ihren Kindern. Mal auf schwarzem, mal auf weißem Hintergrund sind die Tiere
nacheinander abgebildet. Den Anfang macht
«Mama Katze mit ihrem Kätzchen», gefolgt von
«Mama Schnecke mit ihrem Schneckenkind». Der
Text wiederholt sich in dieser Form auf jeder
Seite, wirkt aber nie eintönig, denn entweder
handelt es sich um das Spinnen-Kind, das Schildkrötenbaby oder unter Zuhilfenahme des
Diminutivs um das Kätzchen. Darüber hinaus
werden auch die jeweiligen Namen der Jungen
genannt. D.h. die Kinder lernen mit Hilfe des
Buches nicht nur die Bezeichnungen der Tiere an
sich, sondern auch jene der Jungen, also etwa
Lamm, (Pinguin-) Küken, Fohlen und (Elefanten-)
Kalb. Die ausgewählten Tiere sind sowohl aus der
Lebenswelt der Kinder gegriffen, als auch aus
fernen Ländern, d.h. die Kinder sehen Bekanntes
aus ihrer Umgebung, z.B. die Spinne oder die
Schnecke, und Unbekannteres, wie den Pinguin
oder den Elefanten.
Die Tierpaare sind sehr freundlich dargestellt,
oftmals einander zugeneigt und immer in
Interaktion. Das Muttertier sieht auf jeder Seite
zu seinem Kind und auch wenn es vorausläuft,
blickt es beschützend zurück. Manche Tiere
erinnern in ihrer grafischen Gestaltung ein wenig
an Eric Carles Tierwelt. Im Gegensatz zu seiner
bunten Welt reduziert die reine s/w-Darstellung
aber auf Wesentliches und lässt gleichzeitig viel
Raum beim Betrachten für weitere Gedanken.
Das Buch ist im kleinen, quadratischen Format bei
Aracari erschienen und sehr empfehlenswert für
Kinder ab 1,5 Jahren.
Barbara Eichinger
Lemony Snicket, Jon Klassen
Dunkel
Aus dem Engl.
Zürich: NordSüd 2014.
22 Bl. Ab 4 Jahren.
Guido Van Genechtte
Mamas mit ihren Kindern
Zürich: Aracari 2013. 18 S.
Ab 1,5 Jahren
Jakob, das Krokodil
Eine wahre Geschichte
Die Regeln des Sommers
Shaun Tan
Claudia de Weck, Georg Kohler
Claudia de Weck, Georg Kohler
Jakob, das Krokodil.
Eine wahre Geschichte
Zürich: Atlantis 2013. 36 S.
Ab 5 Jahren
Jakob, das Krokodil – eigentlich ein Brillenkaiman – wird von Willi, einem weitgereisten Musiker,
auf einem Markt in Brasilien gekauft und mit nach Hause in eine schweizerische Etagenwohnung
gebracht. Klein und putzig bewohnt er zunächst ein Terrarium, aber im Laufe der Jahrzehnte –
Jakob wird sehr alt und wächst und wächst – braucht er immer mehr Platz. Schließlich lebt er in
dem in ein Urwaldbiotop umgestalteten Zimmer der mittlerweile erwachsenen Kinder Willis.
Jakob wird als empathischer Mitbewohner mit Streicheltierqualitäten geschildert, der seinen
menschlichen Pflegern viel Freude bereitet, abgesehen von wenigen Zwischenfällen, die seiner
Größe und Kraft geschuldet sind. Ganze Schulklassen kommen ihn besuchen, bis eines Wintertages sein Herz ganz einfach zu schlagen aufhört. Willi hat einen unvergesslichen Hausgenossen
verloren, von dem er noch seinen Enkelkindern erzählt.
Illustrationen und Typografie dieses erzählenden Kindersachbuches sind konventionell, aber
ein abwechslungsreiches Seherlebnis. Comicelemente, kurze Bildsequenzen und große doppelseitige Illustrationen werden gekonnt miteinander verbunden und zeichnen sich durch leisen
Humor aus. Der Text ist einfach und wirkt mitunter durch die erkennbare Absicht, möglichst viel
an Information zu transportieren, etwas bemüht. Aber es gibt tatsächlich viel Interessantes über
die Biologie der Krokodile zu erfahren. Für diejenigen, die es noch genauer wissen möchten,
enthält das Buch im Anhang ein Krokodil-Alphabet von A wie Abstammung bis zu Z wie Zähne,
geeignet für versierte Leserinnen und Leser über das Volksschulalter hinaus. Und zum Schluss,
wirklich auf der allerletzten Seite und somit leicht zu übersehen, kommt das, worauf die erwachsene Leserin längst gewartet hat – nämlich der Hinweis, dass Krokodile keine Haustiere sind und
für die Wohnungshaltung im Allgemeinen ungeeignet. Als «Nicht-Haustiere-für-die-uns-der-richtige-Name-fehlt» bezeichnet der Schweizer Philosoph Georg sie in seinem Nachwort und stellt
grundlegende Überlegungen über das Verhältnis von Tier und Mensch an.
Viktoria Zwicker
Das erste Mal in meinem Leben...
Vincent Cuvellier,
Charles Dutertre
Das erste Mal in meinem Leben...
Aus dem Franz.
Berlin/Wien: Anette Betz 2013.
Ab 6 Jahren
Vincent Cuvellier, Charles Dutertre
«Als ich zum ersten Mal lief, fiel ich hin. Als ich
zum ersten Mal hinfiel, stand ich wieder auf. Als
ich zum ersten Mal wieder aufstand, lief ich.» Ein
Kreislaufs des Ausprobierens, der zum Erlernen
einer der wichtigsten Fähigkeiten eines Menschen
führt. Man kann sich dabei durchaus auf das
evolutionär vererbte Wissen unserer Ahnen
verlassen. In diesem Buch werden viele erste Male im Leben eines heranwachsenden Mädchens
beschrieben und zauberhaft illustriert. Der Kreis
schließt sich, als die Protagonistin zum ersten Mal
selber Mutter wird: «Als du zum ersten Mal
geboren wurdest, wurde ich zum zweiten Mal
geboren.»
Zwischen der eigenen Geburt und der ihres
Kindes liegen viele schöne, lustige, alltägliche,
außergewöhnliche, berührende Ereignisse.
Besonders werden die Erfahrungen dadurch, dass
sie Autor und Illustrator sehr prägnant und mit
großer Selbstverständlichkeit beschreiben. Beim
Lesen und Betrachten gibt es viele «Aha»- und
«Ja-genau»- Erlebnisse. Oft muss man Schmunzeln und wird an eigenes Erleben erinnert.
Manches wird auf den Punkt gebracht, was man
40
Besprechungen
zwar irgendwie weiß, aber in dieser Pointiertheit
nicht hätte ausdrücken können, wie: «Als zum
ersten Mal mein Großvater starb, nahm mich
Mama in die Arme, um mich zu trösten. Aber in
Wahrheit nahm ich sie in die Arme, um sie zu
trösten.»
Zu jedem Erleben gibt es auf der gegenüberliegenden Seite ein Bild von Charles Dutertre. Die
Illustrationen verleihen mit ihrem comicartigen
Stil dem Text zusätzlichen Witz und ergänzen die
Aussagen auf kongeniale Weise.
Das erste Mal in meinem Leben ist ein Buch zum
immer wieder gemeinsam Anschauen. Es regt an,
die eigenen Erfahrungen weiterzugeben: Kinder
lieben es, Geschichten von Erwachsenen aus
deren Kindheit zu erfahren oder etwas über ihre
eigene Babyzeit und frühe Kindheit zu hören. Das
Buch bietet dafür einen guten Anlass und
Ausgangspunkt, aber es wirkt natürlich auch
einfach so!
«Also das habe ich im letzten Sommer gelernt” – mit diesem lakonischen Satz beginnt das neue
Bilderbuch des vielfach ausgezeichneten australischen Autors und Illustrators Shaun Tan, und er
gibt den Ton für die im Folgenden genannten «Regeln des Sommers» vor. Auf jeder linken Seite
findet sich eine dieser knappen Regeln; das Spektrum ihrer Relevanz reicht dabei von verspielt
«Nie eine rote Socke auf der Wäscheleine hängen lassen.») über alltagstauglich («Nie dein Glas
fallen lassen.») bis sicherheitstechnisch («Nie einem Fremden deine Schlüssel geben.»). Die
jeweils rechte Seite illustriert, welche Konsequenzen es hat, sich nicht an diese Regel zu halten.
Und hier bordet Tans Fantasie schier über: da tummeln sich Habichte im Frack, Monster, Roboter,
ein rotäugiges Kaninchen sowie eine Katze im Anzug – und sie alle sind riesengroß, überragen die
beiden kleinen Jungen, die die Regeln aufstellen, um ein Vielfaches. Während diese Bildtableaus
in leuchtenden Farben und mit fantastischen Details gestaltet sind, verändert sich die Grundstimmung der Illustrationen nach der Mitte des Buches, wenn es heißt «Nie eine Prügelei verlieren»
und «Nie auf eine Entschuldigung warten». Die Farbgebung wird reduzierter, es dominieren
Hell-Dunkel-Effekte, Grau- und Blautöne. Diese drei Illustrationen sind als textlose Doppelseiten
gestaltet und –als einzige in diesem Regelwerk – als erzählerisch zusammenhängend zu rezipieren: nachdem der Kleinere die Prügelei verloren hat, wird er vom Größeren für eine Krone an eine
Schar Krähen eingetauscht und in einer schwarzen Dampflok durch eine dystopisch anmutende
Landschaft gefahren, bis er nur noch von den Vögeln und einer allumfassenden Schwärze
eingehüllt ist. Hier versteht es Tan meisterlich, rein auf der Bildebene die innere Kälte, Düsternis
und Einsamkeit zum Ausdruck zu bringen, die ein aus den Fugen geratener Streit nach sich ziehen
kann, während man tief drinnen vielleicht doch auf eine Entschuldigung wartet. Aber wie das bei
guten Freunden oder Brüdern so ist: man ist nie lange allein und die nachfolgenden Regeln
dienen der Rettung des Kleineren. Je weiter diese voranschreitet, umso farbenfroher werden die
Illustrationen wieder. Wenn die Jungen schließlich friedlich und wohlbehalten zuhause vor dem
Fernseher sitzen, ist die Szenerie in warme Farben und heimeliges Licht getaucht und ihre
Geschichte geht mit einem lakonisch-zufriedenen «Das wär’s.» zu Ende.
Tans Werk ist mit seinem minimalistischen Text und seinen surreal-fantastischen, teils auch
düsteren Bildern sicher ein Buch, das der Vermittlung bedarf, das sich bewusst nicht nur an
Kinder, sondern auch an Grafik-interessierte Erwachsene richtet und als solches funktioniert es
auf hohem Niveau: es gibt unglaublich viel zu entdecken, deuten, reflektieren und besprechen.
Die Regeln des Sommers ist ein besonderes Buch für kleine und große Fans von anspruchsvollen Bildwerken.
Andrea Hirn
Martina Adelsberger
Winter 2014/15
41
Kinderbuch
Shaun Tan
Die Regeln des Sommers
Aus dem Engl.
Hamburg: Aladin 2014.
48 S. Ab 5 Jahren
Besprechungen–Kinderbuch
Erzählendes
Mit Worten kann ich fliegen
Sharon M. Draper
Sharon M. Draper
Mit Worten kann ich fliegen
Aus dem Amerikan.
Berlin: Ueberreuter 2014.
317 S. Ab 11 Jahren
Lena Avanzini
Hugo, streck die Fühler aus!
Wien, Innsbruck: Obelisk 2013.
140 S. Ab 10 Jahren
«Ich habe nie ein einziges Wort gesprochen. Ich bin fast elf Jahre alt...» Dieser Satz rahmt die
Geschichte um Melody, ein Mädchen mit Zerebralparese, ein. Wie es sich für sie anfühlte, sich
niemandem mitteilen zu können und wie sich ihr Leben verändert, als sie mit fast elf Jahren
schließlich einen Computer bekommt, der ihr endlich ermöglicht mit anderen zu kommunizieren,
davon erzählt die vielfach ausgezeichnete amerikanische Autorin Sharon M. Draper mit Einfühlungsvermögen, Offenheit und Humor.
Seit sie ein Kleinkind war, sitzt Melody im Rollstuhl. Aus eigener Kraft kann sie nichts tun, was
andere Kinder tun: nicht gehen, sitzen, essen oder sprechen. Entgegen den Diagnosen der Ärzte,
Melody sei schwer hirngeschädigt, glauben ihre Eltern unerschütterlich daran, dass in ihrem
zerbrechlichen Körper ein wacher Geist wohnt, dem nur die Möglichkeit fehlt, sich mittzuteilen.
Und sie haben Recht: Melodys Gehirn speichert alles ab, was sie einmal gehört hat. Unterstützt
von Mrs. V., einer resoluten Nachbarin, die sich im Laufe der Jahre von der Babysitterin zur
Trainerin und schließlich zur Freundin der Familie wandelt und mit Hilfe von Catherine, einer
jungen Studentin, die Melody in der Schule als Begleiterin zur Seite gestellt wird, schafft es das
Mädchen, dass ein spezieller Computer für sie angeschafft wird, der – ähnlich wie jener von
Stephen Hawking, ihrem großen Vorbild – tausende eingegebener Sätze speichern und auf
Knopfdruck sprachlich widergeben kann. Nun kann sie zum allerersten Mal in ihrem Leben mit
ihren Eltern, ihrer Umwelt in Kontakt treten. So übergroß die Freude bei ihrer Familie ist, so
zwiespältig reagieren viele andere. Als deutlich wird, dass Melody mit ihrem phänomenalen
Gedächtnis ihre gleichaltrigen KlassenkameradInnen spielend hinter sich lässt und deshalb beim
nationalen Schulwettbewerb «Superhirn-Quiz» mitmachen will, sorgt das bei den anderen
SchülerInnen für Verunsicherung und bald wird klar, dass die eigentliche Behinderung nicht bei
Melody liegt, sondern in den Köpfen so mancher ihrer Mitmenschen.
Draper lässt ihre Heldin selber erzählen und sie verleiht ihr eine absolut authentische Stimme –
offen und ehrlich, reif und mit wunderbarem Humor. Dabei bleibt Melody immer eine sehr starke
Figur, auch in ihren schwachen Momenten, und Draper gelingt das große Kunststück zu berühren,
ohne jemals rührselig zu werden. Als LeserIn ist man von der ersten bis zur letzten Seite ganz nah
dran an diesem ungewöhnlichen Mädchen, man freut sich für sie, leidet mit ihr, fiebert mit ihr
einem selbstbestimmten Leben entgegen.
Mit Worten kann ich fliegen ist ein wunderbares Plädoyer für Akzeptanz und Selbstbestimmung
und ein großartiges Stück Kinderliteratur, das die Schwere seines Themas mit meisterhafter
Leichtigkeit angeht – nicht nur Kindern wärmstens empfohlen!
Andrea Hirn
Hugo, streck die Fühler aus!
Lena Avanzini
Siberfischchen Hugo, der gerade einmal drei
Häutungen hinter sich hat, verliert seine Mutter
in einem Abflussrohr, vergeblich versucht er
sie zu retten.
So muss er sich allein auf die Suche nach einer
neuen Bleibe machen und er hat Glück im Unglück: Hugo findet nicht nur ein neues Zuhause,
sondern auch gleich neue Freunde; das vermag ihn dann doch ein wenig über seinen Verlust
hinweg zu trösten. Aber kaum hat er sich einiger-
42
Besprechungen
maßen eingelebt und an all die neuen Hausgenossen gewöhnt, dräut neues Unheil, diesmal in
menschlicher Gestalt.
Das sowohl mutige als auch belesene Silberfischchen – sein altes Heim war eine Bibliothek,
die Hugo und seine Mutter aufgrund der trockenen
Luft verlassen mussten – schmiedet mit seinen
neuen Freunden einen waghalsigen Plan und überführt am Ende sogar eine richtige Verbrecherin.
Die abenteuerliche Geschichte der Tiroler
(Krimi-)Autorin Lena Avanzini, auch Musikerin
und Musikpädagogin, bringt neue Helden in die
Kinderzimmer, Tiere, die man üblicherweise
eher – wie auf dem Titel abgebildet – mit der
Schuhsohle begrüßt. Silberfischen, Staub- und
Winter 2014/15
Bücherläuse, Hausgrillen und sogar eine Spinne
wohnen friedlich zusammen in einem Haushalt,
der genügend Futter abwirft – bis eine neue Frau
im Leben des Hausherren auftaucht und mit
ihr rigide Vorstellungen von Hygiene Einzug halten. Damit verringert sich nicht nur das Nahrungsangebot dramatisch, als die Tierchen erfahren,
dass ein Kammerjäger kommen soll, wissen sie:
es geht um Leben oder Tod.
Im Mittelpunkt der originellen Geschichte
stehen die Insekten, aber die behandelten Themen sind universeller Natur, sie kreisen um
Freundschaft und Hilfsbereitschaft.
Die liebevollen und witzigen Vignetten der
Illustratorin Joëlle Tourlonias begleiten die jungen LeserInnen durch die einzelnen Kapitel und
vermitteln ihnen ein freundliches Bild der im
Allgemeinen als Ungeziefer betrachteten Tiere.
Gerlinde Böhm
Essen Tote Erdbeerkuchen?
Rosemarie Eichinger
Der Friedhof ist in der Kinderliteratur zumeist
ein düsterer, unheimlicher Ort und Schauplatz
gruseliger Begegnungen. Doch es geht auch
anders: wie schon im 2012 erschienen Friedhofskrimi von Kirsten Boie (Der Junge, der Gedanken
lesen konnte) ist nun auch in Rosemarie Eichingers
Erzählung der Friedhof ein in den Alltag integrierter Ort, zu allererst ist er nämlich Emmas Zuhause. Das Mädchen wohnt mit ihrem Vater, dem
Totengräber, direkt neben dem Friedhof und
verbringt seine Freizeit zwischen Gräbern und
Gruften. Emma denkt sich Geschichten zu den
Verstorbenen aus und fühlt sich in dieser von ihr
geschaffenen Welt durchaus wohl. Ihre MitschülerInnen halten sie deswegen für verrückt,
ihre einzige Bezugsperson ist der Vater.
Das ändert sich, als plötzlich ein Junge, Peter,
regelmäßig am Friedhof anzutreffen ist. Er
trauert um seinen Zwillingsbruder, der bei einem
Sturz ums Leben kam. Peter lebt seit dem Unfall
in einer selbstgewählten Isolation. Die Annäherung der beiden vollzieht sich daher sehr langsam und ist anfänglich von gegenseitiger Skepsis
geprägt, doch durch Emmas Initiative und Tatkraft kommen sich die beiden schließlich näher.
Sie sprechen vor allem über verschiedenen kulturelle Zugänge zum Tod und damit verbundene
Bräuche und Traditionen. Emma weiß viel darüber zu erzählen und hilft Peter auf diese Weise,
den Verlust seines Bruders zu verarbeiten. Doch
auch Emma profitiert von der Freundschaft, da sie
von Peter aus ihrer selbst erdachten, imaginären
Welt geholt wird.
Rosemarie Eichingers Erzählung behandelt
damit nicht nur die Themen Tod und Trauer,
sondern auch die Außenseiter-Problematik. Von
43
Kinderbuch
der in Wien lebenden Autorin ist bislang für
Jugendliche Alles dreht sich (Carlsen 2013) erschienen sowie zwei als E-Book veröffentlichte
Erzählungen (Unerlaubt entfernt und Scarlet,
beide 2013). Die vorliegende Erzählung wendet
sich nun an Jüngere und ist für Kinder ab ca.
9 Jahren empfehlenswert.
Barbara Eichinger
Astrids Plan vom großen Glück
Levi Henriksen
Die Eltern der elfjährigen Astrid sind seit einem
Jahr geschieden, eine Tatsache, die dem aufgeweckten Mädel ziemlich zu schaffen macht. Es
möchte die bevorstehenden Ferien unbedingt wie
immer in einem gemütlichen Sommerhaus auf
einer Insel mit Mama und Papa verbringen.
Astrid strengt ihre Gehirnzellen mächtig an und
schließlich ist ein großartiger, wenn auch schwierig umzusetzender Plan ausgetüftelt. Da werden Handys versenkt oder vorsätzlich außer
Betrieb gesetzt, der neue Partner der Mutter soll
mittels Kleber an der Klobrille aus dem Geschehen herausgehalten werden, ja sogar zu einem
Bootsdiebstahl lässt sich Astrid hinreißen.
Sie glaubt sich gegen alle Widernisse gewappnet,
aber was sich dann auf der Ferieninsel abspielt,
übersteigt selbst ihre kühnsten Vorstellungen.…
Astrids Plan vom großen Glück ist das Kinderbuch-Debüt des Autors, Journalists und Musikers
Levi Henriksen, der 2004 für seinen Roman
Bleich wie der Schnee mit dem Preis des norwegischen Buchhandels ausgezeichnet wurde.
Wer beim Betrachten des Titelbildes eine
gewisse Ähnlichkeit mit Astrid Lindgrens Pippi
Langstrumpf zu erkennen glaubt, wird sich nach
wenigen Seiten Lektüre bestätigt fühlen. Ganz
offensichtlich hat der Autor Anleihe bei einer der
bekanntesten Figuren der Kinderliteratur
genommen – allerdings reicht Henriksens Astrid
nicht an das Vorbild heran: die Geschichte selbst
ist flott erzählt, die Handlung bietet einiges an
Spannung, aber der Hauptdarstellerin mangelt es
am Charme und der Liebenswürdigkeit des
Originals.
Ingrid Sieger
Rosemarie Eichinger
Essen Tote Erdbeerkuchen?
Wien: Jungbrunnen 2013.
117 S. Ab 9 Jahren
Levi Henriksen
Astrids Plan vom großen Glück
Aus dem Norweg.
München: DTV 2014.
256 S. Ab 10 Jahren
Ella und der Millionendieb
Timo Parvela
Stella Menzel und der goldene Faden
Holly-Jane Rahlens
Kann ich mitspielen?
Eine Fußballgeschichte
Dreckswetter und Morgenröte
Die Legenden der blauen Meere
Michi hat einen neuen Fußball. Voller Enthusiasmus trainiert er mit ihm für die überübernächste
Fußballweltmeisterschaft. Einziger Wermutstropfen ist, dass er das allein tun muss. Unverdrossen kickt er das Leder zwischen die Mülltonnen
und schießt Tor um Tor. Als einer seiner Schüsse
allerdings über die Latte hinausgeht, klettert Michi
über die hohen, grauen Mauern hinaus aus dem
tristen Innenhof. Sobald er den Hinterhof verlässt,
trifft er ständig neue Mitspieler. Der Erste, der
ihn fragt:« Kann ich mitspielen?» ist Rübaldi,
der Hase. Als ein Weitschuss den Ball von der Wiese in den Wald katapultiert, treffen sie auf Van
Brummel, den Bären. Es folgen noch Lulatschitsch,
der Riese, die Spinne Günter, die Taube Laola,
der Stein Wumms und Gabriela, der Engel. Jeder
bringt ganz spezielle Qualitäten für das Spiel mit,
doch alle teilen die Begeisterung für Fußball.
Gemeinsam erleben sie das Spiel ihres Lebens,
das sie sogar zu einem Engel in die Wolken und
schlussendlich zur brasilianischen Fußballmannschaft in ihren blau-gelb-grünen Dressen führt.
Der in Kiel lebende Jens Rassmus schreibt seit
1997 Kinderbücher und illustriert sie selbst. Viele
seiner Bücher wurden prämiert, so zum Beispiel
Der wunderbarste Platz auf der Welt und Rosa und
Bleistift mit dem Preis der Kinderjury beim Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis oder Der
karierte Käfer mit dem Österreichischen Kinderund Jugendbuchpreis. Rassmus’ Illustrationen
bereichern den Text und bieten Projektionsflächen
zum Träumen und Weiterspinnen von Gedanken.
Im Fall von Kann ich mitspielen? können selbst die
Noch-Nichtleser das Geschehen auch ohne Textkenntnis mitverfolgen. Die zum Teil ganzseitigen
Bilder setzen den Inhalt liebevoll um und bieten
sowohl beruhigende Inszenierungen der Weite der
Natur als auch die dynamische Umsetzung von
Dribbeln, Passen und Torjubel. Fußball als
«völkerverbindendes» und bereicherndes Miteinander wird auch durch die Farbwahl hervorgehoben. Ist noch alles grau in grau, als Michi allein
im Innenhof kickt, wird es nach und nach bunter,
als immer mehr Spielkameraden dazustoßen.
Schon das gelungene und ansprechende Cover
macht dem Leser klar, was bei der Lektüre auf ihn
zukommt – das türkise Skelett mit dem leuchtend
roten Auge lässt keine Zweifel zu, dieses Buch ist
eine Piratengeschichte. Dreckswetter und Morgenröte ist der erste Teil der neuen Reihe Die Legenden
der blauen Meere.
Der fast schon 13 Jahre alte Egbert hat es wirklich nicht leicht. Er lebt zusammen mit seinen
beiden unausstehlichen Geschwistern Adonis und
Venus und seinem Vater, der eine Stinkfruchtplantage betreibt, auf der Pirateninsel Dreckswetter. Diese Insel zeichnet sich nicht nur durch ihre
unwirtliche Witterung aus, sie wird noch dazu von
äußerst unangenehmen Geschöpfen bewohnt, die
Egbert das Leben schwer machen. Denn Egbert
ist sehr wissbegierig, lernt und liest leidenschaftlich gerne und passt damit so gar nicht zum
Rest der Inselbewohner. Als Egberts Vater die
ganze Familie zu einem Ausflug auf die wunderschöne Nachbarinsel Morgenröte einlädt, was
sonst nur an zwei Feiertagen im Jahr passiert, wird
Egbert misstrauisch. Auf Morgenröte angekommen trifft Egberts Familie mit der einflussreichen
Familie Pembroke zusammen, und verschwindet kurz darauf auf einer von Roger Pembroke organisierten Ballonfahrt. Was steckt wirklich hinter
Pembroke, was ist mit Egberts Familie passiert
und wie hängt das alles mit dem Schatz des Hutmatozal zusammen? Für Egbert beginnt ein
großes Abenteuer mit Piraten, Seeschlacht und
einem sagenumwobenen Schatz.
Geoff Rodkey ist mit seinem Debüt ein spannender und kurzweiliger Abenteuerroman gelungen, der alle gängigen Piratenmotive aufgreift
und diese mit durchaus ungewöhnlichen und
genreunüblichen Elementen verquickt. Die Lektüre ist unterhaltsam und fesselnd und wird
jungen Leserinnen und Lesern ab ca. zwölf Jahren Freude machen.
Jens Rassmus
Timo Parvela
Ella und der Millionendieb
Aus dem Finn.
München: Carl Hanser
Verlag 2014.
176 S. Ab 8 Jahren
Holly-Jane Rahlens
Stella Menzel und der
goldene Faden
Aus dem Engl.
Reinbek:
Rowohlt Taschenbuch 2013.
160 S. Ab 10 Jahren
«Ich heiße Ella. Ich gehe immer nur in die zweite
Klasse und das nervt, weil ich gern bald mein
Abitur feiern und dazu mein neues blaues Kleid
mit der Schleife hinten anziehen würde. Zum
Glück habe ich wenigstens eine nette Klasse und
einen netten Lehrer.» Ella ist Protagonistin und
Erzählerin, daher kommt ihr Name in den Texten
kaum vor. Wie alt Ella eigentlich ist, weiß man
nicht, da sie ja in der zweiten Klasse bleibt. Entsprechend verhalten sich auch die Heldinnen und
Helden immer wie sieben- oder achtjährige
Kinder. Das tut dem Vergnügen oder dem Erfolg
der Serie keinen Abbruch, denn man könnte sich
gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Timo,
Pekka, Hanna, Mika, der Rambo und Tiina in die
Pubertät kämen. Obwohl – ein bisschen neugierig
wäre man schon…
Die Geschichten von Ella, ihrem Lehrer, der
Direktorin und ihren Freunden sind allesamt
ziemlich skurril und schräg, vor allem aber sehr
witzig. Manchmal sind sie nahe an der Wirklichkeit, dann wieder mit vielen fantastischen
Elementen angereichert, der Kern der Geschichten ist aber doch immer sehr real. Es gibt ein
Superhirn, einen Klassendödel, ein Raubein und
die auf den ersten Blick sehr braven Mädchen, die
es natürlich faustdick hinter den Ohren haben.
In Ella und der Millionendieb finden die Kinder in
einem Blumenladen einen Lottoschein, dessen
Einlösung eine Million Euro wert ist. Der Lottoschein geht verloren und es gibt jede Menge
Verdächtige, nicht zuletzt den Vertretungslehrer, denn der war vor seiner Pensionierung
Gärtner. Aber keine Sorge, Timo Parvela verfällt
niemals ganz dem Klischee: «Zum Schluss kam
also heraus, dass der Gärtner und die Blumentante nicht die Millionendiebe waren und auch
keine Komplizen. Sie waren nur verheiratet.»
Im deutschsprachigen Raum gibt es eine
große Ella-Fangemeinde, Ella und der Millionendieb ist das neunte Buch der Serie, das ins Deutsche übersetzt wurde. Timo Parvela stammt aus
einer Lehrerfamilie, ist mit einer Lehrerin
verheiratet und war selber lange Lehrer – bei
seinen Erzählungen über den Schulalltag kann
er also aus dem Vollen schöpfen. Die Illustrationen von Sabine Wilharm unterstreichen wie
immer den Witz des Textes.
Martina Adelsberger
Holly-Jane Rahlens zog von Amerika nach
Deutschland, wo sie derzeit als Autorin, Übersetzerin und Radiomoderatorin arbeitet. Ihre Bücher
wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, das
vorliegende wurde von der Kinderbuch-Couch
zum Buch des Monats November 2013 gewählt.
Stella Menzel bekommt zur Geburt von
ihrer Großmutter eine Decke geschenkt, dunkelblau, mit silbernen Sternen und Schneeflocken
bestickt, mit goldenem Faden zusammengenäht.
Diese Decke war ursprünglich ein Wandbehang,
gefertigt von Stellas Ururgroßmutter, als deren
Tochter 1919 aus Russland nach Berlin auswanderte. Von Generation zu Generation weitergegeben, wanderte der Wandbehang mit den
Familienmitgliedern nach Amerika und wieder
zurück nach Europa, wurde immer kleiner, umgenäht zu einem Vorhang, einer Tischdecke,
einem Klavierschal und schließlich zur Kinderdecke für Stella. Diese liebt das Stück Stoff, das
weiterhin verändert werden muss: ein Hund
zerbeißt die Decke, das aus den Resten genähte
Kleid wird durch Schokolade beschädigt und
zur Bluse umgeändert, daraus wird eine Weste,
dann ein Beutel und schließlich eine Schleife für
einen Sonnenhut. Der Hut wird vom Wind
davongetragen, vom Familienerbstück scheint
nichts zu bleiben. Bis jetzt konnte Stellas
Großmutter immer wieder etwas Neues zaubern,
auch wenn Stellas Mutter nach jedem Missgeschick, das dem Stoff widerfuhr, konstatierte:
«Aus nichts kann man nichts machen!» Und jetzt,
als tatsächlich nichts mehr vorhanden ist, wird
diese Pessimistin kreativ und schafft mit dem
verbliebenen goldenen Faden ein Buch…
«Es war einmal ein Mädchen…» – so beginnt
die Erzählung, und wie in einem Märchen bewegen wir uns durch die Geschichte. Wiederkehrende Textelemente und wiederholte Sätze erzeugen einen ganz eigenen Rhythmus und
erinnern an mündliche Erzähltradition.
Die Ausstattung des Buches entspricht
wunderbar dem Inhalt: Ebenso liebevoll wie die
Erzählung ist auch die Gestaltung, angefangen
vom dunkelblauen, mit Sternen übersäten Vorsatzblatt über die gezeichneten Fotografien bis hin
zum goldenen Faden, der sich durch das gesamte
Buch zieht.
Unbedingt empfohlen für die ganze Familie, als
Vorlesebuch ab 6, zum Selberlesen ab 10 Jahren.
Bettina Raab
Monika Nebosis
44
Besprechungen
Winter 2014/15
45
Kinderbuch
Geoff Rodkey
Martina Bednar
Jens Rassmus
Kann ich mitspielen?
Eine Fußballgeschichte
St. Pölten [u.a.]: Residenz 2014.
40 S. Ab 6 Jahren
Geoff Rodkey
Dreckswetter und Morgenröte
Die Legenden
der blauen Meere
Aus dem Engl.
Hamburg: Carlsen 2013.
359 S.
Ab 12 Jahren
Besprechungen–Kinderbuch
Geckos große Geschichtenwelt
Von Himmelsleitern, StinkWettbewerben und Zauberhaaren
Sachbuch
Geckos große Geschichtenwelt
Von Himmelsleitern,
Stink-Wettbewerben
und Zauberhaaren
München: Mixtvision 2013.
170 S. Ab 5 Jahren
Geckos große Geschichtenwelt – von Himmelsleitern,
Stink-Wettbewerben und Zauberhaaren aus dem
Verlag mixtvision versammelt erstmals zahlreiche
Texte, die zuvor im beliebten und mit dem Gütesiegel der «Stiftung Lesen» ausgezeichneten
Kindermagazin «Gecko» erschienen sind. Das
Magazin publiziert sowohl renommierte AutorInnen und IllustratorInnen als auch junge Schreibund Zeichentalente.
Im vorliegenden Sammelband finden sich 14
sehr unterschiedliche Texte, u.a. von namhaften
AutorInnen wie Brigitte Schär, Martin Baltscheit
und Gudrun Pausewang. Für die Illustrationen
zeichnen u.a. Eva Muggenthaler, SaBine Büchner
und Ulf K. verantwortlich.
Entsprechend groß ist das Spektrum an Texten
und Illustrationen: von Realistischem über Märchenhaftes bis zu fantastisch Skurrilem. Diese
Bandbreite bietet erstens jedem Geschmack, jeder
Vorliebe etwas und zweitens macht sie schon sehr
jungen LeserInnen deutlich, wie vielfältig Literatur, wie mannigfaltig die Welt der Geschichten ist.
Die handelnden ProtagonistInnen sind
Mädchen, Buben, Tiere, fantastische Wesen (wie
Drachen und Wichtel) und in der wahnwitzig
lustigen Geschichte vom «Stinkwettbewerb» sind
es gar Schuhe, die ihren großen Auftritt haben
(und dass gerade die Kinderschühchen als Sieger
aus besagtem Wettbewerbs hervorgehen, wird
kleine LeserInnen besonders amüsieren). Diese
Vielfalt an Hauptfiguren ermöglicht es jedem
Kind, seine oder ihre Identitätsfigur(en) zu finden.
Die Alltagsgeschichten verhandeln Themen,
die allen Kindern bestens bekannt sein dürften: wie bewahrt man ein Geheimnis?, gibt es
den Weihnachtsmann wirklich?, Urlaubssituationen und mehr.
So verschiedenartig die Erzählungen sind,
so einzigartig sind auch die Illustrationsstile, was
Kindern auch im Bereich der Bildkunst einen
Einblick in die Vielfalt künstlerisch-kreativen
Schaffens gibt.
Geckos große Geschichtenwelt ist ein bibliophil
gestaltetes Vorlesebuch mit Leinenrücken,
Lesebändchen und qualitativ hochwertigem
Papier, dessen Geschichten sich (auch auf Grund
ihrer Länge/Kürze) bestens zum abendlichen
Vorlesen sowie zum Verschenken eignen – allen
Vorlesenden wärmstens ans Herz gelegt.
Alle Welt
Das Landkartenbuch
Aleksandra Mizielinska, Daniel Mizielinski
Falls Sie auf der Suche nach einem geeigneten Buchgeschenk für Kinder sind, können Sie getrost
aufatmen: Sie haben es gefunden!
Das vorliegende Werk stellt unsere Welt in all ihren wunderbaren Farben und Formen vor:
in mehr als dreijähriger Entstehungszeit wurden über 4000 Miniaturen gezeichnet, eigens
zwei neue Schriftarten entwickelt und unzählige statistische Daten und Fakten gesammelt und
verarbeitet: Hauptstädte, Einwohnerzahlen, Gebietsflächen, Berge, Flüsse, die vielleicht nicht
unbedingt landestypischen aber jeweils beliebtesten Vornamen, Nationalgerichte, kulturelle
Sehenswürdigkeiten, die landesspezifische Fauna und Flora, Musikinstrumente, historische
Persönlichkeiten, sowie bekannte Figuren aus Film, Literatur und Musik... Auf den letzten Seiten
finden sich alphabetisch gereiht alle 198 Flaggen der Welt, sogar die des Vatikanstaates. Alles
wurde von dem polnischen Illustratorenpaar wunderschön illustriert und für Kinder einfach und
übersichtlich aufbereitet.
Da das Landkartenbuch ein wenig an ein buntes Wimmelbuch erinnert, ist es sogar für
die allerkleinsten unter den neugierigen LeserInnen bzw. BildbetrachterInnen geeignet. Und die
größeren finden auch nach langem und oftmaligem Betrachten immer wieder neue Details und
Besonderheiten. Daher wundert es nicht, dass das vorliegende Werk mehrfach ausgezeichnet
und international prämiert wurde, so beispielsweise mit dem Luchs der ZEIT, dem deutschen
Emys-Sachbuchpreis für Kinder- und Jugendliteratur oder einer Nominierung als Bestes Wissenschaftsbuch des Jahres 2014 in der Kategorie Junior Wissen des Bundesministeriums für Wissenschaft und Kultur, Wien. Alles in allem, ein absolut geniales und rundum gelungenes (Sach-)
Buch – nicht nur für wissbegierige Kinder.
Aus dem Poln.
Frankfurt am Main:
Moritz-Verlag 2013.
105 S.
Ab 6 Jahren
Martina Lammel
59 gute Gründe Bücher zu lieben,
auch wenn du Lesen hasst!
Françoize Boucher
Nach einer ersten Karriere in der Modewelt hat
sich die Französin Françoize Boucher ihrer wahren
Leidenschaft zugewandt: dem Schreiben und Illustrieren von Büchern für Erwachsene und Kinder.
Auf Deutsch ist 2011 das Bilderrätselbuch Und
was siehst du? erschienen, der vorliegende Band ist
ihr zweites Werk (heuer erschien noch 59 gute
Gründe, warum deine Eltern gar nicht so übel sind,
auch wenn sie dich zwingen, Gemüse zu essen,
ebenfalls im Prestel Verlag).
Boucher führt zahlreiche, oftmals ungeahnte
Gründe an, warum es von Vorteil ist, Bücher zu
lieben und zu lesen – das Spektrum reicht dabei
von sachlich (es gibt zu jedem Thema ein passendes Buch, die Rechtschreibung verbessert sich,
man kann bei jedem Wetter lesen) über verführerisch (man erscheint interessant und wird bewundert, man nimmt von übermäßiger Lektüre kein
Gramm zu, erhält stattdessen sogar eine perfekte
Andrea Hirn
46
Besprechungen
Aleksandra Mizielinska,
Daniel Mizielinski
Alle Welt
Das Landkartenbuch
Winter 2014/15
47
Kinderbuch
Figur) bis skurril (Bücher halten sich ewig und verderben nicht wie Lebensmittel). Sie versammelt
auch den einen oder anderen Hinweis auf den
richtigen Umgang mit Büchern: immer Hände
waschen (manche Bücher werden«sehr, sehr, sehr
zornig», wenn man sie beschmutzt), eine Windel
tragen (egal wie alt man ist), wenn man ein besonders spannendes Buch liest; und gibt Tipps,
wie man allerseltsamste oder gar peinliche Bücher
lesen kann, ohne dass es jemand mitkriegt.
Bouchers Schreibstil ist lakonisch-witzig, ihr
Illustrationsstil cartoonartig. Die knappen Texteile
verteilen sich über die ganze Seite und sind oft in
die Illustration integriert, sodass Text und Grafik
meist eine Einheit bilden. Sie arbeitet mit
schwarzem Strich auf meist weißem Untergrund,
manche Seiten sind in knalligem hellblau oder
orange unterlegt. Diese beiden Farben sind auch
die einzigen, mit denen die Illustrationen stellenweise coloriert sind, was den Effekt von Leuchtstift-Markierungen erzielt. Gemeinsam mit den
handschriftartig gesetzten Typen wirkt das Buch
dadurch, als wäre es (von einem Kind) handgeschrieben und – gezeichnet.
Françoize Boucher
59 gute Gründe Bücher zu lieben,
auch wenn du Lesen hasst!
Aus dem Franz.
München u.a.: Prestel 2013.
ca. 112 S. Ab 10 Jahren
59 gute Gründe Bücher zu lieben ist ein rundum
gelungenes, wirklich lustiges Buch für Bibliophile
von 10 bis 100, das auch Leseunwillige zum
Schmunzeln und Lachen bringen wird und sich
bestens als Geschenk und Mitbringsel eignet.
Haben Elefanten wirklich Angst
vor Mäusen? Vorlesegeschichten
zu den lustigsten Alltagsirrtümern
Glückwunsch, du bist ein Mädchen
Eine Anleitung zum Klarkommen
Sonja Eismann, Chris Köver, Daniela Burger
Denkste?!
Verblüffende Fragen und Antworten
rund ums Gehirn
Jan von Holleben
Christian Dreller
Andrea Hirn
Die 100 tödlichsten Dinge der Welt
Anna Claybourne
Anna Claybourne
Die 100 tödlichsten Dinge der Welt
München: arsEdition GmbH 2013.
112 S. Ab 10 Jahren
Christian Dreller
Haben Elefanten wirklich Angst
vor Mäusen? Vorlesegeschichten
zu den lustigsten Alltagsirrtümern
Hamburg: Ellermann 2014.
122 S. Ab 4 Jahren
Ein Totenkopf und ein Skorpion, ein Bär mit bedrohlich aufgerissenem Maul, eine giftige Spinne,
ein schnappendes Krokodil, ein Foto von einem
Wirbelsturm, das Symbol für Blitzeinschlag sowie
gruselig erscheinen wollende Wortbanner mit
Texten wie «Rasiermesserscharf & stechend»,
«Katastrophal & ansteckend» sowie «Blutrünstig & giftig» zieren das vorliegende Werk. Das
in einem roten Folienumschlag steckende
Taschenbuch soll Kinder ab ca. 10 Jahren über die
Gefährlichkeit unserer Welt und die vielfältige
Bedrohung unseres Lebens aufklären. Um den
angstmachenden Ersteindruck nicht verflachen zu
lassen, folgt in einem «Einführung» benannten
Einleitungsartikel ein warnender Hinweis darauf,
dass wir auf der Hut sein und uns fürchten müssen, denn «die Killerkreaturen und Keime (…) sind
gar nicht weit weg. Sie sind überall! Fürchte dich,
fürchte dich sehr!». Zum Glück wird nach so viel
reißerischer Panikmache beruhigend relativiert:
«Okay, keine Panik! Viele tödliche Gefahren,
die dir in diesem Buch begegnen werden, sind
äußerst selten (…) und für die anderen gibt es die
moderne Medizin, Sicherheitsvorkehrungen und
den gesunden Menschenverstand». Ein Inhaltsverzeichnis zu Beginn zeigt die thematische
Gliederung in «Angriffslustige Tiere», «Killerreptilien und tödliche Fische», «Blutrünstige
Biester» sowie «Gifte, tödliche Krankheiten und
Katastrophen» und listet alle beschriebenen
Schrecken mit den zugehörigen Titel-Begriffen
und Seiten-Verweisen auf. Jeder Beitrag füllt eine
Seite, ist mit einem Farbfoto versehen und stuft
die jeweilige Gefahr in einem «Totenkopfranking»
nach ihrem Tödlichkeitsgrad ein. Ergänzende bzw.
weiterführende Informationen finden sich in
knallbunten Farb-Kästchen. Das ansprechend
aufgemachte Buch bietet eine kompakte Übersicht
über die schlimmsten Bedrohungen des Menschen, Informationsgehalt und Sprache sind dem
Alter der Zielgruppe angepasst. Ein paar marktschreierische Worte und ein paar Totenköpfe
weniger hätten der grundsätzlichen Empfehlung
allerdings keinen Abbruch getan…
Beim Grillen im Garten bemerkt Tims Mama
dass ihre geliebten Rosensträucher Läuse haben.
Also macht sich die gesamte Familie auf die Suche
nach Marienkäfer, die bekanntlich Läuse zum
Fressen gern haben. Dabei erwähnt Mama, dass
die Punkteanzahl auf das Alter der Käfer hinweist.
Doch Tim weiß es besser und klärt dass Ammenmärchen auf. Im weiteren Verlauf der Geschichte
stehen noch viele andere tradierte Alltagsweisheiten auf dem Prüfstand; beispielsweise, dass
Stiere auf rote Farbe besonders wütend reagieren
oder Wikingerhelme mit Hörnern versehen waren.
20 kurze Geschichten, nie länger als 6 Seiten,
mit witzigen, sehr farbenfreudigen Illustrationen
von Katrin Oertel versehen, bieten in komprimierter Form Aufklärung über von Generation
zu Generation weitergegebenes Wissen bzw.
Irrtümer. Einfacher Satzbau und immer wieder
eingebaute direkte Reden sorgen für leichte
Lesbarkeit. Die Richtigstellungen der Alltagsirrtümer sind in kurze und überschaubare Rahmenhandlungen eingebettet und sind sowohl zum
Vorlesen als auch zum Selberlesen für Volksschulkinder gut geeignet.
Ein Buch, das Wissen und Unterhaltung auf
unspektakuläre Art und Weise verknüpft.
Angelika Weiß
Nach ihrem ersten, 2012 erschienenen, Gemeinschaftswerk Mach’s selbst – Do it Youself für
Mädchen legt das Autorinnen-Trio Eismann, Köver
und Burger (u.a. Herausgeberinnen des Missy
Magazines) erneut einen queer-feministischen
Mädchen-Ratgeber vor. Der Titel Glückwunsch, du
bist ein Mädchen: Eine Anleitung zum Klarkommen
ist tatsächlich Programm. Hier wird auf 150 Seiten
das Mädchen-Sein nicht nur gefeiert, sondern
auch aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, hinterfragt, auf den Kopf gestellt. In sechs
Abschnitten (Mädchen sein, Freundschaft und
Mädchensolidarität, Körper und Schönheit, Mode,
Sexualität, Sport) werden die Themen mit
gender-theoretisch fundiertem Tiefgang analysiert und gegen den Strich gebürstet. Es gibt jede
Menge anspruchsvollen theoretischen Input (z.B.
was genau unter Intersektionalität zu verstehen
ist), der altersgerecht aufbereitet und bestens
verständlich erklärt wird. Dazwischen gibt es stets
die Ermutigung, Traditionelles neu zu überdenken und zu hinterfragen, ob frau diesem oder
jenem Aspekt der «weiblichen Rolle» gerecht
werden kann, soll, möchte oder nicht, bzw. wie
Rollenbilder überhaupt zustande kommen und
wie sie angepasst, verändert, angenommen oder
auch abgelehnt werden können. Manchmal gibt es
Platz, eigene Überlegungen zu notieren oder
auszufüllende Pro-und-Contra-Listen, um sich
über Themen mal konkret Gedanken zu machen.
Zwischen den Infoteilen gibt es spannende
Interviews mit interessanten Frauen (Stichwort:
Rollenvorbilder) sowie Internetadressen zu
Webseiten und Blogs, auf denen Interessierte sich
noch ausführlicher informieren oder inspieren
lassen können.
Die Autorinnen finden eine Sprache, die perfekt zwischen – den komplexen Themen angemessener – Sachlichkeit und – ihrer Zielgruppe angepasster – authentischer Lockerheit balanciert
und die Jugendliche garantiert ansprechen wird.
Zahlreiche Farb- und Schwarz-Weiß-Fotos sowie
ein poppiges Layout ergänzen den Ratgeber
und machen ihn zu einem rundum gelungenen
Mitmachbuch, das allen jungen Mädchen
wärmstens ans Herz gelegt sei und sich auch
bestens als Geschenk eignet.
Andrea Hirn
Franz Plöckinger
48
Besprechungen
Winter 2014/15
49
Kinderbuch
Als Kooperationspartner für das vorliegende
Werk konnte die Gemeinnützige Hertie-Stiftung,
der größte private Förderer der Hirnforschung
in Deutschland, gewonnen werden. Das ermöglichte es, nicht nur über 300 bemerkenswerte
Kinderfragen zum Thema Gehirn zu sammeln,
sondern auch zwei ausgewiesene Experten für
deren Beantwortung zu gewinnen: Prof. Dr.
Michael Madeja, Hirnforscher und Professor an
der Universität Frankfurt, sowie Arzt und Geschäftsführer der Hertie-Stiftung, und Dr. Katja
Naie, Biologin, Neurowissenschaftlerin und
begeisterte Leiterin des Informationsportals rund
ums Gehirn (www.dasgehirn.info).
Der Fotokünstler Jan Holleben hat das so
unterhaltsame wie lehrreiche Frage- und Antwortspiel optisch wunderbar aufbereitet; viele bunte,
witzige und zumeist ganzseitige Fotos bereichern
und veranschaulichen den spannenden Text.
Man staunt etwa über Folgendes: Wieso heißt das
Gehirn Gehirn und ist das Gehirn innen hohl? Wie
lange hält das Wissen aus der Schule? Hat das
Gehirn Gefühle und wo steckt die Seele? Wie viel
kann man auf einmal denken? Wie kommen beim
Hören die Worte in den Kopf? Warum vergisst
man viel, wenn man alt wird? Gibt es Menschen,
die sich alles merken können? Können Hirnforscher Gedanken lesen? Und was passiert im
Gehirn beim Lesen? Diese und viele weitere interessante Überlegungen werden zielgruppengerecht und ohne jede «Oberlehrer»-Attitüde
beleuchtet und erklärt. Ein außergewöhnliches
Sachbuch, das nicht nur Kindern zu vielen
neuen Erkenntnissen verhilft.
Claudia Barton
Sonja Eismann, Chris Köver,
Daniela Burger
Glückwunsch, du bist ein Mädchen
Eine Anleitung zum Klarkommen
Weinheim, Basel:
Beltz & Gelberg 2013.
151 S. Ab 13 Jahren
Jan von Holleben
Denkste?! Verblüffende Fragen
und Antworten rund ums Gehirn
Stuttgart u.a.: Gabriel 2013.
174 S. Ab 10 Jahren
Kritzeln, krakeln, schreiben
Das Buchstaben-Mitmachbuch
für Kinder
Die Bademattenrepublik
Besprechungen–Jugendbuch
Valerie Wyatt
Claudia Huboi, Susanne Nöllgen
Claudia Huboi, Susanne Nöllgen
Kritzeln, krakeln, schreiben
Das BuchstabenMitmachbuch für Kinder
Bern: Haupt-Verlag 2013.
59 S. Ab 6 Jahren
Valerie Wyatt
Die Bademattenrepublik
Leipzig: Klett Kinderbuch 2014.
40 S. Ab 10 Jahren
Wie der Titel schon verrät, ist das Buch ein
Sammelsurium aus kreativen Vorschlägen zum
Thema Buchstaben, Alphabet und Schrift. Es regt
an, sich mit Optik und Eigenschaft einzelner
Zeichen bzw. verschiedener Schriftbilder und
Alphabete auseinanderzusetzen. Die LeserInnen
werden über verschiedene Schriftarten (mit oder
ohne Serifen, geschwungen oder gerade Linien,
etc. …) und deren Wirkung aufgeklärt: ist eine
Schrift eher ordentlich, elegant oder vielleicht
widerspenstig und wild?
Darüber hinaus finden Interessierte auf je
einer Seite Informationen zum Morsealphabet
(inklusiver einer Anleitung für ein Morsegerät),
zur Braille-Schrift und dem Finger- und Flaggenalphabet. Natürlich dürfen in einem Kinderbuch zum Thema Schrift Tipps für Geheimschriften und -sprachen nicht fehlen, das Thema
ist daher mit mehreren Beispielen vertreten.
Generell ist das Buch aber mehr als Bastelbuch
denn als Sachbuch zu verstehen. Ähnlich wie im
Sprachbastelbuch wird eine kreative Auseinandersetzung angeregt, allerdings mit dem Fokus auf
der formalen statt der inhaltlichen Ebene. Während also im Sprachbastelbuch Worte gereimt,
geschüttelt und zu Geschichten geformt werden,
geht es hier mehr um Typografie und Grafik. Das
Buch ist gut geeignet für Kinder ab sechs Jahren,
kann aber auch für LehrerInnen hilfreich sein, die
das Thema Alphabet mit verschiedenen Sinnen
erfahrbar machen wollen. Die Bastelideen für
Spiele mit Buchstaben, wie etwa Domino, Puzzles
oder Würfelspiele sind sehr gut dazu geeignet.
Aber auch die Aufforderungen, Visitenkarten, Einladungen oder Pop-ups zu basteln, können vielseitig eingesetzt werden. Die Abbildungen im
Buch sind optisch sehr ansprechend arrangiert, die
einzelnen Bastelschritte allerdings eher kurz
gehalten. Darüber hinaus gibt es zwischendurch
Freiflächen für eigene Ideen.
Ein empfehlenswertes Buch für Kinder, die
gerne drucken, kritzeln, zeichnen, schreiben,
Buchstaben aus Draht biegen etc., und für
Erwachsene, die in der Vermittlung tätig sind.
Barbara Eichinger
So einfach ist es, sein eigenes Land zu gründen
(für den unwahrscheinlichen Fall, dass man
noch ein Stückchen besitzlose Erde gefunden hat):
gib deinem Land eine Identität – regiere dein
Land – verbünde dich mit deinen Nachbarn (und
dann habt eine Menge Spaß).
So unterhaltsam und lehrreich ist eine Stunde
Demokratie für Kinder ab 10 Jahren, wenn das
Buch von Valerie Wyatt stammt. Die Autorin hat
bereits mehr als hundert Kinderbücher verfasst
und wurde im englischsprachigen Raum dafür mit
mehreren Preisen ausgezeichnet.
Nun liegt erstmalig und endlich eine deutsche
Übersetzung einer ihrer Titel vor. Die Wahl fiel mit
Die Bademattenrepublik auf ein Buch mit einem
für Kinder wenig attraktiven Thema. Demokratie- da zieht es einem eher die Schuhe aus als den
Bademantel an. Doch Valerie Wyatt brilliert mit
kurzen und prägnanten Texten, anschaulichen
Beispielen sowie der nötigen Prise Humor –
gleichzeitig aber mit viel Bewusstsein für die
Ernsthaftigkeit des Themas.
Alle wichtigen Elemente verschiedener
politischer Systeme und der Staatsform Demokratie im Besonderen werden angesprochen, in
Frage gestellt und die Beurteilung letztlich dem
lesenden Kind überlassen. Auch Oligarchie,
Theokratie und Einparteiensystem werden mit
ihren Vor- und Nachteilen erklärt. Die Autorin
scheut nicht vor unangenehmen Fragestellungen
zurück: Diktatur, Wahlbetrug, Krieg oder Bereicherung auf anderer Menschen Kosten werden
nach einer witzig-ernsthaften Erklärung stets noch
durch Beispiele aus der neueren Geschichte veranschaulicht. So geht sie auf die turkmenische
Diktatur, besonders absurde Gesetze aus verschiedenen Ländern der Welt ein («Alaska: Es ist verboten, einen lebenden Elch aus dem Flugzeug zu
schubsen») und erläutert detailliert die möglichen
Folgen einer Revolution («.. das könnte äußerst
schmerzhaft werden. Für dich. Erinnerst du dich?
Seite 17? Geköpft werden?»).
Die Seiten des Buches sind bunt und vielschichtig aufgebaut und damit nicht nur inhaltlich,
sondern auch optisch anspruchsvoll. Interessant
ist, dass der Illustrator der deutschen Ausgabe ein
anderer ist als jener der Originalausgabe. Die
Zeichnungen sind längst nicht so abstrakt wie im
Original und punkten durch ihren collagenartigen Stil, der den Witz des Textes optimal transportiert. Alles in allem eines der gelungensten
Kindersachbücher am Buchmarkt.
Magdalena Martha Maria Zelger
50
Besprechungen
Winter 2014/15
Am Anfang war das Ende
Stefan Casta
Am Anfang war das Ende des schwedischen Autors Stefan Casta reiht sich auf den ersten Blick
bestens in die Flut von dystopischen Titeln für Jugendliche ein, die seit dem weltweiten Erfolg der
Hunger Games-Trilogie aus der Literaturlandschaft nicht wegzudenken sind. Sowohl Cover
(wolkengrauer Himmel über sturmgepeitschtem graublauen Meer) als auch der (ausnahmsweise
sehr gelungene) deutsche Titel verweisen bereits auf die Ausgangssituation: ein Endzeitszenario
in einer nicht näher benannten, vermutlich aber nicht allzu fernen Zunkunft. Der Klimawandel
sorgt schon seit Jahren dafür, dass immer mehr Tiere und Pflanzen aussterben – und dann setzen
sintflutartige Unwetter ein, die Häuser abdecken, Autos durch die Luft schleudern, Bäume
entwurzeln... und schließlich die hölzerne Schulveranda, auf der vier Jugendliche gerade noch
Zuflucht gesucht haben, mit sich fortreißen. Und dann sind da nur mehr Regen, Wasser und
Dunkelheit. Als Judit, Dinah, Gabriel und David – am Ende ihrer Kräfte und Hoffnungen – schon
nicht mehr damit rechnen, stranden sie endlich an einem Ufer. Zuerst überglücklich, noch am
Leben zu sein, erkennen sie bald, dass nichts so ist, wie es sein sollte. Es gibt keine Gerüche,
kaum Pflanzen, das Wasser ist giftig, die Sonnenstrahlung unerträglich intensiv – eine Umgebung
wie sie lebensfeindlicher kaum sein könnte. Als sie schließlich einen abgelegenen Bauernhof
finden, währt auch diese Freude nur kurz, denn am Küchentisch sitzt die Familie des Hauses. Tot.
Aber irgendwie auch nicht. Und dann stellt sich heraus, dass sie doch nicht allein sind...
Das ist der Punkt, an dem Castas Geschichte beginnt, sich von anderen Dystopien zu unterscheiden. Hier wird nichts klar auserzählt, sondern mit fortschreitender Handlung werden immer
mehr Fragen aufgeworfen – allen voran jene, was real ist und was nicht. Casta legt seinen Figuren,
besonders der Ich-Erzählerin Judit, einige interessante Theorien in den Mund, die man als
Lesende/r aufnehmen und weiterdenken kann. Im Endeffekt bleiben aber Figuren wie Lesende im
Ungewissen, gefangen in einer Atmosphäre des Unheils und des Unheimlichen. Was Casta
diesem Bedrohlichen entgegensetzt, ist der unverbrüchliche Zusammenhalt der Jugendlichen,
ihre Hilfsbereitschaft, ihr Gemeinschaftssinn, ihr Verantwortungsbewusstsein. Sie alle, besonders
aber Judit, wachsen an den Herausforderungen, entwickeln sich, passen sich an die veränderten
Bedingungen an – hier liegt der Hoffnungsschimmer der Geschichte. Am Anfang war das Ende ist
keine actionreiche Dystopie mit HeldInnen, die – im übertragenen oder wörtlichen Sinn – Superkräfte entwickeln, sondern eine nachdenklich stimmende Erzählung, die Fragen in den Raum
stellt, ohne sie zu beantworten und viel Platz für eigene Interpretation lässt. Dass das Ganze dabei
so spannend erzählt wird, dass man fast atemlos bei der letzten Seite ankommt, zeichnet Casta,
der bereits 2002 mit dem Astrid-Lindgren-Preis für sein Gesamtwerk geehrt wurde, einmal mehr
aus. Und falls das offene Ende den einen oder die andere unruhig zurücklässt, hier die gute
Nachricht: 2012 ist in Schweden eine Fortsetzung des Romans erschienen.
Andrea Hirn
Marienbilder
Tamara Bach
Die bekannte Jugendbuchautorin (zuletzt Was vom
Sommer übrig ist, 2012) veröffentlicht mit Marienbilder nun ihr fünftes Jugendbuch und verwebt
darin gekonnt die Geschichte mehrerer Frauengenerationen.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht die
16-jährige Mareike, aus deren Sicht aber vor allem
51
Jugendbuch
das Leben der Mutter aufgerollt wird. Mareike
ist eine «Nachzüglerin» und war kein Wunschkind; die Mutter hatte Sorge ob der Zuverlässigkeit
des Kindsvaters. Doch schließlich entscheidet
sie sich für das Kind und als Mareike ihres
Erachtens alt genug ist, verlässt die Mutter die
Familie und bleibt spurlos verschwunden.
In vielen kurzen Kapiteln wird nun aus Mareikes
Perspektive der Alltag der zurückgelassenen
16-Jährigen erzählt. In zahlreichen Rückblenden
erfahren die Lesenden außerdem über das Leben
der Mutter und Großmutter als junge Frauen.
Stefan Casta
Am Anfang war das Ende
Aus dem Schwed.
Frankfurt am Main:
Fischer Sauerländer 2014.
426 S.
Tamara Bach
Marienbilder
Hamburg: Carlsen 2014.
S. 134
Martin Baltscheit
Die besseren Wälder
Weinheim & Basel:
Beltz & Gelberg 2013.
249 S.
Tamara Bachs Schreibstil ist in seiner knappen
Nüchternheit sehr eindringlich. Sie beschreibt
Frauen, die sich in jungen Jahren in ihr Schicksal
einfügen mussten und deren Beziehungen
spracharm und aufs Notwendigste beschränkt
sind. Sie sind aber nicht ohne Hoffnungen und
Sehnsüchte und diese fügt Tamara Bach stilistisch
sehr interessant ein: sie beschreibt sie als mögliche
Varianten von Ereignissen und reiht sie nacheinander in den Text. Etwa, wenn sie von der Großmutter im Krieg berichtet, die sich lieber in einen
Soldaten verliebt hätte, als von einem vergewaltigt
worden zu sein. Da wird zunächst in kurzen Worten erzählt, was ihr widerfahren ist, im nächsten
Satz aber wiederum der Wunschtraum so dargestellt, als wäre es real passiert.
Mareike selbst wird schließlich ebenso jung
und ungewollt schwanger wie ihre Mutter und
Großmutter. Im Unterschied zu diesen gelingt es
Mareike aber, einen selbstbestimmten Weg zu
gehen. Das versöhnliche und zuversichtlich stimmende Ende wird aber gleich darauf von der
Autorin in Frage gestellt: das letzte Kapitel leitet
sie wie schon das erste mit dem Wörtchen «oder»
ein. Doch hat sich die Mutter im Anfangskapitel
noch für Mareike entschieden, präsentiert uns
Tamara Bach nun ein alternatives Ende (bzw.
Anfang): die Mutter beschließt, das ungeplante
Kind, also Mareike, abzutreiben.
Ein empfehlenswerter, besonderer Jugendroman, eher für geübtere LeserInnen ab 14 Jahren.
Barbara Eichinger
Die besseren Wälder
Martin Baltscheit
Peter Härtling
Hallo Opa
Liebe Mirjam
Eine Geschichte in E-Mails
Weinheim & Basel:
Beltz & Gelberg, 2013.
67 S.
«Es kommt nicht darauf an, wo du herkommst,
sondern wohin du gehst und mit wem.»
Eine Wolfsfamilie flieht in «die besseren
Wälder»: hier, in der Welt der Schafe, gibt es
mehr zu essen, hier lockt ein Leben voller Sicherheit und Glück – sozusagen ein Land, in dem
Schafsmilch und Honig fließen. Doch beim Überqueren der Zäune, die die Schafe vor Eindringlingen und allem Fremden schützen sollen, werden
die Eltern erschossen, nur der kleine Wolf bleibt
übrig. Von einem kinderlosen Schafspaar aufgenommen, wächst er von nun an als Schaf mit
dem Namen Ferdinand auf und erfährt nichts von
seiner Herkunft. Ferdinand ist umsorgt, hat
Freunde und verliebt sich in Melanie. Doch als
diese eines Morgens tot in seinen Armen gefunden wird, ist klar: Ferdinand ist kein Schaf, er
ist vielmehr ein Wolf im Schafspelz. Er wird des
Mordes bezichtigt, denn durch seine Herkunft
scheint es offensichtlich: er ist ein Wolf und wird
es bleiben. Doch Ferdinand kann sich an nichts erinnern, flieht schließlich aus dem Gefängnis und
wird sich als Teil eines Wolfsrudels seiner
52
Besprechungen
Herkunft bewusst. Und er möchte den Tod seiner
Eltern rächen – doch es kommt anders.
Martin Baltscheit ist mit seiner eigenhändig
illustrierten Tierparabel Die besseren Wälder ein
wahres Kunstwerk gelungen. Nicht nur sprachlich
und thematisch überzeugt dieses Buch, auch die
ausdrucksstarken Illustrationen, die die Geschichte kongenial ergänzen, beeindrucken. Die Vorurteilsthematik wird besonders durch die farbige
Gestaltung des Buches unterstützt, der Text ist
teilweise auf weißen und auf schwarzen Seiten
gedruckt, einzelne Passagen sind farbig hervorgehoben. Die bildliche Darstellung des Helden ist
mal wölfischer, mal schafsähnlicher.
Die Lektüre dieses Werkes, das durchaus auch
einer erwachsenen Leserschaft ans Herz gelegt
werden kann, beeindruckt, bewegt und regt zum
Nachdenken an. Und am Ende ist klar: Dieses
vielschichtige Werk muss und will man öfter lesen.
Martina Bednar
Der Autor – selbst Jahrgang 1933 – vermag,
beide Protagonisten überzeugend darzustellen,
wenn ihm auch der Sprachduktus des Großvaters
authentischer gelingt; Jugendsprache in der
Literatur ist häufig problematisch, da sie nicht nur
zeit- sondern auch ortsabhängig ist. Die jugendlichen LeserInnen (auch solche mit nicht perfekten Deutschkenntnissen) werden durch den klaren
Stil jedenfalls keine Verständnisprobleme haben,
ebenso gelingt die Identifikation mit den Teenager-typischen Problemen aus Mirjams Alltag
mit Sicherheit. Der Roman bietet eine ideale
Antwort auf die oft gehörte Frage von jugendlichen LeserInnen: «Morgen habe ich Referat.
Können Sie mir dafür ein dünnes Buch empfehlen?» Die nicht einmal 70 Romanseiten, die
teilweise nur halbseitig mit Text befüllt sind, lassen sich in einer nächtlichen Leseaktion bewältigen und bieten genug Anregungen für ein
Deutschreferat am nächsten Tag.
Katharina Zucker
Hallo Opa
Liebe Mirjam
Eine Geschichte in E-Mails
Winter 2014/15
Barbara Eichinger
Warum ist Rosa kein Wind?
Gedichte und Geschichten vom Leben,
Lieben und Fliegen
Knödler, Christine (Hrsg.); Harjes, Stefanie (Ill.)
Polly Horvath
Wie wir das Universum reparierten
Wie wir das Universum reparierten
Polly Horvath
Peter Härtling
Der Briefroman ist überholt. Zumindest im
Kinder- und Jugendbuchbereich sind Korrespondenzen per E-Mail einfach näher dran an der
Lebenswirklichkeit der jungen Menschen; auch
ein renommierter und erfahrener deutscher
Kinderbuchautor wie Peter Härtling muss sich
dieser veränderten Tatsache stellen. Also ist mit
Hallo Opa. Liebe Mirjam sein erster komplett in
E-Mail-Form verfasster Roman erschienen. Die
vierzehnjährige Mirjam tauscht E-Mails mit ihrem
achtzigjährigen Opa aus, in denen es vor allem
um Probleme in der Schule, mit ihren Eltern und
Freundinnen geht. Mirjam, die mitten in der
Pubertät steckt, fühlt sich unverstanden, in ihren
E-Mails kann sie sich dem Opa gegenüber öffnen
und erhält nicht nur typische Ratschläge, wie
man sie von einem Erwachsenen erwarten würde:
«Ich verstehe nur zu gut, dass du auf Samanta, von
der du gedacht hast, dass sie eine Freundin ist,
losgegangen bist und sie verdroschen hast. Bravo,
mein Mädel!» Die Nachrichten des Großvaters
erzählen von seinen körperlichen und manchmal
auch seelischen Beschwerden; seine Lungenkrankheit zwingt ihn schließlich zu einem Aufenthalt in einer Klinik, wo er stirbt. Mirjam, die
zunächst noch mit einer Krankenschwester der
Klinik korrespondiert hat, verliert ihren E-MailPartner, doch der Nachrichtenaustausch geht noch
eine Zeitlang weiter. Die Form der reinen E-MailBerichte wird im Text durchgehend beibehalten.
Wie bei vielen Büchern Peter Härtlings gibt es kein
versöhnliches, bereinigendes Ende; Mirjam bleibt
mit ihren Sorgen und ihrer Trauer alleine.
detaillierter die Protagonisten. Der Titel in der
deutschen Übersetzung, Wie wir das Universum
reparierten, deutet auf den Neuanfang hin, den die
beiden Mädchen versuchen und das Thema Trauer ist auch stets im Vordergrund. Dennoch hat
die bekannte kanadische Autorin auch hier wieder
die für sie typischen skurrilen Figuren und witzigen Situationen geschaffen; insbesondere die
Figur des Onkel Martens ist in ihrer Entrücktheit
überaus komisch gezeichnet. Horvath spielt dabei
vor allem mit Rollenklischees, strickt Verwicklungen sowie überraschende Wendungen in
die Erzählung und kreiert auf diese Weise eine
tragisch-komische Waisen-Geschichte mit
allerdings leider etwas wenig Handlung.
Nach dem Unfalltod ihrer Eltern kommen die
beiden Cousinen Jocelyn und Meline bei ihrem
Onkel unter, einem reichen Wissenschaftler,
der allein und zurückgezogen ein großes viktorianisches Haus auf einer einsamen Insel bewohnt.
Obwohl Cousinen, kennen die beiden Jugendlichen einander kaum und auch der Verlust ihrer
Eltern hilft ihnen nicht, zu einander zu finden
und ihre Trauer gemeinsam zu bewältigen.
Zu verschieden sind die versnobte Jocelyn und
die impulsivere, bodenständige Meline.
Onkel Martens ist allerdings ebenso wenig
geeignet, den beiden in ihrer Trauer zur Seite zu
stehen. Der schrullige Wissenschaftler ist kaum
imstande, Beziehungen zu anderen Menschen
aufzubauen, sein einsames, zurückgezogenes
Leben auf der Insel war bewusst gewählt. Doch
immerhin soll sichergestellt sein, dass die Primärbedürfnisse seiner Nichten erfüllt werden und
daher engagiert er eine Haushälterin. Frau Mendelbaum hat jüdische und Wiener Wurzeln, ist
äußerst aufbrausend, in ihren englisch-deutschjüdischen Redeschwallen kaum zu bremsen und
sorgt für Leben und Aufregung im Haus. Da
ihr aber die Situation über die Ohren wächst, wird
zusätzlich ein Butler eingestellt, der als einziger
den Überblick bewahrt. Mit stoischem Gleichmut
kümmert er sich um den den Haushalt, kocht,
als Frau Mendelbaum erkrankt und nimmt gelassen alle Verrücktheiten von Onkel Martens hin,
der seiner Rolle als realitätsferner Wissenschaftler mehr als gerecht wird.
Polly Horvaths neuer Roman enthält
relativ wenig Handlung, beschreibt aber umso
53
Jugendbuch
Christine Knödler ist in der Sprache zuhause,
sie kann mit eigenen und fremden Worten ganze
Universen erschaffen. Auf die Welt der Bilder
bezogen gilt dasselbe gilt für Stefanie Harjes. Im
Jahr 2010 entwickelten die beiden die Idee, ihre
Liebe zu Lyrik, Sprache und Illustrationen in ein
gemeinsames Buchprojekt einzubringen. Das
Resultat ist: Warum ist Rosa kein Wind? Gedichte
und Geschichten vom Leben, Lieben und Fliegen.
Es richtet sich laut Verlag primär an weibliche Jugendliche, doch wäre es schade, wenn diese
Anthologie kein breit(er)es Publikum fände.
Das Buch lädt ein, sich der Kürze des Lebens
bewusst zu werden, aber auch dessen Reichtum,
Buntheit und Tiefe zu entdecken. Es fordert auf,
gewohnte Pfade zu verlassen, offen und neugierig
zu sein, sich leiten zu lassen von den eigenen
Sinnen und den Angeboten, die einem zugetragen
werden. Auswahl und Abfolge der Texte sind sehr
bewusst gesetzt, sie beschreiben einen Bogen:
den Jahreszeiten folgend von Frühling bis Winter,
vom Morgen bis zum Abend, vom Aufbruch bis
zum Ende. Mit ihren Illustrationen interpretiert
Stefanie Harjes die Texte auf ihre sehr spezielle
Art und Weise. Sie malt, zeichnet, collagiert, auch
ihre eigenen Illustrationen schneidet sie aus und
setzt sie neu zusammen. Die Augen der Dargestellten sind oft geschlossen, der inneren Empfindung
hingegeben. Den Gesichtern verleiht sie mit wenigen Strichen einen intensiven Ausdruck. Stefanie Harjes verschränkt das Bild mit der
Schrift, letztere ist immer wieder Teil eines Bildes
und wird zum Bild.
Die stilistische und zeitliche Spannbreite der
Gedichte und Prosatexte ist groß: sie reichen von
Sappho, dem Hohelied, Johann Wolfgang von
Goethe, Heinrich Heine über Paul Celan bis zu
Aus dem Engl.
München: bloomoon 2014.
300 S.
Knödler, Christine (Hrsg.);
Harjes, Stefanie (Ill.)
Warum ist Rosa kein Wind?
Gedichte und Geschichten
vom Leben, Lieben und Fliegen
Ravensburg: Ravensburger
Verlag 2014.
142 S.
zeitgenössischen, sehr jungen AutorInnen, die
eigens für dieses Buch Gedichte und Geschichten
schrieben. Am Ende des Buches lassen Knödler
und Harjes fast programmatisch Rose Ausländer
sprechen: «… sich freun / trauern / höher leben /
tiefer leben / noch und noch / Nicht fertig
werden».
Martina Adelsberger
Liebe ist ein Nashorn
Ulrike Leistenschneider
Ulrike Leistenschneider
Liebe ist ein Nashorn
Stuttgart: Kosmos 2013.
254 S.
David Levithan
Letztendlich sind wir dem
Universum egal
Aus dem Amerikan.
Frankfurt am Main:
S. Fischer Verlag 2014.
397 S.
Zu Beginn des neuen Schuljahres herrscht nicht
nur die übliche Aufregung nach den Ferien, nein,
in Leas Bauch zieht außerdem eine Horde Nashörner ein. Denn sie findet, wie Schmetterlinge
– wie alle immer sagen – fühlt sich das wirklich
nicht an, was sie empfindet, wenn sie Jan auf dem
Schulhof sieht. Da sie aber schüchtern ist und
sich niemals trauen würde, ihn anzusprechen,
beginnt sie ihm einen Brief zu schreiben (der natürlich in Wirklichkeit niemals in seine Hände
geraten darf …). Wie in einem Tagebuch berichtet
sie Jan alles was sie so erlebt, vom Familienleben
mit Mudda, Papa und dem Troll, von ihrer besten
Freundin Pinky und natürlich dem Schulalltag.
Um manches anschaulicher zu gestalten, fügt sie
außerdem immer wieder kleine Zeichnungen und
Comicszenen ein. Obwohl sie das Verliebtsein
eigentlich erst mal für sich behalten will, kommt
Pinky natürlich schnell dahinter und ist auch
sofort mit guten Ratschlägen zur Stelle: die
TheaterAG, wo SchülerInnen aus verschiedenen
Klassen teilnehmen können, wäre doch die
perfekte Gelegenheit um Jan näherzukommen.
Und obwohl sie eigentlich schon beim Gedanken
an einen Bühnenauftritt nervös wird, lässt sich
Lea dazu überreden. Doch der Schock kommt
schon in der zweiten Schulwoche: Jan steigt aus
der AG aus! Dafür ist Yasar, Jans bester Freund,
plötzlich so nett zu Lea … Es folgen weitere
Katastrophen: vom Tagebuch-stehlenden Bruder,
über Schulstress und missglückte Schminkversuche bis hin bis zum Riesenkrach mit der besten
Freundin, kurzum: der ganz normale Wahnsinn im
Leben einer 13-Jährigen. Da hat sich Lea am Ende
des Briefs das Happy-End wirklich verdient und
als Leserin freut man sich mit ihr.
Der flotte und kurzweilige (Brief-)Roman von
Ulrike Leistenschneider ist wirklich gelungen und
von der ersten Seite weg von Isabelle Göntgen
liebevoll illustriert. Es ist zu hoffen, dass dieses
Buch nicht die letzte Zusammenarbeit dieser
beiden war – ich bin sicher, viele Leserinnen hoffen bereits auf eine Fortsetzung …
Letztendlich sind wir dem
Universum egal
Patrick Ness
David Levithan
Was wäre wenn – drei kleine Worte, aber sie bieten
unendlich viele Alternativen, Möglichkeiten und
Varianten, um sein Leben zu gestalten oder einfach nur zu leben: «Hätte ich mich nur dahingehend entschieden...», «Hätte ich damals nur «Ja»
gesagt…», «Wäre ich nur nicht im Streit davon
gegangen…».
All diese Fragen stellen sich dem sechzehnjährigem A im vorliegenden Roman erst gar nicht,
denn er bestreitet jeden Tag «seines» Lebens ein
jeweils anderes Leben. Wie das möglich ist? Nun,
A wacht jeden Tag im Körper eines anderen
Menschen auf: Mal ist er ein Junge, mal ein Mädchen; mal hellhäutig, mal dunkelhäutig: mal
die eine Nationalität, mal eine andere; mal heterosexuell, mal homosexuell; mal gesund, schlank
und sportlich, mal gehandicapt, süchtig oder gar
(tod-)krank. Dabei hält er sich an gewisse Grundregeln, wie z.B. sich niemals emotional auf Menschen, die ihm im jeweiligen Leben begegnen,
einzulassen oder das individuelle Leben mutwillig
durcheinander zu bringen. Eigentlich funktioniert «sein» Leben auf diese Art gut und er ist sogar zufrieden damit, kennt er doch kein anderes
Leben, bis er sich Hals über Kopf in ein Mädchen
namens Rhiannon verliebt und einfach nur bei
ihr und mit ihr zusammen bleiben möchte. Doch
ob das überhaupt möglich ist, wenn A täglich
jemand Anderes ist und welche individuellen Opfer dafür nötig wären bzw. beide bereit wären, auf
sich zu nehmen, muss der/die interessierte
LeserIn schon selber herausfinden...
Der 1972 geborene amerikanische Autor ist
studierter Anglist und Politikwissenschaftler, lehrt
heute Creative Writing an verschiedenen US-Schulen und Universitäten und hat bereits zahlreiche
Auszeichnungen für seine Jugendromane erhalten. Letztendlich sind wir dem Universum egal ist ein
richtig fesselndes Jugendbuch, das auch bereits
älteren bzw. erwachsenen LeserInnen Spaß machen wird und das zum Nachdenken und Philosophieren über das eigene Leben anzuregen vermag.
Martina Lammel
Lisa Kollmer
54
Besprechungen
Mehr als das
Winter 2014/15
Zeitgleich mit seinem Roman Die Nacht des
Kranichs erschien 2014 Mehr als das, das neue
Jugendbuch des mehrfach ausgezeichneten
amerikanisch-britischen Autors Patrick Ness.
Bereits die Eingangsszene, die dem in vier Teile
gegliederten Roman gleichsam als Prolog vorangestellt ist, zurrt den Spannungsbogen straff: man
begleitet den sechzehnjährigen Protagonisten
Seth bei seinem qualvollen Ertrinkungstod, um
zwei Seiten später mit ihm ins Leben zurückzufinden. Nur dass diese Wiedererweckung nicht am
Strand, in einem Krankenwagen oder Spital
stattfindet, sondern in einer surreal anmutenden,
von allem Leben leergefegten Umgebung.
Geschwächt und verwirrt versucht Seth sich in
der kafkaesken Situation zurechtzufinden und erkennt bald, dass er sich in dem Haus seiner Kindheit befindet, das er und seine Familie vor Jahren
verlassen haben, als sie von London nach Amerika
gezogen sind. Sein erster Gedanke ist, dass er
nicht nur tot sondern in der Hölle sei, seiner ganz
persönlichen Hölle, die ihn an das Schmerzhafteste erinnern soll, was ihm je passiert ist, an diese
eine große Schuld, die er als Kind auf sich geladen
hat. Ab diesem Zeitpunkt durchlebt Seth, jedesmal wenn er einschläft, erneut eine maßgebliche
Station seines Lebens. Nach und nach erschließt
sich in diesen als Rückblenden erzählten Traumsequenzen das Trauma, das seine Familie für
immer verändert hat, seine problematische Beziehung zu den Eltern, seine erste Liebe und der
Verrat, der ihn in einer kalten Winternacht
schließlich ins Meer getrieben hat. Als er in dieser
leeren Welt doch noch auf zwei andere Jugendliche trifft, den jüngeren Tomasz und die etwa
gleichaltrige Regine, beginnt er, die Situation mit
neuen Augen zu sehen. Vielleicht ist er doch nicht
in der Hölle, vielleicht gibt es doch eine Erklärung für alles und vielleicht gibt es am Ende
Hoffnung, dass da doch «mehr als das» ist.
Was Ness in seinem neuen Jugendbuch
verhandelt, sind nichts weniger als die großen
Themen der Literatur: Schuld, Freundschaft,
Liebe, Vergebung, Hoffnung – und das tut er auf
gewohnt hohem Niveau mit sprachlicher Eleganz,
einem feinen Sinn fürs Dramaturgische und
einem sehr genauen Blick auf die Gefühls- und
Lebenswelten seiner jungen ProtagonistInnen.
Mehr als das ist ein gelungenes Genre-Cross-over,
dessen Spannung sich abwechselnd aus der
Coming-of-Age-Geschichte in den Rückblenden
und der dystopischen Bedrohung der Rahmenhandlung speist. Es wirft sowohl universelle
als auch aktu­elle Fragen auf, stellt einige Antworten in den Raum, lässt aber (besonders in dem
offenen Ende) auch Platz für eigene Gedanken
und Interpretation.
55
Jugendbuch
Einzig das Cover der deutschsprachigen
Ausgabe wird der teils doch sehr düsteren Stimmung in seiner hellen Schlichtheit nicht ganz
gerecht. Eine absolute Empfehlung für Jugendliche und junge Erwachsene.
Andrea Hirn
Herr Ostertag macht Geräusche
Andreas Schulze
Julian Ostertag ist fünfzehn Jahre alt und ein
durchaus ungewöhnlicher Bursche. Er weiß die
Antworten auf alle Quizfragen in den Fernsehshows, vermag in kürzester Zeit im Kopf die
schwierigsten Aufgaben auszurechnen und
erbringt in der Schule außerordentliche Leistungen. Er ist aber keineswegs ein weltfremder Nerd,
es scheint ihm prinzipiell alles zuzufliegen und
ohne Anstrengung zu gelingen. So ist Julian etwa
auch am Skateboard unschlagbar, ohne einen
einzigen Sturz oder Kratzer gelingen ihm die
waghalsigsten Manöver. Mühelos und unbeeindruckt gleitet er durchs Leben, selbst seiner
Mutter ist er unheimlich, sie findet keinen Draht
zu ihrem Sohn, der so anders ist als die anderen.
Eine Expertin für Hochbegabung wird konsultiert und die konfrontiert Julian mit seiner besonderen, wenn auch nicht einzigartigen Fähigkeit,
die ihm seine außerordentlichen Leistungen
ermöglicht. Aber Emily, die originelle 80jährige
Psychologin ist nicht die Einzige, die um das
Geheimnis der mit dieser Fähigkeit Gesegneten
weiß. Da gibt es noch einen japanischen Neurologen und der ist nicht in guter Absicht bereits
nach Deutschland unterwegs …
Das Buch mit dem ungewöhnlichen Titel ist
Andreas Schulzes literarisches Debüt. Ungewöhnlich ist auch die Konstruktion, die bei den
jugendlichen Leserinnen und Lesern einiges an
Leseerfahrung voraussetzt. Wer sich aber auf die
nicht lineare Erzählweise einlässt, wird mit einem
spannenden und originellen Text belohnt. Vieles
wird nur angedeutet, wie zum Beispiel der
Schauplatz Dresden. Andreas Schulze hat noch
einen auktorialen Erzähler eingeführt, eben jenen
Preben Kaas, der auf dem Einband quasi als Autor
erscheint. Preben Kaas ist übrigens der Name
eines dänischen Schauspielers, der in einer in der
DDR populären Krimikomödienserie mitgewirkt
hat. Durch seinen an literarischen und populärkulturellen Anspielungen reichen Text macht der
Autor sein Publikum zu SpurensucherInnen.
Viktoria Zwicker
Patrick Ness
Mehr als das
Aus dem Engl.
München: cbt 2014.
508 S.
Andreas Schulze
Herr Ostertag macht Geräusche
Hamburg: Carlsen 2013.
135 S.
Besprechungen
durchwegs gelungene Kochbuch mit einem
übersichtlichen Nahrungsmittel-Register und
einer nach Blogs gegliederten Rezeptübersicht.
Sachbuch
Bettina Raab
Die Frau, die nicht lieben wollte und
andere wahre Geschichten über das Unbewusste
Stephen Grosz
Salvestrole
Krebshemmende Substanzen
aus der Natur
Ein praktischer Ratgeber
Barbara Allmann
Stephen Grosz
Die Frau, die nicht lieben wollte
und andere wahre Geschichten
über das Unbewusste
Frankfurt am Main: Fischer 2013.
235 S.
DAYlicious:
1 Tag, 5 Blogs, 50 Rezepte,
1000 Ideen
Wie verläuft eine Psychoanalyse? Eine Frage, die sich schwer beantworten lässt. Dem amerikanischen Psychoanalytiker Stephen Grosz gelingt es allerdings in seinem neuen Buch anhand einer
Fülle von Fallbeispielen zumindest Einblicke in diese geheimnisvolle Kunst zu gewähren. In
Themenbereiche eingeteilt schildert er Geschichten, die sich zum Beispiel mit Trennungserfahrungen, lebensverändernden Erlebnissen und dem weiten Feld der Liebe beschäftigen. Es werden
dabei oft nur kurze Sequenzen geschildert, die einen zum Nachdenken anregen, aber auch die
Denkweisen eines Psychoanalytikers verständlicher machen. Es sind auch keine psychoanalytischen Fachkenntnisse erforderlich, um den Dialogen folgen zu können. Die wiedergegebenen
Passagen der einzelnen Sitzungen machen vor allem deutlich, was einen tiefenpsychologischen
Therapeuten ausmacht: es sind keine Ratschläge oder Handlungsanleitungen, die den in Not
geratenen Menschen weiterhelfen sollen, sondern es ist die offene Grundhaltung, der Raum, der
hier geschaffen wird, um Menschen ihre Weiterentwicklung zu ermöglichen. Nicht Antworten
werden gegeben, sondern Fragen gestellt, die weiterhelfen und neue Perspektiven eröffnen.
Krisen werden dargestellt, die Ausdruck innerer Konflikte sind und unmittelbar mit unbewussten
Mechanismen in Zusammenhang stehen. Vorausgesetzt man kann sich dieser Vorstellung des
Unbewussten anschließen, liegen dort, wie es im Klappentext so schön heißt «unsere Probleme
verborgen, aber auch ihre Lösungen», was dem Buch auch eine sehr optimistische und motivierende Note gibt. Auch der Umgang mit den Träumen als deutlichster Ausdruck dieser verborgenen Welt wird geschildert, und man überlegt, ob man diesem weiten Feld nicht doch mehr
Aufmerksamkeit schenken sollte.
Alles in allem eine gelungene Einführung in die Welt der Psychoanalyse, die vor allem durch die
gewährende Haltung des Therapeuten und seine Offenheit besticht und sicher in vielen Lesern
und Leserinnen neue Denkprozesse entstehen lässt. Das Buch liest sich leicht, löst aber vermutlich, wenn man sich tiefer auf die Materie einlässt, viel im Lesenden aus.
Christine Trattner
Neustadt an der Weinstraße:
Umschau 2014.
159 S.
DAYlicious: 1 Tag, 5 Blogs,
50 Rezepte, 1000 Ideen
Ein Kochbuch zusammengestellt aus repräsentativen Beiträgen aus fünf verschiedenen Foodblogs, das ist die kurzgefasste Beschreibung von
DAYlicious. Doch dieses Buch ist weit mehr, es ist
ein Einblick in die spannende Welt der lebendigen,
sich stets weiterentwickelnden Bloggerszene.
Zusammengestellt wurde das Buch von der
Hobbybloggerin Ulrike Dittloff, die seit 2011 mit
ihrem MEINLYKKELIG-Blog Rezepte und Geschichten rund ums Essen mit ihren Lesern teilt. Sie ist
nicht ständig auf der Suche nach neuen Trends,
für Dittloff stehen andere Dinge im Vordergrund:
«Das Gebackene muss optisch ordentlich was her
machen, unwiderstehlich gut schmecken und
easy-peasy in der Zubereitung sein.» Wer will das
nicht? Ein ziemlich einfaches, doch auch spannendes Konzept. Die Umsetzung gelingt tadellos
56
Besprechungen
und regt zum Nachkochen und Schmökern an.
Allerdings findet sich im Buch nichts, was der
interessierte Leser nicht auch im Blog selbst
nachlesen könnte. Neben Dittloffs MeinlykkeligBlog finden sich Rezepte aus vier weiteren Foodblogs: La-petit-cuisine, Törtchenzeit, Lizandjewels
und Klitzeklein. Grafik, Schriftart und Layout
ändern sich je nachdem, welcher Blogger zitiert
wird. Was allen Rezepten gemein ist, ist die überaus ansprechende Präsentation der Speisen und
die einfache Zubereitung aus wenigen, aber
qualitativ hochwertigen Zutaten. Im Buch finden
sich vor allem Rezepte für Süßes sowie unkompliziert gezauberte Kleinigkeiten für den schnellen Hunger zwischendurch.
DAYlicious sticht aus der Flut an Neuerscheinungen im Kochbuchbereich zweifellos hervor.
Das Cover ist zwar nicht übermäßig originell doch
sehr ansprechend: in dezenten Erd- und Weißtönen gehalten, verlockt es zum Lesen und Blättern. Neben Rezepten gibt es hübsche Ideen zum
Dekorieren und Verpacken. Abgerundet wird das
Winter 2014/15
Berechtigte Hoffnung auf wirkungsvolle Heilmittel gegen Krebs – gibt es die? Wenn man dem
von der österreichischen Publizistin Barbara
Allmann jüngst in dem auf gesundes und bewusstes Leben spezialisierten Schweizer AT Verlag
veröffentlichten Ratgeber Glauben schenken darf,
werden solche Wundermittel nicht in Pharmalabors hergestellt , sondern von der Natur selbst als
Abwehrstoffe und Teile des Immunsystems in
zahlreichen Pflanzen produziert.
Salvetstrole heißen diese Geheimwaffen der
Mutter Natur, die in 50 Ausformungen in Früchten, Gemüsen und Kräutern vorkommen. Ihre
eigentliche Wirkung entfalten diese Pflanzenstoffe laut Allmann «aufgrund ihres Metabolismus mit
dem Enzym CYP1B1», das typischerweise nur in
Tumorzellen vorhanden ist und diese in Wechselwirkung mit eben den Salvestrolen abtötet. Gerry
Potter, Professor an der De Montfort Universität in
Leicester und sein in der Krebsforschung tätiges
Team entdeckten diese sekundären Pflanzenstoffe
Anfang 2002 im Zuge einer großangelegten
Testreihe mit Gemüse, Obst und Kräutern. Sie und
auch die Autorin plädieren für den ausschließlichen Konsum vollwertiger, biologischer, regionaler und im Idealfall vegetarischer Nahrung, um
neben den lebensnotwendigen Vitaminen, Mineralien und sonstigen Spurenelemente auch
Salvestrole in möglichst großer Zahl aufzunehmen. In zahlreichen belegten Fallbeispielen zeigt
die Autorin die nachhaltig positive Wirkung dieser
alternativen Ernährung und gibt Tipps für eine
sinnvolle Verwendung in der Küche. Ein ausdrückliches Plädoyer für gesunde, biologische und
ausgewogene Ernährung, interessante Einblicke
in die einschlägige Forschung, aussagekräftige
Interviews mit Fachleuten sowie ein ausführliches
Glossar, weiterführende Literaturtipps und
Linklisten runden dieses Büchlein ab.
Ein Titel, der nicht nun betroffenen Menschen
auf – soweit das der Laie beurteilen kann – relativ
seriöse Weise Mut macht, sondern uns alle auf
die Notwendigkeit einer gesunden Ernährung
aufmerksam macht. Wissen über die Heilwirkung
der Natur und die verborgenen Kräften der Pflanzen: ein Buch, das neugierig macht und ohne
mahnenden Zeigefinger und gut recherchiert ein
für uns alle wichtiges Thema anspricht.
57
Sachbuch
Medizinisch-biologische Ursachen, Zusammenhänge und Sachverhalte werden verständlich
und gut erklärt; das Buch ist übersichtlich gestaltet und gibt das Gefühl, dass wissenschaftliche Forschungsansätze in eine hoffnungsvolle
Richtung weisen.
Sissy Schiener
Die imaginierte «Bettlerflut»:
temporäre Migrationen
von Roma/Romnija –
Konstrukte und Positionen
Stefan Benedik
Jeder von uns erinnert sich an die (nicht nur)
Grazer Debatten um BettlerInnen, die angeblich
organisiert für einen großen Boss arbeiten, die
sog. ehrliche Arbeit scheuen, ungerechtfertigt
nach Mitleid heischen und u.U. auch noch Unterstützung seitens des Staates erhalten. Gerade
die Guppe der Roma ist von diesen Vorurteilen
betroffen. Einige WissenschaftlerInnen haben im
Rahmen eines Forschungsprojektes vom Juli
2010 bis Februar 2011 den Diskurs um bettelnde
Roma genauer untersucht, dessen überarbeitete
und erweiterte Version hier vorliegt.
«Die Intention der […] Studie ist es […], zwei
Ebenen zusammenzudenken: Soziale Praktiken in
Migrationen werden ebenso diskutiert wie in den
Printmedien geführten Debatten»; d.h. nicht die
Aussage allein, dass es keine mafiösen Strukturen
unter Bettlern in Graz gibt, ist wichtig, sondern
wichtiger ist den AutorInnen, ein Bewusstsein für
die Komplexität des Themas zu schaffen. «Letztlich geht es darum, den weit verbreitenden und
häufig vereinfachenden Images die Perspektiven
der BettlerInnen selbst entgegen zu stellen und die
Kontexte und Konsequenzen temporärer (Bettel-)
Migration zu erörtern.».
Im ersten Kapitel werden die Lebenssituationen der BettlerInnen in Graz und in ihren Herkunftsorten gezeigt bzw. «zentrale theoretischmethodische Ausgangspunkte und Forschungsthesen skizziert»; am Ende des ersten Teiles folgen
Basisinformationen zu den strukturellen und
biografischen Rahmenbedingungen der Bettelmigration. Der zweite Teil widmet sich den Images
von bettelnden RomNija in den Medien; dieser Teil
ist besonders umfangreich, weil ihm eine zentrale
Rolle bei der Wahrnehmung zugesprochen wird.
Im dritten Teil werden Netzwerke und Verortungen von MigrantInnen und NGOs zwischen
trans-nationalen und regionalen Kontexten dargestellt. Ein kurzes Resümee schließt das Buch ab;
es folgen umfangreiche Zusammenfassungen in
englischer und ungarischer Sprache sowie ein sehr
gutes Literaturverzeichnis.
Das Buch zeigt, dass Bettelei nicht nur als
«Viktimisierung» gesehen werden darf, sondern
Barbara Allmann
Salvestrole
Krebshemmende Substanzen
aus der Natur
Ein praktischer Ratgeber
Aarau u. München:
AT Verlag 2014.
143 S.
Stefan Benedik, Barbara Tiefenbacher,
und Heidrun Zettelbauer
Die imaginierte
»Bettlerflut«
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Temporäre Migrationen von
Roma/Romnija – Konstrukte
und Positionen
Stefan Benedik
Die imaginierte «Bettlerflut»:
temporäre Migrationen
von Roma/Romnija –
Konstrukte und Positionen
Klagenfurt: Drava-Verlag 2013.
157 S.
Zeitenwende 1914
Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg
Steffen Bruendel
Steffen Bruendel
Zeitenwende 1914
Künstler, Dichter und Denker
im Ersten Weltkrieg
München: Herbig-Verlag 2014.
303 S.
Das Verlagsjahr 2014 beschert dem Buchmarkt genau 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Fülle an aktueller Literatur zu eben diesem Thema: emotionsbeladene und rein
fiktive Familien- und Gesellschaftsromane, neu überarbeitete Kinder- und Jugendsachbücher,
Sonderausgaben von populärwissenschaftlichen Hochglanzmagazinen und seriöse wissenschaftliche Forschungsliteratur mit neuen Erkenntnissen zur Chronologie oder einer genreübergreifenden Darstellung des damaligen Geschehens aus originellen Blickwinkeln.
Ein absolutes Highlight dieser Jubiläumsliteratur stellt sicherlich das vorliegende Werk dar,
denn der Historiker Steffen Bruendel analysiert und reflektiert den Ersten Weltkrieg als «Krieg der
Geister» und lässt die intellektuelle Elite der damaligen Zeit mittels zahlreicher Textzitate durch
ihre Werke sprechen. Während sich Schriftsteller per Waffe oder per Feder in den Dienst für das
Vaterland stellen und als nationale Vordenker in sogenannten Kriegsschriften revolutionäres
Ideengut entwickeln oder eindringlich warnen, suchen Philosophen und Theologen nach dem
höheren Sinn eines blutigen Gemetzels. Künstler und Musiker brechen mit Altbewährtem und
fordern die Moderne mit allen Mitteln ein. Historiker, Juristen und Wirtschaftsexperten befassen
sich theoretisch wie auch praktisch mit dem Krieg und dessen desillusionierenden Auswirkungen
auf alle Bereiche des täglichen Lebens, Naturwissenschaftler und Techniker entwickeln die
profitable Kriegsmaschinerie indes munter weiter und weiter... Alle jedoch sehen in ihrem politischen Engagement die Möglichkeit, in eine bessere Welt, in eine neue Ära aufzubrechen und
erhoffen sich vom Krieg die ideelle Reinigung und Befreiung ihrer selbst, ihrer Gesellschaft und
der Menschheit schlechthin.
Das Buch liest sich zwar oberflächlich gesehen leicht und locker (trotz der vielen Namen,
Jahreszahlen und Referenzen), doch der Leser kann genauso gut Stunden über Kapitel, Paragraphen oder gar einzelne Sätze nachdenken, denn es ist inhaltlich durchaus anspruchsvolle Kost!
Darüber hinaus gibt es ein mehr als umfangreiches und absolut wissenschaftlich bibliographiertes Literaturverzeichnis mit Anmerkungen, das die jeweiligen Zitate/Werke der Schriftsteller
miteinander bzw. mit den Aussagen des Autors in Kontext setzt. Alles in allem ein aufwendig
erarbeitetes und wirklich sehr gut geschriebenes Werk, das faszinierende Einblicke in die
Gedanken und literarischen Werke einer intellektuellen Elite zur Zeit des Fin de Siècle gewährt –
unbedingte Empfehlung!
Martina Lammel
Ella Berthoud, Susan Elderkin
Die Romantherapie
253 Bücher
für ein besseres Leben
Aus dem Engl.
Berlin: Insel-Verlag 2013.
430 S.
auch als selbstbestimmte Strategie gegen Armut,
da nach dem Zusammenbruch des Sozialismus
1989 viele RomNija ihre – wenn auch schlecht
bezahlten – Arbeitsplätze verloren haben. Medien
erzeugen Grundbilder, die die Gefahr dieser Menschen für unsere Gesellschaft verdeutlichen
sollen, durch z.B. militärische Metaphern (Bettler-Armee), Imaginieren einer Masse (Bettlerflut),
Hervorrufen eines (kriminellen) Kollektivs mit
einem Boss im Hintergrund etc., die nicht der
Realität entsprachen und entsprechen, wie auch
die Staatsanwaltschaft Graz selbst feststellte. Die
AutorInnen folgern, «[d]ass der kriminelle Charakter des Bettelns quer durch die österreichische
Medienlandschaft […] für lange Zeit als selbstverständlich angesehen wurde [und] für MigrantInnen wie für RomNija generell eine Pauschalkriminalisierung» gelte, wobei die «fehlende Beweisbarkeit der Vorwürfe mit einer umso drastischeren Sprachwahl kaschiert» wird. Das Buch
ist eine wissenschaftlich seriöse Aufarbeitung
und auf jeden Fall über die steirischen Grenzen
hinaus von Relevanz.
dem jeweiligen Thema befassen. Es folgen
Inhaltsangabe, Anmerkungen zu Stil und Aufbau
des jeweiligen Romans und eine Erklärung, wie
der Leser oder die Leserin seelisch von der Lektüre profitieren kann. Außerdem gibt es Listen mit
den besten Romanen für jedes Lebensjahrzehnt
und bestimmte Themen, sowie Tipps für Leseleiden (z.B.: «Zeit zum Lesen, keine haben»).
Da Berthoud und Elderkind Engländerinnen
sind, liegt der Schwerpunkt auf angloamerikanischer Literatur: von Lawrence Sterne bis Nick
Hornby reicht die Bandbreite, dazwischen finden
sich aber auch Titel von Murakami und Tolstoi.
Für die deutschsprachige Ausgabe hat der Insel
Verlag die Literaturkritikerin und Autorin Traudl
Bünger engagiert, die das Buch mit deutschsprachigen Romanen ergänzt hat. Das hat z.B. zur
schönen Folge, dass gleich das erste Stichwort,
»Abschied», auf einen Text von Friederike
Mayröcker verweist.
Auch wenn es keine belletristische Empfehlung für tropfende Wasserhähne gibt und die
Lektüre von Patricia Highsmith vielleicht nicht
sofort den Liebeskummer beendet (wobei man
hier noch unter dem Stichwort «Herz, gebrochenes» auf Charlotte Bronte verwiesen wird, was
gewiss ein guter Tipp ist), so wird man doch beim
Lesen der vorgestellten Romane für eine Zeitlang
Trost und vielleicht ein bisschen Zuversicht
finden. Und für ein Problem ist dieses Buch ganz
bestimmt das richtige: Wer nicht weiß, was er
gerade lesen soll, wird angesichts der Fülle an
vorgestellten Romanen, die noch dazu so beschrieben sind, dass man Lust bekommt sie alle und
sofort zu lesen, auf jeden Fall fündig werden.
Georgia Latzke
Die Romantherapie
253 Bücher für ein besseres Leben
Ella Berthoud, Susan Elderkin
Menschen, die Büchereien besuchen, muss man
nicht extra darauf hinweisen: Lesen hilft, ob
bei der Reparatur tropfender Wasserhähne oder
bei Liebeskummer, passender Rat findet sich in
der Bibliothek. Dass man diesen nicht nur in der
Sachbuchabteilung finden kann, beweist das
vorliegende Buch.
Ella Berthoud und Susan Elderkind sind
Literaturwissenschaftlerinnen und Bibliotherapeutinnen. Bibliotherapie ist eine Form der
Kunsttherapie, in der KlientInnen zur Unterstützung des Heilungsprozess Texte verfassen und
ausgewählte Belletristik lesen. Die Autorinnen
empfehlen 253 Bücher zu verschiedenen, alphabetisch aufgelisteten Leiden, von A wie Abschied
bis Z wie Zurückweisung – für jedes Problem
nennen sie einen oder mehrere Texte, die sich mit
Die Sehnsucht im Herzen der
Artischocke
Eine Gemüsekulturgeschichte
Evelyne Bloch-Dano
Evelyne Bloch-Dano ist eine deutsch-französische Autorin, die bei renommierten Zeitschriften schreibt und für ihre Biografien mit diversen
Literaturpreisen ausgezeichnet wurde.
Im vorliegenden Titel widmet sie sich dem
lange eher stiefmütterlich behandelten Gemüse.
Es zur bloßen Beilage zu degradieren und ihm
darüber hinaus wenig Aufmerksamkeit zu
schenken, sei verfehlt und so schafft Bloch-Dano
der Pflanzenkost ein solides kulturgeschichtlichphilosophisches Fundament. Eigentlich ist dieses Werk ein Sinnieren über Gemüse; Tomate,
Topinambur, Artischocke, Kohl, Pastinake, Karotte, Erbse, Bohne, Kürbis, Chili und Paprika werden in jeweils eigenen Kapiteln behandelt.
Unglaublich viel verstecktes Wissen über die einzelnen Gemüsesorten wird zusammengetragen
Rainer Grill
58
Besprechungen
Winter 2014/15
59
Sachbuch
und in flüssig zu lesenden Essays präsentiert.
Es ist gleichsam eine Reise durch Philosophie,
Geographie, Geschichte und nicht zuletzt Kulinarik. Die Autorin zeigt Zusammenhänge soziologischer und geografischer Natur, informiert über
Herkunft und Verwendung der diversen Gemüsesorten und verwebt die Geschichte und Geschichten mit eigenen Kindheitserinnerungen und
Erfahrungen. Evelyne Bloch-Dano schreibt über
Wildformen der Pflanzen, über deren Kultivierung
und somit Veränderung und über den wechselnden Stellenwert der essbaren Gewächse. Es fehlt
auch nicht eine Historie des (guten) Geschmacks
sowie gelegentlich eine Bemerkung zu Tischmanieren.
Stilistisch wirkt es wie leichtes Geplauder, doch
bleibt der Text inhaltlich keineswegs an der Oberfläche, sondern fördert viel Wissenswertes zutage.
Kurz Susanne
Der Iceman
Die Jagd auf Amerikas
brutalsten Killer
Anthony Bruno
Diese erstmals 1993 veröffentlichte und jetzt von
Hannibal Crime neu aufgelegte True Crime Story
berichtet von der Jagd auf einen der brutalsten
amerikanischen Serienverbrecher. Der Hauptteil
handelt von Geschehnissen aus dem Jahr 1986,
vorangestellt bzw. eingestreut finden sich Berichte
aus der Jugend des Verbrechers sowie Rückblenden zu Verbrechen aus der Sicht des sog. «Iceman» (der zu diesem Namen kam, weil eines
seiner Opfer jahrelang zur Verschleierung des
Tatzeitpunktes auf Eis lag).
Richard Kuklinski ist 14 als er zum ersten Mal
einen Menschen tötet. Aus desolaten Familienverhältnissen stammend, geprügelt von seinen Eltern
und gemobbt von Schulkollegen, beschließt er
eines Tages sich zu wehren: sein Opfer ist der Anführer der Bande, die ihn tagtäglich schikaniert
und schlägt. Als er am nächsten Tag erfährt, dass
er Johnny nicht nur verprügelt, sondern erschlagen hat, rechnet er völlig panisch damit, überführt, verhaftet und eingesperrt zu werden. Als
nichts dergleichen passiert, beginnen sich seine
Werte zu verschieben; er erinnert sich an das
Gefühl der Macht während seiner Tat und sein
Selbstvertrauen steigt. Dieser Schritt markiert den
Beginn seiner Entwicklung zum Serienmörder.
37 Jahre später– Kuklinski ist inzwischen 51 –
setzt die Erzählung von neuem ein. Kuklinski hat
sich zu einem skrupellosen Mörder entwickelt, der
versteckt hinter der Fassade des biederen Familienvaters aus unterschiedlichsten Motiven mordet. Da bis zu diesem Zeitpunkt nur Indizienbeweise gegen ihn vorliegen, entschließt sich die
Bundespolizei zu einer gewagten Vorgehensweise.
Evelyne Bloch-Dano
Die Sehnsucht im Herzen
der Artischocke
Eine Gemüsekulturgeschichte
München: Carl Hanser 2013.
153 S.
Anthony Bruno
Der Iceman
Die Jagd auf Amerikas
brutalsten Killer
Aus dem Amerikan.
Höfen: Hannibal 2013.
271 S.
Dominick Polifrone wird ausgewählt, im Rahmen einer waghalsigen Undercovermission dem
«Iceman» das Handwerk zu legen. Zwei Jahre
dauert die Aktion, bei der Polifrone, selbst
Familienvater, in die Tiefen der Unterwelt eintaucht und dabei fast sein Leben verliert.
Der Iceman ist in 34 Kapitel gegliedert, die
Sprache ist einfach, leicht lesbar und ungeschminkt. In dem sorgfältig recherchierten Buch
erhält der Leser sowohl in die Ermittlungsmethoden der Polizei als auch in die Denkweise des
Täters Einblick. Die Story basiert auf Vernehmungs- und Verhandlungsprotokollen, den Erinnerungen einiger beteiligter Personen sowie
zahlreichen Interviews des Autors mit Kuklinski.
Das ob der einfachen Sprache leicht lesbare und
mit zahlreichen Fotos angereicherte Taschenbuch ist nicht allzu empfindsamen Lesern durchwegs zu empfehlen.
In welcher Art diese Absicht von Managern
akzeptiert werden kann, entzieht sich dem Wissen
der Öffentlichkeit. Fernöstliches Gedankengut hat
sich zwar längst in der abendländischen Kultur
niedergelassen, manchmal jedoch um den hohen
Preis ihrer Verfälschung. Worin Aikido auf jeden
Fall lehrreich ist, ist die Achtung des Gegners, die
darin gipfelt, ihm sein Tun vor Augen zu stellen.
Insofern erweist sich diese Kampfkunst sogar als
eine Form der Kommunikation, deren Pflege umso
dringlicher wird als uns die Technologie und
der – ökonomische – Wettkampf das Wort
abzuschneiden drohen.
Der vorliegende Titel reiht sich in die Ratgeberliteratur ein; an Interessenten und Betroffenen
dürfte es nicht fehlen, ob und wie diese die
zahlreichen praxisnahen Hinweise der engagierten Autoren umsetzen, ist freilich fraglich.
Andreas Agreiter
Bettina Raab
Robert Burdy, Philippe Orban
Das Aikido-Prinzip
Nutze die Kraft deines Gegners
Berlin: Econ 2013.
263 S.
Egon Schwarz
Wien und die Juden
Essays zum Fin de siècle
München: C.H.Beck Verlag 2014.
172 S.
Das Aikido-Prinzip
Nutze die Kraft deines Gegners
Wien und die Juden
Essays zum Fin de siècle
Egon Schwarz
Robert Burdy, Philippe Orban
Das Buch, in Gemeinschaftsarbeit verfasst von
Robert Burdy, vormals Korrespondent und
nunmehr Moderator beim MDR, und dem Franzosen Philippe Orban, seines Zeichens professioneller Aikidomeister, wendet sich ausdrücklich an
Manager und Führungskräfte, in weiterem Sinne
wohl auch an niedrigere Chargen. Die betriebliche
Führungsebene stellt sich zuweilen als eine
Kampfzone dar, die man angesichts zu erwartender Verluste besser meidet. Auch und gerade in
kleineren Betrieben läuft das Management nicht
friktionsfrei, es gilt, sich sowohl persönlich als
auch als Repräsentant der Firma gegen (vermeintliche) Attacken zur Wehr zu setzen.
An diesem unbestreitbar heiklen Punkt setzen
die Autoren an: sie möchten aufzeigen, dass ein
Konflikt nicht notwendig die (wirtschaftliche)
Vernichtung des Gegners zur Folge hat. Dazu
bemühen sie die japanische Kampfkunst Aikido,
die sich als Verteidigungsstrategie versteht. Die
hohe Kunst des Aikido liegt im Erkennen der
Offensivität, mit der ein Aggressor auftritt. Wird
ein Angriff als solcher wahrgenommen, so versucht der Aikidoka, den feindlichen Schlag bereits
in dessen Entwicklung zu unterbinden. Aikido ist
demnach nicht rein defensiv, sondern gleicherweise initiativ – der Verteidiger übernimmt die aktive Rolle, um den Gegner zu entschärfen. Die
Leitidee bleibt dabei, den Angreifer unversehrt
zu lassen; diesem sollen – vermittels des Verteidigenden – seine ihn treibenden unlauteren
Beweggründe zur Tat nahegebracht werden. Die
höchste Absicht des Aikido wäre demnach der
Friede zwischen Konfliktparteien.
60
Besprechungen
«Was ist ein Jude?», «Was macht das jüdische
Selbstverständnis bzw. die jüdische Identität aus?»
und wie sahen jüdische Autoren sich und ihr Werk
im Wien der Jahrhundertwende, das ein atmosphärisch vergifteter Schmelztiegel war? Die
unterschiedlichsten Nationalitäten, Sprachen und
Religionen trafen hier aufeinander und verachteten und misstrauten sich gegenseitig. Und auch
innerhalb der jüdischen Bevölkerung gab es Unterschiede und Antipathien: den assimilierten,
säkularisierten und weltlich-orientierten Juden
war oft der gesellschaftliche Aufstieg gelungen.
Sie galten als fortschrittlich, modern und aufgeklärt, lebten in (relativem) Wohlstand und
gehörten größtenteils zur kulturellen und wissenschaftlichen Elite der österreichisch-ungarischen Monarchie. Wohingegen die aus dem
Schtetl in die Stadt drängenden orthodoxen Juden
aus den östlichen Kronländern in ihren Strukturen und Traditionen verhaftet blieben und sich in
Folge der beängstigenden neuen Lebensumstände
erst recht auf ihr Judentum besannen Doch assimiliert oder unnachgiebig auf die eigenen Werte
und Wurzeln bedacht, seiner Herkunft könne, so
Arthur Schnitzler, niemand entkommen. Diese
Problematik der Aufgabe bzw. Wahrung seiner
Kultur inmitten eines Vielvölkerstaates beschäftigte unter anderem auch Sigmund Freud, Otto
Weininger und Theodor Herzl.
Der 1922 in Wien geborene Autor jüdischer
Herkunft erläutert die Geschichte der Judenfeindlichkeit, die in der christlichen Welt zunächst
religiös, später vermehrt wirtschaftlich und sozial
begründet war. Doch erst im 19. Jahrhundert
kam zum Antisemitismus eine rassistische
Winter 2014/15
Wien 1914
Alltag am Rande des Abgrunds
Edgard Haider
Der Böhlau Verlag hat, seiner inhaltlichen Linie verpflichtet, anlässlich des Gedenkjahrs zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Vielzahl an Publikationen auf den Markt gebracht. Dem schon
jetzt als Standardwerk gehandeltem, über 1000 Seiten starken Buch von Manfred Rauchensteiner
(Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie) steht Edgard Haiders Buch über
Wien im Jahr 1914 zur Seite. Darin widmet sich der Historiker dem Alltag in der Kaiserstadt – von
den Festen zum Jahreswechsel bis zu den Kaiserfeiern anlässlich des 84. Geburtstag Franz
Josephs am 18. August 1914.
Alltag am Rande des Abgrunds heißt es wissend im Untertitel; dass sich die Menschen im Jahr
1914 weniger am Ende einer Epoche, als vielmehr im Aufbruch in eine neue Zeit wähnten, wird in
dem als Panorama von Zeitdokumenten angelegten Buch sehr gut herausgearbeitet. Der als
ORF-Redakteur bekannte Autor porträtiert sämtliche Gesellschaftsschichten und lässt wichtige
Akteure der Zeit selbst zu Wort kommen. Ein sehr großer Teil des Textes sind Originalzitate aus
Zeitungsberichten; zahlreiche Fotos und graphische Darstellungen (etwa Werbeplakate oder
Karikaturen) aus der Zeit ergänzen die Dokumentation. Ein umfangreicher Anhang mit Personenregister, Bild- und Zitatnachweis macht seine Quellen recherchierbar. Interessant ist auch das
Glossar, das nötig geworden ist, um die oft allzu langen Zitate zur Gänze verständlich zu machen.
Niemand verwendet heute noch die vielen französischen Wörter, die in der damaligen Presse
alltäglich waren: da gibt es «Honneurs» und eine «Malice» und so exotische Verben wie «haranguieren» (i.e. das große Wort führen), wenn von der «Jeunesse dorée» die Rede ist.
Was sich die Mächtigen und Reichen leisten konnten – moralisch wie materiell, und wie sich
das «gemeine Volk» über die Runden gebracht hat, wird ebenso geschildert, wie die großen Pläne, die in den Jahren vor dem Krieg gemacht wurden. Edgard Haider hat bereits mehrere historische Publikationen mit Architekturbezug veröffentlicht, daher ist es wenig erstaunlich, dass
jene Kapitel, die sich den baulichen Veränderungen in der Kaiserstadt widmen, besonders
gelungen sind. Der speziell wienerische Antisemitismus, wie er im Vorfeld von Teilwahlen zum
Wiener Gemeinderat im März 1914 beschrieben wird, ist ein schockierender Teil des gesellschaftlichen Panoramas. Der Autor widmet sich auch den schmutzigen Seiten der Stadt – dass die
Tuberkulose in Medizinerkreisen auch «morbus viennensis» genannt wurde, spricht für sich. Die
Müllentsorgung in der Millionenmetropole mittels offenem Pferdewagen war eine stinkende
und gesundheitsgefährdende Angelegenheit.
Von den Modepalästen der Mariahilfer Straße bis zu den Mülldeponien am Laaer Berg, vom
Narrenabend des Wiener Männergesangsvereins bis zur Spende des Aschenkreuzes im Stephansdom durch Kardinal Piffl spannt Edgard Haider den Bogen. Zum Ende hin wird das Buch zu einer
Chronik des letzten Sommers vor dem Krieg: vom Tod der Friedensnobelpreisträgerin Bertha
von Suttner eine Woche vor dem Attentat, über die Abreise der «feindlichen» Botschafter nach
Russland, England und Frankreich nach der Kriegserklärung bis zu den überschwänglichen
Kaiserfeiern, in denen das Volk «Gut und Blut für unseren Kaiser» geben will. Im Epilog schreibt
Edgard Haider vom «Kopfschütteln» das ein Feulletonist rhetorisch den Nachgeborenen über jene
Zeit andichtet. Auch wenn vieles unverständlich bleibt, weil wir heute nicht mehr so denken und
handeln wie vor 100 Jahren, bringt die Lektüre von Wien 1914 viel Erhellendes in die Auseinandersetzung mit dieser Epoche.
Josef Mitschan
Komponente hinzu: eine Konvertierung zum
Christentum reichte fortan nicht mehr aus, um
nicht mehr als «jüdisch» zu gelten.
Die vorliegenden Essays wurden zwischen
1975 und 2003 veröffentlicht, beleuchten den Einfluss der Geschichte auf die literarischen Werke
zumeist jüdischer Autoren (wie z.B. Karl Emil
Franzos, Joseph Roth, Arthur Schnitzler und Franz
Werfel) und beinhalten fundierte historischsoziologische Analysen jüdischen Lebens, wobei
den Germanisten Egon Schwarz vor allem die
61
Sachbuch
vor diesem Hintergrund entstandene Literatur
beschäftigt. Der Sammelband bietet eine umfangreiche Bibliographie sowie zahlreiche Anmerkungen und Fußnoten und ein alphabetisch gelistetes
Personenverzeichnis. Trotz der Fülle an soziokulturellen Erläuterungen und historischen
Verweisen und Jahreszahlen liest sich das Werk
leicht und flüssig, bietet einleuchtende Erläuterungen und macht vieles verständlich(er).
Martina Lammel
Edgard Haider
Wien 1914
Alltag am Rande des Abgrunds
Wien (u.a.): Böhlau 2013.
300 S.
Franz Ferdinand
Die Biografie
Alma Hannig
Alma Hannig
Franz Ferdinand
Die Biografie
Wien: Amalthea 2014.
349 S.
Das Jahr 2014, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal jährt, beschert uns
auch neue Biografien über den Thronfolger Franz Ferdinand, dessen Ermordung in Sarajewo
gemeinhin als Auslöser der Kriegshandlungen gilt.
Die im Amalthea Verlag erschienene Biografie der deutschen Historikerin Alma Hannig, die seit
Jahren zur Geschichte Österreich-Ungarns forscht, hat laut Aussage der Autorin den Anspruch,
sowohl für Fachhistoriker als auch für interessierte Laien geeignet zu sein. Durch die Einbeziehung
neuer Quellen versucht sie sich darin der Frage anzunähern, inwieweit der ewige Thronfolger
Einfluss auf die Regierungsgeschäfte seines Onkels Kaiser Franz Joseph nehmen konnte beziehungsweise welche eigenen Ziele und Interessen er für eine zukünftige Regentschaft verfolgte.
Auf knapp 350 Seiten schildert Hannig chronologisch aufgebaut die Lebensgeschichte Franz
Ferdinands, angefangen bei seiner Kindheit, in der er den frühen Tod seiner Mutter verarbeiten
musste, über seine Jugendzeit beim Militär, die Jahre seiner schweren Krankheit bis hin zur offiziellen Ernennung zum Thronfolger und seiner für die damalige Zeit ungewöhnlichen und vom
Kaiser lange abgelehnten Liebesheirat mit der nicht standesgemäßen Sophie Gräfin Chotek.
Anschließend versucht sie sich der Person Franz Ferdinands in mehreren Kapiteln auch thematisch zu nähern, indem sie sich kritisch mit seiner Jagdleidenschaft, seiner Feindschaft gegenüber
Ungarn und der stets schwierigen Beziehung zu seinem Onkel auseinandersetzt. Hannig widmet sich darüber hinaus auch intensiv seinen politischen Vorstellungen und analysiert sein umfassendes Regierungs- und Reformprogramm. So gelingt es ihr, seinen bisher zu gering eingeschätzten Einfluss auf die Außenpolitik aufzuzeigen und mit Mythen aufzuräumen, etwa wenn sie
seinen Ruf als «Friedensfürsten» in Frage stellt.
Entstanden ist eine mit zahlreichen Abbildungen, umfangreichen Literaturangaben und
Anmerkungen ausgestattete, gut recherchierte Biografie Franz Ferdinands, der nach dem Tod von
Kronprinz Rudolf überraschend und ohne die entsprechende Ausbildung genossen zu haben,
zum zukünftigen Regenten des Habsburgerreiches avancierte. Der Autorin gelingt es in ihrem
differenzierten und angenehm lesbaren Buch, sich sowohl der privaten als auch der politischöffentlichen Persönlichkeit des Thronfolgers anzunähern.
Carina Brandstetter
Gerhard Falschlehner
Die digitale Generation
Jugendliche lesen anders
Wien: Ueberreuter 2014.
223 S.
Die digitale Generation
Jugendliche lesen anders
Gerhard Falschlehner
Das Buch liest sich – um das gleich vorwegzunehmen – wie das resignierte Hinnehmen von
etwas schicksalhaft Gegebenem: die (vermeintliche) Abneigung der Kinder und Jugendlichen
gegenüber dem Buch, dem Lesen, ja der Kultur
insgesamt. Die Ränge, die Österreich in diversen
PISA-Studien belegt, gießen zusätzlich Öl ins
Feuer. Dementsprechend verhärtet sind die
Fronten zwischen kulturkonservativen Pessimisten und solchen, die neuen und neuesten Medien
offen gegenüberstehen. Der Autor, von Beruf
Lehrer und Geschäftsführer des Österreichischen
Buchklubs der Jugend und der BücherBühne im
KinderLiteraturHaus Wien, schickt sich an,
zwischen diesen Fronten zu vermitteln.
Zu diesem Zweck gibt Falschlehner einen
Überblick, in dem die «heutige Jugendkultur» zur
Darstellung gelangt; dabei wird Jugendkultur als
62
Besprechungen
Medienkultur identifiziert – auch die Jugend liest,
schreibt und kommuniziert, und zwar in quantitativ noch nie dagewesenem Ausmaß. Welche
zwischenmenschliche- oder Bildungsqualität hier
ins Spiel gebracht wird, muss der Autor allerdings
offen lassen. Um aber überhaupt kontaktfähig
zu werden, bedarf es schon bestimmter grundlegender Lese- und Schreibtechniken, die vor dem
Multimediakonsum erworben werden müssen.
Der Erwerb fundamentaler Lesekompetenz
führt Falschlehner zur Frage, was denn Lesen sei;
dazu bemüht er Neurobiologie, Kulturgeschichte
und Linguistik. Lesen muss nicht zwangsläufig das
Lesen eines Buches meinen, es existieren verschiedene gleichberechtigte Formen des Lesens
bzw. der Aufnahme von Informationen, wie eben
herkömmliches Lesen, digitales Lesen von virtuellen Botschaften oder Bilderlesen, das in der
Kunst zur Anwendung gelangt.
Der abschließende Teil widmet sich dem wohl
umstrittensten Thema: wie kann sich eine Lesekultur angesichts der vielgestaltigen Alternativen
zum althergebrachten Bücherlesen behaupten?
Hier schlägt der Lehrer im Autor durch, der für
Winter 2014/15
alternative Pädagogiken wirbt, mittels derer Schülern das (analoge) Lesen schmackhaft gemacht
werden kann.
Fazit: Falschlehner ist ein engagierter Autor,
der weiß, wovon er schreibt, ist er doch auch
Kindesvater; zuweilen ist sein Plädoyer etwas
überschwänglich und salopp formuliert; dennoch
bemüht er sich, beide Lesekulturen – die analoge
wie die digitale – zu würdigen.
Lokalität; neben den «kulinarischen» Aspekten
fasziniert vor allem der Lokalkolorit.
Sabine Baumann
Schöne Tage 1914
Vom Neujahrstag bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkrieges
Gerhard Jelinek
Andreas Agreiter
Tschocherl Report
Arthur Fürnhammer, Peter M. Mayr
Tschocherl – ein unverkennbar wienerischer
Ausdruck – bedeutet laut dem Glossar am Ende
des Buches: «Kleines Lokal, meist als Café,
Espresso oder Stüberl geführt». Der Begriff
«Espresso» stammt aus den 50er Jahren als in
der Nachkriegszeit die Italiensehnsucht mit
dieser neuen Form des Kaffeehauses befriedigt
wurde. Das «Tschocherl» ist heutzutage vielfach
vom Aussterben bedroht, überleben kann es
vor allem wegen seines treuen Stammpublikums.
Und hier ergibt sich bereits die erste Schwierigkeit; (noch) Nicht-Stammgäste kostet es zunächst
eine gewisse Überwindung derartige Etablissements zu betreten. Hat man diese Hürde aber
überwunden und bestellt ohne den geringsten
Zweifel an seiner Zugehörigkeit aufkommen zu
lassen, einen kleinen Mocca, ein Seidel oder
ein Achtel Weiß gespritzt, wird man meist
umgehend akzeptiert.
In sämtlichen Wiener Bezirken findet man
etliche der titelgebenden Lokalitäten, im vorliegenden Band werden zwanzig ausgewählte
Tschocherl vorgestellt. Ursprünglich sind die
kommentierten Reportagen in der ObdachlosenZeitung «Augustin» erschienen. Abseits von
Rauchverbot, Biowahn und Smartphone existiert
im Tschocherl noch eine Szene, die keine sein
will und trotzdem etwas Singuläres darstellt. Jeder
ist willkommen sofern er sich an gewisse Spielregeln hält, deren wichtigste lautet, den anderen
so zu akzeptieren wie er ist. Zuweilen wird man
bei der Lektüre an eine Folge der Alltagsgeschichten von Elizabeth T. Spira erinnert.
Das Vorwort wurde von keinem geringeren als
Kurt Palm, der die unabdingbaren Merkmale eines
«Tschocherls» auf den Punkt bringt, verfasst.
Auch wenn er genau wie die journalistisch tätigen
Autoren kein geborener Wiener ist, tut dies der
Authentizität keinen Abbruch. Die tollen Photographien, die günstigen Getränkepreise und die
blumige Beschreibung des jeweiligen Ambientes
(«Donauromantik», «Landgasthaus mit Balkanflair», «Bunter Stilmix mit Asia-Elementen»,
«fliesenlastigen Wartehallenromantik») wecken
die Neugier auf den Besuch einer einschlägigen
63
Sachbuch
Nach dem großen Erfolg von 1913 – Der Sommer
eines Jahrhunderts, in dem sich Florian Illies durch
ein Jahr gezappt hat, kommt nun Schöne Tage 1914
pünktlich zum hundertsten Jahrestag des Kriegsausbruchs heraus. Der Autor Gerhard Jelinek ist
Jurist und prominenter Fernsehjournalist, der
schon andere historische Themen auch in
Buchform kulinarisch aufbereitet hat.
Die schönen Tage des Sommers 1914 werden
noch in vollen Zügen genossen, niemand wähnt
sich am Rande des Abgrunds. In Form eines
Tagebuchs, das vom Jahreswechsel 1913/14 bis zur
Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich am
3. August reicht, lässt uns Jelinek teilhaben am
gesellschaftlichen Leben in der kaiserlichen
Residenzstadt Wien. Die Zeit ab dem Attentat
beansprucht die letzten achtzig Seiten des Buchs.
Die Geschehnisse den Jahres 1914 werden
vornehmlich aus der Perspektive prominenter
Persönlichkeiten geschildert; so erfahren wir, dass
Schnitzler an der Ermordung des Erzherzogs
Franz Ferdinand wenig Anteil nahm und ausführlicher in seinem Tagebuch vermerkte, wie das
Wetter auf der Landpartie war, die er an diesem
«schönen Sommertag» mit Freunden gemacht
hat. Diese Vorgehensweise bringt es mit sich, dass
ein Gutteil des Textes aus Zitaten besteht, die
gut lesbar und vom Autor kommentiert aneinander montiert sind. Was aus Briefen, Tagebucheintragungen und vor allem Presseberichten herauszulesen ist, hat der Autor mit viel Feingefühl
arrangiert und der Verlag hat wenige aber
aussagekräftige Illustrationen beigesteuert.
Schöne Tage 1914 lässt sich angenehm in kleinen
Häppchen lesen und man gewinnt dabei ein
immer anschaulicheres Bild einer dem Untergang
geweihten Epoche. Der Erste Weltkrieg ist
sozusagen das Ziel, auf das der Autor hinschreibt
indem er Anekdoten und Weltpolitik, persönliche
Befindlichkeiten und Mentalitätsgeschichte
geschickt zusammen führt. Im Nachwort findet
Jelinek ein erschreckendes Bild für die 15 Millionen Todesopfer des Ersten Weltkriegs: wenn jedes
Schriftzeichen seines Buches einen Toten
repräsentierte, wäre erst mit 26 aufeinander
gestapelten Büchern aller getöteten Soldaten und
Zivilisten gedacht.
Josef Mitschan
Arthur Fürnhammer,
Peter M. Mayr
Tschocherl Report
Wien: Löcker 2013.
169 S.
Gerhard Jelinek
Schöne Tage 1914
Vom Neujahrstag bis
zum Ausbruch des
Ersten Weltkrieges
Wien: Amalthea 2013.
318 S.
Wikinger selbst erleben!
Kleidung, Schmuck und Speisen –
selbst gemacht und ausprobiert
Christoph Lauwigi
Wien
Geheimnisse einer Stadt
Rätselhafte Zeichen |
verschlüsselte Botschaften
Richard Strauss
Die Opern
Ein musikalischer Werkführer
Im Mittelalter
Handbuch für Zeitreisende
Ian Mortimer
Laurenz Lütteken
Gabriele Lukacs
Christoph Lauwigi
Wikinger selbst erleben!
Kleidung, Schmuck und Speisen –
selbst gemacht und ausprobiert
Darmstadt: Theiss 2014.
96 S.
Gabriele Lukacs
Wien – Geheimnisse
einer Stadt. Rätselhafte
Zeichen – verschlüsselte
Botschaften
Wien: Pichler 2013. 206 S.
Die rasant fortschreitende Entwicklung technischer Untersuchungsmethoden hat auch die
Geschichtswissenschaft und ihre Hilfswissenschaften revolutioniert und so eine Fülle von
neuen Erkenntnissen um Kultur und Alltag vergangener Völker und Zeiten ermöglicht. Dies hat
in weiterer Folge auch nachhaltige Auswirkung
auf die Präsentation historischer Fakten in der
modernen Museumspädagogik, wie man recht anschaulich in den zahlreichen Museumsdörfern
und authentisch nach- und ausgebauten Ausgrabungsstätten wie in Carnuntum/NÖ sehen kann.
Der für seine pädagogisch wertvollen und wissenschaftlich fundierten Publikationen bekannte
Konrad Theiss Verlag hat sich nun auch des Feldes
der «Living History» bemächtigt und in dem
vorliegenden Werk mit dem Titel Wikinger selbst
erleben! – einem Gemeinschaftsprojekt – eine
Plattform geboten, um handwerkliches Können
und vor allem Expertenwissen einem breiten Publikum zu präsentieren. Nach einer kurzen Einführung in Werkzeug- und Materialkunde (wertvolle Einkaufstipps werden im Anhang gegeben)
werden in den einzelnen Kapiteln allgemeine
Informationen über Lebenswelt und Alltag der
Wikinger – zum Beispiel Körperpflege oder Wohnen – gegeben und typische Gerätschaften aus
diesem Bereich in ihrer Herstellung erklärt.
Einfache Anleitungen inklusive anschaulicher
Abbildungen ermöglichen ein unkompliziertes
Nachbauen oder Nähen der Gegenstände und sind
für interessierte Laien jeglichen Alters geeignet:
einfache Holzschwerter, Spazierstöcke aus Tierknochen, eine Gugelhaube für den Kopf, ein
Glättbrett für Bekleidung, Truhen und Sitzmöbel
für das eigene Wikingerheim und sogar Rezepte
für eine typische Mahlzeit mit Bier- oder Metumtrunk zu einem mit nachgebauten Knochenflöten musikalisch umrahmten Fest werden vorgestellt. Sollte der geneigte Leser nun Lust auf
mehr Information und weiterführende Literatur
bekommen haben, so findet sich diese im rückwärtigen Teil des Buches. Das optisch ansprechende und inhaltlich gut strukturierte Büchlein ist
nicht nur für Fans der «gelebten Geschichte» ein
gutes Grundlagenwerk, sondern vor allem auch
für den zeitgemäßen modernen Geschichtsunterricht sowie jegliche pädagogische Projekte als
Begleittext bestens geeignet.
Sissy Schiener
Gabriele Lukacs ist als geprüfte Fremden- und
Wanderführerin in Wien und in Niederösterreich
unterwegs. Ihr Vorliebe für das Mystisch-Geheimnisvolle verraten schon die Titel ihrer bereits
erschienen Werke: Kraftorte in Niederösterreich,
Geheimnisvoller Da-Vinci-Code in Wien, Das
geheime Netz der Templer, Unheimliches Wien oder
Geheimnisvolle Unterwelt in Wien.
Mit ihrer jüngsten Veröffentlichung über
rätselhafte Zeichen und verschlüsselte Botschaften in Wien knüpft sie an ihre Vorbände an. Sie
lädt ihre Leser zu einer faszinierenden Entdeckungsreise durch die Bundeshauptstadt ein und
macht neugierig darauf, die vorgestellten Schauplätze selbst zu erkunden. In der Architektur von
Schloss- und Parkanlagen, in Kirchen, auf Plätzen
oder Hausmauern spürt sie verborgene Zeichen
und Codes auf. Zu Beginn verweist sie zunächst
auf die mittelalterliche Stadtgründung von Wien,
die die Anordnung der Kirchen im Zeichen des
Kreuzes (TAU-Formation) vorsah. Kaum zu
glauben, dass Schönbrunn voll ist mit magischen
Zeichen und Symbolen. Was hat das Zunftzeichen
der Bierbrauer mit dem Davidstern gemeinsam?
Welche Symbolik verbirgt sich hinter der Pestsäule
am Graben? Handelt es sich beim Tormuster des
Bundeskanzleramtes tatsächlich um Runen?
Warum konnte das Voynach Manuskript bis heute
nicht entschlüsselt werden? Warum sollte man
die Minoritenkirche besuchen, um den Da Vinci
Code aufzuspüren? Auf welchen Hausmauern ist
heute noch der Code des NS-Widerstandes zu
finden? Auf diese und zahlreiche weitere Fragen
weiß Lucacs ausführliche Antworten. Sie stützt
sich dabei auf die neuersten Erkenntnisse der Wissenschaft, wobei verwunderlich ist, dass einige
Rätsel erst vor kurzem entdeckt bzw. entschlüsselt
worden sind, wie etwa im Jahre 2005 die Hieroglyphen-Dechiffrierung des Obelisken in Schönbrunn
oder 2012 die Entdeckung einer «Nazibotschaft»,
einzementiert unter einer Soldatenskulptur in
der Krypta des Heldenplatzes. Der Text ist voller
wissenswerter Informationen, kurz gehalten,
spannend zu lesen und gut ergänzt durch die stimmungsvollen Bilder von Sven Posch. Ein absolutes
Muss für alle historisch Interessierten, die auch
gerne einmal mit dem Buch unterm Arm auf
Erkundungstour gehen wollen.
150 Jahre und kein bisschen leise – Richard Strauss
ist auf den großen Opernbühnen der Welt so
präsent wie kein anderer Komponist des 20.
Jahrhunderts. Als einer der letzten Meister der
tonalen Musik werden viele seiner Bühnenwerke –
allen voran sein «Rosenkavalier» – vom Publikum
geliebt, während manche Musiktheoretiker in
ihm einen ultrakonservativen Verräter an der
modernen Musik sehen. Sein Schaffen ist jedenfalls gekennzeichnet von dem Versuch, aus dem
übermächtigen Wagnerschen Ideendrama mit
einer neuen Art musikalischen Theaters herauszufinden. Alle seine 15 Opern sowie sein Ballett
«Josephs Legende» sind unterschiedliche Ausformungen eines neuen Musiktheaters, das sich
nicht mehr mit grundsätzlichen Ideen und allgemeingültigen Mythen, sondern mit dem Menschen und seinen realen Verhältnissen beschäftigt. Die Sprach- und Kommunikationslosigkeit
der Moderne versucht Strauss mit einer neuen
Spielart des Musiktheaters zu überwinden, wobei
jedes Bühnenwerk seine spezifische individuelle
Ausprägung erhält, was auch in den sehr unterschiedlichen Bezeichnungen – von Oper, Musikdrama, Komödie mit Musik bis komische Oper
und heitere Mythologie – zum Ausdruck kommt.
Den Opern von Richard Strauss hat nun der
Beck-Verlag im Themenbereich «Musik» seiner
kompakten Taschenbuch-Reihe «Wissen» einen
eigenen Band als «musikalischen Werkführer»
gewidmet. Laurenz Lütteken, Professor für
Musikwissenschaft an der Universität Zürich,
erläutert darin umfassend die Entstehungsgeschichte und den Inhalt aller Bühnenwerke von
Richard Strauss und analysiert detailliert die
Hintergründe und tiefere Bedeutung der einzelnen Werke. Er fasst sie dabei dabei in drei
Gruppen zusammen: die drei frühen Opern vor
Hofmannsthal, die sieben Werke aus der ungemein glücklichen Zusammenarbeit mit Hofmannsthal sowie die sechs Werke nach Hofmannsthals Tod. Schade ist nur, dass der Autor
immer wieder in ein musikwissenschaftliches
Fachkauderwelsch verfällt, das die Verständlichkeit des kleinen Büchleins gelegentlich doch
sehr beeinträchtigt. Alles in allem jedoch eine
gute Einführung in das Schaffen eines der größten Opernkomponisten aller Zeiten.
Anita Pravits
Isabelle Bene
Ian Mortimer ist britischer Historiker und ein
in England erfolgreicher Autor von Sachbüchern
und historischen Romanen. Nun ist erstmals
die deutsche Übersetzung eines seiner Werke
erschienen und zwar über das Leben im England
des 14. Jahrhunderts. Er nennt es frech ein
Handbuch für Zeitreisende bzw. im Original The
time traveler’s guide to medieval England. Der
deutsche Buchtitel ist bewusst nicht auf England
bezogen, denn wie schon das Vorwort verspricht,
kann der Inhalt auch auf das mittelalterliche
Kontinentaleuropa umgelegt werden und so ziehen auch alle Zeitreisende außerhalb der Insel
ihren Nutzen aus dieser Lektüre. In elf Kapiteln
gibt Mortimer Tipps, wie Sie sich als Zeitreisender
richtig verhalten, um in der Welt des Mittelalters
nicht aus dem Rahmen zu fallen und was Sie
auf Ihrer Reise erwartet. Was ist der Mensch im
Mittelalter für ein Mensch? Die Antwort ist wenig
schmeichelhaft: gewaltbesessen und gesegnet
mit sarkastischem Humor.
Mortimer lässt kaum einen Aspekt des täglichen Lebens aus, er schildert auch interessante
Details: es gab bereits flüssiges Waschmittel aus
Fässern für die Reinigung der Kleider. Die Zahnpflege erfolgte mit einer Paste aus Kräutermischung, denn schlechter Atem wurde als Auslöser
und Verbreiter von Krankheiten angesehen.
Zucker als Lebensmittel war bereits weit verbreitet
und folglich auch Karies. Allerdings wurde dieser
als Würmer im Zahn gedeutet, die man mit Feuer
ausbrannte. Drei große Krankheiten bestimmten
das Leben der Menschen im 14. Jahrhundert,
neben Lepra und Tuberkulose allen voran die Pest:
das Große Sterben, wie es damals hieß, tötete in
mehreren Wellen bis zu einem Drittel der Bevölkerung Englands und Europas. Ganze Dörfer
wurden entvölkert, es durften keine Totenglocken
mehr geläutet werden, sonst wären diese den Tag
über nicht mehr stillgestanden. Es ist wohl kein
Trost zu wissen, dass die Medizin im 14. Jahrhundert auf Magie, das Gottesurteil und Sternendeutung vertraute.
Obwohl populärwissenschaftlich aufgemacht,
ist dieses Buch doch eher etwas für Geschichtejunkies, die sich genauer mit der Materie des
14. Jahrhunderts auseinandersetzen wollen.
Sehr gut sind die Quellenangaben, falls ein allzu
skeptischer Leser der Wahrheit der Aussagen
nachgehen will. Insgesamt ist es ein optisch nett
gestaltetes historisches Sachbuch, das durch
seinen etwas saloppen Stil nicht ganz so wissenschaftlich wirkt.
Verena Brunner
64
Besprechungen
Winter 2014/15
65
Sachbuch
Laurenz Lütteken
Richard Strauss
Die Opern
Ein musikalischer Werkführer
München: C.H.Beck 2013.
128 S.
Ian Mortimer
Im Mittelalter.
Handbuch für Zeitreisende
Aus dem Engl.
Göttingen: Steidl 2011.
110 S.
Unterwegs in Wien
Kulturhistorische Streifzüge
Kulturgeschichte
der österreichischen Küche
Der Mann der mit den Stürmen spricht
Lesereise Kanadas Norden
Peter Peter
Helge Sobik
Der Historiker und Stadtforscher Peter Payer
widmet sich seit mehreren Jahren der Erforschung
der Wiener Stadtgeschichte und hat bereits
mehrere Bücher zu ihren kultur- und alltagsgeschichtlichen Aspekten publiziert.
In seinem neuen, vom Czernin-Verlag herausgegebenen Band nimmt er den Leser bereits zum
zweiten Mal mit auf kulturhistorische Streifzüge
durch Wien, wobei sein Fokus diesmal auf den
weniger beachteten Aspekten des Alltagslebens
liegt. Payer konzentriert sich in seinen 25 Essays,
die zuvor bereits in verschiedenen Tages- und
Wochenzeitungen zu lesen waren, auch auf die
unterschiedlichen Sinneseindrücke, die die
Stadt bietet.
Ausgehend von der Wandlung Wiens zur
modernen Metropole ab der zweiten Hälfte des
19. Jahrhundert spannt er den Bogen bis ins
21. Jahrhundert. Er führt den Leser an Orte, an
denen der Großstadtlärm besonders stark war,
wie etwa an die Opernkreuzung, wo lange
Zeit ein Polizist den Verkehr regelte. Als 1923 die
flächendeckende elektrische Straßenbeleuchtung
eingeführt wurde, avancierte Wien bald zu einer
der bestbeleuchteten Städte der Welt. Neben
dem ganzen Trubel bot Wien aber immer auch
Möglichkeiten des auditiven Kulturgenusses
beispielsweise im Musikverein oder Konzerthaus.
Dass der öffentliche Raum vielfach als Bühne
genutzt wurde, belegen am besten die Wiener
Typen des Würstelstandbetreibers und des Maronibraters; letzterer gehörte bereits seit dem
Barock zum Stadtbild. Auch die dunklen Seiten
der Stadt werden nicht ausgespart, wenn der
Autor seine Leser in die Elendsviertel der Stadt
der vorigen Jahrhundertwende führt. Abgerundet wird die Essaysammlung durch die Schilderung einiger sensationeller Ereignisse, etwa
als 1929 beim größten Eisstoß die Donau zufror
oder der Hochseilakrobat Josef Eisenmann
und seine Tochter Rosa 1949 bei der Überquerung des Donaukanals vom Seil stürzten und
tödlich verunglückten.
Payer gelingt es, in den in diesem Band versammelten Essays das Wesen der Stadt facettenund detailreich zu beschreiben und dabei die
sinnliche Wahrnehmung der Leser anzuregen,
wenngleich die Auswahl etwas willkürlich wirkt.
Angereichert mit zahlreichen alten Fotografien,
Postkarten und Druckgrafiken leistet der Autor
so einen Beitrag gegen das Vergessen.
Genau genommen und im Detail betrachtet ist die
Geschichte der österreichischen Küche eine internationale: verschiedenste Einflüsse aus den
ehemaligen Kronländern beeinflussten schon seit
jeher den Gaumen und Geschmack der «ÖsterreicherInnen» und sind bis in die heutige Zeit
überall spürbar und geschätzt. Vielfältige regionale Unterschiede in Rezeptur und auch im landestypischen Vokabular offerieren eine reichhaltige Auswahl an kulinarischen Köstlichkeiten.
Der deutsche Restaurantkritiker und Dozent
für Kulinaristik Dr. Peter Peter hat in den letzten
Jahren bereits mehrere profunde Werke über
verschiedene europäische Küchen veröffentlicht
und nimmt sich in seinem aktuellen Buch unserer
heimischen österreichischen Ess- und Trinkkultur
an. Vom Urknödel der Jäger und Sammler über
Krebspastete als Barockschmankerl hin bis zur
modernen Nouvelle Cuisine spannt er den Bogen
und gibt auf unterhaltsame und höchst spannend
zu lesende Weise Zeugnis seines umfangreichen
historischen und kulturhistorischen Wissens.
Aufgelockert durch teils humoristische Verse und
Zitate, zeit- und lokaltypische Rezepturen werden
Tafelsitten, kulturelle, künstlerische und historische Ereignisse und Personen in ihrem zeitlichen
Rahmen eingebettet und analysiert. Bedeutende
Köchinnen und Köche kommen zu Wort, bekannte
Lokalitäten und Getränkeproduzenten werden
genannt und auch die wirtschaftlichen Gegebenheiten in Bezug auf Export und Import von
Nahrungsmitteln sind ein nicht vernachlässigbares
Faktum in der Kulturgeschichte der Kulinaristik.
Eine Vielzahl an historisch interessanten und
ansprechenden schwarz-weiß-Abbildungen
lockert den Text gefällig auf und macht das Buch
zu einem interessanten Nachschlagewerk sowohl
für den kulturgeschichtlich interessierten Laien
als auch für den eingelesenen Fachmann. Flüssig
und spannend zu lesen, verständlich erklärt,
gespickt mit viel Detailwissen und gewürzt mit
einer Prise Humor ist die Lektüre eine höchst
angenehme und befriedigende. Ein ausführlicher
Anhang mit Karten, österreichisch-deutschem
kulinarischen Lexikon, einem Verzeichnis der
Zitate und Anmerkungen sowie einem breiten
Literatur- und Rezepturverzeichnis runden das
gelungene Werk ab.
So mancher Leser kennt sicher die eine oder andere Reisereportage von Helge Sobik aus der
Tageszeitung Der Standard oder aus Der Zeit. Der umtriebige Reisejournalist berichtete schon
aus vielen Ecken unserer Welt, Kanada scheint es ihm aber besonders angetan zu haben. Der
schneereiche, menschenleere Norden des amerikanischen Kontinents ist für viele Zivilisationsmüde oder – skeptische schon lange ein Sehnsuchtsort. Atemberaubende Landschaften soweit das Auge reicht, unberührte Natur und herzliche Menschen beschreibt und porträtiert Sobik
mit spürbarer Begeisterung und Sympathie für Land und Leute. Er verschließt die Augen jedoch
nicht vor den Problemen und Schattenseiten des Lebens am eisigen Rand der Welt. Die Jungen
interessieren sich größtenteils nicht mehr für ein traditionelles Leben im Einklang mit den Jahreszeiten und der Natur, der Mangel an beruflichen Perspektiven lässt Alkoholismus zu einem weit
verbreiteten Phänomen werden. Dennoch verlässt kaum jemand freiwillig den Norden Kanadas
und jährlich kommen mehr Touristen, die dann auch gerne das ein oder andere Gläschen des
raren kanadischen Weins trinken, belächelt von den Einheimischen, die lieber auf niederösterreichischen Tetra-Pak-Wein zurückgreifen, den ihnen der Kellner aus Österreich nähergebracht
hat. Interessant ist immer das Fremde und Exotische und so führt der Autor seine Leserschaft
auch an eher unbekannte Orte im hohen Norden wie zum Beispiel nach Iqaluit, der Hauptstadt
von Nunavut.
Pointiert, ohne überflüssige Ausschmückungen geschrieben, mit einem geschärften Blick
für das Kleine und oft unbemerkt Besondere, macht Sobik große Lust auf eine Reise in den
Norden Kanadas. Wenn manche von einer Welt ohne Reizüberflutung, ohne permanente Werbeverführung zu Kauf und Konsum träumen, so scheinen sie zwischen Buschpiloten und
Inuitkünstlern, zwischen Moschusochsen und Caribous ihre Traumdestination gefunden zu
haben. Wem die Reise zu beschwerlich und der Weg zu weit ist, dem bleibt allemal dieser
Band der Lesereisereihe, was kein zu kleiner Trost sein sollte.
Peter Payer
Peter Payer
Unterwegs in Wien.
Kulturhistorische Streifzüge
Wien: Czernin 2013.
260 S.
Peter Peter
Kulturgeschichte der
österreichischen Küche
München: C.H.Beck 2013.
258 S.
Sissy Schiener
Carina Brandstetter
66
Besprechungen
Winter 2014/15
Helge Sobik
Der Mann der
mit den Stürmen spricht.
Lesereise Kanadas Norden
Wien: Picus 2013.
132 S.
Irene Scheiber
Italien vegetarisch
Claudio Del Principe, Katharina Seiser
Kochbücher zur italienischen Küche sind zahlenmäßig nicht gerade unterrepräsentiert, jede
Region wurde schon mit zahlreichen Publikationen bedacht und ist kulinarisch bestens erschlossen. Auch zum Thema der vegetarischen Küche in
Italien gibt es bereits Titel wie zum Beispiel Cucina
Vegetariana von Cettina Vicenzino. Trotzdem
vermag Italien vegetarisch durch seine stimmige
Rezeptauswahl, die schöne Aufmachung und die
durchdachte Gliederung zu begeistern. Das Buch
ist nach Österreich vegetarisch und Deutschland
vegetarisch die dritte Publikation aus der Länderreihe des Brandstätter-Verlags, die bekannte Journalistin und Autorin Katharina Seiser fungiert
auch hier wieder als Herausgeberin, der Foodblogger Claudio Del Principe ist für den Rezeptteil und
die Fotos verantwortlich. Der vorliegende Band
zeichnet sich durch dieselben Qualitäten wie die
anderen Exemplare der Reihe aus: Neben einer
vorbildlichen Aufgliederung der Rezepte auf die
vier Jahreszeiten (inklusive einem Abschnitt,
der mit «Jederzeit» betitelt ist) findet sich eine
weitere Unterteilung in «Antipasti, Pane & Pizza»,
67
Sachbuch
«Suppen», «Salate & Gemüse», «Pasta, Polenta &
Reis» und «Süßes». Die Rezepte selbst sind für
vier Personen gedacht, Ausnahmen werden explizit gekennzeichnet. Zu finden sind neben Klassikern wie der Caponata, diversen Pizzavarianten
und Lasagne durchaus auch unbekanntere Rezepte. Die Gerichte selbst sind – so zumindest der
Selbstversuch – problemlos nach zu kochen, die
Zutaten sind in den allermeisten Fällen leicht zu
beschaffen. Natürlich ist die Auswahl keineswegs
vollständig, das Buch überzeugt jedoch durch
seine schöne Aufmachung und die appetitlichen
Fotos zu beinahe allen Gerichten. Details wie
die drei Lesebändchen, die in den Farben der italienischen Flagge gehalten sind (auch wenn das
Rot eher Orange ist), runden den Eindruck eines
gelungenen, liebevoll gestalteten Kochbuchs ab.
Italien vegetarisch sticht aus der Flut an vegetarischen Kochbüchern positiv hervor und ist
Italienliebhaberinnen und –liebhabern die sich
am Herd betätigen möchten, uneingeschränkt
zu empfehlen.
Bernhard Pöckl
Claudio Del Principe,
Katharina Seiser
Italien vegetarisch
Wien: Brandstätter 2014.
272 S.
Camus allzu unkritisch darzustellen, wir lernen
ihn als Dandy, Genießer, Frauenheld kennen, dem
aber auch die Schattenseiten der Existenz wie
Zweifel, Grübelei, Selbstisolation nicht fremd sind.
Im Ganzen ein sehr gelungenes, solides Buch.
Die Zahl, die aus der Kälte kam
Wenn Mathematik zum Abenteuer wird
Rudolf Taschner
Andreas Agreiter
Rudolf Taschner
Die Zahl, die aus der Kälte kam.
Wenn Mathematik zum
Abenteuer wird
München: Hanser 2013.
243 S.
Der Titel verspricht Spannung und überrascht wohl viele von uns, die Zahlen mit unpersönlichen
Fakten und unangenehmen schulischen Erinnerungen in Verbindung bringen. Doch die Assoziation mit einem bekannten Spionagethriller ist nicht nur Aufmerksamkeit erregend, komplexe
Zahlentransaktionen spielen tatsächlich eine große Rolle in Verschlüsselungsverfahren der
Geheimdienste. Das Wissen über Zahlen und Mathematik bedeutete vielfach Macht, aber sowohl
dem, als auch der ungeliebten Rolle der Mathematik möchte Rudolf Taschner Mathematik als
kulturelle Errungenschaft gegenüber stellen, die unser Leben prägt und unterstützt. Anhand
vieler Geschichten und Anekdoten zur Geschichte der Mathematik arbeitet er deren Leitfragen,
Leistungen und Bahn brechenden Erkenntnisse heraus und macht sie verständlich. Der Bogen
spannt sich von Tutanchamun bis zum größten Logiker des 20. Jahrhunderts, Kurt Gödel; von den
astronomisch berechneten Nilhochwassern bis zur Frage «Was ist Mathematik?» und dem
Rechnen mit unendlichen Dezimalzahlen. Es fasziniert, wie er den Anfang des Zählens in der
Steinzeit nachvollzieht, die Entwicklung der Zahlzeichen und die Kenntnis des Zählens und
Rechnens, die mit der Bekanntmachung der arabischen Ziffern in Europa ab 1550 plötzlich
allgemein verbreitet wurde. Er erzählt von den Herausforderungen, vor denen die Menschen
standen, als sie die Vermessung der Erde durch die Beobachtung der Himmelskörper und die
Abstandmessung zum Mond vornahmen. Er erzählt von den schlauen Fragen und mathematischen Rätseln, denen sich die Mathematiker stellten, allen voran Archimedes, und den noch
schlaueren Antworten darauf, die oft erst nach Jahrhunderten gefunden wurden. Schritt für
Schritt bauen über die Jahrhunderte Erkenntnisse aufeinander auf, die schließlich zur Entwicklung des Computers geführt haben und an denen viele Mathematiker wie Mathematikerinnen
beteiligt waren. Taschner erklärt einige dieser Erkenntnisse nicht nur historisch, sondern auch
rechnerisch. Umfangreiche Anmerkungen vertiefen Erklärungen und zeigen komplexere Rechenschritte. Unterhaltsam und interessant zeigt Taschner, wie sehr unser Leben und unser heutiges
Wissen von Mathematik durchdrungen sind. Die Kenntnis der Grundrechenarten, von Prozenten
und Potenzen bedeuten tatsächlich eine grundlegende Unabhängigkeit für jeden von uns.
Taschner schafft es wunderbar leicht, ein Gefühl dafür und eine Faszination für die komplexeren
Formen der Mathematik zu vermitteln.
Veronika Freytag
Iris Radisch
Camus –
Das Ideal der
Einfachheit.
Eine Biographie
Reinbek: Rowohlt 2013.
349 S.
Camus
Das Ideal der Einfachheit
Eine Biographie
Iris Radisch
2013 jährte sich der Geburtstag Albert Camus’
zum hundertsten Mal, Grund genug also für
Verlagshäuser, Biographen und Literaturwissenschafter, dem Schriftsteller und Philosophen ihre
Reverenz zu erweisen. Camus ist ja nie gänzlich in
Vergessenheit geraten, man erinnere sich an das
autobiographische Romanfragment Der erste
Mensch, das in dem Unfallauto gefunden wurde, in
dem Camus zu Tode kam und das Jahrzehnte
später publiziert wurde – oder Romane wie Die Pest
oder Der Fremde, die längst schon moderne
Klassiker sind. Mit der Beschreibung der Leere der
eigenen Existenz gepaart mit der Abwesenheit
jedweden Sinnes hat Camus die geistige Verfassung nicht nur seiner Zeitgenossen, sondern auch
die der Nachkommen gründlich getroffen.
Iris Radisch, ihres Zeichens Literaturkritikerin
bei der Zeit hat dem Jubilar gleichsam postum eine
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Besprechungen
würdige Festgabe bereitet; ihre Biographie ist
nicht nur die Nachzeichnung eines Lebensweges,
sie erhellt auch die auf diesem Lebensweg erwachsene Philosophie: «Sein [Camus’] Denken entspringt einer existenziellen Lebensweise; alles,
was er nicht aufgrund eigener Erfahrung selbst zu
Ende gedacht hat, verkommt ihm zur Ideologie.»
Damit ist der eine, tragende Pfeiler des Camusschen Denkens genannt: die Ideologie samt ihren
Vertröstungs- und Unterdrückungstechniken. Der
zweite Pfeiler ist die – zum billigen Schlagwort
herabgesunkene – Absurdität: sie offenbart sich als
Empfindung, die beinahe allen Menschen widerfährt, man steht morgens auf, geht einer bezahlten
Tätigkeit nach und kehrt anschließend wieder in
das traute Heim zurück, jedoch ohne das Gefühl,
etwas Bleibendes geschaffen oder Sinn-stiftendes
erwirkt zu haben. Die Kluft zwischen Sinnanspruch und dessen Erfüllung ist unüberbrückbar,
in der Flut des Absurden haben allein die Natur,
die Einfachheit und die Solidarität bis hin zur
Partnerschaft mit den Anderen Bestand.
Radischs Werk ist keine reine Lebensbeschreibung, sie ist Biographie und Werkbeschreibung
gleichermaßen. Dabei vermeidet sie den Fehler,
Winter 2014/15
Blackbox Gardening
Mit versamenden Pflanzen
Gärten gestalten
Jonas Reif, Christian Kress, Jürgen Becker
Wenn der weltberühmte Gartenfotograf Jürgen
Becker, der passionierte Gartenjournalist
Johannes Reif und der kompetente und erfahrene
Gartenbautechniker Christian Kreß zusammen
ein Buch schreiben, dann darf man gespannt sein:
die Natur nicht einzugrenzen und zu zähmen,
sondern sie mit dezent korrigierenden Maßnahmen in ihrer überbordenden Vielfalt und Fülle
dynamisch und zufällig walten zu lassen, ist die
oberste Prämisse ihres neuen Experimentes
moderner Gartengestaltung: Blackbox Gardening
heißt das Zauberwort und funktioniert mit Hilfe
frei gewählter, selbstaussamender Pflanzen, die
sich in ihrer Vielfalt, ihrem Wachstum und ihrer
Ausbreitung in unseren heimischen Gärten selbst
regulieren sollten.
An und für sich ist diese Philosophie des Gärtnerns nicht neu; auf natürlichen Blumenwiesen
oder in alten Bauerngärten kaufte man schließlich
auch nicht verschwenderisch und großzügig diese
oder jene Pflanze bei einem Qualitätsgärtner ein,
um sie dann im Herbst nach der Vegetationszeit
auszuhebeln und zu entsorgen. Daher wird in
diesem Buch besonderes Augenmerk auf die Vorbereitung des Gartens, die Auswahl der Initialpflanzen und die verschiedenen Gestaltungsstrategien gelegt. In den Grundzügen gut durchdacht
und geplant, ist diese Art des Gärtners auch für
Anfänger relativ leicht erlernbar und belohnt
Laien wie Fachleute mit interessanten Einblicken
und höchst intensivem Erleben der Lebenszyklen
von Pflanzen verschiedenster Spezies. Neben
einer guten und erklärenden Einführung in die
Philosophie des Blackbox Gardenings, ihrer
praktische Umsetzung und einer Auflistung der
dafür geeigneten Pflanzen werden auch drei gut
gelungene Prachtgärten vorgestellt. Wolfram
Kunick, der als einer der Ersten selbstaussamende
Pflanzen bewusst zur gärtnerischen Gestaltung
einsetzte, wird ebenso ein Denkmal gesetzt wie
dem niederländischen Maler Ton ter Linden, der
die Vielfalt der Pflanzen sowohl in seinem eigenen
Garten als auch auf Papier höchst kreativ umsetzt.
Das mit vielen wunderbaren Fotos illustrierte
Buch ist nicht nur optisch äußerst ansprechend;
fachlich höchst informativ und auch für Laien in
leicht verständlicher Sprache geschrieben ist
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Sachbuch
dieser Gartenratgeber ein qualitätsvoller «Anreißer» zu einem hoffentlich zukunftsweisenden
Thema moderner Gartengestaltung.
Sissy Schiener
1918
Die Stunden des Untergangs
Johannes Sachslehner
Der Historiker Johannes Sachslehner, 1957 in
Scheibbs geboren, unterrichtete lange Jahre an der
Universität in Krakau ehe er als Verlagslektor und
Autor historischer Sachbücher tätig wurde. Anlässlich 100 Jahre Erster Weltkrieg wurde nun sein
2005 erschienenes Buch Der Infarkt ÖsterreichUngarns unter dem Titel 1918 neu herausgegeben.
Buchstäblich minutiös schildert der Autor darin
einen einzigen Tag, den 28. Oktober 1918, der für
das endgültige Schicksal der Donaumonarchie von
großer Bedeutung sein sollte. Längst ist die anfängliche Kriegseuphorie Resignation und Elend
gewichen, die Spanische Grippe und eine Hungersnot wüten im Habsburgerreich. Alte Staaten
befinden sich in Auflösung, neue Staaten sind im
Entstehen. An einigen Frontstellungen wo die
Soldaten noch nicht meutern, versucht die k. u. k.
Armee verbissen Widerstand gegen die unaufhaltsam vorrückenden Alliierten zu leisten.
Sachslehner führt den Leser an unterschiedliche Schauplätze wie etwa nach Wien, wo über
einen neuen Staat verhandelt wird, nach Budapest, Prag und Krakau, wo bereits die Embleme
der Habsburger von den Gebäuden gerissen
werden und an die Piave-Front in Italien, wo noch
erbittert gekämpft wird. In den letzten Kriegswirren treten für die spätere Geschichte wesentliche
Personen auf, wie die Oberleutnante Arthur
Seyß-Inquart und Engelbert Dollfuß sowie der
Flottenkommandant Miklos Horthy. Auch der
damals siebenjährige Bruno Kreisky, der an
diesem Tag um 7 Uhr 30 in Hietzing mit seinem
Bruder beim Frühstück sitzt, findet Erwähnung.
Das Buch endet mit der Beschreibung eines
ruhelosen Kaiser Karl in Schönbrunn und den
Worten «Noch hält die Front», die der Generalmajor in Udine in sein Tagebuch schreibt.
Dem Autor gelingt mit 1918 eine anschauliche Chronologie jener 24 Stunden, in denen
der Untergang der Donaumonarchie zur Gewissheit wurde. In den exemplarischen Schilderungen
werden die chaotischen Zustände der letzten
Kriegstage und die zerstörerische Kraft dieses
ersten globalen Konflikts deutlich. Angereichert
mit Bildmaterial, Zeitungsartikeln, Augenzeugenberichten und literarischen Dokumenten bietet
das Buch dem Leser einen ungewöhnlichen und
spannenden Blick auf die finalen Ereignisse des
Ersten Weltkrieges. Empfehlung!
Carina Brandstetter
Jonas Reif, Christian Kress,
Jürgen Becker
Blackbox Gardening
Mit versamenden Pflanzen
Gärten gestalten
Stuttgart: Ulmer Vlg. 2014.
187 S.
Johannes Sachslehner
1918
Die Stunden des Untergangs
Wien u.a.: Styria Premium 2014.
291 S.
Bienendemokratie
Wie Bienen kollektiv entscheiden und
was wir davon lernen können
Amon
Mein Großvater hätte mich erschossen
Kleine Hände im Großen Krieg
Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg
Jennifer Teege, Nikola Sellmair
Yury und Sonya Winterberg
Der Besuch einer Bibliothek verändert das Leben
der 38jährigen Jennifer Teege für immer, als ihr ein
Buch in die Hände fällt, in dem sich ihre Mutter
mit ihrer Herkunft auseinandersetzt. Denn was
die Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen, die als Baby in ein Pflegeheim gegeben und
später adoptiert wurde, bis dahin nicht wusste –
ihr leiblicher Großvater ist Amon Göth, der als
Kommandant des Konzentrationslagers Plaszów
in Polen für den Tod Tausender Menschen verantwortlich zeichnete und als Gegenspieler von
Oskar Schindler im Film «Schindlers Liste» vielen
ein Begriff sein dürfte.
Nach anfänglichem Schock beginnt Jennifer
Teege alles zu lesen, was sie über Amon Göth, die
Geschichte der Konzentrationslager und den
Holocaust finden kann. Sie reist nach Polen und
besichtigt die Villa, in der ihr Großvater mit seiner
Geliebten Ruth Irene Kalder, der Großmutter,
ganz in der Nähe des Lagers gelebt hat. Im Gegensatz zu Amon Göth, der 1946 hingerichtet wurde
und den Jennifer Teege nie kennengelernt hat,
hatte die Autorin ein inniges Verhältnis zu ihrer
Großmutter Ruth. Nun muss sie erkennen, dass
die geliebte Großmutter den Schlächter von
Plaszow bis zum Ende verehrt und seine Taten
in Interviews stets verharmlost hat. Im Laufe des
Buches gelingt es Jennifer Teege, die aufgrund
all dieser Erkenntnisse in eine schwere Identitätskrise stürzt, letztendlich in der Auseinandersetzung mit der Mutter Monika Göth und ihrer
Adoptiv-familie Frieden mit ihrer Vergangenheit zu schließen. Sie findet schließlich auch die
Kraft, den Freundinnen in Israel, wo sie mehrere Jahre studiert und gelebt hat, ihre Geschichte
zu erzählen.
Jennifer Teeges von unglaublichen Zufällen
geprägte Lebensgeschichte ist ein unsentimentales Zeitzeugnis des schwierigen Umgangs der
Nachkommen von NS-Tätern mit der eigenen
Herkunft; gleichzeitig ist es auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Adoption. Dabei
wechseln sich der von Jennifer Teege offen und
reflektiert erzählte Aufarbeitungsprozess mit
erklärenden Passagen der Stern-Journalistin
Nikola Sellmair ab, womit der Spagat zwischen
packendem Erlebnisbericht und analytischem
Geschichtswerk gelingt.Ein ausgesprochen
lesenswertes Stück Zeitgeschichte!
Anlässlich des Gedenkjahrs 2014 hat sich der deutsche Schriftsteller und Drehbuchautor Yury
Winterberg gemeinsam mit seiner Frau, der Journalistin Sonya Winterberg, mit der Frage beschäftigt, wie die Kinder in den am Ersten Weltkrieg beteiligten Nationen diese Urkatastrophe
des 20. Jahrhunderts erlebt haben. Aus ihren Forschungen gingen das hier vorliegende Sachbuch Kleine Hände im Großen Krieg sowie eine gleichnamige achtteilige Fernsehserie hervor.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, ist die Generation der Heranwachsenden erstmals
weitgehend alphabetisiert und so beginnen viele Kinder aus anfänglicher Kriegseuphorie ein
Tagebuch zu verfassen und Briefe an Familienmitglieder an der Front zu schreiben. Diese Dokumente bilden die Forschungsgrundlage für die hier versammelten Stimmen sowohl berühmter
Zeitgenossen, wie etwa der späteren Schriftstellerin Anais Nin oder des Regisseurs Alfred
Hitchcock, als auch unbekannter Kindersoldaten, Kinderkrankenschwestern und Schulkinder.
Während zu Beginn in den Schilderungen die Zuversicht in die eigene Armee und ein rasches siegreiches Ende vorherrscht, mischen sich in die Erzählungen der Kinder bald Angst und Not, als die
ersten verwundeten Soldaten beziehungsweise die Front die vormals sichere Heimat erreichen
und die Lebensmittel knapp werden. Unzählige Kinder wachsen in den Jahren des Krieges ohne
Vater auf oder müssen dessen Verwundung oder Tod verarbeiten. Viele beteiligen sich auch aktiv
am Krieg und melden sich, obwohl noch minderjährig, in großer Zahl zum Dienst im Feld, von wo
massenhaft Feldpost zwischen Schützengraben und Heimat hin und her geht, in der die jungen
Soldaten das Grauen kaum in Worte fassen können. Nur wenige von ihnen überleben und werden
von der Propaganda zu Helden stilisiert, wie etwa die Russin Marina Yurlova.
Die Schrecken des Krieges aus der Perspektive von Kindern zu zeigen, ist Yury und Sonya
Winterberg auf anschauliche und bewegende Weise gelungen. Durch die vielfältigen Quellen
ergibt sich das facettenreiche Bild einer Generation, die erstmals mit Luftangriffen, Giftgas und
einem Sterben in ungeahntem Ausmaß konfrontiert ist – und dennoch nur wenige Jahrzehnte
später an einem weiteren Weltkrieg maßgeblich beteiligt sein wird. Obwohl das Buch weitgehend chronologisch gegliedert ist, ist eine vorherige Kenntnis der wesentlichen Ereignisse für
die Lektüre hilfreich.
Thomas D. Seeley
Thomas D. Seeley
Bienendemokratie
Wie Bienen kollektiv entscheiden
und was wir davon lernen können
Aus dem Amerikan.
Frankfurt am Main: Fischer 2014.
317 S.
Jennifer Teege, Nikola Sellmair
Amon
Mein Großvater hätte
mich erschossen
Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 2013.
271 S.
Bienen (gemeint sind Honigbienen) sind ein
exotisches Thema – interessant ausschließlich für
Imker, Insektenforscher und verschrobene Hobbyforscher; ist das so?
Man braucht nicht darauf hinzuweisen, dass
die Honigbienen seit Jahrtausenden Begleiter der
Menschen sind und ihr Produkt seit Ewigkeiten
nicht nur für die Süße im Essen sorgte, sondern ihm
in allen Kulturen auch heilende Wirkung zugeschrieben wurde und in der Alternativmedizin noch
immer wird. Aber leider begleiten diese Sammlerinnen seit einigen Jahren vermehrt schlechte
Nachrichten: vom rätselhaften, bis heute nicht
geklärten Bienensterben war die Rede und selbst
in der österreichischen Innenpolitik spielte die apis
mellifera im letzten Jahr eine wichtige Rolle.
Mit diesem Insekt beschäftigt sich die ausführliche Studie von Thomas D. Seeley, einem renommierten amerikanischen Verhaltensbiologen
und Entomologen und Schüler von Martin Lindauer, der wiederum selbst Doktorand des
berühmten österreichischen Nobelpreisträgers
Karl von Frisch war, der als Erster die Tänze der
Bienen entschlüsselte.
In Seeleys Buch geht es nach einer allgemeinen Einführung über die Honigbienen und etwas
Wissenschaftsgeschichte vor allem aber um
das Thema, wie die Bienen aufgrund einer gemeinschaftlichen Entscheidung (Seeley spricht
eben von Demokratie) die beste Stelle für die
neuen Schwärme ausfindig machen. Dabei muss
eine Einigung innerhalb des Schwarmes erzielt
werden, bevor dieser den neuen Nistplatz
aufsucht und dorthin fliegt. Dieser komplexe
Entscheidungs-findungsprozess war bis dato nicht
bekannt und die Wissenschaft auf Vermutungen
angewiesen. Nicht die Königin spielt hier die
Hauptrolle, sondern Kundschafterinnen, die ihre
«Mitbienen» «demokratisch» überzeugen müssen. Der deutsche Untertitel kommt im englischen
Original nicht vor, aber Überlegungen in die Richtung, wie Menschen von diesen Bienenschwärmen
und ihrer Suche nach Übereinstimmung lernen
können, bilden aber schon ein eigenes Kapitel,
wenn es auch nicht so gewichtet ist wie der
deutsche Untertitel suggeriert.
Es ist ein tolles Buch für Menschen, die sich
für Insekten und/oder Bienen interessieren, vor
allem aber eher für ein Fachpublikum (Biologinnen, Imkerinnen) geschrieben – nicht aufgrund
der Komplexität der Sprache, sondern wegen der
genauen Beschreibung des Phänomens.
Carina Brandstetter
Rainer Grill
70
Besprechungen
Winter 2014/15
Yury und Sonya Winterberg
Kleine Hände im Großen Krieg.
Kinderschicksale
im Ersten Weltkrieg
Berlin: Aufbau-Verlag 2014.
366 S.
Carina Brandstetter
Hercules Tsibis
Hercules Cocktailbar
Hercules Cocktailbar
Hercules Tsibis
Darf man den Angaben des vorliegenden Buches glauben, so handelt es sich bei dem Autor
Herucles Tsibis um einen der «erfahrensten und
erfolgreichsten Barkeeper der Welt»; neben
zahlreichen anderen Auszeichnungen gewann
der gebürtige Grieche im Jahr 2000 die Weltmeisterschaft der Bartender. Unter Mithilfe zahlreicher
Personen entstand schließlich sein erstes Cocktail-Buch, das durchaus zu empfehlen ist. Es enthält über 130 Rezepte, wobei einige davon Ableitungen von sehr bekannten Cocktails sind. So
kann zum Beispiel durch das Ersetzen von CocaCola durch Red Bull aus dem klassischen Long
Island Iced Tea der sogenannten Salzburg Iced Tea
gemixt werden; nimmt man stattdessen Champagner, wird das Mixgetränk zum Beverly Hills Iced
Tea. Im Buch finden sich neben Klassikern wie
Caipirinha, Bloody Mary oder Piña Colada auch
weniger bekannte Cocktails wie Desert Rose oder
Secret of Paris. Im Kapitel «Fitness-Mocktails»
71
Sachbuch
finden sich auch Rezepte für alkoholfreie Cocktails. Abschließend werden noch einige – überflüssige – Zaubertricks präsentiert, mit denen der
Bartender «wohlverdienten Applaus ernten»
könnte (wenn sie nicht derart schlecht und leicht
zu durchschauen wären).
Sehr praktisch, wenn auch nicht wahnsinnig
geschmackvoll umgesetzt, sind die bei den meisten der Cocktails angeführten QR-Codes, die zu
Videos führen, in denen Hercules Tsibis das
entsprechende Getränk zubereitet. Das Register
teilt sich sinnvollerweise in ein herkömmliches,
alphabetisches Rezeptregister und in ein Spirituosenregister (Drinks mit Gin, Wodka, Rum,
Tequila, Whiskey, Cognac, Aperol, Campari,
Wermut und Champagner). Vor dem eigentlichen
Rezeptteil werden das (teilweise nicht unbedingt) benötigte Equipment, die unterschiedlichen
Glas-Formen und eine Grundausstattung für eine
wohlsortierte Hausbar beschrieben.
Insgesamt ein sehr brauchbares Cocktail-Buch.
Zu bemängeln ist lediglich die dunkelrote Farbe
der Zwischenüberschriften, die das Lesen auf
grauem Hintergrund erschwert.
Katharina Marie Bergmayr
München: Südwest-Verlag 2013.
128 S.
Büchereien Wien – Standorte
Schlank mit Kräutern
Meine besten Rezepte zum Abnehmen
Melanie Wenzel
Melanie Wenzel
Schlank mit Kräutern. Meine
besten Rezepte zum Abnehmen
München: Gräfe und Unzer 2014.
192 S.
Zirkusgasse: 1020, Zirkusgasse 3, T 01-4000-02165 oder
Breitnerhof: 1140, Linzer Straße 309, T 01-4000-14165
Engerthstraße: 1020, Engerthstraße 197/5, T 01-4000-02 161
Schwendermarkt: 1150, Schwendergasse 39–43, T 01-4000-15161 Erdbergstraße: 1030, Erdbergstraße 5–7, T 01-4000-03 161
Meiselmarkt: 1150, Hütteldorfer Straße 81a, T 01-4000-15165
Die in Köln lebende Melanie Wenzel ist zertifizierte Heilpraktikerin und seit 2004 als Kräuterexpertin für die Sendung «Daheim und unterwegs»
beim WDR tätig. 2013 erschien ihr erstes Buch
Meine besten Heilpflanzenrezepte für eine gesunde
Familie. In ihrem neuen Buch Schlank mit Kräutern
präsentiert sie den Lesern wieder neue Rezepte,
diesmal rund um das Thema Kräuter.
Nach einer grundsätzlichen Einführung zum
Thema gesunde Ernährung folgt eine übersichtliche und ausführliche Präsentation von etwa 30
wegen ihrer speziellen Bedeutung für die Ernährung ausgesuchten Kräutern. Diese finden sich
in alphabetischer Reihenfolge, jeweils versehen mit einem ansprechenden Foto sowie einer
Kurzbeschreibung zu Vorkommen, Aussehen,
Geschmack und Wirkungsweise. Praktisch sind
die farblich abgesetzten Hinweise «Küchentipp»
für eine gezieltere Verwendung und «Vorsicht»
bei Kräutern, die bei Schwangerschaft oder
bestimmten Erkrankungen eine kontraproduktive Wirkung haben. Von Gänseblümchen über
Portulak bis zur exotischen Moringa ist für jeden Gaumen etwas dabei. Die Wirkung der
Kräuter differiert entsprechend ihren Inhaltsstoffen unter anderem von appetitzügelnd über
stoffwechselanregend bis fettverbrennend.
Als Homöopathin sieht Wenzel in diesen einfachen Hilfsmitteln aus dem Garten eine ideale
und preiswerte Unterstützung für die Zubereitung von geschmackvollen Mahlzeiten.
Danach folgen ca. 70 unkomplizierte Rezepte,
wobei einige über den Schwierigkeitsgrad von
hausgemachten Kartoffelchips nicht hinausgehen.
Viele schnelle Salate, Aufstriche, Marmeladen
und Suppen stehen Seite an Seite mit IngwerTartar-Bällchen, Dill-Forelle und Hirseauflauf mit
Thymian. Allen Speisen gemein ist die großzügige
Verwendung von Kräutern, die – gesünder und
langfristiger als eine radikale Diät – den Abnehmprozess unterstützen sollen. Wenzel engagiert sich
für einen bewussteren Umgang mit Nahrungsmitteln und so ist ihr in launigem Gesprächston verfasstes Buch ein Plädoyer für gesunde Ernährung.
Das Buch selbst ist nach dem bewährten G&U
Konzept gestaltet. Es verfügt über ein wunderschönes, farblich stimmiges Layout samt knackig
grünem Cover und lädt den Leser zum Blättern,
Schmökern und Ausprobieren ein. Die FoodStylisten haben in dem in Pastelltönen gehalten
Ratgeber gute Arbeit geleistet. Die Fotos zum
jeweiligen Rezept sind appetitlich und regen zum
Nachkochen an.
0676-8118 63804, [email protected]
oder 0676-8118 63840, [email protected]
oder 0676-8118 63812, [email protected]
Fasanviertel: 1030, Fasangasse 35–37, T 01-4000-03168 oder
0676-8118 63805, [email protected]
Rabenhof: 1030, Rabengasse 6, T 01-4000-03 165
oder 0676-8118 63807, [email protected]
Wieden: 1040, Favoritenstraße 8, Eingang Paulanergasse 1,
T 01-4000-04 161 oder 0676-8118 63806,
[email protected]
Margareten: 1050, Pannaschgasse 6, T 01-4000-05 161 oder
0676-8118 63808, [email protected]
Mariahilf: 1060, Gumpendorfer Straße 59–61, T 01-4000-06161
oder 0676-8118 63810, [email protected]
Hauptbücherei am Gürtel: 1070, Urban-Loritz-Platz 2a,
T 01-4000-84500, [email protected]
Alsergrund: 1090, Simon-Denk-Gasse 4–6, T 01-4000-09161
oder 0676-8118 63813, [email protected]
Im Bildungszentrum Simmering: 1110, Gottschalkgasse 10,
0676-8118 63836, [email protected]
Hernals: 1170, Hormayrgasse 2, T 01-4000-17 162 oder
0676-8118 63839, [email protected]
Währing: 1180, Weimarer Straße 8, T 01-4000-18 161 oder
0676-8118 63841, [email protected]
Billrothstraße: 1190, Billrothstraße 32, T 01-4000-19 162
oder 0676-8118 63853, [email protected]
Heiligenstadt: 1190, Heiligenstädter Straße 155, T 01-4000-19165 oder 0676-8118 63843, [email protected]
Pappenheimgasse: 1200, Pappenheimgasse 10–16,
T 01-4000-20161 oder 0676-8118 63847,
[email protected]
Leystraße: 1200, Leystraße 53, T 01-4000-20165 oder
T 01-4000-10 161 oder 0676-8118 63816,
[email protected]
oder 0676-8118 63835, [email protected]
Ottakring: 1160, Schuhmeierplatz 17, T 01-4000-16165 oder
Hasengasse: 1100, Hasengasse 38, T 01-4000-10 165 bzw. 10 166
Laxenburger Straße: 1100, Laxenburger Straße 90a,
oder 0676-8118 63831, [email protected]
Sandleiten: 1160, Rosa-Luxemburg-Gasse 4, T 01-4000-16161
oder 0676-8118 63814, [email protected]
oder 0676-8118 63827, [email protected]
oder 0676-8118 63832, [email protected]
Per-Albin-Hansson-Siedlung: 1100, Ada-Christen-Gasse 2,
T 01-4000-10168 oder 0676-8118 63815,
[email protected]
0676-8118 63845, [email protected]
Schlingerhof: 1210, Brünner Straße 36, T 01-4000-21161
oder 0676-8118 63848, [email protected]
Großjedlersdorf: 1210, Brünner Straße 138, T 01-4000-21163
oder 0676-8118 63852, [email protected]
Großfeldsiedlung: 1210, Kürschnergasse 9, T 01-4000-21165
oder 0676-8118 63850, [email protected]
T 01-4000-11 165/66 oder 0676-8118 63818,
[email protected]
Donaustadt: 1220, Bernoullistraße 1, T 01-4000-22 161
Am Leberberg: 1110, Rosa-Jochmann-Ring 5, T 01-4000-11 162
Stadlau: 1220, Erzherzog-Karl-Straße 169, T 01-285 65 51
oder 0676-8118 63819, [email protected]
Am Schöpfwerk: 1120, Am Schöpfwerk 29, T 01-4000-12 164
oder 0676-8118 63821, [email protected]
Philadelphiabrücke: 1120, Meidlinger Hauptstr. 73,
Einkaufszentrum Arcade Meidling, T 01-4000-121 60,
[email protected]
Hietzing: 1130, Hofwiesengasse 48, T 01-4000-13161
oder 0676-8118 63826, [email protected]
Penzing: 1140, Hütteldorfer Straße 130d, T 01-4000-14 161,
[email protected]
oder 0676-8118 63849, [email protected]
oder 0676-8118 63846, [email protected]
Kaisermühlen: 1220, Schüttaustraße 39, T 01-4000-22164 oder
0676-8118 63803, [email protected]
Aspern: 1220, Siegesplatz 7, T 01-4000-22168 oder
0676-8118 63851, [email protected]
Alterlaa: 1230, Anton-Baumgartner-Straße 44 (Wohnpark
Top 48), T 01-4000-23165 oder 0676-8118 63856,
[email protected]
Liesing: 1230, Breitenfurter Straße 358, T 01-4000-23 161
oder 0676-8118 63854, [email protected]
Impressum
Medieninhaber und Verleger
Verein der Freunde der Büchereien Wien, unterstützt von
der Magistratsabteilung 13 und dem Bundesministerium
für Unterricht, Kunst und Kultur.
Für den Inhalt verantwortlich: Markus Feigl
Bildnachweis
S. 1 und 4 © Alles Frisch: neue Erzählungen aus Finnland
Umschlagabbildung © plainpicture/Gorilla
Redaktion
Monika Reitprecht
Adresse der Redaktion
Urban Loritz-Platz 2a, 1070 Wien
T +43-1-4000-845 67
[email protected]
Bettina Raab
Grafische Gestaltung
Martha Stutteregger
Designassistenz
Anna Kranebitter
72
Besprechungen
Winter 2014/15
73
Belletristik
www.buechereien.wien.at
www.kirango.at
www.virtuellebuecherei.wien.at
www.facebook.com/buechereien.wien
www.twitter.com/buechereiwien
Verein der Freunde
der Büchereien Wien
Besprechungen 5
Inhalt
1 «Coole Geschichten aus dem hohen Norden»
Finnland zu Gast bei der Frankfurter Buchmesse 2014
Belletristik
6
Mário de Andrade Macunaíma
6
Milena Agus Die Welt auf dem Kopf
7
Johan Bargum Septembernovelle
7 Theodora Bauer Das Fell der Tante Meri
8
Frank Bill Cold Hard Love
8 Nadja Bucher Die wilde Gärtnerin
8
Sorj Chandalon Rückkehr nach Killybegs
9
James Carlos Blake Das Böse im Blut
9 Bonnie Jo Campbell Stromschnellen
10Erri De Luca Fische schließen nie die Augen
10Andrea Drumbl Narziss und Narzisse
10Jean Echenoz 14
11Giorgio Faletti Falsches Spiel
11T. J. Forrester Kings of Nowhere
12Karl-Markus Gauß Das Erste, was ich sah
12Paolo Giordano Der menschliche Körper
12Andrew Sean Greer Ein unmögliches Leben
13Norbert Gstrein Eine Ahnung vom Anfang
13Woody Guthrie Haus aus Erde
14Gertraud Klemm Herzmilch
14Helene Hegemann Jage zwei Tiger
15Wolfgang Herrndorf Arbeit und Struktur
15Evelina Jecker Lambreva Vaters Land
15Tim Krohn Aus dem Leben einer Matratze bester Machart
16 Ben Lerner Abschied von Atocha
16 Lorenz Langenegger Bei 30 Grad im Schatten
17Sung-U Lee Das verborgene Leben der Pflanzen
17Ulla-Lena Lundberg Eis
18Arto Paasilinna Der Mann mit den schönen Füßen
18Tanja Maljartschuk Biografie eines zufälligen Wunders
19Georges Perec Der Condottiere
19Colum McCann TransAtlantik
20Mike Mignola Joe Golem und die versunkene Stadt
20Walther Rode Der Fall der Baronin Bibu 20Parinoush Saniee Was mir zusteht
21David Schönherr Der Widerschein
21Noam Shpancer Der glücklose Therapeut
22Zadie Smith London NW
23Bettina Spoerri Konzert für die Unerschrockenen
23Marlene Streeruwitz Nachkommen
23Justin Torres Wir Tiere
24Erwin Uhrmann Ich bin die Zukunft
24Andreas Unterweger Das Kostbarste
25Birgit Vanderbeke Der Sommer der Wildschweine
25Dimitri Verhulst Der Bibliothekar, der lieber dement war
Belletristik – Krimi und Thriller
Aldo Cazzullo Bitter im Abgang
Hermann Bauer Lenauwahn
Gillian Flynn Gone Girl
Sven Koch Totenmond
Louise Erdrich Das Haus des Windes
Henning Mankell Mord im Herbst
Jutta Mehler Mord und Mandelbaiser
Dror Mishani Vermisst
Sabine Naber Caddielove
C.S. Forester Tödliche Ohnmacht
Andreas Pittler Charascho
Nic Pizzolatto Galveston
Petra Reski Palermo Connection
Karin Wahlberg Tod in der Walpurgisnacht
Chris Womersley Beraubt
26 26 27 27 28 28 29 29 29 30 30 31 31 32 32 Kinderbuch – Bilderbuch und Sachbilderbuch
33 An Mac Barnett, Jon Klassen Extragarn
33 Nadia Budde Und irgendwo gibt es den Zoo
34 Nadia Budde Tierisch zahlreich
34 Owen Davey Laika
35 Torben Kuhlmann Lindbergh
35 Paul Fleischman, Bagram Ibatoulline Das Streichholzschachtel-Tagebuch
36 Timothy Knapman, David Tazzyman Ellis Augenbrauen
36 Christine Knödler Ich schenk dir die Farben des Windes
37 Norman Messenger Das Land Manglaubteskaum
37 Lorenz Pauli, Kathrin Schärer Das Beste überhaupt
74
Besprechungen
38 38 39 39 40 40 41 Michael Roher Wer stahl dem Wal sein Abendmahl?
Viola Rohner, Dorota Wünsch Das Wild im Marmeladenglas
Lemony Snicket, Jon Klassen Dunkel
Guido Van Genechtte Mamas mit ihren Kindern
Claudia de Weck, Georg Kohler Jakob, das Krokodil
Vincent Cuvellier, Charles Dutertre Das erste Mal in
meinem Leben...
Shaun Tan Die Regeln des Sommers
Sharon M. Draper Mit Worten kann ich fliegen
Lena Avanzini Hugo, streck die Fühler aus!
Rosemarie Eichinger Essen Tote Erdbeerkuchen?
Levi Henriksen Astrids Plan vom großen Glück
Timo Parvela Ella und der Millionendieb
Holly-Jane Rahlens Stella Menzel und der goldene Faden
Jens Rassmus Kann ich mitspielen?
Geoff Rodkey Dreckswetter und Morgenröte
Geckos große Geschichtenwelt
42 42 43 43 44 44 45 45 46 Kinderbuch – Erzählendes
Kinderbuch – Sachbuch
47 47 48 48 49 49 50 50 Aleksandra Mizielinska, Daniel Mizielinski Alle Welt
Françoize Boucher 59 gute Gründe Bücher zu lieben,
auch wenn du Lesen hasst!
Anna Claybourne Die 100 tödlichsten Dinge der Welt
Christian Dreller Haben Elefanten wirklich Angst vor Mäusen? Sonja Eismann, Chris Köver, Daniela Burger Glückwunsch,
du bist ein Mädchen
Jan von Holleben Denkste?!
Claudia Huboi, Susanne Nöllgen Kritzeln, krakeln, schreiben
Valerie Wyatt Die Bademattenrepublik
Jugendbuch
51 51 52 52 53 53 54 54 55 55 Stefan Casta Am Anfang war das Ende
Tamara Bach Marienbilder
Martin Baltscheit Die besseren Wälder
Peter Härtling Hallo Opa – Liebe Mirjam
Polly Horvath Wie wir das Universum reparierten
Christine Knödler, Stefanie Harjes Warum ist Rosa kein Wind?
Ulrike Leistenschneider Liebe ist ein Nashorn
David Levithan Letztendlich sind wir dem Universum egal
Patrick Ness Mehr als das
Andreas Schulze Herr Ostertag macht Geräusche
Sachbücher
56 Stephen Grosz Die Frau, die nicht lieben wollte 56 DAYlicious: 1 Tag, 5 Blogs, 50 Rezepte, 1000 Ideen
57 Barbara Allmann Salvestrole
57 Stefan Benedik Die imaginierte «Bettlerflut»
58 Steffen Bruendel Zeitenwende 1914
59 Ella Berthoud, Susan Elderkin Die Romantherapie
59 Evelyne Bloch-Dano Die Sehnsucht im Herzen der Artischocke
59 Anthony Bruno Der Iceman
60 Robert Burdy, Philippe Orban Das Aikido-Prinzip
60 Egon Schwarz Wien und die Juden – Essays zum Fin de siècle
61 Edgard Haider Wien 1914 – Alltag am Rande des Abgrunds
62 Alma Hannig Franz Ferdinand – Die Biografie
62 Gerhard Falschlehner Die digitale Generation
63 Arthur Fürnhammer, Peter M. Mayr Tschocherl Report
63 Gerhard Jelinek Schöne Tage 1914
64Christoph Lauwigi Wikinger selbst erleben!
64 Gabriele Lukacs Wien – Geheimnisse einer Stadt
65 Laurenz Lütteken Richard Strauss. Die Opern
65 Ian Mortimer Im Mittelalter
66 Peter Payer Unterwegs in Wien
66 Peter Peter Kulturgeschichte der österreichischen Küche
67Helge Sobik Der Mann der mit den Stürmen spricht
67 Claudio Del Principe, Katharina Seiser Italien vegetarisch
68Rudolf Taschner Die Zahl, die aus der Kälte kam
68 Iris Radisch Camus – Das Ideal der Einfachheit
69 Jonas Reif, Christian Kress, Jürgen Becker
Blackbox Gardening
69 Johannes Sachslehner 1918 – Die Stunden des Untergangs
70Thomas D. Seeley Bienendemokratie
70 Jennifer Teege, Nikola Sellmair Amon
71 Yury & Sonya Winterberg Kleine Hände im Großen Krieg
71 Hercules Tsibis Hercules Cocktailbar
72Melanie Wenzel Schlank mit Kräutern
Winter 2014/15