Aktuelle Formen und Perspektiven

Transcrição

Aktuelle Formen und Perspektiven
Religion jenseits religiöser Institutionen
im Spannungsfeld von Weltlichkeit und Transzendenz:
Aktuelle Formen und Perspektiven individualisierter Religiosität
DISSERTATION
der Universität St. Gallen,
Hochschule für Wirtschafts-,
Rechts- und Sozialwissenschaften
sowie Internationale Beziehungen (HSG)
zur Erlangung der Würde einer
Doktorin der Sozialwissenschaften
vorgelegt von
Elsbeth Steiner-Arnet
von
Grosswangen (Luzern)
Genehmigt auf Antrag der Herren
Prof. Dr. Franz Schultheis
und
Prof. Dr. Thomas S. Eberle
Dissertation Nr. 4245
Ziegler Druck- und Verlags-AG Winterthur 2013
Die Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwisssenschaften sowie Internationale Beziehungen (HSG) gestattet hiermit die
Drucklegung der vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin ausgesprochenen Anschauungen Stellung zu nehmen.
St. Gallen, den 22. Oktober 2013
Der Rektor:
Prof. Dr. Thomas Bieger
2
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsübersicht ………………………………………………..
3
Zusammenfassung/Summary ……………………………….
6
Vorwort ………………………………………………………..
7
1
Einleitung …………………………………………………
1.1
1.2
1.3
8
Problemlage …………………………………………… 10
Ziel der Dissertation ………………………………….. 14
Aufbau der Arbeit ……………………………………... 16
Theoretischer Teil …………………………………………… 20
2
3
4
Klärung von Begriffen …………………………………… 21
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
Religion ……………………………………………….
Religiosität …………………………………………….
Spiritualität …………………………………………….
Volksfrömmigkeit ……………………………………..
Religiöses Feld ………………………………………..
22
26
28
29
30
Theoretische Positionen …………………………………. 32
3.1
3.2
3.3
3.4
Theoretische Grundlagen ………………………………
Klassiker der Religionssoziologie ……………………..
Aktuelle theoretische Ansätze …………………………
Theoriengenerierung …………………………………..
33
35
39
42
Das methodische Vorgehen ……………………………… 44
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
Forschungsansatz ………………………………………
Die Studienteilnehmenden …………………………….
Erhebung der Daten ……………………………………
Datenaufbereitung …………………………………….
Transversale Inhaltsanalyse ……………………………
45
50
53
56
57
3
Empirischer Teil …………………………………………….. 60
5 Analysen der einzelnen Interviews …………………...... 61
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
5.7
5.8
5.9
5.10
5.11
5.12
5.13
5.14
5.15
5.16
5.17
5.18
5.19
5.20
6
4
Anna S. Ikebana-Lehrerin ……………………………..
Miriam K. Pflegefachfrau im Spitexdienst ……………
Julia O. Handwebmeisterin ……………………………
Barbara M. Unternehmerin ……………………………
Sabine K. Pädagogin …………………………………..
Johanna L. Musikerin, Sekretärin ……………………..
Carole R. Architekturstudentin ………………………..
Patrizia G. Gymnasiastin ………………………………
Paul F. Biobauer ……………………………………….
Josef H. Theologe, Schriftsteller ………………………
Robert H. Gärtnermeister ……………………………..
Lukas S. Orthopädietechniker, Unternehmer ………….
Bruno B. Dr. oec. HSG, Unternehmensberater ………..
Daniel G. Freischaffender Journalist, Regisseur ………
Matthias S. Doktorand der Philosophie ……………….
Joshua W. Schüler …………………………………….
Eva K. Physikerin ……………………………………..
Laura B. Doktorandin BWL …………………………...
Max H. Chemiker ……………………………………..
Mario Z. Grafiker …………………………………......
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196
206
215
225
226
227
228
Transversale Inhaltsanalyse …………………………….. 230
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
Religion und Gesellschaft …………………………….
Religion und Umfeld ………………………………….
Religion im biografischen Kontext ……………………
Bezug zu transempirischen Kräften …………………..
Religiöse Praxis ……………………………………….
Fokus ›Religion‹ ………………………………………
6.6.1 Religion als Anlage ……………………………….
6.6.2 Gegenwart und Zukunft des Christentums …………
6.6.3 Wissen über das Christentum ……………………..
6.6.4 Geltung anderer Religionen ……………………….
6.6.5 Religion und Natur ……………………………….
231
239
251
265
271
278
278
279
286
288
288
Fazit ……………………………………………………………. 292
7 Schlussfolgerungen ……………………………………… 293
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5
Die Transversale Inhaltsanalyse im Überblick …………
7.1.1 Religion und Gesellschaft …………………………
7.1.2 Religion und Umfeld ……………………………...
7.1.3 Religion im biografischen Kontext ………………..
7.1.4 Bezug zu transempirischen Kräften ……………….
7.1.5 Religiöse Praxis …………………………………..
7.1.6 Fokus ›Religion‹ ………………………………….
Zur Lage im religiösen Feld …………………………..
Kritische Würdigung des Christentums ……………….
Aktuelle Formen individualisierter Religiosität ………
Perspektiven für Religion und Religiosität ……………
7.5.1 Die Zukunft des institutionalisierten Christentums …
7.5.2 Neue Gesellschaftsformen von Religion …………...
7.5.3 Zukunftsweisende Modelle von Religiosität ………
294
294
295
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298
300
301
303
305
308
312
312
317
322
Literaturverzeichnis ………………………………………….. 328
Webverzeichnis ……………………………………………….. 335
Abkürzungsverzeichnis ……………………………………… 336
Anhangverzeichnis ……………………………………… 337
5
Zusammenfassung
Diese Dissertation geht der Frage nach, was Religion ausserhalb religiöser
Institutionen vor dem Hintergrund unserer hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft zu bewirken vermag. In diesem Kontext nimmt der empirische
Forschungsbeitrag ein Thema aus der individualisierten Religion auf, nämlich
Konfigurationen und Perspektiven aktueller Religiosität unter den spätmodernen
Bedingungen der Gegenwart, die durch den Prozess des Wechsels von der
Industrie- zur Informationsgesellschaft gekennzeichnet ist. Die Arbeit dokumentiert einen Ausschnitt dieses Geschehens, indem in einer qualitativen Studie eine
Gruppe von 20 Personen darüber Auskunft gibt, welchen Platz Religion im
Allgemeinen und Religiosität im Besonderen in ihrer Lebenswelt einnimmt.
Dabei interessieren sowohl die persönliche Konstruktionsleistung eines Individuums im religiösen Feld als auch die sich daraus ergebenden Perspektiven für
die Schaffung neuer und zukunftsfähiger Sozial- und Individualformen von
Religion.
Summary
This dissertation considers the question of the effect of religion beyond religious
institutions against the background of our highly differentiated society. In this
context, the empiric research contribution includes a specific topic of the
individualized religion: personal configurations and perspectives of current piety
under late modern conditions of the present, which are characterized by the shift
from the industry society to the information society. This study documents an
excerpt of this occurrence by a qualitative study. Therefore, a group of 20
people provided information about the importance of religiosity in general and
in particular regarding their life world. Thereby, both the personal constructivism of an individual in the religious field and the resulting perspectives for
creating new and sustainable social and individual forms of religion were of
great interest.
6
Vorwort
Der vorliegende Beitrag bildet den Abschluss einer intensiv erlebten Zeitspanne,
die mit der Absicht begann, ein Doktoratsstudium in Angriff zu nehmen. Um
das anspruchsvolle Projekt in die Tat umzusetzen, waren neben der Bereitschaft,
sich unbekannten Herausforderungen zu stellen, erst einmal Mut und Ausdauer
gefragt. In der Folge galt es dann, mein langjähriges Interesse am Thema individualisierte Religion und Religiosität im Kontext des 21. Jahrhunderts innovativ
zu erweitern, Wissen und Ideen zu bündeln und das Ganze in eine angemessene
Form zu bringen. Der Weg dazu verlief nicht immer gradlinig, erwies sich aber
als lehrreich. Etliches blieb unverwirklicht, es gab Hindernisse zu überwinden,
doch es kamen auch fruchtbare Auseinandersetzungen und überraschende neue
Erkenntnisse dazu. Bis zum Schluss blieb der Forschungsprozess spannend.
Im Entstehungsverlauf eines so aufwändigen Unterfangens nimmt neben
den eigenen Aktivitäten das Umfeld eine unverzichtbare Position ein. Ich danke
deshalb dem Referenten, Herrn Professor Dr. Franz Schultheis, für die stets
überlegene und geduldige Begleitung, mit den wertvollen Ratschlägen sowie
Anregungen zu inhaltlichen wie methodischen Gesichtspunkten der Dissertation.
Auch dem Zweitreferenten, Herrn Professor Dr. Thomas Eberle, gebührt Dank
für sein Interesse am Projekt und den Hilfestellungen in der letzten Phase der
Arbeit. Auch der Familie und dem Freundeskreis danke ich für die verlässliche
Unterstützung sowie die zahlreichen aufmunternden Stellungsnahmen. Ganz
besonderen Dank verdienen die Studienteilnehmenden, welche mir nicht nur zu
wertvollen Informationen verholfen haben, sondern auch zu Begegnungen, die
eine echte Bereicherung darstellen. Das Unternehmen insgesamt brachte mir
eine Horizonterweiterung, die ich im Vorfeld des Projekts in diesem Umfang
nicht erwartet hatte.
7
1 Einleitung
Diese Dissertation ist das Ergebnis eines langfristigen Interesses der Autorin an
Fragen der Religion, welchen sie seit dem Jahr 1999 mit Mitteln wissenschaftlicher Reflexion und Forschung systematisch sowie methodisch nachgeht. Es
liegt auf der Hand, dass eine derartige persönliche, ja biografische Verbundenheit mit der Thematik auch Probleme aufwirft. Zwar erweist sich diese Affinität
als Quelle von Motivation und Antrieb, die absolut erforderlich sind, um sich
überhaupt an ein mehrjähriges, intensives Forschungsunternehmen zu wagen.
Gleichzeitig birgt diese Nähe aber auch die Gefahr, implizit oder explizit
subjektive Konzeptionen und Repräsentationen des Gegenstands in die Arbeit
einfliessen zu lassen und damit gegen das Gebot wissenschaftlicher Wertfreiheit
zu verstossen. Eine solche Konstellation bedarf daher während des ganzen
Forschungsprozesses einer erhöhten theoretischen und methodologischen Wachsamkeit, die sich gut mit der Notwendigkeit von »Engagement und Distanzierung« (Norbert Elias) beschreiben lässt. Engagement in Form von Neugier,
Ausdauer, Begeisterung und Entschlossenheit sind unerlässliche Grundlagen für
die gelingende Durchführung einer Forschungsunternehmung. Die Distanzierung ergibt sich erstens aus der ständigen Reflexion auf die Voraussetzungen
des Engagements sowie die Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Argumentation. Und zweitens legt die Menge der gewonnenen Eindrücke und Daten es
nahe, sich bis zu einem gewissen Grad an einen »methodologischen Agnostizismus« zu halten, wie ihn Hubert Knoblauch (1999) definiert: »Wissenschaftliche
Untersuchungen müssen die letzten Wahrheitsansprüche der Aussagen ihrer
Untersuchungssubjekte einklammern.« (1999, S. 14). Einschränkend bemerkt
Knoblauch, dass es zwar fast unmöglich sei, einem vollständigen Agnostizismus
zu folgen, doch »ist dieses Prinzip wenigstens als Maxime und Leitsatz unumgänglich.« (1999, S. 15). Ein weiterer Faktor, der Forschende dazu bringt, auf
dem Boden der Realität zu bleiben, ist das in fast allen gesellschaftlichen
Feldern zunehmende Gewicht der Kontingenz als Signum unserer Zeit, was die
brüchig gewordene Bedeutung religiöser Systeme besonders deutlich macht,
ohne damit ihre Komplexität zu reduzieren. Nicht vergessen werden darf auch,
8
dass die Religionssoziologie durch ihre fast vollständige Fokussierung auf das
Christentum nur eine beschränkte Aussagekraft besitzt und sie dadurch kein
Gesamtbild der Relevanz religiöser Konzeptionen liefern kann. Entstanden ist
aus diesen und vielen weiteren Überlegungen eine empirische Arbeit, welche
unsere eigene Religion jenseits entsprechender Institutionen zum Anlass nimmt,
um aktuelle Formen und Perspektiven individualisierter Religiosität zu
erforschen, die in der Gegenwart mehr denn je und in erheblichem Mass dem
Spannungsfeld von Weltlichkeit und Transzendenz überlassen ist.
Als Zugangsweg zum Gegenstand wurde eine qualitativer Ansatz gewählt,
weil die wohl etwas weniger aufwändige quantitative Lösung die Tiefenstrukturen von Religiosität und die subjektiven Deutungen der Studienteilnehmenden
nicht hätte abdecken können. Auch bedingt die Bearbeitung des hochdifferenzierten Kulturgutes Religion einen multidimensionalen Zugang, schon, weil
Religion durch ihre sehr frühe Entstehung in der Menschheitsgeschichte von der
Mikro- bis zur Makroebene zahllose existentielle Bezüge und Verbindungen zu
Individuum und Gesellschaft geschaffen hat, die mit einer einseitigen Betrachtungsweise nicht zu erfassen sind. Entsprechend diesen Vorgaben galt es, die
vielschichtige Thematik von der Bottom-up-Perspektive her in einer Weise
aufzubereiten, dass eine möglichst authentische Rekonstruktion religiöser und
ethisch motivierter Erfahrungen entstehen konnte, welche gleichzeitig den
Ansprüchen an die Lesbarkeit des Beitrags genügt.
9
1.1 Problemlage
Über Jahrhunderte hinweg erhob sich Europa zum Mittelpunkt der Welt und
liess die Kirche an seiner Macht teilhaben. Auf antiken, jüdischen und griechischen Fundamenten schuf das institutionalisierte Christentum ein monarchisch
bestimmtes Religionsmodell mit einem Gott, welcher als Abbild des Menschen
auftritt. Die mittels einer durchkonstruierten Dogmatik untermauerte Konzeption
schloss von Beginn weg die Etablierung einer Diskurskultur zwischen Experten
und Laien aus, vielmehr fand die asymmetrische Kommunikation ihre logische
Rechtfertigung in der göttlichen Offenbarung, die keine weltlichen Deutungen
zulässt, sondern Glaube verlangt. Durch den Säkularisierungsprozess begann in
hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften ›Religion‹ im konzeptuellen,
normativen wie empirischen Sinn immer unbestimmter, das Monopol der Welterklärung durch die Kirchen definitiv Geschichte zu werden. Die Zeiten, in
denen das institutionalisierte Christentum in seinen ehemaligen Kernländern die
Funktion einer identitätsstiftenden Klammer ausübte, sind Vergangenheit; die
Statistiken der letzten 50 Jahre sprechen da eine deutliche Sprache.1 Die Kirchen
versuchen seither mit verschiedenen Mitteln Gegensteuer zu geben, indem sie
zum einen mit verstärkten restaurativen Tendenzen einen Weg rückwärts in die
Zukunft suchen. Zum anderen möchten die Taktgeber die Dialektik zwischen
Religion und Gesellschaft entschärfen, indem sie sich offen für Reformen
zeigen, welche allerdings bis jetzt auf das Anritzen von Oberflächenstrukturen
beschränkt blieben und nicht bis zu den Tiefenstrukturen der christlichen Lehre
gelangen konnten.
Als anschauliches Beispiel für den Traditionsabbruch im institutionalisierten Christentum und als erhellender Einstieg in die der Dissertation zugrunde
liegende Thematik sei hier kurz die prekäre Lage der reformierten Kirche der
Stadt Zürich kommentiert. In der ehemaligen Zwinglihochburg Zürich zeigt sich
symptomatisch, welche Markierungen im religiösen Feld die Wechselwirkungen
zwischen Makro-, Meso- und Mikroebene zu setzen vermögen, wenn es um den
1
10
Siehe dazu Anhänge 1-4, S. 337-340.
Ist- und Sollzustand der christlichen Institutionen geht. Weil sich ihre Lage
durch den Mitgliederschwund nicht nur von der Demografie her, sondern auch
finanziell dramatisch zuspitzt, initiierte die Zentralkirchenpflege der »Reformierte Kirche der Stadt Zürich« unter dem Titel »reform 2009-16« den Prozess
einer tiefgreifenden Strukturveränderung. Unter anderem sammelt nun eine
hochkarätig besetzte Kommission ein Ensemble von Ideen, wie die 47 Gotteshäuser auf Stadtzürcher Boden auf zehn bis zwanzig zu reduzieren und die restlichen sinnvoll umzunutzen sind. Bei einem Wettbewerb beteiligte sich zum
Beispiel die Bevölkerung mit 58 Umnutzungsvorschlägen für die Kirche Wollishofen, von denen die Jury drei Siegerentwürfe prämierte. In einem weiteren der
sechs Reformprojekte wurden Vorschläge erarbeitet, wie sich die Organisation
der 34 Kirchgemeinden möglichst ohne Substanzverlust auf sieben bis fünfzehn
verschlanken lässt, was zu heftigen Reaktionen führte, denn die kulturelle Präsenz des Christentums ist für viele Gläubige identisch mit ihrer Gemeinde und
der dazugehörigen Kirche. Den mit einem solch radikalen Wandel verbundenen
Verlust an Heimat möchten die Verantwortlichen mit zeitgemässen Angeboten
kompensieren, welche auch kirchenferne Bevölkerungskreise ansprechen sollen.
Dieser kurze Einblick in aktuelle Aufgaben von Kirchenbehörden und deren
Umgang mit harten Fakten legt nahe, dass rein pragmatisch ausgerichtete Zäsuren nicht genügen, vielmehr Visionen gefragt sind, wenn es um die künftige
Gestalt der christlichen Institutionen geht.
Wie sehen nun die Konsequenzen dieser Entwicklungen im religiösen Feld
für Individuum und Gesellschaft aus? Wir sind zwar durch den Prozess der Säkularisierung theoretisch aus dem religiösen Paradies in die Selbstverantwortung
und Selbstermächtigung entlassen worden, können uns aber ›draussen‹ noch
nicht ganz zurechtfinden, was Ratlosigkeit, Verunsicherung sowie ein Zurückschrecken vor reflexiver Distanz zu liebgewonnenen Automatismen des Kinderglaubens bewirken kann. Dazu kommt, dass Religionen sich mit der Globalisierung schwer tun, wir jedoch in einer globalisierten Welt leben, was zu einem
Vakuum führt. Traditionelle Orientierungsmuster für die Lebensführung bröckeln und werden durch ein labiles Gleichgewicht säkularer Werte ersetzt. Die
11
hinterlassenen Leerstellen bringen Individuen dazu, immer häufiger zum
Schöpfer ihrer Religion zu werden, wobei nicht davon auszugehen ist, dass sie
ihre autonom-individuelle Religiosität als Demiurgen aus dem sozialen Nichts
heraus schaffen. Vielmehr sind es der lange Atem der soziohistorischen
Zusammenhänge und die permanente Interaktion zwischen den Akteuren in den
verschiedenen Feldern, welche den Ausgangspunkt eines religiösen Weges
jenseits entsprechender Institutionen kennzeichnen. Dieses Geflecht von Parametern bietet sich in der konkreten Situation dieser Arbeit als Inspiration für die
wissenschaftliche Fragestellung an.
Diese komplexe Problemlage stellt die religiösen Institutionen vor die
Tatsache, dass immer mehr Menschen die Kirche verlassen und ihren Glauben
ungebunden und individuell leben. Daraus ergibt sich für die Untersuchung eine
ganze Reihe von Forschungsfragen, welche sich wesentlich um die Einschätzung der Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven von Religion und Religiosität
angesichts der Verwerfungen der Moderne drehen. Zur Sprache gebracht wird
die Dialektik von Weltlichkeit und Transzendenz, die Umsetzung religiösen
Gedankengutes in die Praxis sowie die Generierung neuer Gesellschaftsformen
von Religion und Religiosität unter Einbezug säkularer Ressourcen. Zusätzlich
interessiert, ob autonome Religiosität die Privatisierungsthese stützt, mit erhöhter Akzeptanz anderer Weltreligionen korreliert oder wie das Umfeld einem
religiös emanzipierten Individuum begegnet. Zentrale Bedeutung erhält die
Erforschung von Gesellschaftsbezug, Konfiguration, Praxisformen und quasireligiösen Strukturen individualisierter Religiosität.
Die Suche nach Antworten auf diesen Fragenkatalog geschieht mittels einer
empirischen qualitativen Untersuchung auf der mikrosoziologischen Ebene. Das
Rückgrat der Forschungsarbeit bilden die 20 Studienteilnehmenden, welche
durch ihre freimütig erteilten Informationen Dynamik und Farbe in die jederzeit
von grosser Wertschätzung getragene Unternehmung hineinbringen konnten.
Die empirisch leicht identifizierbare und bearbeitbare Thematik nimmt sich der
persönlichen Wahrnehmung von Religion an und stellt die Rekonstruktion des
12
individuellen religiösen Erlebens der ProbandInnen in den Mittelpunkt. Der
Komplexität von Religion wird Rechnung getragen, indem interdisziplinäre
Sichtweisen, andere Untersuchungen und statistische Daten Aufnahme in die
vertiefte Bearbeitung des gewonnenen Materials finden. In diesem Kontext wird
darauf hingewiesen, dass die kleine Stichprobe zwar mit dem Trend der vergangenen Jahre im religiösen Feld gut übereinstimmt, jedoch durch die geringe
Anzahl von InformantInnen sowie durch den Subjektcharakter der untersuchten
Phänomene die Verallgemeinerungsfähigkeit der Analyse begrenzt ist. Diese
Einschränkung schmälert aber nicht die Zielvorgaben der Dissertation, welche
im nächsten Kapitel kurz vorgestellt werden.
13
1.2 Ziel der Dissertation
Eine Forschungsagenda enthält immer auch eine ganze Palette von Zielvorgaben und Wünschen. Bei der vorliegenden Dissertation betrifft dies verschiedene
Sektoren, so zum Beispiel die Methodik. Die Rekonstruktion individualisierter
religiöser Erfahrungen stellte nicht nur vom Gegenstand, sondern auch von den
Arbeitsinstrumenten her eine Herausforderung dar, denn bisweilen erforderten
gewisse Untersuchungsabläufe einen Spagat zwischen dem Interesse an der
Gewinnung gehaltvoller Daten und der gebotenen Rücksicht auf Autonomie,
Privatsphäre und Bedeutungshierarchie der Forschungssubjekte. Von Beginn
weg war deshalb klar, dass das Vorgehen den spezifischen Ansprüchen der
Religionsthematik durch eine entsprechend subtile Herangehensweise gerecht zu
werden hat, ohne dabei die wissenschaftlichen Regeln zu ignorieren. Um diesem
Vorsatz empirisch nachzukommen, wurde auf eine gründlich evaluierte Wahl
der methodischen Mittel, Empathie und viel Hintergrundarbeit gesetzt.
Eine zweite Vorgabe betrifft den schwierigen Umgang mit unserer religiösen Tradition. Die Haltung sowohl der Studienteilnehmenden wie auch der Autorin dem institutionalisierten Christentum gegenüber ist eine kritische. Ein solcher Standpunkt sollte jedoch nicht zu einer reduktionistischen Sicht auf diese
Einrichtungen führen oder Anlass zu polemischen Verzerrungen geben, was jedoch nicht heisst, das Gehabe und die Aufklärungsresistenz der Kirchen oder die
verworrenen Zustände im religiösen Feld kleinzureden. Zusammengefasst kann
im Kontext der Arbeit von einer kritischen Würdigung des Christentums gesprochen werden.
Der einer Religion inhärente (gewollte) Widerspruch zur Welt gibt dem
gegenwärtigen religiösen Auseinanderdriften von Alt und Neu immer schärfere
Konturen. Eine metaphysische Konzeption folgt anderen Gesetzen als eine
moderne Gesellschaft: Religion beansprucht Unvergänglichkeit, was Statik bedeutet, die Gesellschaft hingegen betrachtet Religion aus einer Aussenperspektive und sucht Entwicklung im Wandel. Diese Differenz zu dokumentieren ist
14
eines der Anliegen der Dissertation, wobei die meisten der aufgetauchten Fragen
zu den Folgen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen vorläufig
nicht zu beantworten sind. Geglückte Reformen könnten zwar eine Legitimation
für künftige Sozialformen von Religion abgeben, seien sie traditionell oder
säkular, doch es muss offen bleiben, in welchem Umfang der Einfluss der
christlichen Matrix auf die Lebensführung der kommenden Generationen
ausfallen wird. Zu wünschen ist, dass in diesem Zusammenhang vermehrt
empirische Forschung über die fehlende Evidenz im religiösen Feld stattfindet,
welche weniger mit Kirchensoziologie zu tun hat, sondern sich auf die Wurzeln
unserer Religion beruft und soziohistorische sowie soziokulturelle Aspekte des
Christentums in den Fokus nimmt.
Vor allem im mikrosoziologischen Bereich fehlt es bis heute an aussagestarken Untersuchungen, obwohl immer mehr Menschen unter den Bedingungen
der Moderne ihre Prämissen im Kontext von Religion und Religiosität neu und
anders definieren und ihre religiösen Bedürfnisse sowie ihren Bezug zu transzendenten Kräften zeitnaher leben möchten. Sie setzen dabei auf ihr integratives
und emanzipatorisches Potential sowie ethische Standards, die nicht zwingend
metaphysisch unterlegt sind. Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, religiöse
Konstruktions- und Transferleistungen von Individuen zu untersuchen, ohne
eine defizitorientierte Sicht auf Religion und ihre Praxisformen einzunehmen.
Im Vordergrund steht die Schilderung selbstverantworteter, unspektakulärer
Alltagsreligiosität, doch es sollen auch Personen eine Stimme erhalten, die
keinen Zugang zu Religion finden und sich ganz auf säkulare Ressourcen
verlassen wollen.
15
1.3 Aufbau der Arbeit
Für den vorliegenden wissenschaftlichen Beitrag wurde bereits am Anfangspunkt der Arbeit das Konzept einer provisorischen Gliederung übernommen.
Zwar veränderte sich das erste Inhaltsverzeichnis laufend durch Ergänzungen,
Kürzungen, Umschichtungen. Das Grundgerüst als strukturierende Instanz blieb
jedoch trotz ständiger Verfeinerung während des Forschungsprozesses immer
wie ein Wegweiser erhalten.
1 Einleitung: Der einführenden Beschreibung von Sicht, Forschungsinteresse und Motivation der Verfasserin dieser Dissertation vor dem Hintergrund
ihres universitären Wegs sind drei weiterführende Kapitel angehängt, welche die
Problemlage, Ziel und Aufbau der Arbeit thematisieren. Kapitel 1.1 nimmt Bezug auf die gegenwärtige Lage im religiösen Feld, erörtert die daraus entstehenden Konsequenzen und führt Anstösse und Erwartungen auf, welche der
empirischen qualitativen Untersuchung zugrunde liegen. An diese Überlegungen schliessen sich die mehrteilige Fragestellung und Angaben zum methodischen Instrumentarium an, welches die multidimensionale Bedeutung von
Religion berücksichtigt. Kapitel 1.2 setzt sich mit dem Ziel der Doktorarbeit
auseinander, um dann mit Erklärungen zum Aufbau des Beitrags zu schliessen.
2 Klärung von Begriffen: Die Begriffsbestimmung im religiösen Feld präsentiert sich als Folge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft immer amorpher.
Es ist deshalb sinnvoll, zu Beginn des theoretischen Teils der Arbeit eine knapp
gehaltene Auswahl von Begriffen (Religion, Religiosität, Spiritualität, Volksfrömmigkeit und Religiöses Feld) vorzustellen, die im religionssoziologischen
Diskurs gebräuchlich sind und eine Verwässerung oder Engführung der Ausdrücke vermeiden wollen. Eine begriffsgeschichtliche Erläuterung ist in diesem
Zusammenhang nicht von Relevanz, weil ›Religion‹ bis zum 19. Jahrhundert
identisch mit ›Kirche‹ war und die aktuelle Situation völlig andere Züge trägt,
wie zum Beispiel Tenbruck (1993) aufzeigt.
16
3 Theoretische Positionen: Der Werdegang der Religionssoziologie verlief
von den klassischen Entwürfen Durkheims und Webers über die Wissenssoziologie (Elias, Luckmann, Luhmann) bis hin zu einem eigenständigen erkenntnistheoretischen Zugang, der nicht nur von kumuliertem Wissen ausgeht, sondern
auch die eigene Erfahrung des Religiösen in die Überlegungen einbezieht, wie
dies bereits William James (1979) an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
tat. Diese Entwicklung des Fachs erhält hier eine Illustration, indem die einzelnen Stationen der Theoriebildung mit den dazugehörigen Gründern und einigen
späteren und gegenwärtigen Exponenten skizziert werden. Auch die seit längerem intensiv geführte Säkularisierungsdebatte wird in diesem Kapitel aufgerollt,
um dann mit der Schilderung des persönlichen theoretischen Blickwinkels der
Doktorandin einen Abschluss zu finden.
4 Das methodische Vorgehen: Dieses Kapitel ist als Forschungsbericht
angelegt und stellt die konzeptuellen Werkzeuge vor. Es gliedert sich in fünf
Teile und beschreibt den Forschungsansatz, die Studienteilnehmenden, Erhebung und Aufbereitung der Daten sowie die Transversale Inhaltsanalyse mit den
Schlussfolgerungen. Besonderer Wert wird darauf gelegt, die Bedeutung des
Materials zu unterstreichen und an den Werkstattcharakter einer empirischen
qualitativen Untersuchung zu erinnern.
5 Analysen der einzelnen Interviews: Dieser Abschnitt der Dissertation
bildet die erste prägnante Wegmarke der Untersuchung, indem aus dem Rohmaterial der 20 Interview-Transkripte die Standpunkte von 16 Akteuren auf eine
Weise extrahiert werden, dass einerseits der interaktive Vorgang der Gespräche
zur Geltung kommt, andererseits eine Reduktion der Informationen auf wesentliche Aspekte geschieht. Die zur Anwendung kommende hermeneutische Interpretationsmethode enthält immer auch narrative Elemente. Die Darlegung der
Forschungsresultate wird mit Statistiken vervollständigt und passenden Literaturquellen sowie ausgewählten Zitaten aus den Interviews abgerundet. Der Sinn
dieser ersten Analysen besteht darin, einen adäquaten Rahmen für die nachfolgende strukturelle Auswertung der Datensammlung zu schaffen.
17
6 Transversale Inhaltsanalyse: Hier geht es darum, die Essenz aus den
Zeugnissen der Studienteilnehmenden herauszufiltern, was mit Hilfe einer
methodischen trichterartigen Verengung des Untersuchungsgefässes geschieht.
Ausgangspunkt für diesen Vorgang ist das Kategoriensystem, dessen Konstruktion bereits während der Interviewphase begann und das schliesslich in einen
sechsteiligen Raster mündete, welcher im Zusammenhang mit den Fragestellungen Religion mit Gesellschaft und Umfeld verknüpft, biografische Aspekte, die
Beziehung zum Transempirischen sowie die religiöse Praxis der ProbandInnen
anspricht. Eine sechste Kategorie mit dem Titel »Fokus ›Religion‹« subsumiert
Fragen zu Religion als Anlage, zum Christentum, zu anderen Religionen und
zum Stellenwert der Natur. Dieses Instrumentariums erschliesst die Finessen des
Materials und liefert eine solide Grundlage für die systematische Feinanalyse
der Forschungsergebnisse.
7 Schlussfolgerungen: Die letzte Stufe bietet Gelegenheit, Bilanz zu ziehen,
wobei sich die Argumentation auch hier schwerpunktmässig am reichhaltigen
Material orientiert, das nun allerdings einen hohen Abstraktionsgrad erreicht hat.
Die Einleitung betont in einem Überblick nochmals das Gewicht der Transversalen Inhaltsanalyse. Es folgt ein kurzer Abriss zur Lage im religiösen Feld mit
zwei Beispielen aus der Studie. In den Unterkapiteln drei und vier wird die
Kernthematik erneut, jedoch gestrafft aufgenommen und mit interdisziplinären
sowie theoretischen Standpunkten ergänzt, um die Mehrdimensionalität des Gegenstands zu illustrieren. Das dreiteilige Unterkapitel fünf bildet den Abschluss
der Arbeit und widmet sich den Perspektiven des institutionalisierten Christentums sowie möglichen künftigen Gesellschafts- und Individualformen von
Religion und Religiosität.
18
19
Theoretischer Teil
20
2 Klärung von Begriffen
Seit die Religion durch Aufklärung und Säkularisierung in den Fokus der
Wissenschaften geraten und den christlichen Institutionen die uneingeschränkte
Deutungshoheit über ihren Gegenstand abhandengekommen ist, hat sich in
diesem Bereich eine Begriffskultur entwickelt, welche unübersichtlicher nicht
sein könnte. Das Repertoire umfasst unzählige Vorschläge, wie Religion und
ihre Praxisformen zu definieren seien, wobei die Standpunkte der verschiedenen
Disziplinen sich nicht annähern, vielmehr immer weiter auseinanderdriften. Aus
dieser Vielfalt werden in den nachfolgenden Kapiteln Begriffe erklärt, die in den
Sozialwissenschaften gebräuchlich und mit der vorliegenden Arbeit kompatibel
sind, wobei es sich in jedem Fall um Ausschnitte aus der Begriffesammlung
handelt, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben wollen.
21
2.1 Religion
Der moderne Begriff ›Religion‹ – und seine Praxisform ›Religiosität‹ – ist
westlichen Ursprungs und wurde im 18. Jahrhundert eingeführt, um die unterschiedlichen transzendenzbezogenen Symbolsysteme der Völker in den aussereuropäischen Kolonien mit einem passenden Ausdruck zu belegen. Bis zu
diesem Zeitpunkt kannte man für das Christentum nur das Wort ›Kirche‹,
welches genügte, um das abendländische Verständnis von Religion abzudecken.
Doch der neue Begriff etablierte sich schnell, auch für den christlichen Raum,
vor allem im Kontext mit den im Entstehen begriffenen Gesellschafts- und Sozialwissenschaften. Seitdem versuchen Mitglieder verschiedenster akademischer
Disziplinen, dem Kind einen adäquaten Namen zu geben, was sich zum Teil mit
einer inflationären Ausweitung des Begriffs verbunden hat. Dieser Dissertation
wird als übergeordnete Definition von Religion diejenige vorangestellt, welche
Pierre Bourdieu (2000) von Max Weber übernahm: »Religion ist eine systematische Antwort auf die Frage nach Leben und Tod« (2000, S. 123). Wie lange
diese nach wie vor nicht zu ersetzende Sicht sich unter den gegenwärtigen
Bedingungen wird halten können, ist ungewiss und verlangt deshalb nach einem
selbstkritischen Standpunkt. Konkreten empirischen Beiträgen wird jedoch eine
Begriffsbestimmung nicht gerecht, die alles offen lassen muss, sodass hier
ergänzend die Leseart von Clifford Geertz (1987b) zur Anwendung kommt, der
Religion als kulturelles System beschreibt, das einem geschichtlichen Wandel
unterworfen ist und eine bedeutende emotionale Komponente aufweist.
»Eine Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende
und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3)
indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese
Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5) die
Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.«
(1987b, S. 48)
Eine solche Beschreibung von Religion ist im Kontext der vorliegenden
empirischen Untersuchung jedoch zu ergänzen, dreht sich doch diese Arbeit fast
22
ausschliesslich um Formen und Inhalte des Christentums. Es scheint deshalb
opportun, in Ergänzung zum modernen Religionsbegriff einen soziologischen
Blick auf einige Faktoren zu werfen, welche die Anfänge unserer religiösen Geschichte günstig beeinflussten. Der amerikanische Religionssoziologe Rodney
Stark (1997) legt dazu eine spannende Rekonstruktion vor, indem er zeigt, wie
sich aus einer jüdischen Sekte durch den Auferstehungsglauben eine Kultbewegung und spätere Weltreligion entwickelte. Er weist nach, dass die ersten
Christen – entgegen bisheriger Annahmen – nicht aus der Unterschicht, sondern
aus dem wohlhabenden Mittelstand und den Gebildeten der grossen Städte des
römischen Reiches kamen, was die – bis heute gängige – These widerlegt,
Religion sei eine Sache der Armen. Auch entstand das neue Bekenntnis nicht
aus einer Massenbewegung, vielmehr wuchs die Mitgliederzahl kontinuierlich
durch Einzelbekehrungen im Freundes- und Bekanntenkreis. Dabei spielten die
Frauen eine tragende Rolle, einerseits durch häufige Konversionen, andererseits
durch eine hohe Fertilität, was den Christen den Nachwuchs sicherte. Im Gegensatz zu den Sitten der übrigen Bevölkerung galten Knaben und Mädchen als
gleichwertig und Abtreibung oder Tötung von Neugeborenen unterstanden
einem strikten Verbot. Das Leben in den extrem überbevölkerten grossen
Städten des Reiches war durch Desorganisation, Chaos und katastrophale
hygienische Verhältnisse geprägt. Auch hieraus ergaben sich Vorteile für die
Christen, konnten sie doch dank sozialer Netzwerke (tätige Nächstenliebe war
Inhalt der Lehre) die Sterberate bei Seuchen und Krankheiten niedrig halten und
einander in Notlagen beistehen. Zusammen mit dem alles andere überragenden
Enthusiasmus für Jesus Christus und das kommende Gottesreich – der die
Menschen in eine andere Seinsweise versetzte und ihnen Perspektiven gab –
entstanden aus überdurchschnittlich entfalteter Solidarität und Empathie unter
den Gemeindemitgliedern die Voraussetzungen, damit die Bewegung bis zum 4.
Jahrhundert auf eine Million Gläubige anwuchs. Als Konstantin der Grosse aus
machtpolitischen Gründen das Christentum zur Staatsreligion erklärte, war das
Heidentum bereits merklich geschwächt, die Christengemeinschaft hingegen
konnte sich mit einer starken corporate identity sowie einer organisch gewachsenen, stabilen Institution ins Reich einbringen und schliesslich nach dem
23
Zusammenbruch des römischen Imperiums an dessen Stelle rücken (vgl. Stark,
1997, S. 35-243). Von da weg war die Kirche bis zur Aufklärung und Säkularisierung nie mehr ein herrschaftsfreier Raum und bestimmte durch ihre Teilhabe an der weltlichen Macht die europäische Politik weitgehend und mit ihrem
Absolutheitsanspruch und den Prinzipien von Inklusion/Exklusion das religiöse
Leben der Bevölkerung vollständig.
Durch den Aufschwung der Moderne wandelte sich jedoch die Lage im
religiösen Feld grundlegend: Aus der Politik verabschiedeten sich die Kirchen
inzwischen beinahe ganz; Europas Gesellschaft ist heute religiös nicht mehr
homogen, und der Exodus aus den christlichen Institutionen setzt sich unvermindert fort. Dieser Vorgang wird von unzähligen wissenschaftlichen Studien
und Publikationen begleitet, welche nach den Ursachen und Auswirkungen
dieser Veränderungen forschen und Anregungen für Neuausrichtungen des
Feldes oder erweiterte Definitionen des Religionsbegriffs machen. (In den
Kapiteln 3.3 und 7.5.2 sind solche Anregungen thematisiert.) Stellvertretend für
die vielen Aussagen zum Thema kommt hier Peter Voll (2006) zu Wort, der
seine Erkenntnisse in einer Untersuchung speziell für die Schweiz vorlegt. Wie
jedes andere gesellschaftliche System ist auch die Religion vom durch die
Moderne in Gang gebrachten Individualisierungsprozess betroffen. Die Individualisierung der Religion besteht gemäss Voll erstens in einer Pluralisierung
des bis anhin dominierenden christlichen Modells, zweitens in einem Bedeutungswandel kirchlicher Religion und drittens in einer Privatisierung und
»Informalisierung« ihrer Tradierung (vgl. 2006, S. 124-125).
Bei aller Reflexion zum Religionsbegriff ist jedoch zu bedenken, dass ein
mächtiges Phänomen hinter den Religionen steht: der Mythos. Diese Ursprungsmythen aufzubrechen und in ein breit akzeptiertes Modell zu überführen, das ist
die eigentliche Herausforderung, der sich Religionen zu stellen haben. Hinweise
auf eine Korrektur des bisherigen Konzeptes, das – trotz Postulaten der Reformtheologie – in einer Sackgasse steckt, gibt Roland Barthes (1964), indem er
aufzeigt, dass der Mythos sich stets auf historische Wurzeln bezieht, seine
24
Aussagen aber transformiert, deformiert und entpolitisiert. »Der Mythos wird
nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und
Weise, wie er diese ausspricht« (1964, S. 85). »Die Mythologie ist eine Zustimmung zur Welt, nicht so, wie sie ist, sondern so, wie sie sie sich schaffen will«
(1964, S. 148). Die Zukunft des Christentums könnte in der Verabschiedung des
in die kirchliche Dogmatik eingebundenen mythologischen Ballastes und in der
Besinnung auf geschichtliche Fakten seiner Entstehung liegen, wie es der prominente Religionspädagoge Hubertus Halbfas (2012, 2011) vorschlägt. Ein solcher
Ansatz würde die eigentlichen Absichten des »massgebenden Menschen Jesus «
(Karl Jaspers) offenbaren und seine Botschaft von einem hybriden, immer noch
eurozentrisch fokussierten Religionsverständnis befreien.
25
2.2 Religiosität
Religiosität ist als subjektive, individuell gelebte Seite der Religion zu bezeichnen und steht in einem Gegensatz zu deren objektivierter Seite mit ihren Theologien, Dogmen, Lehrmeinungen sowie religiösen Gemeinschaften und Institutionen (vgl. Bochinger, 2004, S. 413-414). Als Schnittstelle zwischen dem MikroMakro-Bereich des religiösen Feldes steht Religiosität für die Pflege eines inneren Dialogs mit immanenten wie transzendenten Instanzen und verschafft dem
schwer Vermittelbaren und eigentlich Unsagbaren sprachliche und expressive
Kontur. Der Wortgebrauch entstand zusammen mit dem westlichen Religionsbegriff (siehe Kapitel 2.1) im Kontext der Aufklärung gegen Ende des 18.
Jahrhunderts und war bis ungefähr zur Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem mit
einer Praxis verbunden, welche sich nach den normativen Vorgaben der Amtskirchen zu richten hatte und oftmals ausgesprochen extrinsische Züge trug. In
der Zwischenzeit haben sich jedoch der klassische Begriff und das Selbstverständnis von Religiosität verändert und weisen nun neben der ursprünglichen
– heute allerdings rückläufigen – traditionellen Bedeutung eine Vielzahl von
Facetten auf. Die Gründe für diesen Wandel sind polymorph und ein Abbild
unserer hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft mit dem Angebot ihrer multiplen Optionen, auch im religiösen Bereich. Der im Anschluss an Aufklärung
und Industrialisierung ins Rollen gebrachte Prozess der Moderne formte mit der
Individualisierung als einer strukturellen Transformation sozialer Institutionen
die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft tiefgreifend um. Dazu
kam der Niedergang der abendländischen Globalhegemonie, was dem damit verbundenen Herr-Knecht-Schema – und als Folge auch der Autoritätsgläubigkeit –
einen Dämpfer versetzte. Eine von vielen Individuen nicht bewusst wahrgenommene Zäsur im westlichen religiösen Denken lösten die Ereignisse der Schoah
aus, welche die griechisch/christliche Metaphysik, »all diese Erdichtungen der
spekulativen Vernunft« (Jonas, 1988, S. 54), mit ihrem Bild vom allmächtigen
Schöpfergott leise, aber nachhaltig erschütterten. Diese Umbrüche gingen selbstredend nicht an der Religion – als einem von zahlreichen gesellschaftlichen
Systemen – vorbei. Es herrscht seit längerem Unruhe im religiösen Feld, vieles
26
ist im Fluss, Begriffe sind unscharf, Ressourcen knapp geworden, und Globalisierung sowie Digitalisierung verursachen zusätzliche Schübe. Der kirchlichen
wie ausserkirchlichen Religiosität eröffnet sich unter diesen Bedingungen ein
weites Spektrum von neuen Ausdrucksformen. Die Angebote reichen von
modernisierten klassischen Versionen oder öffentlich zelebrierten, marktorientierten religiösen Events verschiedener Couleur über esoterisch unterlegte Heilsversprechen oder kollektive quasireligiöse Rituale im Sport bis hin zur Adaption
einer unspektakulären, stillen Alltagspraxis, die auf einem durch religiöse Erfahrungen getragenen, intrinsisch motivierten Glauben beruht. Diese Dissertation
widmet sich vor allem kirchenfernen Menschen, welche die letztgenannte,
wenig Aufmerksamkeit generierende, keiner strikten sozialen Kontrolle unterworfene, unkonventionelle Religiosität als einer Verschränkung von Wertekanon und religiöser Praxis leben. Daneben kommen aber auch Personen –
Skeptische, Zweifelnde, religiös nicht Sozialisierte – zu Wort, die eher dem von
Charles Taylor (2002) vorgeschlagenen »Glaubenssystem des expressiven Individualismus« (2002, S. 85) entsprechen. Taylor entwirft für die vergangenen 100
Jahre ein idealtypisches Modell von Religiosität, das er paläo-durkheimianisch
(19. bis Beginn 20. Jahrhundert), neo-durkheimianisch (Zwischenstufe) und
post-durkheimianisch (aktuelle Situation) nennt (vgl. 2002, S. 79-85), das sich
an den Menschenrechten, an Gerechtigkeit, Respekt, Solidarität, Schutz der
Natur ausrichtet und als Konzept einen breiten Konsens geniesst. Auch Jörg
Stolz (2006) definiert die Religiosität unserer Zeit und stellt ein mit der
Rational-Choice-Theorie kompatibles Makro-Mikro-Makro (MMM-) Modell
soziologischer Erklärung des Gegenstands vor. In seiner Untersuchung weist er
nach, dass der MMM-Erklärungstyp ohne weiteres komplementär in die klassischen Rational-Choice-Theorien zu integrieren ist, ohne deren Vorgaben zu
vernachlässigen.
27
2.3 Spiritualität
Die ursprüngliche christliche Konnotation für ›Spiritualität‹ hatte ausschliesslich
Geltung für straff aufgebaute, zentral geleitete Mönchsorden. Ulrich Köpf
(2004) beurteilt deren Spiritualität als soziales Phänomen und elitären Gegensatz
zur Volksfrömmigkeit. Er begründet seinen Standpunkt damit, dass solche
Gemeinschaften die Entstehung von Spiritualität ermöglichen, indem sie eine
bewusst geformte, regelmässig gepflegte und methodisch eingeübte Art von
kollektiver Frömmigkeit praktizieren. In der mundanen Sphäre kam der Begriff
erst in den 1970er-Jahren zusammen mit der New Age-Bewegung auf und wird
seither in ganz unterschiedlichen Kontexten verwendet. Es gibt Menschen, die
sich als ›spirituell‹ bezeichnen, um zu signalisieren, dass sie zwar religiös sind,
ihr Glaube jedoch nicht mit einer Institution assoziiert sein will. Oder Individuen
nennen konkrete Räume, die sie mit Spiritualität in Verbindung bringen, wie
zum Beispiel eine Umfrage des Forschungsinstituts gfs Zürich von 20082 zeigt.
In dieser Untersuchung bezeichnen 52% der Reformierten und 34% der Katholiken als ihren persönlichen Ort der Spiritualität die Natur und nicht die Kirche.
Dies zeigt, dass Spiritualität bei einer Überschreitung des Subjektiven gestattet,
Physisches mit ethischen und transzendenten Perspektiven zu verknüpfen, ohne
auf konfessionelle Bindungen rekurrieren zu müssen. Es ist offensichtlich, dass
immer mehr Überlappungen zwischen ›Religiosität‹ und ›Spiritualität‹ entstehen
und die Begriffe oft synonyme Verwendung finden. Hubert Knoblauch (2009)
geht – wie andere Autoren auch – in diesem Bereich sehr weit und lässt eine
grosse Anzahl sakraler wie profaner Praktiken als spirituellen Ausdruck gelten,
was zumindest zu hinterfragen wäre. Es soll hier nicht einer kleinlichen Engführung der Interpretation das Wort geredet werden, doch das Kriterium für
Spiritualität innerhalb dieser Arbeit ist die Abwesenheit kommerzieller
Interessen.
2
28
Siehe dazu: www. gfs-zh.ch. (Zugriff 25.3.2011) sowie Kapitel 6.3, S. 256 und 6.6.5, S.
288.
2.4 Volksfrömmigkeit
Das dogmatisch bestimmte Christentum der Experten begreift sich auch heute
noch oft als Antithese zur Volksfrömmigkeit und beurteilt diese Art von Religiosität als magisch, naiv sowie politisch unbrauchbar. Es beruft sich dabei auf
die von ihm verfügten normativen Leitvorstellungen des guten und richtigen
Lebens und stützt damit Abgrenzungstendenzen (vgl. Ahrens, 2005, S. 11771179). Eine Gegenbewegung zur Marginalisierung dieser Glaubensform fand
zwischen 1850 und 1950 in der katholischen Kirche statt, welche versuchte,
durch Förderung der Massenfrömmigkeit gegen religiöse Pluralisierung, Modernisierung und den Wertewandel anzukämpfen (vgl. Holzem, 2003, S. 234-240).
Das änderte jedoch nichts daran, dass seit der Aufklärung Menschen, welche die
gemüthaften Seiten von Religion ohne Hilfe intellektueller Denkfiguren leben
wollen, jederzeit mit abfälligen Wertungen ihres religiösen Ausdrucks rechnen
müssen. Wie Ottmar Fuchs (2005) feststellt, sind Reaktionen dieser Art auf
akademischer Ebene an der Tagesordnung. Der gleiche Autor vermerkt, dass die
Forschung neu von ›popularer Religiosität‹ statt Volksfrömmigkeit spricht.
Diese Definition wählen auch Michael Ebertz und Franz Schultheis (1986b),
wenn sie das Phänomen in Anlehnung an Max Weber »für konkrete empirische
Forschung offen« (1986b, S. 25) halten müssen. Denn es ist nicht auszumachen,
ob die religiösen Monopolisten bei diesen spezifischen »Konfigurationen religiöser Vorstellungen und Praktiken« (1986b, S. 25) im Wechselspiel der Mächte
im religiösen Feld »in Form von Absorption oder Bekämpfung, von Duldung
oder Stigmatisierung, von Instrumentalisierung oder Ignorierung« (1986b, S.
25) reagieren.
29
2.5 Religiöses Feld
In der von ihm geschaffenen Theorie des sozialen Feldes versteht Pierre
Bourdieu (1996) die hochdifferenzierte Gesellschaft als einen Kosmos, der aus
relativ autonomen Teilgebieten wie Wirtschaft, Bildung, Politik oder eben auch
aus Religion besteht. Wenngleich die Bereiche unabhängig voneinander sind,
»wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen
zwischen Positionen zu definieren« (1996, S. 127), nämlich als sozialer Raum,
sowohl von Unterschieden als auch von Beziehungen. In »Das religiöse Feld«
(2000) äussert sich Bourdieu detailliert zu diesem sozialwissenschaftlich konstruierten Gegenstand und assoziiert Religion mit symbolischem Kapital und der
Ökonomie des Heilsgeschehens. Er beschreibt die Logik des Feldes als Kampf
um die knappen Ressourcen und die symbolische Macht der spezialisierten Institutionen oder Akteure auf ihrem Terrain. Kämpfe im religiösen Feld berühren
immer den sozialen Raum als ganzen, wodurch sich die aktuelle gesellschaftliche Umbruchsituation hier besonders scharf akzentuiert und die einem Feld
innewohnende Dichotomie – die den gegensätzlichen Interessen der Akteure
entspringt – zu verstärken vermag. Die Dichotomie zeigt sich hier darin, dass die
Kirchen als Monopolistinnen des Feldes in der aktuellen Situation zu Erhaltungsstrategien und Verwaltung ihres Kapitals (des symbolischen wie auch des
ökonomischen) neigen, während viele religiöse Laien im Zuge von Säkularisierung, Individualisierung und dem damit verbundenen Autoritätsschwund sich
dem Herrschaftsanspruch der entsprechenden Institutionen entziehen und nicht
mehr dazu bereit sind, die Strukturen des Feldes mit den immanenten Normen
und Regeln zu akzeptieren. Die mit diesen Verwerfungen verbundenen Spannungen und Konflikte im Raum der Kräftebeziehungen intensivieren sich durch
die Medialisierung der Auseinandersetzungen, womit die Manipulationen und
Spiele von bis anhin im Verborgenen operierenden Exponenten der Macht vermehrt ans Licht gelangen, was ganz im Sinne von Pierre Bourdieu ist.
30
31
3 Theoretische Positionen
Ohne stabiles Fundament würde ein Gebäude beim ersten heftigen Sturm
zusammenbrechen. Ebenso verhält es sich mit der empirischen Sozialforschung,
die erfreulicherweise im Bereich der Theoriebildung auf zum Teil geniale
Experten rekurrieren kann, wie die Konzepte der nachstehend vorgestellten
Soziologen illustrieren. Ihre Texte bilden einerseits die Vielfalt der möglichen
Blickwinkel auf Religion ab, andererseits aber auch die Zeit, in der diese
Entwürfe entstanden sind. Erst ein solider theoretischer Unterbau ermöglicht es,
die Ergebnisse einer Studie so zu präsentieren, dass ihre Qualität gesichert ist. In
den folgenden drei Unterkapiteln werden die Voraussetzungen, Ressourcen,
Mittel und Wege beschrieben, welche die theoretischen Überlegungen, Absichten und das konkrete Vorgehen im Kontext dieser Arbeit bestimmen.
32
3.1 Theoretische Grundlagen
Die Religionssoziologie entstand als Nachfolge der Religionskritik gegen Ende
des 19. Jahrhunderts. Zwei gewichtige Exponenten dieser Kritik waren Karl
Marx (Religion als Opium des Volkes) (vgl. 1961b, S. 378-391) oder Anselm
Feuerbach (2005). Die beiden Gründerväter der Soziologie, Émile Durkheim
und Max Weber, betrachteten Religion als eines der Hauptthemen der damals
aufkommenden akademischen Disziplin und untersuchten den Gegenstand von
einer säkularen und universalgeschichtlichen Perspektive her. Sie unterschieden
sich jedoch im Zugang zum Wirkungsbereich, indem Durkheim seinen Arbeiten
die Ethnologie sowie die Naturreligionen zugrunde legte, während Weber die zu
jener Zeit bereits in grosser Fülle vorliegende Literatur zu den Weltreligionen
als Ausgangspunkt seiner Forschungen wählte. Durkheim kam zum Schluss,
dass die Religion mit ihren Kulten notwendiger Inhalt des sozialen Lebens
bildet, so den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert und den Einzelnen stabilisiert. Weber erweiterte das reduktionistische Religionsbild von Marx um die
Gegebenheit, dass Religion immer auch ein Symbolsystem ist. Diese Erkenntnis
führte ihn im Rahmen seiner Protestantismusthese zum berühmten Konzept der
Innerweltlichen Askese. Durkheim und vor allem Weber spielen bis heute in der
Religionssoziologie eine tragende Rolle. Webers »Die protestantische Ethik und
der Geist des Kapitalismus« (vgl. 1988a, S. 17-206) von 1904 gehört zu den
meistzitierten Aufsätzen überhaupt.
Von Beginn weg konzentrierte sich die Religionssoziologie auf westliche
Gesellschaften und die Rolle des institutionalisierten Christentums im jeweiligen
Kontext des Säkularisierungsprozesses. Die Entwicklung des Fachs verlief vorwiegend entlang der herrschenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Paradigmen, wobei Frankreich und Deutschland lange den Ton angaben. Die USA
setzten dann auf dem Gebiet neue Impulse, was sich wiederum fruchtbar auf die
europäische Forschungstätigkeit auswirkte. In Europa waren und sind es immer
noch die Kirchen, welche einen grossen Bedarf an Informationen zum Thema
aufweisen, sind sie doch durch die Säkularisierung in Bedrängnis geraten und
33
hoffen, durch erhellende empirische Untersuchungen des religiösen Feldes besser auf die veränderten Bedingungen reagieren zu können. Heute geht es bei den
Studien vor allem um den Plausibilitätsverlust religiöser Institutionen, den Mitgliederschwund, die Beziehung zu den ›Etwas-Christen‹ (Modehn), die Marktkonformität kirchlicher Angebote oder mögliche Reaktionen auf konkurrierende
religiöse Bekenntnisse. Durch eine zu lange Fokussierung auf die Kirchensoziologie verlor die Religionssoziologie einerseits bis zu einem gewissen Grad den
Blick auf die universalgeschichtliche Bedeutung von Religion für die Gesellschaft. Andererseits gelang es ihr, den Religionsbegriff von seinem kirchenfixierten Image zu befreien und den mikrosozialen Aspekten des Religiösen als
Dimension persönlicher Erfahrung vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken.
Eine Kontroverse um die Säkularisierungsthese trennt die religionssoziologische Wissenschaftsgemeinde in zwei Lager: Die Einen gehen von Max Weber
aus, welcher die durch den Säkularisierungsprozess bedingte Rationalisierung
von Religion in der Lebensführung als definitiv erachtete. Die Anderen (unter
Federführung der Amerikaner) postulieren, dass nie eine Säkularisierung stattgefunden hat, sondern sich durch die Individualisierung der Gesellschaft heute
Religion und Religiosität zusätzlich in neuen, vielfältigen Formen äussern
(Franzmann, 2006a).3 Doch hier scheint ein fundamentales Missverständnis
vorzuliegen. Die Anhänger beider Theorien gehen nämlich fast ausschliesslich
davon aus, dass mit ›Religion‹ das Christentum gemeint ist, obwohl diese Sicht
im Zeitalter der Globalisierung überwunden sein sollte. Der Islam zeigt keine
Anzeichen von Säkularisierung, schon weil er mit einer rigiden Gesellschaftsordnung aus dem 6. Jahrhundert verschränkt ist. Und Indien definiert sich zwar
als säkularen Staat, seine 900 Millionen Hindus befolgen aber mehrheitlich noch
immer die Regeln der religiösen Tradition.
3
34
Siehe dazu auch Standpunkt der Autorin in Kapitel 3.4, S. 41-42.
3.2 Klassiker der Religionssoziologie
Da die Religionssoziologie eine verhältnismässig junge akademische Disziplin
und immer noch eine Domäne der westlichen Sozialwissenschaft ist, konnte sie
seit ihrer Entstehungszeit nur wenige Koryphäen hervorbringen. Doch die Entwürfe der nachstehend portraitierten Soziologen sind wegweisend geblieben,
werden immer noch breit diskutiert und üben bis zur Gegenwart eine nachhaltige Wirkung auf die Theoriebildung aus.
Émile Durkheim (1858 – 1917) gilt als Begründer der Soziologie. Er fand
bereits früh breite Rezeption im angelsächsischen Raum und beeinflusst bis
heute direkt oder indirekt viele sozialwissenschaftliche Fächer. Durkheims zentrale Fragestellung drehte sich um die soziale Integration und deren Folgen für
Individuum und Gesellschaft. Zu diesem Zweck untersuchte er mit empirischen
Methoden (1965) die damalige soziale Lage und wollte mit seinen Studien der
seit 1789 gespaltenen französischen Nation auch Lösungsansätze für ihre unversöhnlichen Standpunkte aufzeigen. Um sich in den zerstrittenen religiösen Diskurs ohne Parteinahme einzubringen, begann Durkheim 1895, eine allgemeine
soziale Theorie der Religion zu erarbeiten. Für seine Untersuchungen wählte er
einen historisch-vergleichenden Zugang, indem er von den religiösen Praktiken
australischer Ureinwohner auf die Universalität der Religion als sozialer Konstante schloss, welche jedoch einem geschichtlichen Wandel der Phänomene
unterliegt.
»Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken,
die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und
Praktiken beziehen, die sich in einer und derselben moralischen Gemeinschaft,
die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören« (2007, S. 76).
Mit einer solchen Auslegung können sich die Amtskirchen auch heute noch voll
identifizieren, was ein Stück weit die anhaltende Popularität Durkheims erklären
kann.
35
Max Weber (1864 – 1920) wird oft zu Unrecht auf seine «Protestantische
Ethik« (vgl. 1988b, S. 17-206) verkürzt, dabei hinterliess er als Universalgelehrter weitere einzigartige religionssoziologische Arbeiten, seien es die komparativen Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen – wo er sich auf teilweise
dürftiges Material berufen musste –, sei es sein Hauptwerk »Wirtschaft und
Gesellschaft«, mit einer breitgefächerten Darstellung der Zusammenhänge von
religiöser Ethik und den sozialen sowie ökonomischen Besonderheiten des
Okzidents. Seine ideengeschichtliche Vision der Moderne, die Rationalisierung
als Charakteristikum des Kapitalismus, beschrieb Weber als Fähigkeit, welche
auf Gesellschaften der westlichen Hemisphäre beschränkt ist und zu einem
beispiellosen Sonderweg führte. Den Schlüsselbegriff für diesen Vorgang nannte er ›Entzauberung‹, die er so auf den Punkt brachte: Eine zunehmend durch
Technik und Wissenschaft dominierte Welt ist nicht mit einer zunehmenden
allgemeinen Kenntnis der Lebensbedingungen verbunden. Doch wenn man
wollte, wäre es möglich, sich das Wissen darüber anzueignen, ohne dunkle
Mächte bemühen zu müssen, was heisst, »dass man vielmehr alle Dinge – im
Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne« (1995, S. 19). Es geht hier auch
um das Beherrschen des eigenen Innern durch die ›Innerweltliche Askese‹ einer
rationalen Lebensführung.
Georg Simmel (1858 – 1918) erweist sich für die Religionssoziologie als
anregend, weil er auf den symbolischen Charakter des Geldes (1989) in der
modernen Gesellschaft und die Formähnlichkeit zwischen höchster kosmischer
und wirtschaftlicher Einheit hinwies. Wie in der Gottesidee alle Gegensätze zur
Deckung kommen, so berühren sich im Geld – diesem abstraktesten Ausdruck
von Materie – alles, was uns in dieser Welt ›teuer‹ ist. Simmel nahm Bezug auf
Hans Sachs (vgl. 1989, S. 307), wenn er sagte, dass Geld Gott wird. Er führte in
diesem Kontext verschiedene religiöse Begriffe auf, die Äquivalente in der
Geldwirtschaft gefunden haben: Credo und Kredit; Erlös und Erlösung; Schuld
und Schulden; Beruf und Berufung; heilige und kommerzielle Messe, Offenbarung und Offenbarungseid. Den Beginn der Religion (1995) siedelte Simmel
nicht auf der Ebene der Gesellschaft an, vielmehr fragte er primär nach der
36
Funktion von Religiosität für das Individuum. Erst durch die Wechselwirkung
zwischen den Individuen nimmt die Religiosität gesellschaftlichen Charakter an
und kann sich dann als Religion in Form religiöser Institutionen bilden.
Thomas Luckmann (1927) geht davon aus, dass geschichtliche Transformationen kein von Grund aus neues Individuum schaffen und sich damit nichts an
der conditio humana religiosa, der konstitutiv religiösen Eigenschaft des Menschen ändert. In seinem Schlüsselwerk »Die unsichtbare Religion« (1991)
entwickelt Luckmann eine anthropologisch orientierte Theorie, welche den
Ursprung von Religion in der Fähigkeit des Einzelnen ortet, seine biologische
Natur zu transzendieren. Von dort aus entfalteten sich dann im Prozess der
Zivilisation immer komplexere religiöse Systeme, welche schliesslich in die uns
bekannten institutionalisierten Formen von Religion mündeten. In der Moderne
führten gesellschaftliche Differenzierung und Individualisierung zu einer neuen
Sozialform von Religion, nämlich der privatisierten Religion. (Luckmann ist
Begründer dieser These.) Er verneint die Säkularisierungstheorie und bezeichnet
diese als Mythos (1980b), der auf dem Irrtum beruht, dass einer episodischen
historischen Situation der Status einer definitiven und strukturellen Umbildung
des Verhältnisses von Gesellschaft und Religion zugeschrieben wird.
Niklas Luhmann (1927 – 1998) gestaltete ab den 1970er-Jahren mit der
Systemtheorie sein Konzept psychischer (Bewusstsein) und sozialer (Kommunikation) Systeme, welche sich je als Kontrast zu ihren Umwelten bilden, mit
ihnen aber im Austausch stehen. In einer Gesellschaft (1974b) ständig zunehmender funktionaler Differenzierung dienen sie der Komplexitätsreduktion. Er
verstand seinen theoretischen Ansatz im Kontext von Religion (1977) als Abgrenzung zu Durkheim, Weber und Simmel. Luhmann ersetzte eine anthropologische durch eine Gesellschaftstheorie der Religion, indem diese nur als
soziales System definiert und jede psychische Komponente ausgeschlossen
wird. Religion formiert sich aus den Amtskirchen und den unterschiedlichen
Rollen ihrer Mitglieder. Ihre Funktion besteht in einer spezifischen, die
Gesellschaft stabilisierende Art von Kommunikation, deren Code die Differenz
37
von Transzendenz und Immanenz ist. Eine der Leitideen der Religion, die
Bewältigung von Kontingenz (Erwartungsunsicherheit), steht in der Moderne in
krassem Gegensatz zur Gesellschaft, welche Kontingenz zu ihrem Strukturprinzip gemacht hat, womit die Funktionsperspektive des Subsystems Religion
selbst kontingent wird.
Pierre Bourdieu (1930 – 2002) beschäftigte als sich als erster Franzose intensiv mit Max Weber und entwickelte dessen Ansatz der Herrschaftssoziologie
weiter. Für seine religionssoziologischen Studien orientierte er sich zunächst an
der Protestantischen Ethik, ging dann aber mit der Entwicklung der Theorie von
den Feldern – die er als Transfer vom Materiellen ins Symbolische verstand –
weit über Weber hinaus. Im religiösen Feld operieren die Akteure mittels ihres
symbolischen Kapitals, welches einerseits im Monopol der Kirche auf dem
symbolischen Markt der Heilsgüter besteht und andererseits eine gewisse religiöse Kompetenz der Laien umfasst. Schonungslos und in immer wieder neuen
Konfigurationen analysierte Bourdieu die Beziehungen der Beteiligten untereinander und deckte die Machtstrukturen des Feldes auf. Den Stellenwert von
Religion für das Individuum beschrieb er im soziologischen Kontext als Verhältnis von Gefühlen und Bedeutungen, welche gelebt werden müssen (vgl. 2000, S.
125). Die gleiche Unmissverständlichkeit fand sich auch in Bourdieus Forschungspraxis (vgl. 1997b, S. 779-802) wieder. Er ist als Empiriker allererster
Güte zu bezeichnen, der es meisterlich verstand, Theorie und Methode miteinander zu verweben.
38
3.3 Aktuelle theoretische Ansätze
Seitdem das Thema ›Religion‹ permanente Medienpräsenz geniesst, hat sich
auch die Wissenschaft vermehrt der Materie angenommen und die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren mit überdurchschnittlich vielen Studien und
Publikationen zur Problemlage im religiösen Feld eingedeckt. Neuen Auftrieb
im religionssoziologischen Diskurs gewinnt auch die eine Zeitlang regelrecht
verfemte Kirchensoziologie, wollen doch die Kirchen von den Experten eine
Bestandesaufnahme ihrer derzeitigen Lage und Vorschläge für effiziente Massnahmen gegen den für sie desaströs verlaufenden Mainstream erhalten. Im
Rahmen dieser Arbeit wird aus der beträchtlichen Anzahl aktueller religionssoziologischer Theorien eine Auswahl von drei Ansätzen vorgestellt, die unterschiedliche Ziele verfolgen.
Roland J. Campiche war bis 2001 Professor am Institut de sciences sociales des religions contemporaines der Universität Lausanne und Gründer des
Observatoire des religions en Suisse. 1993 veröffentlichte er zusammen mit
Alfred Dubach (1993) eine repräsentative Untersuchung aus dem Jahr 1989, die
sich erstmals der religiösen Individualisierung in der Schweiz annahm. In der
Folgestudie – welche 1999 Daten nach dem gleichen Design erhob und die
bereits bekannten Trends bestätigte – ging Campiche (2004) einen Schritt weiter
und postulierte, dass im Kontext der Moderne bei uns eine Dualisierung der
(christlichen) Religion mit zwei Typen entstanden ist: zum einen eine institutionelle Religion, Erbin der christlichen Tradition, zum anderen eine universale
Religion, die anerkannten religiösen und kulturellen Prinzipien der Spätmoderne
entspricht. Er nennt vier Standards der universalen Religion: 1) Berufung auf die
Menschenrechte, 2) Anerkennung der Existenz einer höheren Macht, 3) Auffassung von Religion als Privatsache, 4) Akzeptanz des Gebets als Ausdruck der
Spiritualität des Einzelnen. »Institutionelle Religion und universale Religion
sind keine einander ausschliessenden Grössen, vielmehr illustrieren sie das
Wirken und Weben der Kultur im religiösen Feld« (2004, S. 49). Die Ergebnisse
der dritten Befragung dieser Langzeituntersuchung aus dem Jahr 2009 liegen in
39
der religionssoziologischen SNF-Studie NFP 58 vor (Bochinger, 2012), welche
belegen, dass die Entwicklung der Religion in Richtung Entkirchlichung ungebremst voranschreitet.
Franz Xaver Kaufmann (1932) wirkte bis zur Emeritierung an der soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld und gehört nach wie vor zu den
Spitzenforschern der Sozialpolitik im deutschsprachigen Raum. Er beschäftigt
sich vor allem mit der Makrosoziologie des Christentums, integriert jedoch auch
nicht-christliche Religionen und profane gesellschaftliche Systeme in seine Untersuchungen, wie Krause (vgl. 2012, S. 349-373) feststellt. Die Religionssoziologie verdankt ihm wichtige Impulse, weil er Theorie und Empirie zu verbinden
weiss und sich als ausgezeichneter Kenner der Christentumsgeschichte kritisch,
aber unaufgeregt mit dem Katholizismus auseinandersetzt. In einer seiner vielen
Publikationen (1989) zeigte er zum Beispiel auf, wie die Verweigerung der
Kirche, an den Modernisierungsprozessen teilzunehmen, zu einer Subkultur mit
Substanzverlust führte, wofür nun die auf den Strudel der gesellschaftlichen
Veränderungen unvorbereitete römische Zentrale und ihr Personal einen hohen
Preis bezahlen. 2011 legte Kaufmann einen gekonnten Abriss der Geschichte
des Christentums von den Anfängen bis zur Gegenwart vor, ergänzt mit markanten Stellungsnahmen zur aktuellen Kirchenkrise. Vor dem Hintergrund dieser
geschichtlichen Fakten sieht der Experte verhalten positiv auf die Zukunft des
institutionalisierten Christentums, allerdings weniger, was seine ehemaligen
Kerngebiete betrifft. Für die Dritte Welt jedoch ortet er beträchtliches Wachstumspotential, was auch die Statistik belegt.
Martin Riesebrodt lehrte Religionssoziologie an der Divinity School der
Universität Chicago. Sein ursprüngliches Forschungsinteresse galt dem Fundamentalismus, von dem zwei Bücher (1990 und 2000) zeugen. Aufbauend auf
dem zweiten Text und dem darin enthaltenen Postulat eines universellen
Religionsbegriffs veröffentlichte er 2007 seine eigene, detailliert ausformulierte
Religionstheorie. Riesebrodt trennt Heilig und Profan strikt und will die
Vermischung religiöser mit anderen Praktiken unbedingt vermeiden. Einen
40
funktionalen Religionsbegriff lehnt er ab, weil dieser nur Gesellschaft, nicht
aber Religion abbilde. Er bevorzugt vielmehr eine inhaltliche Deutung des
Gegenstands und definiert ihn so:
»Danach ist Religion ein Komplex religiöser Praktiken, die auf der Prämisse der
Existenz in der Regel unsichtbarer persönlicher oder unpersönlicher übermenschlicher Mächte beruhen.« (2007, S. 113)
Er schlägt vor, »den Cultus und seine Liturgien als Quelle zur Ermittlung des
Sinns religiöser Praktiken zu privilegieren« (2007, S. 125). Indem er Cultus und
Liturgie zu den Insignien von Religion erklärt, verwendet Riesebrodt einen weitgehend substantiellen Religionsbegriff und begibt sich damit auf das Terrain der
Theologie. Eine Nähe dieser Art zur Binnenperspektive von Religion stellt für
nicht wenige Religionssoziologen ein echtes Dilemma dar und kann zu einer
verzerrten Optik bei der Forschungstätigkeit führen.
41
3.4 Theoriengenerierung
Es ist klar, dass die in den Kapiteln 3.2 und 3.3 skizzierten Religionssoziologen
mit ihren Konzepten mindestens latent einen gewissen Einfluss auf ein Forschungsunternehmen wie das vorliegende ausüben, gleichgültig, ob ihre Entwürfe Zustimmung finden oder nicht. Das ändert jedoch nichts daran, dass die
Theoriebildung bei der Wahl einer empirisch-analytischen Untersuchungsperspektive grundsätzlich eine Orientierungsfunktion einnimmt, welche zum Zweck
hat, die Wissenschaftlerin – unabhängig von irgendwelchen theoretischen Vorgaben – durch das Dickicht ihrer Datensammlung zu leiten und sie vor den
Klippen vorgefasster Meinungen zu schützen.
Hinweise zum Umgang mit theoretischen Belangen bieten die Empfehlungen von Experten wie zum Beispiel Jean-Claude Kaufmann (1999), für den die
Soziologie der Prozesse fest an die Theoriebildung gebunden ist und mit der
Feldforschung eine Einheit bildet. Zusammen mit der Methode stellt sie ein
wertvolles Arbeitsinstrument zur Verfügung, welches aus der Praxis des ständigen Hin und Her zwischen Fakten und Hypothesen besteht. Kaufmann stellt fest:
»Die Theorie gibt der Methode Volumen« (1999, S. 29). Und weil Religion
immer auch Philosophie ist, kommt an dieser Stelle ebenfalls Michel Foucault
zu Wort, welcher dafür plädierte, den Gegenwartsbezug philosophischer Fragen
mittels einer historisch-empirischen Analyse des Gegenstands herzustellen und
dafür als Ausgangspunkt die Mikroebene gesellschaftlicher Praktiken zu wählen (vgl. 2005, S. 104-109).
In den Bereich der Theoriengenerierung gehört auch die Säkularisierungsdebatte (vgl. Franzmann, 2006b, S. 11-38). Im Gegensatz zu den verbreiteten
konträren religionssoziologischen Positionen vertritt die Forscherin hier eine
Sowohl-als-auch-Haltung. Der springende Punkt in der Säkularisierungsfrage ist
nicht das Ja oder Nein dazu, vielmehr das Nord/Süd-Gefälle sowie die Differenz
zwischen Zentrum und Peripherie. Auf der globalen Ebene darben im hochentwickelten Norden die Kirchen, während die Religion im Islam oder in Asien und
42
christliche religiöse Institutionen im armen Süden (Südamerika, Afrika) gleichbleibenden oder wachsenden Zuspruch finden. Auf nationaler Ebene sind
besonders die hochdifferenzierten Gesellschaften vom schwindenden Interesse
der Bevölkerung an Religion betroffen, während die Länder mit einem tieferen
Lebensstandard (zum Beispiel Ost- oder Südosteuropa) viel eher einer religiösen
Tradition verbunden sind, vor allem wenn es sich um Gebiete mit orthodoxem
Glauben handelt. Auf lokaler Ebene herrschen auch bei uns – trotz säkularer
Staatsformen – zwischen Stadt und Land merkliche Unterschiede in der Glaubenspraxis, sodass es wenig Sinn macht, die Frage der Säkularisierung auf einen
beschränkten Ausschnitt des religiösen Feldes zu fokussieren und sie zum
Streitfall zu erklären.
Im konkreten Rahmen dieser Dissertation ist und bleibt das Kriterium
Nummer eins für die Theoriebildung das Material, ergänzt durch die Beobachtung der gegenwärtigen Umbruchsituation im religiösen Feld sowie die regen
sozialen Kontakte ausserhalb der Forschungstätigkeit, welche vor allem inspirierend auf die Bildung von Hypothesen als Zwischenstufen wirken. Um schliesslich die einzelnen Fäden der empirischen Arbeit zu einem stimmigen Ganzen zu
verweben, sind vorab einige Regeln zu respektieren. Es geht dabei zum Beispiel
um die Pflege eines selbstreflexiven Analysestils oder das Stehenlassen
unvermeidlicher Widersprüche, obwohl dies Ästhetik und Harmonie der Forschungsergebnisse stören kann. Angesichts der oft unterschätzten emotionalen
Komponente von Religion erweist es sich zudem als vorteilhaft, die Argumentationsweise im Hinblick auf ihre rationalen Inhalte immer wieder zu hinterfragen.
Doch muss alle Theorie grau bleiben, wenn die Konstruktion nicht von einem
tauglichen methodischen Instrumentarium gehalten wird, welches nun im
nächsten Kapitel zu beschreiben ist.
43
4 Das methodische Vorgehen
Dieses Kapitel gibt Einblick in die verschiedenen Etappen der Arbeit und
widmet sich den an der Studie beteiligten Personen sowie den methodischen
Instrumenten. Kapitel 4.1 stellt den Forschungsansatz als Ganzes vor, die Kapitel 4.2 bis 4.5 sind Berichte zum Forschungsverlauf aus methodischer Sicht.
Nicht jedem Schritt kommt das gleiche Gewicht zu, vielmehr präsentiert sich
das Ganze in einem hierarchischen Modus. Gewichtigster Teil der Untersuchung
sind die 20 Interviews, gefolgt von der Transversalen Inhaltsanalyse. Gespiesen
wird diese Analyse aus den 16 Darstellungen der einzelnen Interviews, die
ihrerseits auf den Transkripten der Gespräche und den Memos fussen. Die
Schlussfolgerungen sind als Erweiterung und nochmalige Verfeinerung der
Inhaltsanalyse zu verstehen, wobei hier besonderer Wert auf zusätzliche Verweise und Quervergleiche gelegt wird.
Im Anhang finden sich folgende Dokumente, die als Belege für das methodische Vorgehen dienen:
Verzeichnis der Studienteilnehmenden, nach Zusage geordnet, Seite 342.
Leitfaden, Seiten 343 bis 344.
Memo Laura B., Seite 345.
Memo Max H., Seite 346.
Transkript des Interviews mit Paul F., Seiten 347 bis 366.
Transkript des Interviews mit Patrizia G., Seiten 367 bis 383.
44
4.1 Forschungsansatz
Im Kontext der Individualisierung von Religion kann Religiosität neue Dimensionen annehmen, indem sich zum Beispiel eine Person von der Kirchlichkeit
abwendet und ganz auf die individuelle religiöse Erfahrung ohne Expertenhilfe
baut oder einen rein auf säkulare ethische Werte ausgerichteten Weg wählt.
Diese Dissertation setzt sich mit möglichen Formen solcher Phänomene auseinander. Seit Projektbeginn war deshalb klar, dass die Gegebenheiten dieser
Erfahrungen mit Hilfe einer qualitativen Studie umzusetzen sind, denn nur so ist
die religiös oder ethisch motivierte Konstruktionsleistung eines Menschen im
Rahmen empirischer Sozialforschung adäquat zu erfassen. Zudem findet das
doch recht sensible Thema mit einer solchen Herangehensweise am ehesten eine
angemessene Darstellung, lässt doch ein derartiges Verfahren in der Interaktion
zwischen den Beteiligten auch sublime Zwischentöne zu. Der gewählte Ansatz
beruht auf einem vielschichtigen Prozess, wobei sich die verschiedenen Teile
des Entwurfs oftmals überschneiden oder ein Wechselspiel zwischen den Elementen stattfindet, womit das Ganze nicht linear verläuft. Die einzelnen Etappen
des methodischen Vorgehens gestalten sich nach folgendem Muster:
1)
Lektüre
2)
Studienteilnehmende
3)
Leitfaden, Memos, Interview-Agenda
4)
Interviews
5)
Transkripte
6)
Analysen der einzelnen Interviews
7)
Kategorien-System
8)
Transversale Inhaltsanalyse
9)
Schlussfolgerungen
1) Lektüre: Um das Potential und den Fundus des vorhandenen fachspezifischen Wissens nutzen zu können, drängte sich schon früh das Studium entsprechender Literatur auf. In einer ersten Phase ging es dabei vor allem um das
45
Erkunden der neuesten religionssoziologischen Konzepte. Gleichzeitig nahm die
Durchforstung von Methodikpublikationen breiten Raum ein, denn hier sollten
sich Anstösse für das methodische Vorgehen bei der Arbeit herauskristallisieren.
Diese Recherchen führten dann zur Entscheidung, die Datenerhebung mit Hilfe
leitfadengestützter Interviews durchzuführen, welche sich am Modell des verstehenden Interviews nach Bourdieu und Kaufmann (vgl. 1997b, S. 779-802, 1999)
orientieren sollten. Ausser den Texten dieser beiden Autoren wurde noch eine
Anzahl weiterer Methodikpublikationen ins Konzept einbezogen (zum Beispiel
die Werke von Philipp Mayring, Horst O. Mayer, Ralf Bohnsack und Anderen).4
Wichtige Belege und Kommentare zum Thema fanden sich auch im reichhaltigen statistischen Material der zwischen 1930 und 2000 im Religionsbereich
immer differenzierter durchgeführten Erhebungen der Eidgenössischen Volkszählungen.
2) Studienteilnehmende: Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass eine
Person Produzentin und Trägerin von Kultur sowie intentional handelndes
Gesellschaftsmitglied ist. In diesem Sinne wurden auch die ProbandInnen angesprochen, welche als Voraussetzung für eine Beteiligung an der Untersuchung
ein Interesse am Thema sowie ihre eigene Haltung zu Religion und Religiosität
in die Interviews einbrachten. Weil die Studienteilnehmenden sozusagen die
›Quelle‹ dieser Forschung sind, erhalten die Vorgänge um sie herum auf den
Seiten 49 bis 51 einen eigenen Beitrag in Form von Kapitel 4.2.
3) Leitfaden, Memos, Interview-Agenda: Empirische Sozialforschung ist
ein Handwerk, darum kommt den verschiedenen Werkzeugen entsprechende
Bedeutung zu. Ein wichtiges Hilfsmittel in der Phase der Datenerhebung, der
Leitfaden, ermöglichte es, die Interviews zu strukturieren und den ProbandInnen gleichwertig zu begegnen, unabhängig von ihren sprachlichen und sonstigen Kompetenzen. Er besteht aus präzis formulierten Stichworten sowie Erzählanreizen und orientiert sich an den Fragestellungen. Auch musste er genügend
Raum bieten, damit ad hoc über Änderungen im Fragenkatalog entschieden wer4
46
Siehe Literaturverzeichnis.
den konnte.5 Während die Interview-Agenda organisatorischen Nutzen brachte,
flossen die Kommentare und Notizen der Memos in Aufbereitung und Auswertung der transkribierten Daten ein. Einzelheiten zu dieser Thematik sind in der
Beschreibung zum Forschungsverlauf in Kapitel 4.3 zu finden.
4) Interviews: Sie sind inhaltlicher und methodischer Mittelpunkt der
Dissertation. Wie ein roter Faden manifestierten sich die Kriterien des verstehenden Interviews nach Bourdieu (1997b) und Kaufmann (1999) durch die
ganze Phase der Datenerhebung. Spätestens nach den ersten Befragungen wurde
klar, dass der ursprünglich gewählte Religiositäts-Begriff im Kontext der Stichprobe zu eng gefasst und zu modifizieren war. Bei Beginn des Projekts bestand
die Absicht, nur konfessionslose Personen zu befragen, die sich als religiös
definieren. Weil die ProbandInnen für sich das Phänomen Religiosität jedoch
zwischen Hochreligiosität und blossem Interesse am Thema ansiedelten, mussten diese Begriffe in der Folge neu definiert werden.6 Dies zeigt, wie wichtig es
ist, dass Forschende Revisionen gegenüber offen bleiben und das eigene Konzept ständig hinterfragen. In Kapitel 4.3 sind auf den Seiten 52 bis 54 wichtige
Details zu den Interviews festgehalten.
5) Transkripte: Als Zwischenstufe lieferten wortwörtliche Transkripte der
Tonbandaufnahmen aus den Befragungen – zusammen mit den Memos – die
notwendigen Voraussetzungen für die nächsten Schritte der Datenaufbereitung
und -auswertung. Aus dieser Fixierung des Mündlichen resultierte eine Struktur
in Form von Text, ein Muss im Rahmen qualitativer Studien, damit ein fassbarer
Zugang zum nachfolgenden Schritt entsteht, nämlich der Analyse der einzelnen
Interviews.
6) Analyse der einzelnen Interviews: Sinn und Zweck dieses Vorgangs liegt
einerseits in der Bereitstellung einer Grundlage für die nachfolgende Transversale Inhaltsanalyse und andererseits in der publikationsfähigen Darstellung
5
6
Leitfaden siehe Anhang 6, S. 343-344.
Zum Religiositäts-Begriff siehe Kapitel 2.2, S. 25-26.
47
vorläufiger Forschungsresultate. Im konkreten Fall führte dieses Verfahren zu
einer neuen Dimension des Geschehens, indem die Transkripte mittels einer
selektiven Verdichtung so aufbereitet wurden, dass die Möglichkeit entstand,
von den einzelnen Interviewten ein stimmiges Bild zu entwerfen, welches ihre
Persönlichkeit in einen Zusammenhang mit ihren Stellungsnahmen zum
Forschungsgegenstand brachte und erste Interpretationen erlaubte. Solche Texte
enthalten immer auch narrative Elemente und verfolgen einen hermeneutischen
Ansatz, weil mit dieser Methode der Drehpunkt explizit auf das ›Verstehen‹ des
ganzen Gefüges gerichtet ist, was mit den Intentionen der Forscherin korrespondiert.
7) Kategorien-System: Kategorien dienen einer Reduktion der Komplexität
von Datenmengen, sind auf die Extraktion von Einzelinformationen ausgerichtet
und verhelfen zu einem strukturierten Analyseraster. Sie bilden die Ausgangslage für das Interpretationsmuster sowie die Theoriebildung im Rahmen der
Transversalen Inhaltsanalyse. Sie alimentieren sich aus den Fragestellungen
sowie den Zeugnissen der ProbandInnen und berücksichtigen die Mikro-, Mesound Makroebene von Religion und Religiosität. Das in dieser Untersuchung
eingesetzte Ensemble von Kategorien ist auf den Seiten 17 und 56 näher beschrieben.
8) Transversale Inhaltsanalyse: Mit den Analysen als Einzeldarstellungen
sowie dem Kategorien-System lag eine solide Basis für die Erarbeitung einer
Gesamtsicht des Gegenstands und damit der Theoriekonstruktion vor. Die
Entdeckungsreise fand zwar auch hier eine Fortsetzung, doch die Zeit der
Improvisationen und Interaktionen unter den an der Stichprobe Beteiligten war
nun vorbei. In einem Hin-und-Her zwischen den Elementen Fragestellung –
Feldforschung – Hypothesenbildung – Modellbildung wurden gleichartige,
pointierte Gedanken aus den Interviews gesammelt, der entsprechenden Position
im Kategorien-System zugeordnet und einer Detail-Analyse unterzogen. Die
nach wie vor zentrale Textgebundenheit dieses weiteren Verdichtungsvorgangs
erhielt durch logisch platzierte Transkriptausschnitte eine zusätzliche Legitima48
tion. Die Transversale Inhaltsanalyse ist ein Produkt der Theoriebildung mit den
Mitteln grösstmöglicher Differenzierung und Präzisierung des empirischen
Materials, ohne einem sterilen Abstraktionsmodus zu verfallen.
9) Schlussfolgerungen: Hier spielte die Terminologie der Interviewten nur
noch eine untergeordnete Rolle, dafür flossen nun theoretisches Wissen und
Querverbindungen in Form von Literaturhinweisen und anderen Studien in die
Argumentationsketten ein. Besondere Aufmerksamkeit erhielten in diesem Kapitel Zukunftsfähigkeit und Perspektiven von Religion und Religiosität, wobei
festzuhalten ist, dass sich in diesem Kontext verschiedene Elemente einer
Sättigung entzogen, weil infolge der gesellschaftlichen Umbruchsituation zu
viele Fragen offen bleiben mussten. Dazu kommt, dass diese Studie nicht mehr
aussagen will, als es die kleine Stichprobe erlaubt.
Die folgenden Seiten sind ein Ausschnitt aus der Forschungswerkstatt und
zeigen, wie an diesem Ort an einer gültigen Form des Gegenstands gehobelt,
gefeilt und geschliffen wurde. Die Wahrnehmung des handwerklichen Charakters qualitativer Sozialforschung soll verhindern, dass apriorische Muster die
Sicht auf die Daten verstellen und das wissenschaftliche Ziel dieser Art von
Untersuchung der Wirklichkeit nicht aus den Augen verloren wird, nämlich,
einen Bogen zwischen Empirie und Theorie zu spannen.
49
4.2 Die Studienteilnehmenden
Das A und O des auf Empirie beruhenden Forschungsprozesses sind die Zeugnisse der Studienteilnehmenden, weshalb die Suche nach geeigneten KandidatInnen grosse Sorgfalt verlangt. Thema und Kontext einer derartigen Untersuchung legen es nahe, dass die Rekonstruktion lebensgeschichtlich erworbener
Erfahrungen zu Religiosität intime Aspekte enthalten kann und damit eine
Vorgehensweise impliziert, die auf Wertschätzung, Lauterkeit sowie entsprechenden wissenschaftlichen Kriterien beruht. Ein gelingender Umgang mit den
InformantInnen hängt zudem wesentlich davon ab, wie viel Empathie, Vertrauen
und Offenheit beiderseits in die Kommunikation eingebracht werden können.
Von der gewünschten Zusammensetzung der ProbandInnen bestand im
Vorfeld des Dissertationsprojektes ein recht konkretes Bild, das sich dann auch
mehr oder weniger umsetzen liess. Grundsätzlich vorgesehen waren 16 bis 20
Studienteilnehmende, wobei möglichst wenige der Autorin nahestehende Personen mitmachen sollten. Obwohl es laut Froschauer und Lueger (2003) gegen die
Regeln qualitativer Sozialforschung verstösst, erschien es aus den nachstehend
aufgeführten Gründen sinnvoll, dass die Gruppe je zur Hälfte aus Männern und
Frauen besteht, aus verschiedenen sozialen Schichten kommt und altersmässig
alle Dezennien zwischen den 1930ern- und 1990ern-Geburtsjahrgängen vertreten sind. Diese Auswahlkriterien ermöglichten es, das sich in der Gegenwart
manifestierende riesige Generationengefälle im religiösen Feld einigermassen
adäquat zu erfassen und zudem der Thematik nachzugehen, ob die manchmal
geäusserte Vermutung wirklich stimmt, dass Frauen religiöser sind als Männer.
(Antworten auf die Fragen, welche sich aus den beiden Problemlagen ergeben,
sind in 7.4 – Aktuelle Formen individualisierter Religiosität – auf Seite 310 zu
finden.)
Gesamthaft erhielten gegen 40 potentielle KandidatInnen eine Anfrage mit
einem Kurzbeschrieb des Projekts, entweder über Brief, E-Mailnachricht oder
ein Gespräch. Von sechs Kontaktierten kam kein Bescheid, drei sagten ab, eini50
ge der Angefragten erwiesen sich nachträglich als ungeeignet. Mehrere Personen
meldeten von sich aus ihr Interesse an einer Studienteilnahme an. Zusätzlich
wurden entsprechend abgefasste Flyers auf den schwarzen Brettern von ETH,
Universität Zürich, Hochschulen und Bibliotheken (ohne Ergebnisse) platziert
sowie ein Zeitungsinserat geschaltet.
Aus dieser sich über längere Zeit hinziehenden Evaluation resultierte
schliesslich eine Liste, in der die 20 Studienteilnehmenden entsprechend dem
Datum ihrer Zusage einen Code zwischen eins und zwanzig erhielten.7 Allen
Personen wurde die konsequente Anonymisierung der Daten zugesichert; drei
von ihnen stimmten der Befragung nur unter der Bedingung zu, dass das Transkript des Gesprächs nicht veröffentlicht werde. Der Theologe Josef Hochstrasser
gab im Nachhinein die Erlaubnis, seine Anonymität aufzuheben, weil es sinnvoll
erschien, verschiedene seiner Publikationen in die Analyse einzubeziehen. Die
an der Forschung Beteiligten weisen folgende Kennzeichen auf: Zwei Probanden entstammen der Verwandtschaft, eine Frau dem Freundes-, vier Personen
dem Bekanntenkreis, die restlichen 13 lernte die Autorin erst durch die Interviews kennen. Je zehn Frauen und Männer aus den unterschiedlichsten Berufen
im Alter zwischen 14 und 78 Jahren stellten sich für ein Gespräch zur Verfügung. Acht von ihnen sind verheiratet, drei geschieden, fünf unverheiratet, aber
in fester Partnerschaft, vier leben als Single. Sechs Studienteilnehmende erhielten als Kinder eine katholische, acht eine reformierte religiöse Sozialisation;
fünf wurden nicht getauft und wuchsen oder wachsen ohne Konfession auf. In
zwei Fällen vertraten die Eltern radikale religions- und kirchenfeindliche Positionen. Vier Personen kommen aus überdurchschnittlich frommen katholischen
Familien; drei Männer können als hochreligiös bezeichnet werden. Zwei Frauen
und ein Mann leben eine alternative Religiosität; ein Mann definiert sich als
Nihilist, der jede Form von Überweltlichkeit verwirft. Die anderen Informant7
Liste der Studienteilnehmenden siehe Anhang 5, S. 342.
51
Innen vertreten sehr unterschiedliche religiöse Standpunkte, welche von tiefer
Frömmigkeit, Agnostik über Faszination, einer extrinsischen Sicht auf Religion,
Ratlosigkeit, einer Art von Kinderglauben bis zu einem blossen Interesse am
Thema reichen. Unter den Studienteilnehmenden befinden sich auch permanent
Suchende und ganz wenige Personen, die sich der Qualität ihrer individualisierten Religiosität sicher sind. Obschon alle der institutionalisierten Religion
gegenüber eine kritische Haltung einnehmen – oder Kirchlichkeit ganz ablehnen
–, besteht bei sechs ProbandInnen (einer Katholikin, fünf Reformierten) aus
emotionalen oder sozialen Gründen noch die Mitgliedschaft bei einer Landeskirche. Eine Frau und ein Mann gehören zu den so genannt Kasualienfrommen,
das heisst, sie verbleiben in der Kirche, weil sie deren Dienstleistungen bei den
Lebenswenden (Taufe, Erstkommunion, Konfirmation, Trauung, Beerdigung) in
Anspruch nehmen wollen. Zur Gegenwartsbezogenheit der Studie trägt auch bei,
dass vier Studienteilnehmende (drei weiblich, einer männlich) nach 1980 geboren sind und somit zur Generation der Digital Natives gehören, welche mit
Religion und Religiosität zum grossen Teil sehr anders umgehen als ihre Eltern.
Bei der beträchtlichen Bandbreite an Alterskategorien, biografischen Entwürfen und Verläufen sowie Persönlichkeitsmerkmalen fällt es schwer, ein in
sich geschlossenes Gruppenbild der Forschungssubjekte zu erhalten. Was diese
Menschen verbindet, ist die Distanz zum institutionalisierten Christentum, das
starke Streben nach Autonomie, ein kritischer Geist, die Neigung, reflexiv an
Dinge heranzugehen sowie die Bereitschaft, zu einem Gegenstand Stellung zu
beziehen, der mit der Preisgabe eines gewissen Masses an Innerlichkeit verbunden ist, gleichzeitig aber auch Gelegenheit bietet, sich in einem relativ geschützten Raum auszusprechen. Aus dieser Konstellation heraus war zu erwarten, dass
sich aus den Interviews ein vielfältiges Material ergeben würde, was sich dann
auch bestätigte.
52
4.3 Erhebung der Daten
Bereits während der KandidatInnen-Suche wurde ein weiteres Stück des empirischen Forschungsprojektes in Angriff genommen, nämlich die Konstruktion des
Leitfadens, sollte dieser doch eine Stütze für gelingende Interviews abgeben.
Seine Formulierung konnte selbstredend nicht aus dem Leeren heraus erfolgen,
sondern entwickelte sich nach und nach vor dem Hintergrund des Untersuchungsgegenstandes und der Überlegungen theoretischer Natur. Durch die ausführliche Beschäftigung der Autorin mit Religion und Religiosität im Kontext
des 21. Jahrhunderts standen Teile des Fragenkatalogs – der sich möglichst konsequent an die Problemstellung und das geplante methodische Vorgehen hielt –
schon bald nach Forschungsbeginn fest. In der Folge erfuhren die Themenkomplexe – wie bei solchen Vorhaben üblich – eine mehrmalige Überarbeitung,
indem neu auftauchende Aspekte aufgenommen oder bestehende Fragestellungen gestrichen wurden. Letztendlich resultierte ein hypothesenorientierter, halbstandardisierter Leitfaden mit 31 Fragen, in vier Blöcke aufgeteilt.8 Parallel zu
diesem Papier entstand eine Interview-Agenda, weil einige ProbandInnen aus
terminlichen Gründen die Gespräche bis ein halbes Jahr zum Voraus vereinbaren wollten. Festgehalten wurde hier auch der Ort der Befragung, den die
InformantInnen wählen konnten, allerdings mit der Auflage, dass eine ruhige,
ungestörte Gesprächsatmosphäre zu ermöglichen sei. (Eine Hälfte der Studienteilnehmenden wünschte, bei sich daheim interviewt zu werden, die andere Hälfte kam ins Haus der Forscherin.) Zusätzlich erhielten die ProbandInnen je ein
Memo angelegt, worin alle E-Mail- sowie Briefkorrespondenz, Telefonate, Beobachtungen, und weitere Diskussionen im Kontext des Untersuchungsthemas
stichwortartig oder mit detaillierteren Einträgen vermerkt wurden. Diese Notizen erwiesen sich später als nützlich, vor allem wenn es sich um Personen
handelte, welche die Doktorandin vorher nicht kannte.
8
Siehe Anhang 6, S. 343-344.
53
Nach diesen umfangreichen Vorbereitungen konnte dann im Sommer 2009
die eigentliche Phase der Datenerhebung in Form des ersten Tonband-Interviews
beginnen. Dieses Gespräch mit dem Journalisten und Regisseur Daniel G. wies
einige Kinderkrankheiten auf, indem die Forscherin zu viele Zwischenfragen
stellte, was den Fluss des Ganzen beeinträchtigte sowie die nachfolgende, aufwändige Arbeit des Transkribierens unnötig komplizierte und verlängerte. Aus
der anfänglichen Unsicherheit heraus erwies sich auch die Distanz zum verwandten Probanden als schwierig, ein Problem, das jedoch in den späteren
Unterredungen nicht mehr auftrat. Der erste Test erforderte ebenfalls gewisse
Korrekturen von Struktur und Handhabung des Leitfadens. Nach der Bereinigung dieser Mängel und einem geschärfteren Sensorium für die Feinheiten der
erhaltenen Informationen verliefen alle Befragungen – bis auf eine – den
Erwartungen entsprechend, was nicht heisst, dass keine Reibungsflächen und
Widersprüchlichkeiten mehr entstanden. Beim verfehlten Gespräch mit dem
Grafiker Mario Z. lag ein Missverständnis vor, denn eine im gleichen Raum
anwesende Person hörte während der ganzen Zeit Radio und telefonierte ständig, was keine unbefangene Stimmung aufkommen liess und so das Interview
viele gekünstelte Züge annahm und in zu grosser objektivierender Distanz erstarrte. Auch litt hier – ebenso bei den zwei Jüngsten – die Gesprächsdynamik,
was sich auf die Beschaffenheit der erhobenen Daten auswirkte. Allgemein ist
von diesen Unterredungen zu sagen, dass der dabei gewählte Sprachmodus (18
Mal unterschiedliche Schweizer Dialekte, zwei Mal Hochdeutsch) sich für die
Natürlichkeit des Informationsklimas als vorteilhaft herausstellte und sicher
dazu beitrug, dass aus den Interviews dichtes Material von guter Qualität hervorging. Der für die Strukturierung von Befragung und nachfolgender Interpretation
sich als hilfreich erweisende, so offen wie möglich formulierte Leitfaden wurde
nicht einfach der Reihe nach abgehakt, vielmehr flexibel gehandhabt, oft variiert
und mit der Situation angepassten Zwischenfragen, spontan auftauchenden Einfällen oder mit narrativen Elementen ergänzt. Es kam auch vor, dass sich nicht
54
alles Vorgesehene und Wünschenswerte einbringen liess, sei es, weil Personen
sich nicht auf einen bestimmten Aspekt einlassen wollten, sei es, weil für gewisse Fragen die Vorbedingungen fehlten. Wenn ProbandInnen für die Autorin
völlig unbeschriebene Blätter waren, musste berücksichtigt werden, dass unter
Umständen sozial erwünschte Antworten resultierten, was zusätzliche Fragen
oder ein Nachhaken nötig machte. Zudem sind Interviews Momentaufnahmen,
die zu einem späteren Zeitpunkt eventuell zu anderen Ergebnissen führen
können. Der Journalist und Regisseur Daniel G. meinte zum Beispiel, die Geschichten, welche er hier erzähle, gehen ihm nahe und seien deshalb sehr emotional, was er in einem Jahr vielleicht anders interpretieren würde. Als fruchtbar
erwies sich die Einstiegsfrage nach den religiösen Erlebnissen in Kindheit und
Jugend, weil hier ein grosser Teil der Studienteilnehmenden – allerdings nicht
die zwei Jüngsten – aus dem Vollen schöpfen konnten und ausgiebig zu erzählen
wussten. In der Regel führte diese Mitteilsamkeit zu einer entspannten, vertrauensvollen Atmosphäre mit einem fruchtbaren Austausch und unverstelltem
Gesprächsstil sowie mehrheitlich grosser Offenheit dem Thema gegenüber. In
den teils berührenden Begegnungen kam Erwartetes, aber auch Frappierendes zu
Tage, und die Ergebnisse mit dem Reichtum an Zeugnissen bestätigten die
grosse Bedeutung der InformantInnen im Forschungsprozess, denn sie sind es,
welche den inhaltlichen Ansprüchen des Gegenstands ihren Stempel aufdrücken.
Insgesamt kann dieser Teil der Arbeit als der menschlich wie wissenschaftlich
bereicherndste bezeichnet werden. Menschlich, weil die Autorin durch die
intensiven Gespräche zu Kontakten mit bemerkenswerten und wertvollen
Persönlichkeiten kam; wissenschaftlich, weil die Praxis empirischer Forschung
– durch ihre Funktion als Lebensschule – enorme Lernprozesse in Gang bringt.
55
4.4 Datenaufbereitung
Unmittelbar nach einem Interview erfolgte die Transkription der gewonnenen
Daten ab dem Tonband. Von den 20 Gesprächen – welche zwischen 50 Minuten
und beinahe zwei Stunden dauerten – entstanden 18 davon in verschiedenen
Schweizer Dialekten und mussten deshalb in die Schriftsprache übertragen
werden, was sich als unproblematisch erwies. Die Arbeit des mehrmaligen
Nachhörens, Aufschreibens und Nachlesens der Unterredungen machte die tiefgehende Interaktion zwischen den Beteiligten erst richtig nachvollziehbar und
nahm die Qualität einer wertvollen Gedächtnisstütze an, was den weiteren Umgang mit dem Material nachhaltig beeinflussen sollte. Die knapp 400 Seiten der
Transkripte stellten dann zusammen mit den Memonotizen die Grundlage für
den nächsten Forschungsschritt dar, die Analysen der einzelnen Interviews. Von
den 20 Verschriftlichungen wurden 16 auf je acht bis zwölf Seiten bearbeitet,
wobei hier viele Direktzitate aus den Transkripten einflossen.
Weil Religion und Religiosität von komplexer Natur sind und viele Bezirke
des Individuums wie der Gesellschaft berühren, reicht es nicht, diese Phänomene nur aus einem Blickwinkel zu betrachten. Im Bereich der Analysen von
Einzelinterviews fiel die Wahl deshalb auf eine interdisziplinäre Perspektive, die
neben soziologischen Aspekten auch Einsichten aus Philosophie und Psychologie berücksichtigte, deren Domänen sowohl mit der Gesellschaft als auch mit
dem Individuum korrelieren. Gemeinsam mit dem Ansatz der hermeneutischen
Interpretation – welcher dem Vorverständnis des Themas eine wichtige Rolle
zuweist – ergab sich damit eine solide Ausgangslage für Quervergleiche und
Querverbindungen sowie eine erste Konkretisierung der während des ganzen
Forschungsprozesses fortlaufend erfolgten Generierung adäquater Theorien. Mit
diesem reichhaltigen Bestand an Materialien konnte dann einer der wichtigsten
Teile der Untersuchung beginnen, die Transversale Inhaltsanalyse.
56
4.5 Transversale Inhaltsanalyse
Diesem Abschnitt der Arbeit kommt nach den Interviews der grösste Stellenwert
zu, ergeben sich hier doch absehbare wie auch überraschende Antworten auf die
Fragestellungen der Untersuchung. Bereits früh im Forschungsprozess – spätestens jedoch bei der Entwicklung des Leitfadens – begann die Suche nach
Begriffen, welche die Brennpunkte des Vorhabens repräsentieren und Anhaltspunkte für die spätere Auswertung der Ergebnisse liefern könnten. Die wichtigsten Anstösse und Ideen für die Auswahl von Analyse-Kriterien lieferten jedoch
einerseits die vielfältige Rohdatenquelle aus den Gesprächen mit den Studienteilnehmenden und andererseits die darauf folgenden Transkripte der Interviews.
Im Weiteren führten dann die theoretischen Überlegungen und Erkenntnisse aus
der Rekonstruktion von Religiosität und Spiritualität der 20 ProbandInnen in den
Analysen der einzelnen Interviews schliesslich zur Konstruktion eines für die
nachfolgende Transversale Inhaltsanalyse schlüssigen Kategoriensystems. Ergebnis dieser Zerlegung der verschiedenen Materialien war ein Analyse-Raster,
der von der Makro-, über die Meso- zur Mikroebene leitet und Auskunft über
Beziehungsmuster, Ansichten und Standpunkte der Studienteilnehmenden im
Kontext von Religion gibt. (Details dazu sind in Kapitel 1.3 nachzulesen.) Angehängt an die Transversale Inhaltsanalyse finden sich die Schlussfolgerungen, wo
die wichtigsten Erkenntnisse – wie in einem Sammelbecken – nochmals aufgenommen, vertieft und auf ihre Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden, um sie
mit Querverbindungen, interdisziplinären Aspekten und zusätzlichen Interpretationen zu erweitern.
Analysen der einzelnen Interviews, Transversale Inhaltsanalyse und Theoriengenerierung erwiesen sich als der kreativste, aber auch als arbeitsintensivster
Teil im Forschungsprozess. Der kreativste, weil nicht nur die Herausforderungen des Gegenstands, sondern auch diejenigen an die Selbstorganisation eine
57
ständige Aufgabe darstellten. Während das Datensammeln mit Abwechslung
und Impulsen von aussen verbunden ist, dominiert bei einer allein verantworteten Stichprobe während der Aufbereitungs- und Auswertungsphase fast ausschliesslich die Innenperspektive, was stellenweise beträchtliches Durchhaltevermögen erfordert. Dazu kommt das früher oder später regelmässig auftauchende, altbekannte Problem der überbordenden Materialmengen, sodass Forschende
vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen, was sich bei einer Gruppe weniger gravierend auswirkt, weil hier jederzeit Austausch und Rückmeldungen
stattfinden. Auch fehlt in einem solchen Fall die soziale Kontrolle einer Gemeinschaft, welche beim Abdriften in Spekulationen oder apriorische Aussagen
regulierend eingreift. Arbeitsintensiv ist die Zeit des Schreibens allemal, gilt es
doch hier, ein papierenes Gefäss statt mit Floskeln mit substantiellen Inhalten zu
füllen. Dazu kommen das ständige Abwägen zwischen Akzeptanz oder Verwerfung einer bestimmten Textinterpretation, die Suche nach angemessenen Formulierungen und in der Endphase die vielfach nötig werdende Relektüre, um das
Erinnerungsvermögen aufzufrischen. Nicht zu unterschätzen ist auch der Aufwand einer berufsbegleitenden Abfassung der Dissertation, verlangt diese Konstellation doch, zwischen dem beruflichen Alltag mit seinen Ansprüchen und der
Schreibarbeit hin und her zu oszillieren, was ein durchdachtes Zeitmanagement
und Flexibilität bedingt. Doch solche Herausforderungen entsprechen einem
sportlichen Training auf mentaler Ebene und bringen auch Genugtuung sowie
Resonanz im sozialen Feld. In diesem Zusammenhang wird ausserdem klar, dass
Methodik allgemein viel mit Ressourcenbewirtschaftung zu tun hat.
Die drei nun abgeschlossenen Kapitel des theoretischen Teils der Dissertation haben Voraussetzungen und Werkzeuge beschrieben, die es ermöglichen,
eine derartige Forschung durchzuführen. Im folgenden empirischen Teil werden
die Erkenntnisse aus diesen Überlegungen in eine der Sache angemessene Form
gebracht.
58
59
Empirischer Teil
60
5 Analysen der einzelnen Interviews
Einen zentralen Platz im Untersuchungsprozess nehmen die mit den 20 Studienteilnehmenden geführten Gespräche ein. Einzelheiten zu diesen Personen sind in
Kapitel 4.2, Seiten 49 bis 51, nachzulesen. Die als Ausgangspunkt der Datenerhebung gewählte Methode des »Verstehenden Interviews« (Bourdieu 1997,
Kaufmann 1999) kommt nicht nur in der Befragungsphase zum Tragen, sondern
geht nahtlos in die interpretative und strukturelle Auswertung des gewonnenen
Grundmaterials über, welches zunächst in Form der Transkripte vorliegt. Die
aus den Transkripten generierten und in diesem Kapitel dargestellten Analysen
der einzelnen Interviews zielen als erstes darauf, die Charakteristika der
verschiedenen Personen herauszuarbeiten und wollen zweitens den Inhalt der
Interviews so reduzieren, dass trotz der Abstraktion die wesentlichen Aussagen
der ProbandInnen erhalten bleiben und zugleich Raum für erste Deutungen
geschaffen wird. Dieser Vorgang beinhaltet auch die Aufforderung, bei der
Interpretation das Selbstkonzept eines Menschen aus der notwendigen Distanz
zu betrachten.
Von den aus den 20 Gesprächen entstandenen Verschriftlichungen werden
16 ausgewählt und einer systematischen Analyse unterzogen. Die vier für die
detaillierte Auswertung nicht berücksichtigten Interviews (Kapitelnummern 5.17
bis 5.20) erhalten in Form einer Kurzzusammenfassung ihren Platz im Beitrag.
Die Transkripte der beiden Gespräche mit der jüngsten (5.8) und dem ältesten
(5.9) Studienteilnehmenden9 finden sich als Nachweis im Anhang. Den Auftakt
der Bearbeitungen machen die Interviews mit den acht weiblichen, gefolgt von
denen mit den acht männlichen ProbandInnen, je in absteigender Reihe nach
Jahrgang geordnet. Die Altersangaben in den Transkripten entsprechen dem
Zeitpunkt der Interviewführung. Die am Ende von Direktzitaten in Klammern
aufgeführten Zahlen nehmen Bezug auf die Seitenangaben in den Verschriftlichungen.
9
Die Genehmigung zur Publikation der Transkripte liegt vor.
61
5.1 Anna S., Ikebana-Lehrerin, 1941
Anna S. und die Verfasserin sind seit 1994 miteinander bekannt, weil sie sich
damals am Ikebana-Seminar einer japanischen Meisterin begegneten. Anna S.
ist autorisierte Lehrerin der seit dem 15. Jahrhundert etablierten japanischen
Ikenobo-Schule und führte bis Ende 2010 in der Agglomeration Bern eine
eigene Study Group, die sie nun aus Altersgründen einer Japanerin übergeben
hat. Seit 1996 reist sie regelmässig nach Japan und pflegt intensive Kontakte
zum Ikenobo-Hauptsitz in Kyoto. Die Persönlichkeit von Anna S. ist schnörkellos, herzlich und kommunikativ; man weiss, woran man mit ihr ist. Neben dem
beruflich bedingten hochdifferenzierten Umgang mit Pflanzen gehört ihre Liebe
den Künsten, sei es nun Musik, Literatur, Malerei, Plastik oder Theater. Dazu
reisen sie und ihr Mann viel und gerne, widmen sich dem Freundeskreis und
fahren jede Woche nach Lausanne, um die beiden Enkelkinder zu betreuen.
Ehepartner Ernst hat sein IT-Unternehmen nach der Pensionierung an die Mitarbeitenden verkauft, betätigt sich immer noch aktiv als Ballonpilot und übt sich
in der japanischen Kunst des Bogenschiessens. Der Sohn studierte Anglistik
sowie Film, ist verheiratet und arbeitet beim Westschweizer Fernsehen. Die
Tochter starb 1980 im Alter von zwölf Jahren bei einem Unfall.
Für die Autorin war schon früh klar, Anna S. als Gesprächspartnerin
gewinnen zu wollen, auch wenn sie sich vorgenommen hatte, möglichst wenige
Personen aus dem Freundeskreis in das Doktoratsprojekt einzubeziehen. Obwohl die Verbindung eher als lose bezeichnet werden kann, ist diese eine nahe
und vertraute; Anna S. hat in diesem Zusammenhang schon mehrmals von einer
Seelenverwandtschaft gesprochen. Zu Beginn der Forschung war den Beteiligten nicht ganz klar, ob eine Studienteilnahme bei dieser Konstellation glücken
könne, doch wurde ungeachtet der leisen Vorbehalte ein Termin auf den 14. Juli
2009 in Winterthur vereinbart. Die Unterredung verlief dann auch wie jedes
andere Gespräch mit Anna S.: angeregt, offen und respektvoll.
62
Anna S. ist 68 Jahre alt und in einer Landgemeinde des Kantons Bern
geboren. Sie und ihre Geschwister wurden zwar von den Eltern in die Sonntagsschule der Evangelischen Gesellschaft geschickt, wo das Kind der schönen
Stimmung und der beeindruckenden Geschichten wegen liebend gerne hinging.
»Aber sonst hat Religion in meiner Familie keine Rolle gespielt. Ich habe Vater
und Mutter nie in der Kirche begegnet.« (1)
Indessen wäre ein Austritt aus der Kirche zu jener Zeit undenkbar gewesen, da
mit einer völligen sozialen Ächtung durch die Gemeindemitglieder verbunden;
doch zuhause stand das Thema ›Religion‹ nie zur Debatte. Die Haltung war
neutral, eine religiöse Praxis gab es nicht, was Anna jedoch hinnahm, ohne in
diesem Bereich negative Gefühle zu entwickeln. Abschätzige Reden über die
Kirche und deren Personal hörte sie keine, aber sie wusste, dass die Eltern den
Pfarrer nicht leiden mochten.
»Aber man hat ethische Grundsätze gehabt, einfach ungeschriebene Gesetze, die
sich vielleicht an dieser gängigen Meinung orientiert haben.« (1)
Dieser säkulare ethische Rahmen genügte, damit die Familienmitglieder wussten, was Sache ist und was nicht, wofür Anna S. auch die familiäre Tradition
verantwortlich macht. Doch trotz der eingeschränkten religiösen Sozialisation
kam die Gesprächspartnerin in der der frühen Kinderzeit zu einem religiösen
Schlüsselerlebnis, das bei ihr noch heute einen Schauder auslöst, wenn sie daran
denkt. Bei der kurzen Szene ging es darum, der Versuchung zu widerstehen, ein
Bonbon zu stehlen, das absichtslos auf einem fremden Tisch lag.
»Ich sehe es heute noch vor mir, wie ich dort stehe und mir sage: Nein, der
Heiland oder der liebe Gott sieht mich, und ich würde ihm keine Freude machen,
wenn ich das nähme. Ich bin nachher unheimlich stolz auf mich und diesen
Verzicht gewesen.« (1)
Ähnliche Dinge, die sie nachher ab und zu erlebte, führt sie auf den Einfluss der
Sonntagsschule zurück. Diese Entsagungen gaben ihr jeweils ein gutes Gefühl,
führten aber weder in der Kindheit noch später zu einem schuld- oder sühnezentrierten Habitus, was im doch recht rigiden Milieu des damaligen bernischen
Protestantismus keine Selbstverständlichkeit war. Nach Schule und Konfirmation zog Anna S. nach Zürich und schloss sich für kurze Zeit der Jungen Kirche
an, weil das der einzige Ort war, um jemanden in ihrem Alter zu treffen. Eine
63
religiöse Wende im Leben verschaffte ihr dann ein katholischer, streng gläubiger 20-jähriger Homosexueller, der mit seiner Veranlagung nicht zurechtkam
und bei ihr einen bodenständigen Rat suchte. Im Gegenzug klärte er die religiös
interessierte junge Frau in langen Gesprächen über die Inhalte und Formen des
Katholizismus auf, wobei sie sich besonders zur Marien- und Heiligenverehrung
hingezogen fühlte. Hier bot sich ihr endlich ein emotionaler Zugang zu Religion.
»Ja, der hat mich aufgeklärt, und das hat mir auch gefallen, die Rituale haben
mir gefallen, die Ambiance. Das hat mich alles angezogen, und ich habe das
Gefühl gehabt, dass ich hier eine Lücke fülle, was ich daheim eigentlich gern
gehabt hätte, aber nie bekommen habe. Es ist spät gekommen, aber...« (3)
Anna S. bezeichnet diese Aufklärung als Schlüsselerlebnis, denn sie wäre gerne
sehr religiös gewesen. Sie begann in diesem Zusammenhang zu lesen und
versuchte, die Bildhaftigkeit des Katholizismus mit ihrem Grundbedürfnis nach
Ästhetik und Harmonie zu verbinden, obwohl ihrer Meinung nach die Verkörperung von Schönheit nicht unbedingt etwas mit Religion zu tun hat.
»Ich habe auch ein Weltbild gehabt, das ziemlich fest gewesen ist, vielleicht auch
noch anthroposophisch motiviert. Zwar ist ja Anthroposophie niemals eine
Religion, basiert aber auf Verehrung. Und ich habe gerne etwas verehrt. Etwas
Verehrungswürdiges ist für mich etwas ganz Lebenswichtiges.« (4)
Dieses Verlangen nach einem tragenden Weltbild, nach Ästhetik und Wertschätzung suchte die junge Frau in Einklang miteinander zu bringen. Gelegenheit dazu fand sie in ihrem Beruf als Floristin, in der Beziehung zu ihrem Mann,
den beiden Kindern und gleichgesinnten Menschen. Dazu kamen die Liebe zu
den Künsten, eine aktive Unterstützung der Kirchgemeinde und ab 1976 die
Zazen10-Meditation bei einem berühmten Meister, welche ihr zu ganz neuen
Erfahrungen mit dem Körper verhalf. Sie beschreibt diese so:
»[Ich merkte,] dass ich einen Boden habe und unter den Füssen auch einen
Boden und unter dem Boden nochmals einen Boden, und das wäre dann, ja, ein
göttlicher Urgrund oder was auch immer, aber es ist ein Boden, der mir das
Leben ermöglicht und mir Kraft gegeben hat. Und diese Erfahrung, die eigentlich
10
64
Zazen heisst ›Nur-Sitzen‹ und ist eine im japanischen Zen-Buddhismus beheimatete
ungegenständliche Meditationsform.
dann vom Sitzen kommt, ist etwas – so bescheiden es ist – aber das ist eine
Grunderfahrung.« (5)
Schlagartig erschütterte im Frühling 1980 der jähe Unfalltod der zwölfjährigen Tochter den Alltag von Anna S. in seinen Grundfesten. Dieses Ereignis
bezeichnet sie als Kristallisationspunkt, der eine Form permanenter Gegenwart
angenommen und die Zeit in ein ›Vorher‹ und in ein ›Nachher‹ eingeteilt hat.
Als ob sich alles erst gestern ereignet hätte, schildert die Gesprächspartnerin im
Interview detailliert die Geschehnisse der Tage rund um das Ableben des geliebten Kindes und wie sie den Schock des Verlustes in der langen Phase darnach
verarbeitete.
»Und am Anfang habe ich gedacht, ich könne nie mehr sein wie vorher, und ich
bin es auch nie mehr gewesen.« (12)
Der umfassende Trauerprozess öffnete ihr bisher unbekannte Räume, wurde zur
Konversion, entliess sie liebesfähiger, luzider, demütiger, jedoch auch radikaler
(im Sinne von radice), unverstellter und lehrte sie, in grösseren Dimensionen zu
denken als bis anhin. Sie erlebte diesen frühen Tod als unglaubliche Zumutung,
musste aber erkennen:
»Über so ein Ereignis habe ich jetzt erfahren müssen, was Leben ist.« (17)
Neben der intensiven Zwiesprache mit der verstorbenen Tochter erwies sich in
dieser einschneidenden Zeit die Praxis des stillen Sitzens im Zen als eine der
Hauptressourcen von Anna S. und brachte ihr eine Sicherheit, die sie heute nicht
mehr kennt. Auf die Frage, wie denn ihre jetzige religiöse Situation aussehe,
antwortet sie:
»Die gibt es gar nicht mehr, oder gibt es in einer anderen Form.« (3)
Diese andere Form hat jedenfalls nichts mehr mit einem traditionellen
Christentum zu tun, von dem sie sich ganz abgewandt hat. Seit dem Tod der
Tochter weiss sie,
»dass man von der Kirche keinen Trost erwarten kann. (4) […] Armselig, es ist
einfach nichts da.« (5)
Für die Kirche in ihrer jetzigen Gestalt sieht die Gesprächspartnerin keine
Zukunftsperspektiven. Den gegenwärtig nicht abreissen wollenden Massen65
exodus erklärt sie sich mit dem kläglichen Verhalten der religiösen Institutionen
und ihrer Exponenten, welche versuchen, mit dem patriarchalen Vater-KindBild eines allmächtigen Gottes die Gläubigen unmündig zu halten. Sie selbst hat
den Austritt bisher noch hinausgeschoben; der Hauptgrund dafür ist:
»Ich bezahle auch Kirchensteuern, weil ich weiss, dass es Leute gibt, die das
dringend brauchen. Das ist also quasi etwas Soziales.« (9)
Ihr ist nicht mehr klar, was die christliche Lehre eigentlich will, zu gefällig, zu
unverbindlich – und zum Teil auch zu lächerlich – erscheinen ihr deren
Vorstellungen und Dogmen. Als Exempel nennt sie das mittelalterliche Konzept
eines individuellen ewigen Lebens im Himmel respektive in der Hölle oder die
Idee der Auferstehung aus dem Grab am Jüngsten Tag. Die meisten Postulate
der religiösen Tradition, zum Beispiel die Feindesliebe, sind in ihren Augen
säkular – also aus einer ethischen Haltung heraus – genauso gut zu verwirklichen. Die Frage, ob sie denn im religiösen Bereich nicht weiterkommen
möchte, beantwortet sie mit Nein, denn ein derartiges Ansinnen sei für sie zu
stark mit ›Kirche‹ assoziiert, und so etwas weist sie weit von sich. In diesem
Kontext scheinen ihr auch die rituellen Elemente unserer religiösen Tradition
keinen Sinn mehr zu machen. Zum Glockengeläute sagt sie beispielsweise:
»Ja, das habe ich auch gerne, das ist so. Aber wenn es dann nur noch gefällig ist
und mich nicht zum Gottesdienst ruft oder mich weckt, damit ich aktiv etwas tue,
dann ist es sinnentleert, das ist mir alles auch klar. Ich geniesse das, die
Kirchenglocken, das habe ich sehr gerne. Das sind so die zwei verschiedenen
Haltungen, wie zwei Seelen in meiner Brust.« (10)
(Das Phänomen der ›Zwei-Seelen-in-der-Brust‹ im Kontext der christlichen
Kultur trifft die Autorin bei der Mehrzahl ihrer Studienteilnehmenden an.) Ein
Gebet – wie sie es früher kannte – benutzt Anna S. weder in freier noch in
konfessionell gebundener Form. Stattdessen legt sie in schwierigen Situationen
eine passende Musik-CD auf und erhält von dort eine Antwort auf drängende
Fragen. Auch das Ritual der Zen-Meditation ist ihr abhandengekommen, zu
starke Schmerzen in den Knien haben sie 1996 nach 20 Jahren Praxis zum
Aufgeben gezwungen. Über die anderen Weltreligionen weiss die Gesprächspartnerin nur wenig, hat aber prinzipiell Mühe mit den hierarchisch66
patriarchalen Modellen, welche für sie die Entfaltung des Lebens behindern.
Hingegen erscheint ihr aufbauend, dass in den östlichen Konzepten der Mensch
die Schönheit der Stille pflegt und dazu aufgefordert ist, an sich zu arbeiten und
Verantwortung für sein Denken und Handeln zu übernehmen. Die Flucht in
Ersatz- und Eventreligionen hält Anna S. für gefährlich, weil dies in der Regel
nicht aus dem eigenen Erleben heraus geschieht. Sie anerkennt jedoch, dass es
bei solchen Formen von Religiosität sehr stark um die Gemeinschaft geht, von
welcher der Mensch abhängig ist.
»Der braucht eine Gemeinschaft. Ich gehe von mir aus, und ich brauche eine.
Alleine bin ich niemand.« (10)
So überrascht es nicht, dass Anna ihren eigenen gesellschaftlichen Beitrag darin
sieht, »sozialverträglich« (9) zu sein und sich wünscht, mit der Gewissheit
sterben zu können, dass ein paar Dinge durch sie schöner, leichter oder tiefer
geworden sind. Sie denkt, man solle so viel wie möglich miteinander teilen, weil
dies alle bereichere. Auch Religion fällt unter diese Kategorie, weshalb sie diese
Domäne nicht als Privatsache betrachtet, sondern in ihrem persönlichen Milieu
gerne Dispute zu diesem Thema anstösst. Sie findet es eine »lebendige Sache«
(9), wenn die unterschiedlichsten religiösen Standpunkte zwischen vollständiger
Ablehnung, Spott, Toleranz, aufrichtigem Glauben bis hin zu ultra-orthodoxen
Positionen aufgeworfen und durchdiskutiert werden. Religion und Religiosität
konnten sich erstaunlicherweise in der Partnerschaft nie zu einem Thema
entwickeln, allzu divergent sind hier die Anschauungen, was die Gesprächspartnerin eigentlich nicht stört, sie jedoch während der Grossen Trauer belastet
und einsamer gemacht hatte.
Nach dieser Phase der Grossen Trauer veränderte sich das äussere Leben
von Anna S., ihre gesellschaftliche und private Stellung vorerst nicht wesentlich.
Erst nach und nach ergaben sich durch die berufliche Neuausrichtung auf das
Ikebana andere Perspektiven. Ihre Innerlichkeit und deren Ausdruck zeichneten
sich nach der belastenden Zeit durch eine Fokussierung auf den Kristallisationspunkt aus. Diese Verdichtung ging aus einem Prozess der Läuterung hervor und
bewirkte eine Entschlackung der existentiellen Bereiche der Gesprächspartnerin,
67
auch im Bezug zum Religiösen. Eine der Folgen davon ist, dass sie seither
Gemeinschaft, Tradition, Rituale – diese extrinsischen Hauptangebote der
Kirche – in den säkularen Realitäten des näheren und weiteren Umfelds sucht
und findet. Intrinsischen Werten der christlichen Lehre wie Gottesbild,
Transzendenz, Lösung der Sinn- und Kontingenzfrage setzt sie aus den eigenen
Erlebnissen gewonnene Erkenntnisse entgegen, wobei sie betont, dass ihre
Wahrheit und Kernerfahrung die Wahrnehmung der Wirklichkeit sei. Sie ist der
Überzeugung, dass das Bedürfnis nach Religiosität und Spiritualität im Menschen drin angelegt ist und sich im Austausch mit dem Du verwirklicht. Ihre
Beziehung zum Göttlichen beschreibt sie so:
»Man sagt halt Gott, aber das ist für mich ein Konstrukt, das ist ein Hilfsmittel.
(5) […] Für mich ist – wenn man das so sagen kann – Gott in allem Schönen zu
sehen, eben in der Musik, vor allem in den unsichtbaren Dingen. Es kann auch in
einer zwischenmenschlichen Beziehung sein, wenn es plötzlich klappt, wenn man
merkt, ich treffe auf jemanden, der auf der gleichen Frequenz läuft. Oder eine
Stimme im Radio, die etwas Wunderbares vorliest. Ich denke, in jeder Art von
Kunst kann man das finden, aber ich würde dem nicht religiöse Ebene sagen. [..]
Eher spirituell. (3) […] Das Göttliche verstehe ich heute eigentlich so: Das ist im
anderen Menschen drin.« (19)
An eine absolute Macht, die das Universum lenkt, glaubt Anna S. nicht. Sie
vertraut den Gesetzen der Natur und kann sich von dieser Warte aus ein Bild
davon machen, wie diese Ordnung in immer noch komplexeren Grössen und
Zusammenhängen aussehen könnte. Doch erfassen kann sie diese Dimensionen
nicht, auch nicht das Geheimnis von Werden und Vergehen, was sie mit grosser
Ehrfurcht gegenüber allem Lebendigen erfüllt. Sie denkt, dass es nach dem Tod
eine Form von Weiterleben gibt, weil ihrer Überzeugung nach nichts verloren
gehen kann. Sie will die Möglichkeit offen lassen, nach dieser Grenzüberschreitung wieder etwas Neuem entgegen zu gehen. Wenn es ihr widerfahren
sollte, dann wäre dies eine Gnade für sie.
»Ich würde dieses Wort jetzt brauchen. Und ich habe das Gefühl, ich lasse es
einfach offen, ich lasse auch mein Ende offen. Aber ich möchte dann auch genug
offen sein, dass ich dann wieder etwas Neuem entgegenkommen könnte. Das
wäre schon schön (lacht).« (16)
68
Auf die Frage, worin sie den Sinn ihres Lebens sehe, meint Anna S.:
»Ich habe das Gefühl, ich könne diese Frage nie beantworten, aber ich möchte
ihr stets näher kommen. Das ist schon etwas, worum ich mich jetzt bemühe. Aber
woher ich komme: Ich weiss es einfach nicht. Wie es entsteht, ich weiss es nicht,
aber ich habe einfach einen Riesenrespekt vor diesem Geborenwerden und
Sterben und vor dem, das dazwischen liegt. Und ich glaube, dass mir das Leben
selbst die Sinnfrage gibt, das Leben selbst.« (8)
Und eine mögliche Antwort auf die Sinnfrage hat Anna S. in der japanischen
Blumenkunst, dem Ikebana (Lebendige Blumen) gefunden, wo sie Natur und
Ästhetik zusammenführen kann. Die Praxis des Blumenwegs ging ursprünglich
aus der buddhistischen Opferblume hervor und erhielt ab dem 15. Jahrhundert
Ansehen als eine der grossen japanischen Künste. Zahlreiche Schulen verschiedener Stilrichtungen vermitteln seither diese Tradition nach den Prinzipien von
Japans Hierarchieverständnis, welches sich sowohl um das Zur-Geltung-Bringen
der Blumen wie auch um die Lehrer-Schüler-Beziehung dreht. Die Symbolkraft
des Ikebanas besteht in der Darstellung der kosmischen Ordnung, welche durch
genau vorgegebene Regeln des Gestaltens sowie die Einteilung der Blumen und
Zweige in Shin, Soe, Tai (Himmel, Mensch, Erde) versinnbildlicht und in den
Lebensraum des Menschen gebracht wird. Die Bedeutung der ursprünglich
religiös konnotierten Elemente des Ikebana ist in der säkularen Welt fast völlig
vergessen gegangen, kann jedoch nach wie vor auf dem Blumenweg als Motivationshintergrund dienen.
Zu Beginn der 1960er-Jahre wohnte die junge Floristin der ersten japanischen Ikebana-Vorführung in der Schweiz bei. Von da weg wusste Anna S.,
dass diese Art des Umgangs mit Pflanzen eindeutig ihren beruflichen Vorstellungen von Weniger-ist-mehr und verfeinertem Handwerk entsprach. Sie las
sich ins Thema ein und konnte sich von Beginn weg mit den zentralen Maximen
des Blumenwegs identifizieren, nämlich der Verbindung von Himmel, Erde und
Mensch sowie der Gegebenheit, dass Kultur in der Natur wurzelt (ohne natura
keine cultura). Sie entdeckte, dass der Stil der Ikenobo-Schule aus Kyoto ihr am
besten lag, weil die seit dem 15. Jahrhundert tätige Institution stets von der
69
gleichen Meisterfamilie geführt wird und die Tradition mit den klassischen
Rikka- und Shoka-Formen am reinsten vertritt. Im Kontext eines Zen-Sesshins
hatte sie 1986 erstmals Gelegenheit, ein Seminar bei der japanischen IkenoboMeisterin Shusui Pointner-Komoda zu besuchen und sich bei ihr im Lauf der
Jahre zur Lehrerin ausbilden zu lassen. (Für ihre Verdienste um die authentische
Vermittlung japanischer Kultur überreichte das japanische Aussenministerium
Anna S. im September 2011 einen Anerkennungspreis.) Die ursprüngliche
Absicht, im Ikebana Ruhe und einen zweckfreien Ausgleich zu finden, weitete
sich mit der Zeit zu einer passionierten Hingabe an den Beruf aus. Diese Arbeit
ermöglicht es Anna S. stets von neuem, ihren eigenen Stil sowie die Verbindung
von Natur und Ästhetik auf einer ausserordentlich subtilen Ebene zu verwirklichen und diesen Reichtum ihren Schülerinnen und Schülern weiterzugeben. Sie
meint, die Praxis des Blumenweges sei zu ihrem eigentlichen Lebensinhalt, zur
Nahrung für die Seele geworden und fasst das Ergebnis ihrer Tätigkeit so
zusammen:
»Ich könnte sagen: meinen Gott finde ich in der Schönheit. […] das gibt mir auch
ein Gefühl, das ich sonst so nicht habe, etwas Erhabenes, etwas Ideales.« (8)
»Die körperliche Erfahrung von Schönheit ist für mich fast heilig.« (Telefon
9.2.2011)
Das abschliessende Zitat legt nahe, hier von einer kosmischen Religiosität
zu sprechen, welche jedoch ganz pragmatisch im Alltag wurzelt. Basis dieser
eher ungewöhnlichen Konfiguration ist die von Anna S. mehrmals thematisierte
Kernerfahrung der Wahrnehmung von Realität als persönlicher Wahrheit. Dazu
kommt die in dieser Biografie aus dem Rahmen tretende Gruppierung der
Existenz um einen Kristallisationspunkt, was im Interview klar ersichtlich wird,
dominieren doch die Erzählungen zum Leben und Sterben der Tochter das ganze
Gespräch. Anna S. hat es aber verstanden, diese Zäsur für ihr weiteres Leben
fruchtbar zu machen und aus einer inneren Notwendigkeit heraus das Ereignis in
ihren Erfahrungshorizont zu integrieren. Diese Voraussetzungen haben zu einer
nichtalltäglichen Persönlichkeit geführt, die sich durch Souveränität, Bescheidenheit, weitreichende Kompetenzen und Furchtlosigkeit auszeichnet.
70
Wie weit lässt sich nun die Religiosität (oder wie sie sagt, eher Spiritualität)
von Anna S. zur Generalisierung heranziehen? Auf den ersten Blick scheint dies
kaum möglich, ist doch ihre Vita von einem Schicksalsschlag bestimmt, welcher
einem Grossteil der Menschen erspart bleibt. Zudem gleicht es einer Gratwanderung, das Persönliche nicht als Privatsache zu behandeln und es so einer
Repräsentanz zuzuführen. Das Merkmal der Furchtlosigkeit bei Anna S. ist
jedoch der Autorin nach dazu geeignet, etwas Allgemeines in dieser Eigenschaft
zu finden. Zwar muss die Prägung eines Individuums durch seine Biografie
berücksichtigt werden, doch Furchtlosigkeit ist nicht an eine bestimmte Konstellation gebunden, sondern über ganz unterschiedliche Wege erreichbar. Auf
eine emanzipierte Religiosität in unserer Gesellschaft bezogen kann Furchtlosigkeit heissen: Überwindung einer tiefsitzenden Kultur der Angst vor dem patriarchalen Gott des Christentums, ohne sich von überlieferten ethischen Werten zu
trennen. Und einen solchen Habitus trifft die Autorin in ihrer Forschung im
religiösen Feld bei immer mehr Menschen an.
Einige wenige Studienteilnehmende stehen der Autorin sozial und/oder
weltanschaulich nahe, so auch Anna S.. Deshalb wird hier – wie auch anderswo
– auf den Befund von Pierre Bourdieu (vgl. 1997b), S. 779-802) zurückgegriffen, der einen solchen Status als mögliche Verhinderung von symbolischer
Gewalt in der Interviewbeziehung beschreibt, dabei aber gleichzeitig die Grenzen optimaler Bedingungen von Vertrautheit in der Befragungssituation betont.
71
5.2 Miriam K., Pflegefachfrau im Spitexdienst, 1952
Miriam K. wurde vor 58 Jahren geboren und ist seit 1980 geschieden. Sie lebt in
einer festen Partnerschaft mit getrennten Haushalten und pflegt einen regen
Kontakt zu ihrer Tochter Hannah, einer Buchhändlerin. Miriam K. wirkt seit 32
Jahren im Spitex-Dienst und arbeitet daneben von ihrer Wohnung in der Winterthurer Altstadt aus als selbständige Grafikerin und Webdesignerin. Das erfüllende Berufsleben möchte sie sich bis zur Pensionierung unbedingt erhalten. Den
Ausgleich zur anspruchsvollen Pflegetätigkeit findet sie in einem semiprofessionellen Frauenchor, in verlängerten Erholungsphasen und ausgedehnten Ferien,
welche sie oft in fremde Länder führen. Die während langer Zeit geübte explizite Hinwendung zu verschiedensten Menschen in schwierigen gesundheitlichen
Situationen hat das Wesen der Gesprächspartnerin geprägt: Sie ist sich ihrer
Sache sicher, ohne dominant zu sein; sie wirkt gelassen, herzlich und bescheiden. Und doch stellt die Autorin bei ihr – wie bei vielen anderen Frauen ihrer
Generation auch – ein Understatement fest, das in einem gewissem Gegensatz
zu ihren bemerkenswerten Leistungen steht. Es ist halt nach wie vor so, dass die
Qualität eines während Dezennien geübten Dienstes am Mitmenschen in der
Öffentlichkeit nicht die angemessene Wertschätzung erfährt und dass sich eine
solche Einstellung des Umfelds wie ein Schleier über die Persönlichkeit legen
kann. Miriam K. und die Autorin kennen sich seit ungefähr zehn Jahren und
stehen als Nachbarinnen in einer losen, aber recht vertrauten Verbindung. Sie
meldete bereits zu Beginn des Projektes ihr Interesse an einer Studienteilnahme
an. Das Gespräch wurde am 8. April 2010 im Haus der Doktorandin geführt.
Die Gesprächspartnerin entstammt einer mittelständischen Familie und
wuchs zusammen mit zwei Brüdern in einer grossen, vorwiegend reformierten
Gemeinde des Kantons Thurgau auf. Die Eltern (der Vater ist gestorben, die
Mutter lebt eine tiefe Frömmigkeit) waren strenggläubige Katholiken und erzogen ihre Kinder ganz im Sinne der kirchlichen Lehre. Man sang im Kirchenchor,
besuchte nicht nur sonntags die Gottesdienste, sondern auch unter der Woche
um sechs Uhr in der Früh die Messe. Die Tochter machte im Blauring mit, die
72
Söhne waren Ministranten und Mitglieder der Jungwacht. Der ältere Bruder
verbrachte die Gymnasialzeit in der Klosterschule Einsiedeln. Die ganze Familie
war sehr stark mit der katholischen Institution und ihren gesellschaftlichen
sowie sozialen Angeboten verbunden.
»Das ist für mich wie auch ein wenig meine Familie gewesen.« (1)
Das ging so weit, dass Miriam eine sehr nahe Beziehung zum Kaplan der
Pfarrgemeinde unterhielt und dem Priester näher stand als dem äusserst strengen
Vater, welcher seinen Angehörigen überdurchschnittlich viel abverlangte. Die
Geborgenheit, die dem Kind im eher kühlen Klima des Elternhauses fehlte, fand
es in der tiefgehenden Verbindung zu diesem gütigen Kirchenmann.
»Hat mir ganz, ganz viel gebracht und sicher auch viel geholfen.« (1)
Ebenso genoss es den Religionsunterricht beim Kaplan, obwohl ihm eigentlich
die biblischen Geschichten, die Gottesdienste und die ganzen religiösen Rituale
fremd blieben und eher mit Ängsten und Gefühlen von Schuld und Sünde
assoziiert waren.
Im Alter von ungefähr zehn Jahren erwachte die Gesprächspartnerin eines
Morgens und wusste von da weg definitiv, dass sie Krankenschwester werden
wolle. Dieses Ereignis bezeichnet sie als Bestimmung und religiöses Schlüsselerlebnis. Durch die frühe Berufswahl kam sie bereits mit fünfzehn in die
Fremde, womit sich durch den fortan fehlenden persönlichen Kontakt die
Verbindung zu dem verehrten Geistlichen nach und nach auflöste. Und weil das
Verhältnis von Miriam K. zum Katholizismus immer personen- und nie
institutionsbezogen war, hatte es durch den Wegzug
»einen rechten Bruch mit der Kirche gegeben« (2),
wobei sie mit dem formalen Austritt dann doch noch bis zum 35sten Lebensjahr
wartete. Doch in den 20 Jahren davor wurde sie in vielen Bereichen immer kritischer, setzte sich intensiv mit Kirche, Glaube und Religion auseinander und
bezeichnet sich auch heute als noch permanent Suchende – und zuweilen auch
Findende. Alle Religionen haben für sie ihre Richtigkeit, denn jede verfügt über
ihren eigenen geschichtlichen Hintergrund, den entsprechenden kulturellen
Ausdruck und vergleichbare Ideale, deren Ziel die Verbindung zu Kräften ist,
73
welche den menschlichen Horizont überschreiten. Wesentlich erscheint ihr nur,
was die einzelnen Bekenntnisse aus den Konzeptionen machen, vor allem wie
sie mit ihren Macht- und Absolutheitsansprüchen umgehen. Und da hat Miriam
K. ihre Bedenken, was auch für das institutionalisierte Christentum gilt: Einesteils findet sie hier positive Ansätze eines gelebten Glaubens, anderenteils stört
sie sich daran, dass die Kirchen den Sprung in unsere Zeit hinein nicht geschafft
und sich von den ursprünglichen Werten weitgehend entfernt haben.
»Ich halte nicht viel von dieser Lehre, so, wie sie gelebt wird. Das sind Hülsen
von Worten, die sie da hinausschreien. Das ist für mich – wie sagt man dem –
Klamauk (lacht), also irgendwie ohne Inhalt.« (18)
Doch obwohl sich Miriam K. vom tradierten Christentum formell und auch
innerlich gelöst hat, sagt sie im Zusammenhang mit den positiven und negativen
Prägungen, die von ihren katholischen Wurzeln bestimmt sind:
»Die sind da. Ich bin eigentlich… ich bleibe katholisch. Das ist so drinnen. Nun
muss ich schauen, was ich mit dem mache.« (4)
Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo sich Miriam K. langsam wieder der
Katholizität – wenn auch nicht derjenigen der Kirche – annähern kann, indem
sie die Bedeutung von Ritualen zu verstehen sucht und sie auch geniesst und
schätzt. Glockengeläute bedeutet ihr viel und Gotteshäuser bezeichnet sie als
»Orte von einer enormen Kraft« (4). Anders steht es mit der Wahrnehmung der
Figur Jesus sowie den um ihn herum gebauten Mythologisierungen. Obwohl sie
eigentlich weiss, dass er eine geschichtliche Gestalt ist, befallen sie oft Zweifel,
ob nicht alles, was die Kirche aus dem Religionsgründer gemacht hat, ein
Trugbild ist, von dem diese sich nie mehr befreien kann. Gegen einen vertieften
Umgang mit den Heiligen Schriften hat sie sich bis anhin gewehrt, zu stark sind
diese Geschichten noch immer mit Erinnerungen aus Kindheit und Jugend
verbunden, wo sie die Vermittlung dieser Botschaften als nichtssagend und steril
empfand. Doch sie hat beschlossen, den unbefriedigenden Status zu ändern, sich
in absehbarer Zukunft auf diese Thematik einzulassen und die zentralen biblischen Texte zu studieren, allen voran die Bergpredigt, deren Inhalt ihr vollständig entfallen ist. Religiöse Inspiration und Nahrung holt sich die
Gesprächspartnerin aus verschiedenen – nicht unbedingt primär spirituellen –
74
Quellen, vor allem jedoch aus dem buddhistischen Weltbild. Zum Buddhismus
konvertieren würde sie deswegen nicht, weil sie in die christliche Kultur
hineingeboren wurde und ihre Identität damit verknüpft ist. Den Austausch zu
religiösen Themen mit ihrem Umfeld nimmt sie häufig und gerne wahr. Nur
wenn es um die Konfrontation mit ganz hartherzigen Nihilisten geht, fällt ihr die
Vertretung des eigenen Standpunktes schwer. Mit der Tochter – die lange keinen
Anlass fand, die übernommene konfessionelle Richtung aufzugeben – spricht
Miriam K. selten über religiöse Gefühle. So war sie dann auch eher überrascht,
von Hannah zu vernehmen, dass diese bereits vor einiger Zeit die Kirche verlassen hat. Der Lebenspartner wuchs in einem religionsfernen Elternhaus auf und
ist bekennender Atheist, jedoch offen für konstruktive Auseinandersetzungen in
diesem Bereich.
»Er hat auch seine Werte und sein Menschenbild. Und das hat oft sehr viele
Ähnlichkeiten mit dem meinen. Manchmal ist es nur eine Definitionsfrage, wie
definiere ich etwas oder sage etwas so oder so. Er sagt eher höchstens: ›Wow,
ich beneide dich, dass du so glauben kannst, ich würde auch gerne‹.« (13)
Im Freundeskreis wird regelmässig und angeregt über Glaubensproblematiken
diskutiert. Miriam K. stellt fest, dass hier vieles vom Zeitgeist her in Bewegung
gerät, Verunsicherung sowie Unrast herrschen und die Suche nach authentischen
spirituellen Anleitungen einen hohen Stellenwert einnimmt. Sie sieht, dass nicht
wenige Menschen, die sich von ihrer angestammten religiösen Bindung gelöst
haben, im Innersten tief davon enttäuscht sind, dass sich die Kirchen mehr und
mehr als menschliche Konstrukte erweisen, die versuchen, mit fragwürdigen
Mitteln die verbliebene Macht zu sichern. Im Zusammenhang mit den BerufsKolleginnen ist Religion und Religiosität ein Tabu, man redet nicht darüber,
wofür die Gesprächspartnerin keine einleuchtenden Erklärungen hat. Anders
sieht es im Arbeitsalltag aus. Da ist sie oft mit Sterben und Tod konfrontiert und
findet somit Gelegenheit, mit ihren Pflegebefohlenen existentielle Gespräche zu
führen und bei diesen Menschen ihren persönlichen Gesichtspunkt zu religiösen
Fragen einzubringen. Diese ihre Sicht nimmt grundsätzlich an, dass Religion
und Religiosität Anlagen des Menschen sind, welche von der Position der
75
eigenen Person aus in einer Öffnung auf die Welt hin – mit Hilfe einer alltagstauglichen Praxis – Aufgabe und Beglaubigung finden.
Das Absolute möchte Miriam K. nicht im christlichen Sinn personifizieren,
zu weit hat sie sich von diesem Gedankengut entfernt, zu eng und zu einseitig
gefasst erscheint ihr das Konzept.
»Für mich gibt es ganz sicher eine höhere Kraft, Andere sagen dem vielleicht
Gott. Also ganz sicher habe ich eine riesige… eine heilige Kraft gibt es für mich.
Also in dem Sinne bin ich gläubig. […] Ich möchte sie nicht personifizieren, sie
ist für mich in der Natur.« (5)
Die Gesprächspartnerin sieht eine Verbindung zwischen Schöpfungsgeschichte
und Evolution, zwischen göttlicher und kreatürlicher Seite des Menschen. Der
Auffassung von Augustinus, dass die Natur das zweite Buch der Offenbarung
sei, kann sie vollumfänglich zustimmen, weil sie bei ihren Aufenthalten in der
Natur draussen immer wieder die Erfahrung macht, wie beseelt unsere ganze
Lebenswelt ist.
»Da bekomme ich wie etwas, und das ist etwas Göttliches oder Heiliges, wie
auch immer man das benennt. Es ist natürlich meine Kirche.« (5)
Von dieser pragmatischen Betrachtungsweise geht auch ihre Sicht auf Engel und
Heilige aus. Gerne ruft sie für ihre Schutzbefohlenen und auch für sich in
schwierigen Situationen diese transempirischen Gestalten um Hilfe an, obwohl
sie sich in diesem Bereich manchmal ein wenig naiv vorkommt. Ihre Einstellung
zum Gebet bezeichnet Miriam K. als zwiespältig. Wenn es ihr gut geht, kann sie
im Gebet intensiv und dankbar ihre Verantwortung dem Sein gegenüber wahrnehmen. Wenn ihr hingegen Stress und Überforderung zu schaffen machen,
nimmt sie viel häufiger Zuflucht zum Gebet, wird dieses aber
»einfach ein Gestell, wo ich mich dann irgendwie so hilflos daran halte« (8)
und verliert in ihren Augen seine Qualität. Sie will aber diese Art der Bitte nicht
abwerten, möchte jedoch hier weiterkommen und immer mehr der Dankbarkeit
für das Geschenk des Lebens Ausdruck verschaffen. Denn obwohl Miriam K.
seit der Kindheit wiederholt an ihre Grenzen gehen musste, konnte sie sich jedes
Mal auffangen und fand den Mut und die Kraft, um weiterzumachen. Ihre
76
Befähigung, in prekären Lagen die sich darbietenden Wahlmöglichkeiten wahrzunehmen und entsprechend zu handeln, empfindet sie als Gnade. Ob das Leben
nach dem Tod weitergeht – und wenn ja, in welcher Form – lässt sie offen und
hat eigentlich im Moment keine eigene Meinung dazu. Doch verlangt ihr diese
komplexe Thematik vom Beruf her grossen Respekt ab, weil sie oft sieht, wie
tragisch und leidvoll Patienten gehen müssen oder wie dann auch wieder andere
Menschen wunderschön Abschied nehmen können. Sie macht vielfach die
Feststellung, dass Personen aus sehr frommem Milieu besonders grosse Mühe
bekunden, diese Welt zu verlassen, obwohl ihnen die Religion eigentlich die
Sinnfrage beantwortet hat. Für die Gesprächspartnerin ist diese Sinnfrage etwas
ganz Spannendes, weil sie ihr den Freiraum verschafft, einen Wertekanon zu
gestalten, mit dem sie sich identifizieren kann, der ihr gestattet, im Hier und
Jetzt einen angemessenen Platz einzunehmen. Sie hat die Erfahrung gemacht,
dass es ihr leichter fällt, die wichtigsten Werte wie Respekt vor der ganzen
Schöpfung und die Achtung der menschlichen Würde in die Praxis umzusetzen,
wenn sie sich weniger in den Mittelpunkt stellt, bescheidener wird. So kann
Miriam K. sich der eigenen Person und ihren Nächsten viel besser öffnen und
gewinnt Raum und Erkenntnisse für weitere Schritte in Richtung mehr Eigenverantwortung und Autonomie.
»Es kommt immer wieder etwas dazu von meinen Lebenserfahrungen, die ich
auch einschliesse. Es geht eigentlich immer weiter auf, und dadurch wird es auch
immer schwieriger.« (10)
Schwieriger wird es, weil Öffnungen nicht nur Platz für existentielle Erfahrungen schaffen, sondern immer auch mit einer erhöhten Verletzlichkeit verbunden sind. Doch das macht sie hellhörig und ansprechbar für die Problematiken
des Lebens und hilft ihr, neben der Professionalität auch möglichst viel von ihrer
Person und einer individualisierten Religiosität in den Beruf einzubringen, die
frei von Missionierungsdrang ist. Sie weiss, dass sie hier mit ihrem Engagement
einen gesellschaftlichen Beitrag leistet, indem sie die guten Werte vermitteln,
trösten und motivierend wirken kann. Auf die Frage, ob sie in ihrem Wirken
eine Form von Laienseelsorge erkenne, meint die Gesprächspartnerin:
77
»Seelsorge? (lacht) doch, ja, dem kann man so sagen. Zum Teil schon. Ich
glaube, dass ich mir das schon vorstellen kann.« (10)
Allerdings bezweifelt sie, dass man eine solche Funktion als Ganzes institutionalisieren kann, vielmehr wird dies ihrer Ansicht nach eher im Einzelnen
stattfinden und sich ganz stark auf die lebenspraktischen Erfahrungen der Seelsorgenden stützen. Im Gegensatz zum heute nur noch beschränkt glaubwürdigen, theorielastigen Beistand der Kirchenleute werden solche Formen von
Trost und spiritueller Hilfe in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Umso mehr als
Miriam K. der tradierten christlichen Religion keine Überlebenschancen einräumt, weil ihre Experten hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt und nicht zu
substantiellen Veränderungen bereit sind. Es erstaunt sie deshalb nicht, dass
unter diesen Umständen immer mehr Mitglieder der etablierten Kirchen die
Freiheiten unserer individualisierten Gesellschaft nutzen und ihrem Herkunftsbekenntnis den Rücken kehren. Obwohl die alternativen Angebote in diesem
Bereich boomen, ortet sie in den Ersatzreligionen – wo viel heisse Luft produziert wird – sowie den ständig expandierenden Freikirchen mit ihrem weltfremden Habitus vor allem die Phänomene der Problemverschiebung. Im beruflichen
Alltag hat sie
»die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die in einer solchen Freikirche sind,
mit ihren kranken Mitmenschen manchmal extrem unmenschlich umgehen. Also
ich habe jeweils wirklich meine Bedenken. Die dann wie so Macht ausüben über
die Hilflosen, die nun krank sind, das wirklich unmenschlich ist, das dann
wirklich nicht glaubwürdig ist.« (11)
Doch obwohl die vorliegenden Modelle des institutionalisierten Christentums
für die Gesprächspartnerin keine Existenzgrundlage mehr haben, werden wir in
ihren Augen ohne tragfähige Gesellschaftsformen von Religion auch in Zukunft
nicht auskommen. Allerdings weiss sie nicht genau, wie solche Veränderungen
zu bewerkstelligen sind, kann sich aber vorstellen, dass säkulare Maximen wie
Menschenrechte und -pflichten, Schutz der Natur sowie selbstverantwortetes
Denken und Handeln bereits vorhandene Grundlagen für zeitgemässe, weltliche
Religionsformen abgeben könnten. Sie hofft, dass die kommenden Generationen
hier etwas in Richtung neu gelebter Gemeinschaft bewegen werden und weder
78
Freikirchen noch die dogmatische Starre des römischen Systems Oberhand
gewinnen. Eine Zwischenlösung des Problems hält Miriam K. für möglich,
wenn die Privatisierung der Religion nicht als absolut und definitiv betrachtet
wird, sondern als vorläufiges Resultat einer wellenartigen gesellschaftlichen
Entwicklung.
»Es hat auch mit dieser Geschichte des Individualismus zu tun, die nun in
unserer Zeit so entstanden ist. Das ist jetzt halt so, und da kann ich mich auch
nicht dagegen sträuben oder wehren. Jetzt bin ich in das hinein geboren.« (14)
Darum versteht die Gesprächspartnerin den Tatbestand des Individualismus als
Aufforderung an alle Menschen, Fortschritte in der persönlichen Entwicklung
anzustreben, sich aktiv an Problemlösungen zu beteiligen, Gemeinplätze zu
verlassen und einen emanzipatorischen Standpunkt zu gewinnen. Aber es ist ihr
bewusst:
»Das ist ja ein Riesenweg.« (16)
Und eine Etappe dieses Riesenwegs besteht darin, die Individualisierung
als Chance zu begreifen, die dem Einzelnen und der Gesellschaft dazu verhilft,
Reifungsprozesse in Gang zu bringen, welche mehr Autonomie und weniger
Egomanie zum Ziel haben. Dieser Spur folgt Miriam K. beharrlich, indem sie
eine unspektakuläre Empathie für alles Lebende pflegt und daneben ihren
spirituellen Bedürfnissen genügend Raum verschafft. Damit ist sie eine der
typischen Vertreterinnen einer individualisierten Religiosität, welche die Legitimation ihrer Glaubenspraxis nicht mehr wie früher aus dem Bezug zu einer
ausserweltlichen Macht, vielmehr weitgehend aus dem Alltagsgeschehen bezieht. Auf diese Weise kann ein Stück weit die Gefahr gebannt werden, sich in
nostalgischen Sehnsüchten nach den Überresten der metaphysisch hinterlegten
Traditionsbestände zu verlieren. Allerdings löst sich damit das Problem der
Verknüpfung von christlicher abendländischer Kultur und katholischer oder
reformierter Identität – welches auch nach dem Kirchenaustritt bestehen bleibt –
noch keineswegs. Hier stellt sich den konfessionslosen Gläubigen eine grosse
Aufgabe, zu der die Gesprächspartnerin meint:
79
»Also ich habe nicht das Gefühl, ich sei nicht katholisch. Das geht gar nicht
anders. Das ist so drinnen. Nun muss ich schauen, was ich mit dem mache.« (4)
Ein Studienteilnehmer,11 der 14 Jahre jünger als Frau K. ist – und ebenfalls aus
einem katholisch-konservativen Milieu stammt –, sagt im gleichen Kontext:
»Diese Bindung bleibt halt einfach. Ich glaube, wenn man so aufgewachsen ist,
bleibt man ein in der Wolle eingefärbter Katholik.« (Daniel G., S. 197)
Genau das ist der springende Punkt, und es stellen sich Fragen wie: Auf welche
Art gehe ich mit diesen tief verankerten Erinnerungen um und was nehme ich
aus der alten religiösen Heimat mit? Wer und was springt in die Bresche für den
zwar zäh verteidigten, aber mit den Realitäten unseres Planeten und seiner
Bewohner nicht kompatiblen Habitus der etablierten Kirchen? Welche neuen
Formen von Katholizität sind für mich annehmbar und im Alltag umzusetzen?
Kann ich trotz wegfallendem Sozialisations-Angebot etwas von der kulturellen
Präsenz des Christentums an meine Kinder weitergeben? Auf solche und viele
weitere Problemlagen muss eine Religiosität, die in die Zukunft weisen soll,
nach Antworten und Lösungen suchen. Diese Knacknüsse verlangen vom
Individuum, den Zerfall der tradierten Religion zwar zu registrieren, sich jedoch
der Fragmentierung der Welt aktiv entgegenzustellen. Gefordert ist eine
zugleich offensive und reflexive Haltung zu Fragen, welche zum Teil bis heute
tabuisiert sind wie zum Beispiel die Gegensätzlichkeit von Rationalität und (religiösen) Mythen, die zum eisernen Bestand des institutionalisierten Christentums
gehören. Fritz Stolz (vgl. 2004b, S. 165-188) schlägt hier eine weise, dialektische Methode vor:
»Es ginge darum, die Asymmetrie zwischen Mythos und Rationalität denkend zu
bearbeiten, obwohl die Symmetrie eine Grundform des Denkens ist.« (2004b, S.
188)
Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer unverkrampfteren Beziehung dem
christlichen Erbe gegenüber ist die weitverbreitete Unkenntnis der wesentlichen
biblischen Texte bei den Laien. (Bei den Studienteilnehmenden beträgt das
Verhältnis 17:3.) Christen artikulieren ihre Religiosität oft zu einseitig in
Gefühlskategorien und vernachlässigen aus verschiedensten Gründen eine
11
80
Daniel G., freischaffender Journalist und Regisseur.
Reflexion der Glaubenslehre. Der oben erwähnte Autor hat folgende Erklärung
für das Phänomen, das eng mit der Mythologisierung der christlichen Sprache
zusammenhängt:
»Die Botschaft des Christentums wird auf einen Bestand reduziert, welcher das
Wissen der Aufklärung nicht konkurrenziert und auch nicht einmal ergänzt. Es
wird reduziert auf zeit- und erzählunabhängige Wahrheiten, etwa das Konzept
eines vernünftigen Schöpfers, der eine gute Welt geschaffen hat, und eines
vernünftigen Menschen, der diese Welt gut auszugestalten weiss. So ist es kein
Wunder, dass das christliche Wissen beim durchschnittlichen Christen auf einen
Nullpunkt geschrumpft ist.« (2004b, S. 183)
Dabei hätte das Neue Testament nach einer Befreiung von den dogmatischen
Schlacken und der Wahl einer existentiellen Deutung universelle Weisheitslehren anzubieten, die auch dem Menschen des 21. Jahrhunderts gültige Anleitungen für eine erfüllte Lebensführung bieten könnten. (Qualitätsvolle Vorschläge dazu von kompetenten Personen gibt es genügend.) Dass jedoch die Vermittlung praxistauglicher biblischer Botschaften in Zukunft ausschliesslich Sache
einer statisch operierenden Priesterschaft sein kann, muss bezweifelt werden,
obwohl die Kirchen nach wie vor kategorisch das Primat der Verkündigung für
sich beanspruchen. Um die Innerlichkeit preiszugeben und sich für Ebenen der
Transzendenz zu öffnen, braucht es Netzwerke des Vertrauens, und die findet
ein der Moderne verpflichtetes Individuum immer weniger in traditionellen
religiösen Einrichtungen. Doch den Naturgesetzen zufolge muss gemäss der
Studienteilnehmerin jenseits des Zerfalls etwas Neues aufscheinen, auch wenn
dies nicht schon heute oder morgen geschieht. Und das macht Mut.
81
5.3 Julia O., Handwebmeisterin, 1957
Die 53-jährige Julia O. führt als eine der Expertinnen die alljährlichen Eidgenössischen Lehrabschlussprüfungen für Textilschaffende durch und hält jeweils mit
ihren Kolleginnen zusammen bei der Autorin die vorbereitenden Sitzungen ab.
Bei einem dieser Meetings im Frühling 2009 hörte sie durch eine der Expertinnen vom Dissertationsvorhaben und fragte spontan, ob sie daran teilnehmen
könne, da sie konfessionslos, jedoch religiös sei. Das Interview fand dann am
15. September 2009 bei ihr zuhause statt.
Julia O. wirkt eher still und unauffällig, ist jedoch eine aparte Erscheinung,
der man die künstlerische Tätigkeit schon der stilvollen Kleidung wegen ansieht.
Die anspruchsvolle Ausbildung zur Handwebmeisterin machte sie seinerzeit in
Deutschland, war dort über längere Zeit beruflich tätig und mit einem Deutschen
verheiratet. Nach der Scheidung lebte und arbeitete sie in Japan und hielt sich
daneben auch in den USA und anderen Ländern auf. Heute verfolgt die
Gesprächspartnerin von ihrem Domizil aus gleichzeitig mehrere Projekte, alle
im Bereich der textilen Gestaltung und Bildungsvermittlung. Sie bewohnt mit
der zehnjährigen Tochter aus zweiter Ehe ein geräumiges Atelierhaus in einer
mittleren Ortschaft des Zürcher Oberlandes. Das Paar hat sich vor kurzem
getrennt, und der bereits im Pensionsalter stehende Ehemann verlegte seinen
Aufenthalt in eine Kleinstadt des Kantons.
Religiös wuchs Julia O. »im herkömmlichen Rahmen« (1) auf, besuchte als
Kind und Jugendliche die Gottesdienste sowie die reformierte Sonntagsschule
und wurde mit sechzehn konfirmiert. Die Eltern hielten sich zwar an die kirchlichen Konventionen, zeigten aber wenig Interesse an Glaubensfragen und am
Geschehen in der Kirchgemeinde. Die Tochter hingegen machte voller Freude
bei diesen Anlässen mit, beschäftigte sich während der Schulzeit auch intensiv
mit dem Christentum und den biblischen Geschichten – besonders den Gleichnissen des Neuen Testamentes – und war stellenweise von diesen Erzählungen
82
wie »in Bann gezogen« (1). Julia pflegte über Jahre hinweg eine vertraute Beziehung zum Konfirmations-Pfarrer und wurde von ihm bestärkt,
»so weiter im Glauben zu gehen, weiterhin mich diesen Themen zu widmen.« (1)
Nachdem die Gesprächspartnerin bereits mit achtzehn in die Fremde zog und
weite Reisen unternahm, interessierte sie sich neu für die sakralen Aspekte
fremder Kulturen und suchte oft und gerne Kirchen, Tempel und Kultstätten in
den bereisten Ländern auf. Bald liess Julia O. jedoch die Faszination fürs
Religiöse zum ersten Mal seit der frühen Jugendzeit ruhen und setzte andere
Prioritäten, indem sie einige Semester Kunstgeschichte studierte, sich beruflich
auf die textile Gestaltung fokussierte, Beziehungen pflegte und heiratete. Erst als
eine Sinnkrise ihr Leben erschütterte,
»ist so wie eine Schlaufe passiert, dass ich mich auch wieder dem Religiösen
zugewendet habe.« (2)
Über mehrere Zufälle – wie sie sagt – stiess die junge Frau in dieser schwierigen
Phase auf das Holistic Yoga Centrum. Sie fand dort sogleich Hilfe und Unterstützung in ihrer Not und ist seitdem Teil dieser spirituellen Gemeinschaft.
Lehre und Praxis von Holistic Yoga12 wurden 1986 in Aachen vom Deutschen Werner Plate (geb. 1951) begründet und weiterentwickelt, nachdem dieser
sich über lange Zeit hinweg in mehreren therapeutisch und spirituell orientierten
Verfahren ausbilden liess. Werner Plate ist Autor oder Mitautor dreier Bücher
(2008, 1998, 1995) und lebt und arbeitet heute im Seminarzentrum Schloss
Bettenburg in Bayern. Das Konzept von Holistic Yoga beruht auf fernöstlichen
wie westlichen Weisheitslehren und Künsten sowie deren Techniken und
zusätzlich auf verschiedenen therapeutischen Ansätzen. Die Angebote werden in
kürzeren oder längeren Seminaren sowie Ausbildungs-Modulen weitergegeben
und sollen die Teilnehmenden zu einem erfüllteren Leben führen. Im Jahr 2000
entwickelte Werner Plate die Mandala-Arbeit, 2004 das Mandapa-SelbstCoaching-System, 2008 die Mandapa-Entwicklungs-Typologie, ein Jahr später
den europäischen Maskentanz. Absicht von Holistic Yoga ist es, die Persönlichkeitsbildung von Menschen in einem frei gewählten Ausmass gezielt zu fördern.
12
www.holistic-yoga.net. Zugriff 2.8.2011.
83
Im Vordergrund steht die Suche nach Selbsterkenntnis, was Werner Plate an die
Interessierten über unterschiedliche symbolische Ebenen mittels des Instrumentariums Meditation, Kontemplation, Reflexion und der Anleitung zu kreativen
Gestaltungsprozessen weitergibt.
Julia O. beschreibt die Gemeinschaft von Holistic Yoga als im Fernöstlichen verwurzelt, jedoch
»eigentlich nicht mit einer bestimmten Ausrichtung. Die Ausrichtung ist einfach
die Spiritualität gewesen. Und wir haben versucht, mehr so die Gemeinsamkeiten
von allen Religionen zu finden oder zu erleben.« (2)
Sie ist nun seit 18 Jahren mit dieser Gruppe zusammen, einmal mehr, einmal
weniger, je nach den jeweiligen Umständen. Gegenwärtig trifft sie sich ungefähr
viermal jährlich für ein verlängertes Wochenende oder einen umfangreicher
angelegten Kurs im Seminarhaus Schloss Bettenburg in Bayern mit den Gleichgesinnten. Es wird dort viel meditiert, Yoga gemacht, und vor allem finden unter
der Leitung des Lehrers Gruppenmeetings zu vielfältigen Themen statt. Die
Gesprächspartnerin beschreibt diese Tagungen als
»ein religiöses Zusammenleben. Wir sagen dem Sangha.« (3)
Julia O. fühlt sich in der Sangha (Gemeinde) aufgehoben und denkt, dass sie in
dieser Organisation verwurzelt ist und dort eine Türe zur Spiritualität gefunden
hat. Das waren auch einige der Gründe, weshalb sie sich immer stärker von den
rein christlichen Traditionen entfernte und dann die Landeskirche verliess.
(Noch heute ist sie aber um eine Antwort verlegen, wenn ihr die Frage nach der
religiösen Zugehörigkeit gestellt wird.) Zwar fragte sie sich im Lauf der Zeit des
Öfteren, warum sie denn immer so weit reisen müsse, um geistige Nahrung zu
finden und hat in diesem Kontext auch einige Male versucht, in der Nähe eine
zusagende Gruppe zu finden. Doch aus diesen Begegnungen ergab sich nie
etwas Konkretes, sodass die Gesprächspartnerin heute weiss:
»… innerlich ist die Entscheidung gefallen, dass ich jetzt dort dazugehöre und
nun nicht noch hundert andere Dinge suchen muss.« (3)
Dabei ist es für sie klar, dass es an ihr liegt, wie sie neben diesen impulsgebenden Meetings den Alltag gestaltet und dass es nicht reicht, das Interesse an
84
Spiritualität zu pflegen oder sich bloss mit den daraus ergebenden theoretischen
Fragen und Antworten zu befassen. Und doch ist sie jedes Mal begeistert, wenn
sie neue Erklärungen zu den Ursprüngen, Hintergründen und Verknüpfungen
der Religionen entdeckt und schätzt es sehr, dass Holistic Yoga sich diesen
Ebenen ganz besonders widmet und sie von dieser Seite immer wieder ungewöhnliche Anstösse erhält. So ist es ihr auch kürzlich während eines Kurses
ergangen, als die Teilnehmenden die von Werner Plate entwickelte Konzeption
des europäischen Maskentanzes umsetzten. Die Idee beruht auf den Mönchstänzen des tibetischen Buddhismus und soll dem westlichen Individuum den
Zugang zu Inhalten des Inneren öffnen, die nicht wahrgenommen werden wollen. Alle Beteiligten erschaffen in einem komplexen Verfahren je ihre adäquate
Maske und stellen diese der Gruppe in einem von Musik umrahmten Tanz vor.
Julia O. beschreibt dieses Geschehen als Schlüsselerlebnis, das sie zutiefst berührte und jetzt noch in ihr nachwirkt.
»Das ist für mich, also, wie eine Geburt gewesen« (23),
welche im Spannungsfeld von Therapie, Heilung und Religion stattfand. Das
unerwartete Erlebnis hat ihr so etwas wie einen »Freipass« (23) gegeben, ihre
hellen und dunklen Seiten gleichermassen anzunehmen und diese Anteile in ihre
spirituelle Praxis zu integrieren. Diese Praxis ist einer der zentralen Inhalte ihres
Lebens, denn die Erfahrung bestätigt ihr, dass eine beständig verrichtete
Andacht den Alltag aufwertet, ihm eine andere Dimension verleiht. Sie betet oft,
bedient sich eines Mala (Gebetskette im Buddhismus und Hinduismus), rezitiert
oder meditiert am Morgen während 20 bis 30 Minuten. Obwohl sie sich im
Interview mehrmals auf fernöstliche religiöse Referenzsysteme beruft und deren
Praktiken und Rituale in Anspruch nimmt, würde sie sich niemals als Buddhistin
oder Hinduistin bezeichnen; zu weit entfernt sind ihr diese Formen des Glaubens, zu wenig weiss sie über ihre Geschichte und Ideen.
Die Basis des spirituellen Strebens der Gesprächspartnerin besteht in ihrem
umfassenden Vertrauen in eine Urkraft, die sie nicht benennen und bezeichnen
kann. Sie denkt aber, dass es Momente gibt, wo dieses Absolute zu erkennen ist,
»aber es ist wie ausserhalb dieser Welt.« (5)
85
Ebenfalls der Glaube an Engel und Geister ist in ihr lebendig, sie kennt sogar
den Namen ihres Schutzengels, ruft ihn an und bittet auch den Schutzengel ihrer
Tochter, diese zu begleiten. Die Sache mit der Seele erscheint ihr schwierig: Sie
ist zwar von der Beseelung aller Kreatur überzeugt, aber ob es hier um eine
Verknüpfung mit der persönlichen Existenz eines Wesens geht oder ob das
Ganze doch auf einer übergeordneteren Ebene anzusiedeln ist, dafür hat Julia O.
keine Erklärung. Was sie hingegen nicht in Frage stellt, ist die Lehre von Evolution, Wiedergeburt und Karma – sie benennt dies »genetische Linie« (8) – und
dass sich der Mensch nach dem Sterben für seine Taten verantworten muss. Hier
beruft sie sich auch auf spezifisch christliche Aspekte, wenn sie sagt:
»Aber ich glaube sehr wohl an das Jüngste Gericht, das glaube ich dann schon
wieder.« (6)
Auch wenn sie das Gefühl hat, vom Abschluss ihres Erdendaseins noch recht
weit entfernt zu sein, versucht sie in dem Sinne, auf dieses Geschehen hinzuarbeiten, weil sie – wie die Buddhisten – der Ansicht ist, dass der Tod unser
wichtigster Moment ist, da hier Befreiung möglich wird. In der Gegenwart will
die Gesprächspartnerin sich jedoch vor allem den Themen ihrer religiösen,
menschlichen sowie beruflichen Weiterentwicklung und den Aufgaben widmen,
welche sie in dieser Welt zu erfüllen hat. Eine dieser Herausforderungen ist es,
die Verantwortung für die Tochter wahrzunehmen, ihre vielen Fragen (auch
solche in biblischem Kontext) so gültig wie möglich zu beantworten und ihr jene
Werte vorzuleben, welche sie als existentiell erachtet wie zum Beispiel
»möglichst dharmisch zu leben, also Andere gut zu behandeln, nicht zu stehlen,
nicht lügen, all das.« (8)
Auf die Feststellung der Autorin, dass es sich hier eigentlich um christliche
Tugenden handle, meint sie:
»Nur im Yogischen, das mir nun ein wenig näher ist, dort ist es positiv formuliert,
und im Christentum ist es ja negativ, oder? Das macht schon etwas aus.« (8)
Tatsächlich ist die Fokussierung auf Verbote, Gebote, Sünde in der christlichen
Lehre einer der Gründe, warum viele Individuen sich vom angestammten
Glauben abwenden und ihr Heil in Konzepten suchen, die dem Menschen bejahender begegnen und ihm eine grössere sittliche Kraft sowie Reife zugestehen.
86
Bis dahin ist klar ersichtlich, dass spirituelle Ressourcen im Leben von
Julia O. die tragende Rolle spielen und es ihr wichtig ist, dass diese Werte sie
durch den Alltag begleiten. Das Echo, welches sie auf das Hinaustragen ihrer
intrinsisch motivierten Religiosität findet, bestätigt ihr, dass sie einen sinnvollen
Weg eingeschlagen hat. Daneben gibt es jedoch auch andere Bereiche, die ihr
viel bringen, zum Beispiel die Kreativität ihres gestalterischen Berufes, ganz
allgemein die Pflege des Visuellen wie auch die Arbeit mit geistig behinderten
Menschen, wo sie das Erlernte besonders gut anwenden kann. Einen festen Platz
nimmt die Praxis des Aikido ein, und nicht zuletzt regeneriert sie sich durch den
häufigen Aufenthalt in der Natur, die üppig gleich vor ihrer Haustüre liegt und
der sie tief verbunden ist. Auch ein Konzert oder das Singen mit Anderen (dies
darf durchaus in einer Kirche stattfinden) bedeuten innere Nahrung für die
Gesprächspartnerin. Die Frage, ob sie mit ihrer Arbeit, ihrem Wirken und dem
eigenständigen religiösen Standpunkt einen gesellschaftlichen Beitrag leiste,
verneint sie zuerst, meint dann jedoch nach einiger Überlegung, dass ihr wahrscheinlich der Einfluss des Einzelnen auf die Gesellschaft zu wenig bewusst sei.
Sich mit dem näheren Umfeld über ihre Religiosität auszutauschen, dazu findet
sie nur in Ausnahmefällen Gelegenheit; solche Dialoge finden fast ausschliesslich im Kreis der Gleichgesinnten statt. Ebenso ist es ihr nie gelungen, mit ihrem
Mann einen gemeinsamen religiösen Nenner zu finden.
»Er hat einen anderen Weg gehen wollen, hat sich auf andere Themen
besonnen.« (22)
Die Gesprächspartnerin ist sich sicher, dass »ohne die religiöse Anknüpfung«
(6), ohne die regelmässigen Übungen, die äusserst schwierige Beziehung zu
ihrem Mann längst entgleist wäre und sie es in dieser Ehe nie so lange
ausgehalten hätte. Die Gewissheit, dass ihr Partner und sie weit über die Paarbeziehung hinaus schicksalshaft miteinander verbunden sind, gab Julia O. über
weite Strecken die Kraft, es immer wieder – schlussendlich jedoch ohne
sichtbaren Erfolg – miteinander zu versuchen, vor allem, weil sie annimmt, dass
sie aus einem früheren Leben irgendetwas abzuarbeiten hat. Für ihre spirituellen
Anliegen zu missionieren, liegt ihr fern, und sie meidet auch wenn immer
möglich Streitgespräche über den Gegenstand. Greift hingegen jemand die
87
Religion oder Glaubensinhalte provokativ an, so verteidigt sie mit schlüssigen
Argumenten religiöse Positionen. Wichtig ist Julia O. auch, sich für die
existentielle Interpretation der biblischen Erzählungen einzusetzen, denn die
überzeitliche symbolische Bedeutung und die inneren Zusammenhänge dieser
Geschichten
»das kann man nun nicht aus der Welt reden« (10),
auch wenn die damaligen historischen Ereignisse zu berücksichtigen sind. Als
Beispiel nennt sie den Bericht von Noah und der Arche, den man aus der Sicht
des mächtigen und erzürnten, aber schlussendlich gerechten und barmherzigen
Gottes sehen kann oder aber aus der holistischen Perspektive,
»dass wir einfach in dieser Dualität leben, eben von hell und dunkel, von
männlich und weiblich. […] Und wenn das zusammengeht oder wenn es von
jedem hat, dann kann es weitergehen.« (7)
Der Standpunkt von Julia O. zu den geschichtlichen und gesellschaftlichen
Aspekten von Religion ist vor allem durch ihre Verbindung mit Holistic Yoga
und eine übergeordnete Sicht bestimmt. Sie spricht – wie in der fernöstlichen
Anschauung – von Weltzyklen, die einander ablösen. Gegenwärtig befinden wir
uns in einem dunkeln Zeitalter, in dem negative Kräfte dominieren, Katastrophen zunehmen, die Solidarität unter den Menschen leidet, sie sich von der
Religion abwenden und das entsprechende Wissen vergessen. Wenn das Tief in
einer noch nicht zu bestimmenden Zukunft erreicht ist, wird das Goldene
Zeitalter mit einer Blüte aller positiven Eigenschaften der Menschheit anbrechen. (Im Gegensatz zu den asiatischen Konzepten postuliert das Christentum
ein lineares Zeitverständnis mit einem Beginn (Genesis) und einem Ende
(Jüngstes Gericht) der Geschichte.) Die Gesprächspartnerin erklärt ihren Blickwinkel in diesem Bereich so:
»Ob das stimmt, weiss ich nun auch nicht, aber das sagen die [Leiter von
Holistic Yoga], und an das halte ich mich nun ein wenig.« (15)
Was die konkrete heutige Situation des Christentums im Allgemeinen und der
Kirchen im Besonderen angeht, zeigt sich Julia O. eher verunsichert, schon weil
sie sich gegenwärtig mit der religiösen Problematik ihrer Tochter konfrontiert
88
sieht. Nachdem Sofia nicht mehr am bis anhin freiwilligen Schulunterricht in
biblischer Geschichte teilnehmen wollte, wurde ihre Mutter mehrfach darauf
aufmerksam gemacht, dass die spätere Konfirmation vom Besuch dieser Lektionen und von der nachgeholten Taufe des Kindes abhänge. Diese Druckausübung
durch die Landeskirche empfindet die Gesprächspartnerin als extrem störend.
Sie möchte zwar Sofias Religiosität unter allen Umständen fördern, weiss aber
oft nicht, in welcher Form dies geschehen soll. Bei der Weitergabe universeller
Werte ist sie sich ihrer Sache sicher, bei den religiösen Symbolen und Ritualen
hingegen nicht. Favorisiert sie christliche Zeichen und Kulthandlungen, befindet
sie sich zwar mehr oder weniger in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen
Konventionen, muss aber ihre Vorbehalte gegenüber diesem religiösen System
verleugnen. Setzt sie in diesem Bereich auf die eigenen Vorstellungen und
Praktiken, kommt es regelmässig zu Konflikten und Missverständnissen mit der
Aussenwelt (Abwehr des Fremden), was Mutter und Kind belastet und Julia O.
ihre Einsamkeit im religiösen Feld schmerzhaft zum Bewusstsein bringt. Sie
begrüsst es, dass bald auch in der Unter- und Mittelstufe das obligatorische,
konfessionsübergreifende Fach »Religion und Kultur« eingeführt wird und
erhofft sich davon eine Entschärfung der unerquicklichen Lage sowie eine
Reduktion des Nachteils, wenn Kinder keine Gelegenheit erhalten, die Konzepte
der verschiedenen Glaubensrichtungen kennenzulernen. Der Gesprächspartnerin
selbst bedeuten die traditionellen Elemente unserer nach wie vor christlich
geprägten Kultur immer noch viel: Sie fühlt sich von Gotteshäusern, sakraler
Musik und Glockengeläute angezogen, obwohl sie die ursprüngliche Konnotation dieser religiösen Ausdrucksformen nicht mehr mitträgt. Wenn sie Glocken
hört, fragt sie sich:
»Ruft jetzt der Mensch Gott oder Gott den Menschen? Ist doch spannend?« (13)
Die These, Religion sei in der Moderne zur Privatsache geworden, verwirft Julia
O., weil hier ihrer Ansicht nach die ganze Menschheit angesprochen wird, weil
Religion »die Verbundenheit mit Allen und allem« (12) repräsentiert und im
Individuum tief verankert ist. Doch wenn sie die Selbstgefälligkeit und die totalitären Ansprüche der dominierenden religiösen Institutionen betrachtet, kann
sie verstehen, dass immer weniger Christen sich mit dem identifizieren können,
89
was in den Kirchen passiert. So ist sie nicht erstaunt, dass viele Verunsicherte
ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft befriedigen, indem sie auf Ersatzangebote wie
Event-Religionen und quasireligiöse ›Heiligen-Verehrung‹ in Sport und Politik
eingehen, sich auch auf narzisstisch aufgeladene Einweihungszeremonien einlassen oder nach Ritualen greifen, die auf pure Dekorationselemente reduziert
wurden. Für sie sind heute kleinere Korrekturen im Religionsverständnis bereits
möglich, für grundlegende Wandlungen scheint ihr der Zeitpunkt aber noch zu
früh; zu gross sind die Zersplitterung und das Vakuum innerhalb der einzelnen
Bekenntnisse. Aus ihrer holistischen Sicht heraus ortet die Gesprächspartnerin
Chancen für einen Aufschwung der Religion in einem weitaus umfassenderen
Rahmen als dies bis jetzt der Fall ist. Die Zukunft gehört ihrer Meinung nach
pluralen Glaubensrichtungen, die sich an den globalisierten gesellschaftlichen
Bedingungen orientieren und sich nicht davor scheuen, auch neue Wege zu
beschreiten. Den grundlegenden Fortschritt im religiösen Feld ortet Julia O. in
einer erstarkten Solidarität untereinander,
»wenn wir aufeinander eingehen können, wir aufeinander hören können, wenn
man etwas Gemeinsames machen kann (überlegt). Eigentlich immer, wenn so das
kleine Ego überwunden werden kann zugunsten von etwas Grösserem.« (17)
Damit würde der Boden für neue Gemeinschaftsformen von Religion bereitet,
die neben den universalen ethischen Werten durchaus säkulare Elemente beinhalten dürften und auch Wirtschaft sowie Politik einzuschliessen hätten. Doch
die Gesprächspartnerin denkt nicht, dass sich der heutige religiöse Unruhezustand bald ändern wird, zu stark noch sind unsere Kultur und Geschichte von
einer ehemals homogenen christlichen Gesellschaft geprägt.
»Ich glaube, das ist noch mehr als mein Leben entfernt, also noch ein grösserer
Zeithorizont.« (19)
Julia O. gehört zu den in der aktuellen SNF-Studie »Religiosität in der
modernen Welt« (Stolz, 2011) beschriebenen neun Prozent der so genannt
›Alternativen‹, deren Anzahl in den vergangenen zwei Jahrzehnten – entgegen
anderer Annahmen – im Gegensatz zu den weiteren Gruppierungen der Untersuchung konstant geblieben ist (vgl. 2011, S. 9-10, 19-20). Damit entspricht die
90
Stichprobe der Autorin in circa dieser Analyse, denn drei der 20 Studienteilnehmenden gehören ebenfalls zur Kategorie ›Alternative‹. Allerdings bezieht
sich die SNF-Erhebung in diesem Segment vom Niveau des Fragenkatalogs her
auf Praktiken und Vorstellungen, die das verbreitete Klischee von ›Esoterik‹
reproduzieren und daher ein verzerrtes Bild dieser Fraktion vermitteln. Merklich
differenzierter stellt Stefan Kurth (2008) die Sachlage dar. Er legt eine empirische Arbeit vor, die sich an der Privatisierungsthese von Thomas Luckmann
sowie am Typus des ›spirituellen Wanderers‹ orientiert und den biografischen
Kontext der Befragten einbezieht. Bei seiner Forschung ist er wider Erwarten
auf zwei unterschiedliche Varianten von alternativer Religiosität gestossen, die
er »diffuser religiöser Individualsynkretismus« und »engagierter religiöser
Individualsynkretismus« nennt.
»Während der diffus-unverbindliche Individualsynkretismus weitgehend gängigen Klischees einer ›Fleckerlteppichreligiosität‹ entspricht, kann der konturiertengagierte Individualsynkretismus als eine Entdeckung der vorliegenden Untersuchung angesehen werden. Er ist charakterisiert durch eine konturierte und
mittel- bis längerfristig stabile religiöse Sinnorientierung sowie durch engagierte
Aktivitäten religiöser Aneignung und Praxis. Darüber hinaus ist er in hohem
Masse in die Lebenspraxis des Individuums integriert. Schliesslich erweist er
sich in ausgeprägter Weise als subjektiv relevant und funktional für die Alltagsdeutung und Krisenbewältigung.« (2008, S. 203)
Das von Stefan Kurth ermittelte Profil entspricht recht genau demjenigen von
Julia O., auch wenn dieses Bild in ihrem Fall Risse und Sprünge erhält, sobald
sie als selbstkritischer Mensch auf ihre grösste Problematik zu sprechen kommt.
Obwohl sie intensiv und über lange Phasen an ihrer inneren Entwicklung gearbeitet hat, ist es ihr verwehrt geblieben, ihre Familie »alltagstauglich« (22) zu
machen. Sie beklagt, dass sie trotz ihrem religiösen Hintergrund es nicht schafft,
»mit diesem Mann irgendwie auf einen grünen Zweig zu kommen. Das beelendet
mich zutiefst und macht mir auch Schuldgefühle und schlechte (seufzt) Gedanken,
wie auch immer. Ich denke, wieso schaffe ich das nicht? Aber ich kann nur
sagen, ich schaffe es nicht.« (22)
Gerade bei holistischen Weltbildern mit ihrem Streben nach Harmonie und einer
religiösen Ausrichtung, die sich stark auf die Ästhetik stützt, fehlt oft der
91
praktische Sinn für die Dichotomien des Lebens. Der informelle Austausch mit
den Gleichgesinnten ist zu punktuell, ihm haftet etwas Elitäres an, der Alltagsbezug fehlt und damit eine Kontinuität. Die mangelnde Übereinstimmung mit
Personen, Gruppen, Körperschaften aus der so genannten ›Leitkultur‹ mündet
oft in Vereinzelung und Einsamkeit. Der Rückhalt in der Gemeinschaft bleibt
aus, denn die Zweifel an der Legitimität von Glaubensvorstellungen, die nicht
der Norm entsprechen, überwiegen in unserer Kultur. Auch wenn der religiöse
Status einer Person ein noch so hohes Niveau aufweist, ist dieses Dilemma der
Unverträglichkeit von individualisierter Religiosität mit einer Affinität zur
Globalisierung und der Akzeptanz in der eigenen Gesellschaft – was während
einer akuten Krise besonders scharfe Konturen erhält – heute noch kaum zu
überwinden.
92
5.4 Barbara M., Unternehmerin, 1962
Am 6. Februar 2009 fragte die Autorin die – ihr bis anhin nur von den Medien
her bekannte – Unternehmerin Barbara M. per Brief an, ob sie Studienteilnehmerin am Dissertationsvorhaben werden möchte. Bereits einige Tage später kam
ihre Zustimmung, mit der Begründung, dass das Thema sie seit langem beschäftige und sie die Herausforderung gerne annehme. Die Anonymisierung der
Daten sei ihr wichtig, weshalb das Material mehr als üblich verändert wurde.
Wegen ihrer übervollen Agenda legte sie das Interview auf den 19. August 2009
fest. Das Gespräch fand dann an einem heissen Tag im Sitzungszimmer ihrer
Firma statt. Barbara M. ist 47 Jahre alt, hat eine lebhafte, gewinnende Persönlichkeit und strahlt Natürlichkeit, Offenheit, Frische und Selbstvertrauen aus. Sie
ist rhetorisch beschlagen und geschmackvoll angezogen. Die Antworten auf die
Fragen erfolgten im Allgemeinen spontan, zwischendurch jedoch auch erst nach
längerer Überlegung. Schon bald entdeckte die Doktorandin an ihr Züge der
universalen Religion, einer nichtkirchlichen Form des Christentums, wie sie
Roland J. Campiche (2004) beschreibt und auf welche in Kapitel 3.3 auf den
Seiten 38 bis 39 bereits näher eingegangen wurde.
Wie bei allen Interviews standen auch hier zuerst Fragen zu den Prägungen
in der Kinder- und Jugendzeit zur Debatte. Barbara M. wuchs in einem der
katholischen Stammlande auf, wo im Dorf der Pfarrer und die Schulschwestern
zu den nur ausnahmsweise hinterfragten Autoritäten zählten. Die Eltern waren
kirchentreu, weil dies zu jener Zeit einfach dazugehörte. Zum Vater pflegte sie
eine warme, vertrauensvolle Beziehung, die depressive Mutter blieb ihr eher
fremd. Barbara war ein kränkliches, überaus zartes Kind, dem die Erwachsenen
– teils hinter vorgehaltener Hand, in Einzelfällen auch direkt – keine grossen
Überlebenschancen einräumten. Da sie als
»klein und herzig und pflegebedürftig« (10)
galt, traute man ihr nur wenig zu. Sie erhielt das Prädikat ›dumm‹, weil die
schwere Legasthenie erst in der Berufsschule entdeckt und behandelt wurde.
Das hinderte die Kleine aber nicht daran, bereits früh eine originelle und eigen93
ständige Wesensart zu entwickeln, auch in religiösen Dingen. Einerseits genoss
sie den altmodischen Bilder-Katholizismus und die Geschichten aus der Bibel,
welche ihr Gelegenheit gaben, in die eigene Welt abzutauchen.
»Das ist der Teil, den ich sehr schön finde, weil da ist es möglich, auch noch der
Phantasie Platz zu geben. Ich meine, ich habe mir schon ganz früh die Freiheit
genommen, weil ich gefunden habe, die Geschichten, die mir da serviert werden,
sind sehr eng, von der Moral her eng.« (1)
Andererseits bereiteten ihr einige kirchlichen Rituale grosse Schwierigkeiten,
für welche sie jedoch ebenfalls unorthodoxe Lösungen fand.
»Die Hostie essen... ich habe die auf den Tod nicht ausstehen können. Das hat
mich ›glupft‹, wenn ich die im Mund gehabt habe. Dann habe ich auch da meine
Lösung gefunden. Ich habe sie wohl zu mir genommen, ich habe sie auch noch in
den Mund genommen, und dann habe ich, so schnell wie es gegangen ist, das
Taschentuch hervorgenommen und habe mich geschnäuzt und sie ins Taschentuch verpackt. Und dann ist die in die Waschmaschine gekommen, was ja eine
wahnsinnige Sünde gewesen wäre. Aber das hat mich wie nicht tangiert.« (2-3)
Einen ersten, inneren Abschied von der Kirche nahm Barbara M. mit ungefähr
sechzehn, als der Pfarrer von der Kanzel verkündete, ein uneheliches Kind zu
haben, sei eine schwere Sünde.
»Und dann habe ich beschlossen: So, das war’s. [...] Meine Beziehung zu einer
Macht, zu einer Wesenheit ausserhalb von mir, zu etwas Grösserem, wo ich
eingebunden bin, das hat dies nicht tangiert. Man könnte sagen, Gott, das hat es
nicht tangiert. Aber ich habe einfach gefunden, da kann ich nicht mehr
mitmischen, weil die so einen ›Seich‹ erzählen.« (2)
Aus der Kirche ausgetreten ist die Gesprächspartnerin dann mit 27 Jahren, nicht
aus religiösen Gründen, sondern weil sie die Verlogenheit dieser Institution und
ihrer Exponenten nicht mehr mittragen wollte. Dieser Schritt veranlasste den
Dorfpfarrer dazu, den Eltern schwerste Vorwürfe zu machen, mit dem Resultat,
dass diese von da weg keine Gottesdienste mehr besuchten und die Mutter nahe
daran war, den Austritt aus der Kirche zu geben.
Diese Biografie zeigt paradigmatisch eine über Krisen sich entwickelnde,
sozial und kulturell konstruierte Identität, wie sie Erik H. Erikson (1976) be94
schreibt. Seine Theorie besagt, dass die Lösung phasenbedingter Konflikte in
eine bestimmte Grundhaltung mündet, die jeweils zur Basis weiterer Entwicklungen wird. Die Wende im Leben von Barbara M. im jungen Erwachsenenalter
– welche man als Konversion bezeichnen kann – war durch gewisse Ausgangskonstellationen bedingt, daneben aber auch Folge eines umfassenden Prozesses
während Kindheit und Jugend, dem sie den Charakter einer Gratwanderung und
Prüfung beimisst, weil sie eigentlich nicht habe leben wollen.
»Ich bin wirklich nicht ganz auf dieser Welt gewesen. [...] Ich habe mir nie
überlegt, bin ich jetzt auf dieser Welt oder nicht. Ich habe einfach offensichtlich
an den Reaktionen gemerkt, der Art, wie Andere etwas anders sind, dass ich da
nicht ganz dazugehöre. Und erst so nach der Pubertät hat es dann so einen Entscheid gegeben: Jawohl, jetzt aber will ich da sein, jetzt bin ich da. Und habe
auch mein Leben in die Hand genommen.« (3)
Nach diesem Erwachen aus dem Dornröschenschlaf und der Überwindung der
Legasthenie konnte Barbara M. ihre Berufswünsche verwirklichen und sich
daneben mit ihrer Schwester zusammen zur Atemtherapeutin ausbilden lassen.
Die persönliche Atemarbeit gehört seither als tragender Pfeiler zu ihrem Alltag.
Ihre vor mehr als zwanzig Jahren begonnene Lebensgemeinschaft mit dem Partner besteht bis heute. Ende der 1990er-Jahre trat sie dann als Quereinsteigerin
die Nachfolge des Vaters im Familienunternehmen an und führt seither die
Firma dank kreativen, auch ungewöhnlichen Ideen und Innovationen zu beachtlichen Erfolgen. Das sind auch die Gründe, warum Barbara M. vor einiger Zeit
zur ›Unternehmerin des Jahres‹ gekürt worden ist. Seither gilt sie als
»eine öffentliche Person« (8),
die häufig eingeladen wird, sich an Podiumsgesprächen oder offiziellen Veranstaltungen – und auch als Mentorin – zu ihren Erfahrungen und Standpunkten zu
äussern. Auch wenn es nicht immer gelingt, entweder selbst religiöse Themen
anzusprechen oder auf entsprechende Impulse aus dem Publikum einzugehen, so
versucht sie doch regelmässig, etwas von dieser anderen Ebene aufzugreifen.
Dabei stellt sie Unterschiede zwischen Frauen und Männern fest: Bei Frauen
findet sie oft bereits zu Beginn einer Diskussion ein offenes Ohr, doch
»bei Männern kann es dann sein, dass wir gar nie dahin kommen. Weil sie mich
nicht dahin kommen lassen, wenn sie merken, da ist sie stark.« (9)
95
Auf die Frage, ob ihr diese Tätigkeiten die Möglichkeit eröffnen, ihre Religiosität in die Gesellschaft hinauszutragen, denkt die Gesprächspartnerin, dass sie
durch ihre Präsenz im öffentlichen Raum schon
» – vor allem bei Frauen – Vorbildfunktion übernommen habe. Und ich meine,
dass die religiöse Ebene, wenn man sie so nennen will, dort dazugehört. [...] So
das Einstehen für gewisse Werte, gewisse Dinge einfach nicht machen, wenn man
findet, nein, nicht mit mir, fertig Schluss, auch wenn es dann halt ein bisschen
weniger Geld bringt. Auf der anderen Seite auch knallhart rechnen müssen, auch
jemandem kündigen müssen und auch klare Grenzen setzen müssen, was halt
geht und was nicht geht. Ich würde schon meinen, dass da etwas möglich ist von
dem. [...] Ich finde es ganz, ganz schwierig, dass es etwas ist, das wirklich auch
stimmt, was ich hinübergeben kann. Da etwas wirklich Authentisches rüber zu
bringen, uuh, das ist also wahnsinnig schwierig.« (17)
Für Barbara M. ist es seit jeher wichtig, in ihrem eigenen Unternehmen den
Menschen ins Zentrum zu stellen. Was sie auf der Bühne postuliert, will sie
intern wie extern umsetzen. Dass sie die Anderen an ihrem Erfolg teilhaben
lässt, bringt sie jedoch nicht mit Religion in Verbindung, sondern mit ihrem
Verständnis von Leben. Auf ihre Erfahrungen als Chefin angesprochen, meint
sie seufzend, dass sie zwar seit dem Preis als ›Unternehmerin des Jahres‹ nicht
mehr als Exotin, sondern als Fachperson wahrgenommen werde, aber:
»Ich habe vieles, das gut geht, das gelingt, wo ich ernst genommen werde. Aber
ich habe natürlich Ebenen, wo ich nicht ernst genommen werde, wo ich es merke,
wo es mich ›aaschiist, exgüsi‹, wo ich finde, es reicht jetzt einfach.« (17)
Dieser Befund bezieht sich auf ihre inner- wie ausserbetriebliche Situation als
Unternehmerin, nicht aber auf den Familien- und Freundeskreis. Barbara M.
stellt im Moment zudem fest, dass die Auszeichnung sie zwar ins Rampenlicht
gerückt, die anfängliche Resonanz sich aber verflacht hat. Und dies obwohl sie
findet, in der Zwischenzeit sehr viel mehr gearbeitet, geleistet und gemacht zu
haben. Doch diese Kritik ändert nichts an der grundsätzlichen Einschätzung
ihrer Handlungsoptionen, die sie wie folgt definiert:
»In meinem Leben habe ich wie gelernt, anders an die Sache heranzugehen.
Immer so, dass ich gedacht habe: Ich muss es halt einmal versuchen, einmal da
96
rein, einmal fühlen, wie das tut. Und dann kommt das Nächste dann schon, dann
weiss ich dann schon, wie es weitergeht.« (12)
Welcher Korpus von intrinsischen und extrinsischen Faktoren begleitet und
unterstützt nun das Dasein von Barbara M. und liefert Erklärungen dafür, wie sie
ihren Weg gestaltet und unter die Füsse nimmt? Es fällt auf, dass das Gespräch
häufig um den Begriff ›Leben‹ kreist und Barbara M. dieses Wort immer wieder
mit ihren Gedanken und Tätigkeiten verknüpft. Ihr Verständnis von Leben
bringt sie mit wenigen Worten auf den Punkt:
»Für mich ist Leben – menschliches Leben – eine Verbindung von Körper, Seele
und Geist. Das ist so klar bei mir wie dieser Kugelschreiber da.« (4)
Erklärend meint sie dazu, Geist sei nicht bloss Intellekt, es habe mit Spiritualität
zu tun, obwohl der Intellekt auch darin enthalten sei. Aber letztlich geht es für
sie ganz stark um den Körper und das Körperliche,
»sonst hätten wir ja nicht einen Körper bekommen, um jetzt auf dieser Welt auch
zu kutschieren. Also müssen wir den auch spüren, müssen wir den auch mit Leben
füllen. [...] Ich brauche dieses Instrument, um Verbindungen zu diesen Ebenen zu
schaffen. Wir müssen uns auf dieser Welt bewegen, die ja körperlich ist. Und wo
dann da die Seele ihren Platz hat, ach... Ich verbinde es ein wenig mit Gemüt,
mit... Seelen-Verwandtschaft ist so ein Wort, das ich einordnen kann.« (4-5)
Und weitergehend führt sie aus:
»...bin ich eingebettet in etwas ganz, in etwas sehr Durchdringendes, das man
Leben nennen könnte. Und dieses Leben will leben, das will nicht sterben, das
will leben. Und wenn ich ihm die Chance gebe, so gut ich das halt kann, vermag,
so findet es noch so gerne den Weg zu mir, das wartet nur darauf.« (6)
Ein wichtiger Wegweiser, um dieser Spur zu folgen sind für Barbara M. die
Werke von Viktor Frankl (2004), den sie als die Entdeckung schildert. Das
heisst für sie, dass wir im Hier und Jetzt eine Aufgabe zu erfüllen haben, dass
wir uns dazu entscheiden, in den Prozess des Daseins trotz Schwierigkeiten und
Risiken hineinzugehen, nicht einer Opferrolle zu verfallen, sondern dass es uns
gut gehen soll und wir dazu aufgefordert sind, das Leben aktiv in die Hand zu
nehmen, uns auch seiner Fülle auszusetzen. Im Gegenzug dazu fühlt sie sich
fortwährend von einer grossen Gnade umgeben, denn das Leben ist
97
»sehr gnädig, indem es mir immer wieder eine Chance bietet, immer wieder. Ich
weiss nicht, ob es immer wieder käme, das weiss ich schon nicht. Aber ich meine,
wenn für mich eine klare Entscheidung da ist, das Leben so anzugehen, dass es
sinnvoll ist, dass ich das einbauen kann und dass es fürs Umfeld auch einen Sinn
ergibt, dann erfahre ich das ja immer wieder.« (7)
Diese Gnade wirkt für Barbara M. auch in der Natur, der sie eng verbunden ist.
Als Beispiel nennt sie vergiftetes Wasser, das rein und klar aus dem Boden
kommt, wenn man ihm nur genügend Regenerationszeit gewährt. Das Verflechten von Transzendenz und Immanenz kommt ebenfalls in ihrer Sicht zu Leben
und Tod zum Zug. Diese unserer Kultur innewohnende Dichotomie hat sich für
sie im Kontext der Erfahrung des Todes ihres Vaters wie verflüchtigt.
»... der hat es jetzt hinter sich, es ist gut. Und jetzt beginnt wirklich etwas Neues.
Und habe das auf mich und auf ihn bezogen. Und was wirklich ist, ist wie nicht
relevant. Je länger ich darüber nachdenke, je mehr denke ich, ist ja wie egal. Es
geht jetzt nicht um das Dort, es geht um das Hier. Und ich bin nicht auf dieser
Welt, um tagelang darüber nachzustudieren, was ist dann wohl, wenn ich einmal
tot bin.« (8)
Eine solche Auflösung der Gegensätze zeigt sich auch im Gottesverständnis von
Barbara M.. Zwar stellt sie ihren Äusserungen – was trotz unserer säkularisierten Kultur auch heute noch häufig der Fall ist – mehrmals das Wort ›Gott‹
voran, doch kann sie eine überweltliche Wirklichkeit weder konkret benennen,
noch will sie diese personifizieren. Obwohl ausserhalb von Erklärungsmöglichkeiten, ist ihr Leben aber von einem solchen Numinosum als existentieller
Konstante begleitet, das sie beinahe wie ein Naturgesetz wahrnimmt.
»Ich brauche da den anderen Pol, sonst habe ich Sinnprobleme.« (5)
Angebunden an diese Aussage ist auch die Sinnfrage, bei der ihr zentral erscheint, dass dabei nicht eine Opferrolle eingenommen, sondern etwas gestaltet
wird. (Das ist auch der Grund, warum ihr das Frauenbild im Islam missfällt.) Sie
antwortet für sich auf dieses Thema radikal diesseitig, was ihr Unabhängigkeit
von der Hilfe religiöser Experten verleiht.
»Die Kirche hat wohl Erklärungen gehabt, [...] aber sie hat ja nicht haben
wollen, dass man mitdenkt. Und eigentlich haben sie auch nicht haben wollen,
dass man sich entwickelt, denn da hätte man ja etwas ändern müssen. Aber als
98
Katholikin, in der Kirche, habe ich diese Ebene nirgends gefunden, da bin ich
jeweils alleine gewesen. [...] Ich bin jetzt auf diese Welt gekommen, das macht
Sinn. Punkt. Und, wie das jetzt weitergeht und dass das wirklich einen Sinn
macht, habe ich meines dazu beizutragen. Und dann komme ich dorthin –
worüber wir schon vorhin gesprochen haben – wie sehe ich mich denn im
Kontext des Ganzen, und wo kann ich auch in einer schwierigsten Situation noch
eine Wahlmöglichkeit finden und sagen, mindestens meine Einstellung zu dem,
was ich da erlebe, kann ich noch ein wenig schieben. Und das gibt mir die
Möglichkeit, Sinn in diesen Moment hineinzugeben. Und sobald ich [...] die
Möglichkeit finde, Sinn hineinzugeben, kann es weitergehen. Also gibt es eine
Entwicklung, [...] ich bin aber gefordert, auf meinen ganzen Ebenen. Ich brauche
meinen Körper, meine Seele und meinen Geist, um da wirklich eine nächste
Entwicklung einleiten zu können, respektive zu erleben.« (13)
Aus dem bisher Gesagten ist ersichtlich, welche Themen Barbara M. bis
jetzt angegangen ist und wie weit sie sich von einem institutionalisierten Christentum entfernt hat. Und doch ist ihr klar bewusst, dass ein Grossteil unserer
Kultur, die Geschichte des Abendlandes, das ganze Rechtsempfinden nur im
Kontext dieser Tradition zu begreifen sind. Auf die Frage, welche der christlichen Werte ihr nach wie vor dennoch wichtig seien, meint sie:
»Mir kommt als erstes einfach die Nächstenliebe in den Sinn. Punkt.« (14)
Ein Gebet im klassischen Sinn kennt Barbara M. nicht (mehr), doch
»ich segne vieles: Tiere, die am Strassenrand liegen, weil überfahren (da
bedanke ich mich für ihr Leben), Fleisch auf dem Teller, Menschen, denen ich
ansehe, dass sie es schwer haben, lachende Kinder, ..... Ich sitze ja jeden Tag auf
meinem Schemel und beschäftige mich mit meinem Atem. Dabei kommt oft eine
unglaubliche Dankbarkeit hoch, eine Achtung vor so viel Leben, vor so viel
Präzision, vor dem Grossen um mich und auch in mir – ich bin ja Teil davon.
Das erachte ich heute als mein Gebet.« (Brief 27.8.2009)
Intensiv praktizierte religiöse Feste und Rituale bereiten ihr Mühe, weil sie in
dem Bereich ein gebranntes Kind ist. Auch die Sache mit den Engeln findet sie
knifflig. Hier stehen ihr das kirchliche Engelbild und ein weit verbreiteter Aberglaube über diese Geistwesen im Weg.
99
»Der Schutzengel ist wie eine Metapher, etwas das man zu gewissen Zeiten
braucht. Vielleicht brauche ich es wieder einmal, ich will es nicht ganz wegtun.
Aber ich meine, es ist jetzt... wie ein Teddybär, den ich wahnsinnig gebraucht
habe und gern gehabt habe. Und jetzt aber schaue ich ihn an und denke: bist ein
Schöner gewesen.« (6)
Religion als Anlage im Menschen sieht die Gesprächspartnerin nur im Kontext
eines Visavis, das sie in etwas Grösseres einbindet. Aber eigentlich
»ist es wie ein wenig egal, was es nun ist. Es ist einfach.« (22)
Sie hält sich für sehr gläubig, kommt aber bei der Frage: Bist du religiös? in
einen Konflikt, weil sie Religion rasch mit einer gewissen Ideologie und Struktur verbindet. Dem Standpunkt der Kirche mit der Fixierung auf Schuld, Sünde,
Fegefeuer, Hölle kann Barbara M. nichts abgewinnen. Sie findet, dass hier die
notwendige Entwicklung zugunsten von Machterhalt ausgeblieben ist.
»Ich meine, es gibt keinen Tag, wenn wir nicht eine Nacht haben. Ich habe
Seiten, die auch nicht so lustig sind, ich habe aber auch gute Seiten, und das gibt
ein Ganzes. Und wenn ich das eine nicht haben will, so habe ich auch vom
anderen etwas nicht. Und eigentlich geht es darum, das ins Bewusstsein kommen
zu lassen und mit dem etwas Gescheites zu entwickeln.« (4)
Genau um dieses ›Ins-Bewusstsein-kommen-lassen‹ geht es Barbara M., wenn
sie sich allein, zusammen mit ihrer Lehrerin oder in der Gruppe der Atemarbeit
widmet. Diese Tätigkeit ist ihr eine nie versiegende Ressource, die den täglichen
Kontakt zwischen Körper, Geist und Seele, die Verbindung nach draussen herstellt
»und mir ermöglicht, eine Bewusstwerdung zu schaffen. Und das ist ein Prozess,
und der geht lebenslang. Ich kann es nun nicht anders formulieren, aber das ist
für mich Religion.« (4)
Glaube ist für sie angehängt an etwas, das alle betrifft und kann deshalb nie
Privatsache sein, wie seit der Moderne oft behauptet wird. In diesem Punkt
deckt sich ihre Ansicht mit derjenigen des Soziologen Michael Dellwing (2007),
welcher die klassischen und neoklassischen religionssoziologischen Theorien
(Berger, Casanova, Luckmann, Oevermann, Taylor etc.) vehement ablehnt und
sagt:
100
»Die Erzählung der privaten Religion ist eine Sinnstruktur, mit der die Welt
geordnet wird, aber eine Sinnstruktur, die auf einem christlichen, reformatorischen Religionsbegriff ruht.« (2007, S. 167)
Für die globalen Bedingungen der aktuellen gesellschaftlichen Situation ist er
damit zu eng gefasst. Er bestimmt mit dieser Hypothese eine Konversion nicht
als Wahl im Rahmen der Individualisierung, vielmehr nur als eine andere
Thematisierung der Welterklärungserzählung.
Aus ihrer Biografie wird ersichtlich, dass sich ein Urvertrauen wie ein roter
Faden durch das Leben von Barbara M. zieht, obwohl dieser Ausdruck im
Interview nie erscheint. Aus welchen Quellen dieses Urvertrauen wesentlich
gespiesen wird, soll offen gelassen werden. Trotz zum Teil widriger Umstände
in Kindheit und Jugend hat Barbara M. zu innerer Kraft, Eigenständigkeit und
Kreativität finden können. Sie ergriff die Chance der durch den Prozess der
Konversion neueröffneten Dimension, um mit Hilfe von Intuition, Dynamik und
einem sinnvollen Gebrauch ihrer Fähigkeiten sich den Realitäten zu stellen. Mit
den Widersprüchen des Lebens und dem katholischen Trauma von der Mutter
Kirche, die ihre Kinder frisst, hat sie umzugehen gelernt und daraus sogar ein
eigenes religiöses Profil gewinnen können. Durch die radikale Diesseitigkeit von
Barbara M. fallen bei ihr Immanenz und Transzendenz zusammen, was die
Möglichkeit einer säkularen Religiosität mit beträchtlichem Zukunftspotential –
und zwar nicht nur auf individueller Ebene – in sich birgt.
Dieses Interview ergibt das Bild eines in der Gegenwart lebenden und
gleichzeitig zukunftsorientierten Menschen, der sich seiner Sache – auch im
religiösen Bereich – sehr sicher ist und dem es um ein Grössenwachstum der
besonderen Art geht: Er will mit Hilfe von Innovation seine Vorstellungen von
›Leben‹ verwirklichen, immer wieder das Erreichte in die Gesellschaft hinaustragen und so Mikro- und Mesoebene persönlicher Religiosität miteinander
verbinden. Dieser Eindruck ist auch der weltanschaulichen und sozialen Nähe zu
verdanken, welche die Autorin mit Barbara M. verbindet und die bereits in der
Analyse des Gesprächs mit Anna S. angesprochen wurde. Pierre Bourdieu be101
schreibt solche Konstellationen als mögliche Verhinderung von symbolischer
Gewalt in der Interviewbeziehung, weil hier sichergestellt ist,
»dass ein unmittelbares und ständig neu bestätigtes Einvernehmen hinsichtlich
der Vorverständnisse zu den Inhalten und Formen der Kommunikation besteht.«
(1997b, S. 783)
Bourdieu betont aber gleichzeitig die Grenzen solch bestmöglicher Voraussetzungen von Übereinstimmung in der Befragungssituation.
102
5.5 Sabine K., Pädagogin, 1963
Die Bekanntschaft der 47-jährigen Pädagogin Sabine K. machte die Doktorandin
2006 durch berufliche Kontakte mit der von ihr geleiteten Privatschule. Im
Frühling 2009 trafen wir uns zufällig am Bahnhof und reisten zusammen nach
Zürich. Als die Autorin ihr während der Fahrt von ihrem Dissertationsprojekt
erzählte, fragte Sabine K., ob sie als Studienteilnehmerin mitmachen könne.
Nach dem Erhalt der Unterlagen kam ihre Antwort mit folgender Bemerkung:
»Vor allem berührt hat mich der Teil der Zielsetzung, dass Sie den ›konfessionslosen Menschen, deren selbstverantwortete Religiosität oft mit einer gewissen
Sprachlosigkeit verbunden ist, eine Stimme geben‹ wollen. Das trifft für mich den
Nagel auf den Kopf.« (E-Mail 20.5.2009)
Sabine K. und ihr Mann – ein Forstingenieur ETH – haben drei erwachsene Kinder und führen gemeinsam eine staatlich anerkannte Privatschule. Sie machen
sich für Anliegen im ökologischen, sozialen und Bildungsbereich stark und sind
beide politisch engagiert. Die Gesprächspartnerin ist eine eher stille, unaufgeregte Frau, welche jedoch über vielfältige Kompetenzen verfügt und diese auch
gezielt einzusetzen weiss. Das Interview fand dann auf ihren Wunsch hin am 15.
Februar 2010 statt.
Sabine K. entstammt einem sich am Humanismus orientierenden Elternhaus, das bis heute auf alles, was mit Religion und ihren Gläubigen zusammenhängt, nicht gut zu sprechen ist. Mutter und Vater (Jahrgang 1934) erlebten als
Kinder die Schrecken der Naziherrschaft in den Niederlanden, wo sich viele
Menschen humanistischen Strömungen zuwandten, weil sie den kirchlichen
Institutionen nicht mehr vertr