Analytische Grundlagen spiritueller und religiöser
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Analytische Grundlagen spiritueller und religiöser
Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Analytische Grundlagen spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen als Beitrag zur Diskussion über die Berechtigung des Faches „Instruction Religieuse et Morale“ an Luxemburger Schulen 1 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Erklärung „Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit nach den Vorschriften der Großherzoglichen Bestimmung vom 23. April 1981 selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder Sinn nach entnommen wurden, habe ich in jedem Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht. Das Gleiche gilt auch für die beigegebenen Zeichnungen, Kartenskizzen und Darstellungen.“ Luxemburg, im August 2010 Sandra Droste 2 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Sandra M. Droste Professeur candidate d’Instruction religieuse et morale, au Lycée Michel-Rodange Luxembourg Analytische Grundlagen spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen als Beitrag zur Diskussion über die Berechtigung des Faches „Instruction Religieuse et Morale“ an Luxemburger Schulen Travail de candidature im Fach Instruction religieuse et morale Luxemburg 2010 3 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Zusammenfassung In jüngster Vergangenheit steht das Unterrichtsfach „Instruction Religieuse et Morale“ an Luxemburger Schulen unter wachsendem gesellschaftlichem Beschuss. Groß ist der Anspruch an die schulischen Institutionen, moralische Werte und Bildungsinhalte zu vermitteln. Umstritten ist jedoch, ob diese Werte weiterhin parallel zum Unterrichtsfach Moral auch in verantwortlichen Händen des klassischen religiösen Religionsunterrichts liegen oder auf ein neues Unterrichtsfach mit Arbeitstitel „Einheitsfach“ ohne institutionelle Beeinflussung durch die Kirche verlegt werden sollen. Wenig beleuchtet, ja geradezu vernachlässigt wurde bei dieser Diskussion bisher die Frage, welche spirituellen und religiösen Grundlagen bzw. haltungen Luxemburger Jugendliche heute mitbringen, um sich auf das eine oder andere Fach einzulassen und in diesem Kontext nachhaltig gebildet zu werden. Die vorliegende Arbeit geht eben dieser Frage nach. Nach einer Einleitung, die Nutzen und Motivation der vorliegenden Arbeit verdeutlichen soll, untersucht das zweite Kapitel die Frage, was Religiosität und Spiritualität in ihrer Vielschichtigkeit und angesichts einer vorherrschenden Begriffsverwirrung heutzutage bedeuten können und sollen. Zur Sprache kommen Begriffe wie Kirchlichkeit, Christlichkeit, Glaube, Heiligkeit, Moral, Ethik, Tugenden und Werte. Vorgestellt wird das Messverfahren zur Religiosität von Stefan Huber. Außerdem wird kritisch hinterfragt, ob Religiosität etwas dem Menschen Eigenes ist, und in welchem Verhältnis Religiosität, Moralität und tatsächliches Verhalten stehen. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der sich Religiosität in Luxemburg gegenübersieht. Analysiert werden verschiedene Bereiche, die Auskunft darüber geben, in welchem Werteklima Luxemburger Jugendliche aufwachsen, welche Stellenwert Religiosität in Luxemburg besitzt und welche pastorale Bemühungen seitens der Kirche und des Staates unternommen werden, um Religiosität im Großherzogtum zu fördern. Im vierten Kapitel werden Besonderheiten der Zielgruppe „Jugendliche“ im Zusammenhang mit Religiosität erkundet. Dabei geht es insbesondere um die Prägungsstätten sowie alternative Ausdrucksformen von Religiosität. Das fünfte Kapitel problematisiert die Messbarkeit von Religiosität. Dies geschieht zunächst auf theoretischer Basis, dann anhand einer Analyse bisheriger Studien, die sich mit dem Thema „Religiosität“ auseinandersetzen. Diese werden auf der Grundlage der im zweiten Kapitel getroffenen Erkenntnisse hinsichtlich ihrer Aussagekraft bezüglich Religiosität Jugendlicher bewertet. Das sechste Kapitel fasst die erworbenen Erkenntnisse über das Großherzogtum als Ort für Religiosität zusammen und begründet die Notwendigkeit einer weiterführenden Kulturtheologie im Luxemburg der Zukunft unter besondere Berücksichtigung der Frage nach nachhaltiger Wertebildung. Es diskutiert die Berechtigung des Faches am hiesigen Standort auf Grundlage der vorangegangenen Ergebnisse. Der abschließende Ausblick engagiert sich für Werte-Bildung als einem wichtigen Beitrag zu einer friedvollen, glücklichen Gesellschaft und bewertet dessen Chancen in dem Fach „Instruction Religieuse et Morale“ sowie in einem Einheitskurs. 4 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Danksagung Mein Dank gilt an dieser Stelle Herrn Helmut Häring, der von Anfang an mit Interesse und Geduld diese Arbeit als Tutor mitgetragen und betreut hat. Ich danke ihm herzlich für die wissenschaftliche und menschliche Begleitung und bin ihm für die interessanten Hinweise und Gespräche sehr verbunden. Auch danke ich Herrn Professor Dr. Udo Schmälzle, Lehrstuhldozent für Pastoraltheologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Deutschland). Er trug durch seine durchgängig wertschätzenden und bereichernden Rückmeldungen dafür Sorge, dass hier etwas Eigenes entstehen konnte. Weiterhin dankbar bin ich Herrn Generalvikar Mathias Schiltz, der mich ermutigt hat, auf diesem Gebiet zu forschen. Ebenso zolle ich meinem Fachkollegen am Lycée Athenée Luxembourg Herrn Jean-Louis Gindt Dank und Anerkennung für hilfreiche Einblicke in Daten und Statistiken über Jugend und Religion in Luxemburg. Sehr geschätzt habe ich den Gesprächsaustausch mit verschiedenen Pfarrern des Bistums Luxemburg, allen voran Herr Emile André. Sie zeigten mir hilfreich unterschiedliche Aspekte der Jugendpastoral in Luxemburg auf und sind mir ein Beispiel für Idealismus bei der Arbeit mit Jugendlichen. Danken möchte ich auch dem Jugendpfarrer Luxemburgs, Herrn Edmond Ries, für das zur Verfügung Stellen vieler inhaltlicher Materialen zum Pélé des Jeunes, der Springprozession in Echternach und der Willibrord-Oktav. Herzlich gedankt sei allen Schülerinnen und Schülern, die mich zu dieser Arbeit inspiriert und motiviert haben. Zum Schluss danke ich besonders meiner Familie: meinen Eltern Helga und Hans-Willi Pomp, die immer an mich glauben, und auch meinen Kindern Oliver, Helena und Jonathan für ihre Geduld und die Freude, die sie am Leben haben und verschenken. Vor allem aber danke ich meinem Ehemann Dirk. Der Abschluss dieser Arbeit ist sein Verdienst als kritischer Leser, geduldiger Vater und warmherziger Lebenspartner. 5 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Für Oliver Für Helena Für Jonathan 6 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 7 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 8 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 9 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Die vorliegende Arbeit ist nach den Regeln der überarbeiteten deutschen Rechtschreibreform (Stand 2010) verfasst. Wörtlich übernommene Zitate verbleiben unverändert in ihrer originalen Schreibweise. Zugunsten einer flüssigen Lesart wird bei Personenangaben wie „Schüler“, „Lehrer“ etc. auf die weibliche Form verzichtet. Sie sei jedoch immer miteingeschlossen. 10 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Ich bin ein Sucher Eines Weges. Zu allem was mehr ist Als Stoffwechsel Blutkreislauf Nahrungsaufnahme Zellenzerfall. Ich bin ein Sucher Eines Weges Der breiter ist Als ich. Nicht zu schmal. Kein Ein-Mann-Weg. Aber auch keine Staubige, tausendmal überlaufene Bahn. Ich bin ein Sucher Eines Weges. Sucher eines Weges Für mehr als mich. Günter Kunert 11 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 12 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 1. Einleitung 1. 1 Persönlicher Zugang zum Thema und Relevanz der Arbeit „Der Typ des Religionskomponisten symbolisiert am deutlichsten die unter säkularen Bedingungen entstandene spirituelle Suche. Dabei sind die Dimensionen dieser breiten Kulturbewegung bunt und vielfältig – und viel zu wenig erforscht.“ Paul Zulehner, Religionspädagoge 1 „Versucht nicht, uns zu verstehen. Ihr könnt uns untersuchen, befragen, interviewen, Statistiken über uns aufstellen, sie auswerten, interpretieren, verwerfen, Theorien entwickeln und diskutieren, Vermutungen anstellen, Schlüsse ziehen, Sachverhalte klären, Ergebnisse verkünden, sogar daran glauben. Unseretwegen. Aber Ihr werdet uns nicht verstehen. Wir sind anders als Ihr. (…) Wir sind unfassbar. Das ist unser Geheimnis.“ Peter König: „Wir sind Vodookinder“2 Peter Königs Text als Antwort auf Paul Zulehners explizierten Forschungsbedarf klingt ermutigend und entmutigend zugleich. Etwas über Jugendliche, gar zum Thema Religiosität herausfinden, was soll das? Geht das? „Jesus ist an einer Krankheit gestorben.“ Dieser Satz eines zwölfjährigen Schülers aus meiner 7. Klasse brachte mich im Jahr 2005 beim Korrigieren der Trimesterprüfung im Fach „Religion“ erst einmal zum Schmunzeln, ja, beim Erzählen im Familienkreis zum lauten Lachen. Je öfter ich mir diese Aussage vorsagte, nahm sie mich jedoch auch mit wurde mir doch bewusst, welche Dimension die in der Gesellschaft oft konstatierte, nicht selten beklagte Ferne zwischen Jugendlichen und Religion für mich persönlich erreicht hat. Der „Steckbrief Jesu“ war im Unterricht konkret besprochen worden, aber es ging mir weniger um die Tatsache, dass der Schüler innerhalb eines guten Klassendurchschnitts nicht ausreichend gearbeitet hatte. Vielmehr zeugte die Antwort auf die Prüfungsfrage von einem Mangel an religiöser Bildung, auf den ich in diesem Ausmaß nicht vorbereitet war: An einer 1 2 Zulehner (2005b), S. 100. Zitiert nach Kuld (2001), S. 115. 13 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen katholischen Privatschule, in deren Eingangshalle und auf den Fluren Kruzifixe hängen, in einem Land mit einem katholischen Bevölkerungsanteil von etwa neunzig Prozent soll das Kreuz keinerlei Bedeutung mehr in sich tragen? Nicht daran glauben... - akzeptiert. Aber es selbst als Alltagsgegenstand nicht mehr wahrnehmen… - wie ist das möglich; und was bedeutet es für mich persönlich, als Religionslehrerin, als Mutter dreier Kinder, aber auch Gemeindemitglied und als Bürgerin eines Landes beziehungsweise eines geeinten Europas, das sich auf eine christlich-abendländische Wertetradition beruft? Religionslehrer Reiner Jungnitschs Antwort ist nicht eben hoffnungsstiftend, wenn er sagt: „Von Glauben zu reden, ist nicht gerade Mode. Das hat gleich so einen frommen Beigeschmack, riecht nach Kirche, Weihwasser und trockenen Sprüchen. Je nachdem, was man in dieser Richtung für Erfahrungen gemacht hat, ist eine solche skeptische bis ablehnende Haltung sehr verständlich.“3 In Luxemburg steht die Legitimation des klassischen RUs4 derzeit auf dem Prüfstand, mehr noch: auf der Kippe. Insbesondere das „Bündnis für d’Trennung vu Kierch a Stat“5 macht sich diesbezüglich stark für eine schulpolitische Richtungsänderung und einer Verabschiedung der Kirche aus den öffentlichen Schulen. Als Alternative schlägt das Bündnis tvkas im Namen des Zusammenschlusses verschiedener Organisationen wie “Liberté de Conscience a.s.b.l.“ und Sokrates (Internetportal für kritische ZeitgenossInnen) oder Parteien wie „Déi jonk Greng“, den Jungsozialisten, den Jungliberalen und den Linken die Einführung eines Einheitsfachs vor. Hinzu kommen die Negativschlagzeilen über die Institution Kirche, die es in jüngster Vergangenheit zu Genüge gegeben hat. Da gibt es die Bischöfe wie den britischen Erkonservativen Richard Williamson, der mit seinen Genossen der Piusbruderschaft durch Papst Benedikt XVI. von der Exkommunikation rehabilitiert wurde und es bleibt, obwohl er öffentlich den Holocaust leugnet und dafür im April 2010 von einem deutschen Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Da ist der brasilianische Bischof José Gomes Sobrinho, der 2009 ein seit seinem sechsten Lebensjahr vom Stiefvater missbrauchtes neunjähriges Mädchen exkommunizierte, das mit Zwillingen schwanger wurde und diese abtrieb, weil es die Entbindung wahrscheinlich nicht überlebt hätte. Auch die Mutter des Mädchens sowie die ausführenden Ärzte wurden exkommuniziert, nicht aber der überführte 3 Jungnitsch (1996), S. 8. Hier zukünftig kurz RU. 5 Hier zukünftig kurz Bündnis tvkas. 4 14 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Täter. Auch wenn die offizielle Kirchenseite sich nach dem öffentlichen Aufschrei der Empörung über den Fall entschuldigte, bleibt bei Vielen Groll über eine Institution, die Nächstenliebe und Gerechtigkeit predigt, selbst jedoch anders richtet und handelt. Es gibt Pressestimmen, die den Vatikan und seine Entscheidungen verteidigen, wie etwa der Journalist Peter Seewald, der in einem Online-Artikel das päpstliche Verhalten zu läutern versuchte: Papst Benedikt handle, wenn er Leuten wie Williamson „die Hand entgegenstrecke, (...) wie einst Jesus“. Schließlich habe er doch auch gegen Folter aufgerufen, den Turbokapitalismus „gegeißelt“, Kriege verurteilt, den Dialog mit anderen christlichen Kirchen, den Juden und dem Islam gesucht, als erster Papst überhaupt eine jüdische Synagoge besucht, mit „persönlicher Anteilnahme“ in Auschwitz des Holocaust gedacht und sei nie müde geworden, jegliche Form von Antisemitismus zu verurteilen.6 Seewalds Plädoyer bleibt jedoch ein relativ einsamer Ruf gegen einen Chor der Empörung, der 2010 einen weiteren Höhepunkt erreicht: Eine besonders schlimme Welle von Negativschlagzeilen überschwemmt u.a. auch die Luxemburger Presse, seitdem in den USA, Irland und im deutschsprachigen Raum unzählige Fälle von Misshandlungen und Missbrauch durch Geistliche beziehungsweise Angestellte im Kirchendienst an Schutzbefohlenen wie Messdienern und Schulkindern öffentlich geworden sind. Die Wut der Menschen fußt nicht allein auf der Tatsache des Missbrauchs an sich, sondern auch auf die vielfach hinzukommenden Vertuschungsbemühungen seitens der verantwortlichen institutionellen Träger.7 Was bedeutet dies für den RU an Luxemburger Schulen? Falls Glaube tatsächlich aus der Mode gekommen ist, falls die Kirche als Institution in der öffentlichen Meinung so unter Beschuss steht, muss sich die Schule nicht auch entsprechend bewegen? Gilt in puncto Bildung im Zusammenhang mit verschiedenen Fächeroptionen nicht das Prinzip von Angebot und Nachfrage, so auch im RU? Ebenfalls im Jahr 2005 erlebte ich völlig andere Bilder: August 2005, Weltjugendtag in Köln, es versammeln sich in den Gemeinden Tausende Jugendliche, unter ihnen viele aus Luxemburg. Die Kirche ist lebendig, zumindest hier. Junge Menschen aus der ganzen Welt haben eine weite Reise auf sich genommen, singen religiöse Lieder, tanzen, hören den Worten Papst Benedikts XVI. gebannt zu, besuchen Gottesdienste und Workshops, kaufen 6 Seewald (2009), Quelle: http://www.zeit.de/online/2009/06/seewald-papst. 15 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen religiöse Bücher. Wenige Monate zuvor war im Fernsehen ein ähnlicher Zulauf beim Sterben Papst Johannes Pauls II., seiner Beerdigung sowie der Wahl seines Nachfolgers zu verfolgen. Nicht seine Altersgenossen prägten das Bild auf dem Petersplatz, es waren unzählige Jugendliche und junge Erwachsene, die der Geschehnisse ausharrten, beteten und mitfeiern wollten.8 Und im Klassenraum? Da sprechen mich Zehntklässler an: „Haben Sie eigentlich das Buch von dem deutschen Comedytypen gelesen, dem Hape Kerkeling? Der ist ja gepilgert! Total weit! Cool.“ Ja, gelesen hatte ich das, aber nicht damit gerechnet, dass solch eine Idee eines Komikers oder gleich wessen sonst Jugendliche in irgendeiner Weise beeindrucken („vom Hocker reißen“...) würde. Hans-Peter Kerkeling landete 2006 einen Bestseller über seine 800 Kilometer lange, keineswegs humoristisch gemeinte Pilgerreise zum Grab des Apostels Jacobus in Santiago de Compostella – und die Schüler sind beeindruckt?! Noch 1990 erwarben keine 5000 Wanderer das Pilgerzertifikat dorthin, 2006 waren es 100.000.9 Luxemburg im November 2005: Innerhalb von 24 Stunden nehmen sich drei Jugendliche in der Hauptstadt das Leben, zwei von ihnen hatten viele Jahre konfessionelle Schulen besucht. Familien, Freunde, Mitschüler und Lehrer sind schockiert – wer hat versagt? Schüler, die sonst stets ihre Antihaltung gegenüber Glauben und erst recht Kirche betonten, gestalten die Trauerfeier mit religiösen Texten und fragen nach dem „Danach“. In der Aufarbeitung bitten Eltern wie Schüler um Beistand, auch bei Geistlichen, auch bei Religionslehrern, auch bei mir. – Also doch: „Kirche, nein, danke, und auch keine moralischen Vorschriften, kein Beten um des Betens willen“ – aber Spiritualität, Antworten auf Fragen, ein Halt im Nichts… suchen Jugendliche nicht doch danach? Was sind das für Jugendliche? Was war das für ein religiöser Fankult, ähnlich wie bei Popstars, vor dem großen Sturm? Daheim im Alltag sind die Kirchenbänke leer, die Religionslehrer beklagen Abmeldungen aus dem Unterricht, Tischgebete finden nur noch in den wenigsten Familien statt; religiöse Feste wie Weihnachten oder Ostern erfahren Sinnentfremdung durch ausschließliches Konsumverhalten, ihre tieferen Bedeutungen sind 7 Vgl. hierzu entsprechende Presseberichte etwa bei www.tagesspiegel.de im jeweiligen Jahr. Ähnliche Gedanken machten sich in diesem Zusammenhang Riegel, Kalbheim und Ziebertz: „Bei den Trauerfeiern um Johannes Paul II. lobten junge Menschen ihn als Vorbild. Gleichzeitig wurde das Gerücht kolportiert, die römischen Straßenkehrer hätten besonders mit gebrauchten Kondomen zu kämpfen. Als Schlaglicht legt diese Episode zwei Schlüsse nahe: Heutige Jugendliche sind ansprechbar für religiöse Sinnangebote, aber sie wollen selbst bestimmen, wie weit sie ihnen folgen.“ Dies. (2005), S. 16. 9 Siehe hierzu Weber (2006), S. 69. 8 16 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen vielen nicht mehr bekannt, und zwar nicht nur in Luxemburg – viele Staaten im zusammenwachsenden Europa stellen einen Bruch zwischen Kirche und Jugend fest,10 und im Leitartikel von Luxemburgs größter Tageszeitung, dem Luxemburger Wort, beklagt Léon Zeches im Mai 2006 im Zusammenhang mit dem Roman und Kinofilm The Da Vinci Code „religiösen Bildungsnotstand“ und fordert Kultur- und Schulpolitik unseres Landes dazu auf, dem entgegenzuwirken.11 Was aber folgt, sind öffentliche Streitigkeiten über die Rolle des Religions- beziehungsweise Wertunterrichts in einem Sozialwort seitens der katholischen Kirche Luxemburgs und keine konkreten, konstruktiven Handlungsschritte. Augenscheinliche Abwesenheit von religiösem Wissen und Handeln im Alltag, reger Zulauf bei christlichen Events, Suche nach spirituellem Beistand – wie kommt es zu diesen scheinbaren Widersprüchen, was bedeuten sie und wie kann ihnen die Schule mit ihrem Bildungsauftrag und einem entsprechenden Unterrichtsfach begegnen? Im Folgenden will nach jugendlicher Religiosität und Spiritualität fragen und mit dieser Arbeit Grundlagen für eine entsprechende empirische Studie schaffen. Mir stellt sich hierzu eine Reihe von Fragen: 1. Hat Religiosität für Jugendliche in Luxemburg innerhalb einer weitgehend säkularisierten Alltagswelt eine lebensweltliche Bedeutung oder müssen wir tatsächlich feststellen und hinnehmen, dass Jugendliche mit Religion nichts mehr „am Hut“ haben, dass sie gar atheistisch sind? 2. Was bedeutet es eigentlich, einen Menschen als religiös zu bezeichnen? Wie kann Religiosität im Zusammenhang mit Jugendlichen überhaupt definiert werden? 3. Gibt es eine Art Spiritualität, die sich an das Christentum anlehnt oder ihr als eine Alternative Konkurrenz macht? In welchem Bedeutungszusammenhang steht diese mit dem klassischen Verständnis von Religiosität? 4. Welchen Stand hat Religiosität in Luxemburgs Lebenswirklichkeit? Welches Pastoralangebot gibt es im Großherzogtum? 5. Wie kann ich verlässliche Antworten auf die Frage nach der empirischen Erfassung von jugendlicher Religiosität finden? Wie soll ich Jugendlichen die Frage antragen? 10 Dem Säkularisierungsprozess der europäischen Jugend schenkte bereits 1987 das Göttinger Symposium unter der Leitung von Ulrich Nembach Aufmerksamkeit. Ders. (1990). 11 Zeches (2006a), S. 3. 17 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Welche Prägungsorte jugendlicher Religiosität sind zu beachten, wo erkenne ich weiteren Forschungsbedarf? 6. Ist Religiosität messbar und gibt es bereits entsprechende Erkenntnisse beziehungsweise Datenmaterial in Luxemburg? Was sagt es mir, was kann ich mit den Antworten anfangen? Reichen sie mir? 7. Welches Recht und welchen Wert hat Religiosität in unserer heutigen Gesellschaft? und schließlich 8. Welche Relevanz und Berechtigung besitzt das Fach „Instruction Religieuse et Morale“ an Luxemburger Schulen? Diesen Fragenhorizont und dieses Interesse hege ich persönlich, unterstelle sie aber auch der Gesellschaft. Wir alle sehen uns traurigerweise mehr denn je einem Wertekrieg gegenüber, der sich eher um religiösen Fundamentalismus als um Politik zu drehen scheint, und uns konfrontiert mit (nicht nur religiösen) Vorurteilen und Hass.12 Wie legt man aber kulturell motivierte Konflikte bei, ohne die eigenen Werte und kulturellen Wurzeln zu kennen und zu verstehen? Kann der Mensch nicht erst durch das Wissen um die eigene Position eine Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen entwickeln? Diese Arbeit, die im Kontext der gesetzlichen Bestimmung der Lehrerausbildung im Staat Luxemburg steht,13 ist für die Luxemburger Gesellschaft insofern von Nutzen, weil der Staat bisher stets eine enge und aufgeschlossene Haltung gegenüber der Kirche in Luxemburg pflegte. Zudem unterhält er eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Bürgern, und zwar sowohl bezüglich deren moralethischer Bildung als auch der Wahrnehmung emotional-spiritueller Bedürfnisse. Man kann sich der religiösen Frage nicht entziehen, weil die Gesellschaft dies - wenn auch zum Teil nur unbewusst! - nicht zulässt. Dies meint auch der Professor für Pastoraltheologie Udo Schmälzle, wenn er konstatiert: 12 Hierauf bezieht sich auch Léon Zeches in seinem Artikel über religiösen Bildungsnotstand. Ders. (2006a), S. 3. 13 Règlement grand-ducal du 30 novembre 1989 fixant les modalités de l’épreuve scientifique complémentaire prévue à l’article 10, paragraphe 7b, de la loi du 22 juin 1989 portant modification de la loi modifiée du mai 1968 portant réforme de l’enseignement, titre VI: de l’enseignement secondaire. 18 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen „Wer sich heute auf das Problem einlässt, wie die Milliarden Menschen auf unserem Globus überleben können, wird mit der religiösen Frage konfrontiert. Diese Frage begegnet uns in der Angst des Intellektuellen vor der zerstörerischen Kraft eines neu aufflammenden religiösen Fundamentalismus. (…) Wir erleben (sie …) in den Kirchen erst recht als Provokation, wenn eine junge Mutter vor Gericht steht, weil sie ein Kind tötete, um die ‚bösen Geister’ zu versöhnen. Spätestens bei solchen Berichten in den Medien begreifen wir, daß die Kirchen nicht mehr die ‚Rationalisierung der Religiösen’ in unserer Kultur leisten und der ‚Verwilderung’ im religiösen Bereich’ wehren“.14 Es nützt nicht nur der Bildungsinstitution Schule, sondern der Gesellschaft insgesamt, gerade bezüglich Luxemburg als starkem Streiter für ein einiges Europa, etwas über das religiöse Bewusstsein der heranwachsenden Generation zu erfahren: Um zu wissen, wie sie die Wähler und Regierenden von morgen zu verantwortungs- und wertebewussten glücklichen Mitmenschen erziehen kann, muss eine Gesellschaft ihre Werte in Erfahrung bringen und auch etwas darüber, was Jugendliche spirituell bewegt. Luxemburgs Gesellschaft, im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern, verjüngt sich: Der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerungszahl nimmt stetig zu.15 Wir dürfen die Wahrnehmung der jugendlichen Generation nicht deskriptiven Sozialstudien, Marktforschern und Trendscouts überlassen, sondern sollten sie als Aufgabe auch religiöser Wissenschaft begreifen. Bisher ist hier in Luxemburg in den vergangenen Jahren keine Arbeit veröffentlicht worden, die sich dem vorliegenden Thema auf diese Weise nähert. In einer Gesellschaft, die soziale Verbundenheit sucht, ist es nicht nur Aufgabe der Eltern, sondern auch der praktischen Theologie, der Religionslehrer und Erzieher, Kinder und Jugendliche emotional-ganzheitlich zu verstehen, auch religiös. Hierzu möchte die vorliegende travail de candidature einen Beitrag leisten. 14 15 Schmälzle (1999/2000), S. 3. Er entnimmt die beiden wörtlichen Zitate Schmidtchen (1978). Lag der Prozentsatz der 15-24-Jährigen 1998 noch bei 11%, errechnen Statistiker für das Jahr 2010 einen Anstieg auf 13%. Quelle: „Lage der Jugend in Europa“, s. Bibliographie. 19 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 1. 2 Bestimmung des Gegenstandsbereichs und Entwicklung des analytischen Wegs der Arbeit „Religion ist wie die Titanic – sie geht unter aber sie gerät nie in Vergessenheit.“ Schüleraussage16 Jugendliche verkörpern nicht nur Unabhängigkeit, Gesundheit und Innovation, sondern auch kritischen Umgang mit dem, was die ältere Generation aufbaut und überliefert. In diesem Tenor wird jeder jungen Generation schon beinahe traditionell unterstellt, sich generell von Kirche und religiösen Formen mehr und mehr zu entfernen, nach dem Motto: „Die heutige Jugend ist nicht mehr religiös.“ Aber ist dies tatsächlich der Fall? Im RU wie im Alltag finde ich trotz negativer Erlebnisse immer wieder Spuren von Religiosität; nur sind diese schwer zu beschreiben. Bisher begegnen mir eher wenige Schülerinnen oder Schüler, die sich klar als Atheisten bekennen möchten. Es geht mehr um den „Alltagsatheismus“, wie Zulehner es nennt: „Es ist ein Lebensstil, der nicht primär von der Gottesleugnung lebt, sondern von der intensiven Konzentration der Lebensenergie auf die vermeintlich allein verfügbaren neunzig Lebensjahre“17, und in dem die pure Frage nach Religion eher lästig erscheint. Insofern löst sich Religiosität vielleicht von der traditionell-kirchlichen Form, aber das bedeutet nicht zwangsläufig eine prinzipielle Trennung von Religion und Alltagswelt. So stellt Sandt bezüglich der Forschungsergebnisse in Deutschland interessanterweise fest, dass Religiosität von Jugendlichen durch den Rückgang der Kirchlichkeit nicht insgesamt marginalisiert ist, sondern religiöse Lebenseinstellungen wie der Glaube an ein Leben nach dem Tod und religiöse Praktiken wie etwa Beten noch immer vorhanden sind. Überzeugte Atheisten seien in der Minderheit.18 Dennoch aber scheint die Frage nach dem, wie sich heute Menschen religiös verstehen, nicht auf althergebrachtem Weg beantwortbar zu sein. Da ist zum einen die Unklarheit bei 16 Das Zitat ist dem Arbeitsbuch für den Religionsunterricht von Stratmann entnommen, als Antwort auf die Frage „Was ist Religion für uns?“. Stratmann (2001), S. 41. 17 Zulehner (2005a), S. 94. 18 Sandt (1996), S. 47. 20 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen der Verwendung des Begriffs („Was meint Religiosität überhaupt?“), dann auch die Bedenken, ob ich Religiosität überhaupt erfassen beziehungsweise messen kann, weiterhin die Frage, wo man heute Religiosität insbesondere bei Jugendlichen – auch institutionell verorten kann und welche Konsequenzen schließlich die für religiöse Vermittlung hat. Wir suchen, wie Schmälzle es formuliert, eine religiöse „Phänomenologie, wie die Menschen unserer Tage Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche erleben (und wir …) müssen uns mit Erlebnisformen nichtchristlicher Religiosität in und außerhalb von Religionsgemeinschaften (… und) Derivaten nicht gelebter, neutralisierter und verdrängter Religiosität beschäftigen.“19 Religiosität, wie sie in der Einleitung dieser Arbeit im Raume steht, scheint zunächst semantisch eindeutig. In ihrem Verhältnis zur Spiritualität ist ihre Erklärung bereits komplizierter. Interessiert man sich aber für eine empirische Datenerfassung von Religiosität, wie es hier der Fall ist, ist es wichtig, alle Teilaspekte miteinzubeziehen, die mit Religiosität zu tun haben. Der Begriff Religiosität muss in seinen Bedeutungsausprägungen geklärt und eindeutig sein. Dem entsprechend befasst sich das zweite Kapitel dieser Arbeit mit der genauen Begriffsbestimmung von Religiosität. Neben Spiritualität geht es dabei auch um die Relation zu den Begriffen Kirchlichkeit, Christlichkeit, Gläubigkeit, Frömmigkeit, ethisches Verhalten und Moral. Dabei möchte die Definition dem Anspruch größtmöglicher Unabhängigkeit Rechnung tragen, und auch religionskritische Aspekte berücksichtigen. Als Erzieher – sei es als Eltern oder Lehrer – sollten wir uns zudem verschiedene, unter anderem psychologische Perspektiven zunutze machen und versuchen, mit den Augen der Jugendlichen zu sehen. Anschließend an die Definition von Religiosität soll der Begriff in Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit in Luxemburg gesetzt werden. Hierbei geht es um die landesspezifischen Hintergründe zur Herausbildung von jugendlicher Religiosität innerhalb verschiedener Lebensbereiche, wie etwa der Familienstrukturen, die Rolle der Kirche oder etwa der Umgang mit sozialethischen Fragen, aber auch das pastorale Angebot speziell an die Jugendlichen. 19 Schmälzle (1999/2000), S. 7. 21 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Das vierte Kapitel beschäftigt sich damit, wie man sich jugendlicher Religiosität empirisch nähern kann. Dabei geht es um den Aspekt, welcher gesamtsozialen, nicht allein religiösen Situation Jugendliche im Allgemeinen ausgesetzt sind und auch, wie sie sich emotional, wie spirituell von Erwachsenen unterscheiden – beide Faktoren führen zu einer spezifischen Begegnung mit dem Gegenstand Religiosität. Wie aber kann man dies empirisch erfassen? Religiosität – ein Begriff, konkret wie zugleich abstrakt oder unverbindlich vielleicht wie „Liebe“, lässt sich auf objektiver Ebene wahrscheinlich letztgültig nur annähernd beschreiben. Wenn wir aber nach empirischen Ergebnissen suchen, brauchen wir Parameter, die uns sinnvolle Aussagen über Religiosität treffen lassen. Um unter anderem diese Messbarkeit von Religiosität soll es im fünften Kapitel dieser Arbeit gehen. Außerdem untersucht das Kapitel die empirische Wahrnehmung generationsspezifischer Religiosität in bereits durchgeführten wissenschaftlichen Studien. Vorhandene Jugendstudien werden unter der Fragestellung ihrer Aussagekraft bezüglich jugendlicher Religiosität unter die Lupe genommen und auf ihre Tragfähigkeit, national unabhängig wie aber auch im luxemburgischen Kontext überprüft. Als eine wichtige Grundlage nimmt die vorliegende Arbeit die Untersuchungen und Ergebnisse einer Analyse aus den 1990er Jahren des Luxemburgers Jean-Louis Gindt wahr. In einem ähnlichen Forschungskontext beschäftigte Gindt sich zu seiner Zeit als Erster mit Jugend und Kirche in Luxemburg in einem größeren Rahmen und sammelte eine Reihe interessanter und wichtiger Daten bezüglich religiöser Institutionen und Sakramentenspendung in Luxemburg. Gindt stellte sich am Ende seiner Erhebung die Frage nach der Glaubenssituation der Jugendlichen in Luxemburg, konnte jedoch seinerzeit nur auf rudimentäre empirische Ergebnisse einer ILReS20-Umfrage zurückgreifen. Außerdem werden die aktuelle luxemburgische Wertestudie aus dem Jahr 200221 sowie die deutsche Shell-Jugendstudie zur Sprache kommen. Bisher fehlt augenscheinlich konkretes Datenmaterial, das sich ausdrücklich mit dem Religiositätsbegriff und dazugehörigen Werten befasst. Da der kulturelle Hintergrund zwischen Deutschland und Luxemburg ähnlich ist, ist Manches der deutschen Studien einbeziehenswert. Jedoch ist das 20 21 Institut Luxembourgeois de Recherches Sociales. Es handelt sich hierbei um das größte Meinungsforschungsinstitut Luxemburgs. Bereits jetzt sei jedoch einschränkend gesagt, dass die luxemburgische Wertestudie das religiöse Feld eher als Nebenschauplatz studiert, und es sich zudem bei den Befragten um Erwachsene handelt. 22 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Datenmaterial keinesfalls eins zu eins auf Luxemburg übertragbar. Der Lebensstandard ist auf den ersten Blick vielleicht „europäisch-ähnlich“, dennoch ist in Luxemburg, anders als in Frankreich oder Deutschland, trotz eines hohen Ausländeranteils die Religionslandschaft immer noch relativ einheitlich katholisch. Zum einen spürt man, anders als in Deutschland, fern von der Reformation, weniger Einfluss durch die protestantischen Kirchen. Zum zweiten trägt die Tatsache, dass die größte ausländische Bevölkerungsgruppe, die Portugiesen, gefolgt von den Franzosen und Italienern,22 nach wie vor eine traditionelle katholische Glaubensnähe pflegen, hierzu bei. Weiteres sei im entsprechend Kapitel näher erläutert und statistisch belegt. Wir haben eine multinationale, eventuell noch multikulturelle, nicht aber eine multireligiöse Gesellschaft vor uns. Auch hat Luxemburg im wirtschaftlichen Bereich eine Sonderposition. Daher ist die Vermutung begründet, dass es weiterer Schritte bedarf, um sich der Religiosität Luxemburger Jugendlicher anzunähern. Die vorliegende Arbeit versteht sich in diesem Sinn als Vorbereitung einer solchen Studie auf theoretischer Basis. Sie soll den genauen Forschungsbedarf klären und begriffliche Grundlagen liefern. Das sechste Kapitel fasst die Lebenswirklichkeit Jugendlicher in Luxemburg als Basis für christlich-religiöse Wertebildung zusammen und zieht Konsequenzen für die weitere Erforschung jugendlicher Religiosität in Luxemburg. Es sichtet und diskutiert die Position des Unterrichtsfachs „Instruction Religieuse et Morale“ innerhalb des schulischen Fächerkanons zunächst für sich allein sowie gegenüber der alternativen Einführung eines Einheitskurses. In dieser Weise orientiert sich die Gliederung der vorliegenden Arbeit chronologisch wie inhaltlich an den Fragen, die im Eingangskapitel gestellt wurden. Vorausgeschickt sei außerdem, dass die Thematisierung jugendlicher Religiosität zunächst auf einer deskriptiven, nicht wertenden Ebene geschieht. Von einem Missionsanspruch möchte sich die vorliegende Arbeit ausdrücklich distanzieren. Denn im Gegensatz zum RU, wo man nicht nur als Theologe, sondern als Pädagoge wie Fachlehrer die Schüler für „seine Sache“ gewinnen will, möchte diese Arbeit möglichst objektive Grundlagen liefern, die sowohl dem Jugendlichen als auch dem Sachgegenstand Religiosität gerecht werden. Religiöse und spirituelle Grundhaltungen lassen sich nur erfassen, wenn den Jugendlichen 22 Von der Gesamtbevölkerungszahl von 451.600 Einwohnern im Großherzogtum sind 174.200 Ausländer. Unter ihnen sind 63.800 Portugiesen, 21.900 Franzosen und 18.900 Italiener. Quelle: Statec 2004 (s. Bibliographie). 23 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen glaubhaft vermittelt wird, dass es nicht um religiösen Stimmenfang oder gar Bewertung ihres Handelns und ihrer Aussagen geht, sondern dass grundsätzlich klar ist, dass allein ihre tatsächliche Haltung zutage treten soll, und nicht etwa ein Wunschbild. Nichtsdestoweniger soll am Schluss dieser Arbeit Platz sein, um darüber nachzudenken, warum eine religiöse Erziehung gesellschaftlich bildet und in welcher Form, konkret: mit welchem Unterrichtsfach diesem Anspruch die größtmöglichen Chancen eingeräumt werden. 24 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 2 Religiosität und Spiritualität im Spiegel ihrer dimensionalen Vielschichtigkeit „Die selbst gesuchte Religion hilft uns im Letzten nicht weiter. Sie ist bequem, aber sie lässt uns allein.“ Papst Benedikt XVI. in seiner Predigt auf dem Marienfeld in Köln, Weltjugendtag 2005 2. 1 Über die Desorientierung bei der Begriffsverwendung Religion – in der alltäglichen Wahrnehmung gibt es ein funktionierendes Verständnis von diesem Begriff. Wenn er benutzt wird, wissen die Gesprächspartner in der Regel voneinander, worüber sie reden. In der wissenschaftlichen Beschäftigung liegen die Dinge anders. Die Verunsicherung beziehungsweise Uneinigkeit bezüglich dessen, was als religiös zu bezeichnen ist, herrscht innerhalb aller theologischen Disziplinen, die religiöse Phänomene unterschiedlich erklären und beurteilen, sei es sozial, psychologisch, pädagogisch oder auch philosophisch. Religion ist kein toter Untersuchungsgegenstand, im Gegenteil, so meinen auch Ziebertz, Kalbheim und Riegel: „Indem Menschen religiös handeln und indem über Religion gesprochen und geforscht wird, entsteht und verändert sich zugleich das, was mit Religion gemeint ist. Religion ist, wie Kultur insgesamt, in Bewegung. Daher kann der Bedarf, das kulturelle Phänomen der Religion und die Religiosität von Menschen zu begreifen, nicht durch eine Studie oder ein Buch endgültig befriedigt werden.“23 Religion und Religiosität sind also wandelbar, und die Suche nach einem einheitlichen Religions- und auch Religiositätsbegriff ist nicht unproblematisch. Detlef Pollack vertritt die Ansicht, dass das, was man unter Religion verstehe, mit darüber entscheide, was und wie viel an Religion man in der Gesellschaft wahrnehme, man andererseits aber den Prozess des religiösen Wandels nur dann angemessen erfassen werde, wenn eine gefestigte Definition von Religion vorliege. Insofern sei eine der wichtigen Bedingungen für einen sinnvollen Religionsbegriff neben einer Trennschärfe doch seine Weite, denn dies habe den Vorteil, 25 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen bisher unentdeckte religiöse Phänomene aufspüren zu können.24 Ich stimme Pollack in dieser Aussage zu, da wir Religiosität in einem inkulturierten und generationsspezifischen Kontext beachten, und daher genau bestimmen müssen, was Religiosität mit all ihren Facetten genau hier bedeutet. Gesucht wird hier ein Religiositätsbegriff, der uns etwas über den Menschen, insbesondere über die Zielgruppe Jugendliche, erklärt. Entsprechend soll Religion hier nicht kritischfunktional als „operationaler Begriff“, als „Sammelbezeichnung für alle angesprochenen, in ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Auswirkung beschreibbaren Fragehaltungen und Erfahrungsweisen“25 definiert werden, und insofern ist der Ansatz Pollacks überzeugend, denn er warnt zum einen vor der durchaus gegebenen Gefahr der Engstirnigkeit bezüglich der Definition von Religiosität: Jugendliche unserer Gesellschaft sind sicher nicht nur religiös, wenn sie klassischen Mustern wie Kirchgang entsprechen! Zum Zweiten besteht Pollack auf einer grundlegenden Orientierung, die sich an der Lebenswelt orientiert, und ohne die man Religiosität nicht entdecken kann. Religiosität ist in jedem Fall von Mensch zu Mensch verschieden und hat individuell eine Daseinsberechtigung und Würde. In diesem Sinn versteht die vorliegende Arbeit Religion prinzipiell als Objekt, das in seinem Ursprung und seiner individuellen Ausprägung beim Subjekt liegt. Wie dieses Objekt und die Ausprägungen nun inhaltlich zu füllen sind, sollen die folgenden Teilkapitel verfolgen. 23 Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 13. Pollack (1995), S. 163-165, zitiert nach Könemann (2002), S. 66. 25 Feifel (1972), S. 46, zitiert nach Schmälzle (1999/2000), S. 29. 24 26 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 2. 2 Abschied von christlicher Religiosität als Sammelbegriff von Kirchlichkeit Ob Jugendliche heute religiös sind, lässt sich aus Sicht der Kirche relativ schnell und leicht beantworten: nicht genug! Kirche verbindet eben den Religiositätsbegriff automatisch mit der Institution; und die Kirchenbesucherzahlen sinken, es finden sich immer weniger Interessenten für religiöse Berufe, leere Priesterseminare, geringer Nachwuchs bei den Orden, das Schulfach Moral macht dem RU die Schüler streitig. Dies alles ist in Luxemburg keineswegs anders als in vielen europäischen Nachbarländern. Wer mag heute noch von einer kirchlich orientierten Jugend sprechen? Die Kirche als biografische Begleiterin, sozusagen von der „Wiege bis zur Bahre“, entspricht einem veralteten Ideal vergangener Jahrhunderte. Entsprechend bedarf es keiner groß angelegten wissenschaftlichen Untersuchung oder Empirie, um die Kirche in Luxemburg offiziell antworten zu hören: Jugendliche Religiosität ist kaum oder oft gar nicht vorhanden. Folglich lenkte sich die Aufmerksamkeit zur Wahrnehmung von Religiosität seitens der Amtskirche bisher lediglich auf Kirchenbesuchszahlen.26 Die sichtbar kritische Distanz Jugendlicher zur Kirche ist jedoch nicht gleichbedeutend mit flächendeckender und völliger Ablehnung. Ein spannender Aspekt im Zusammenhang mit rückläufigen Kirchenbesuchszahlen ist etwa der Befund der deutschen Shell-Studie von 1992, dass ein allgemeiner Rückgang kirchenbezogener Religiosität nicht gleichzeitig etwas mit Verlust von Religiosität überhaupt zu tun haben muss. Man stellte in der Bundesrepublik fest, dass zwar die großkirchlich verfasste Religiosität rückläufig, die individuelle religiöse Praxis entgegen dem Trend jedoch stabil oder sogar leicht steigend ist.27 Erfahrungen aus Gemeinde und Schulpraxis bestätigen: Fehlende Kirchenpraxis hat längst keinen verbindlichen Verweischarakter zur Abwesenheit jugendlicher Religiosität mehr. In ähnlichem Tenor stellt Udo Schmälzle heraus: „Kirche ist e i n Partner für Jugendliche, wenn sie sich daran machen, ihre eigene Weltsicht und das eigene Menschenbild zu entwickeln und zu konstruieren.“28 Damit ist die Frage nach dem Charakter von Religiosität selbstverständlich nur zu einem kleinen Teil beantwortet, und auch nur, was Religiosität eben nicht ist: ausschließlich Kirchlichkeit. Die Gleichsetzung von Religion gleich Kirche gleich christlicher Glaube funktioniert so nicht mehr. Wir beobachten bei Jugendlichen bezüglich Religiosität eine 26 Nähere Erläuterungen hierzu in Kapitel 4. Vgl. hierzu die Daten von Zinnecker und Fischer (1992), S. 237. 28 Schmälzle (1999/2000), S. 23. 27 27 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen ungebundenere Religionsform: Jugendliche mögen vielleicht beten, „müssen“ aber nicht an einen personalen Gott glauben; Jugendliche „können“ von einem „Danach“ nach dem Tod reden, das aber nichts mit Gott zu tun haben soll usw. Fred-Ole Sandt vermutet, dass sich ein Teil der Jugendlichen weiterhin auf christliche Elemente bezieht, diese aber neu interpretiert. Dieser Prozess der Abwendung von traditionell kirchengebundener Religion und die Zunahme von institutionell ungebundener Religiosität lassen uns begründetermaßen von einer pluralen und dispersiven Religiosität ausgehen, bei der die klassischen Kategorien nicht mehr greifen. Eben das meint Udo Schmälzle, wenn er von Religiosität außerhalb der Kirche oder auch nicht gelebter, neutralisierter und verdrängter Religiosität spricht. In ähnlichem Tenor definieren auch andere Religionspädagogen, die sich mit Jugendforschung befassen. So erklären Ziebertz, Kalbheim und Riegel Religiosität als „individuelle subjektive Religion“ beziehungsweise ein „Bündel von Glaubensüberzeugungen, Weltsichten und Sinnvergewisserungen, die verbunden sein können mit einer bestimmten Lebenspraxis“29. Diese Definition schließt also nicht mehr zwingend Konfessionalität und Kirchlichkeit mit ein und respektiert die Fülle an Möglichkeiten, die mit Religiosität verbunden sein kann,30 und korrespondieren mit dem Pollackschen Anspruch von inkulturierter und gleichzeitig trennscharfer Definition von Religiosität. Sie trägt im positiven Maße der noch näher zu beschreibenden gesellschaftlichen Pluralität Rechnung, ist für unsere Zwecke jedoch noch zu allgemein als dass man ein Frageinstrumentarium für Jugendliche daraus ableiten könnte. Daher soll die Definition im Folgenden weiter vertieft werden. 29 30 Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 18. Ziebertz, Kalbheim und Riegel postulieren, dass „Religiosität das Leben eines Menschen koordinieren (kann), sie kann aber auch, weniger explizit, als Hintergrundfolie jene letzte Gewissheit zur Verfügung stellen, um sich symbolisch im Universum zu platzieren. In diesem Sinne steht Religiosität in Kontrast zur Religion (…). Religiosität ist unter modernen Bedingungen wohl nur in Ausnahmefällen identisch mit den Inhalten eines Systems. In der Regel wird es um ein mehr oder ein weniger an Übereinstimmung gehen. Zudem können Inhalte aus verschiedenen Religionen kombiniert, moduliert und aneinander angepasst werden.“ Dies. (2003), S. 18. 28 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 2. 3 „Religiosität als komplexes Konstruktsystem“ – Definition von Religiosität in Orientierung an dem Religiositätsbegriff Stefan Hubers Die bis hierher erlangten Erkenntnisse bedeuten ein sich Wegbewegen von Antworten, die auf der Hand zu liegen scheinen, wie die erläuterte, lange Zeit beliebte Gleichsetzung von Religiosität und Kirchlichkeit. Im Folgenden soll nun der Religiositätsbegriff multiperspektivisch noch präziser definiert werden. Einen in diesem Zusammenhang interessanten und brauchbaren Ansatz liefert der Religionspsychologe Stefan Huber, der 2003 unter dem Titel „Zentralität und Inhalt“ ein neues allgemeines sozialwissenschaftliches Messmodell von Religiosität vorlegte und damit gegenwärtig bereits Studien zur Religiosität in Deutschland durchführt.31 Huber entwickelte für die monotheistischen Religionen einen interreligiösen Religiositätstest, der sich an der Glaubenspraxis orientiert. Das neue Messmodell gewinnt Huber aus einer Synthese der Modelle von Gordon Allport und Charles Y. Glock, um deren Schwächen zu beseitigen und deren Stärken zu nutzen. Religiosität ist bei Huber definiert als System persönlicher Konstrukte, die als subjektive Deutungsmuster zu verstehen sind. Diese Definition korrespondiert inhaltlich stark mit dem Gedanken der Definition von Ziebertz, Kalbheim und Riegel. Die Qualität des Huberschen Ansatzes liegt m. E. in der Genauigkeit der inhaltlichen Aufspaltung von Religiosität in die verschiedenen Perspektiven, und entsprechend sei sie hiermit für die vorliegende Arbeit als Weiterführung von Ziebertz’, Kalbheims und Riegels Ansatz akzeptiert. Für Hubers Ansatz zur Definition von Religiosität spielt Psychologie eine wichtige Rolle. Huber geht davon aus, dass menschliches Erleben und Verhalten wesentlich durch interne Repräsentationen der Umwelt gesteuert werden. Darunter stelle man sich vor, dass jeder von uns ein persönliches Konstrukt in sich trägt, also ein Deutungsmuster, welches der Antizipation von Ereignissen dient und dadurch das menschliche Erleben und Verhalten strukturiert. Daher benennt Huber Religiosität auch als „Fähigkeit, Wirklichkeit mit einer 31 Huber (2003). 29 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen religiösen Semantik zu konstruieren.“32 Für ihn ist ein Mensch „immer dann religiös, wenn er gewissermaßen seine ‚religiöse Brille’ aufsetzt, durch diese Brille Wirklichkeit wahrnimmt und auf der Basis dieser Wahrnehmung Erfahrungen macht und Handlungsperspektiven entwickelt.“33 Auf Grundlage des Allportschen Ansatzes, der sich als Persönlichkeitspsychologe dafür interessierte, welche Rolle die Religiosität in der inneren Struktur und Dynamik der Persönlichkeit eines Menschen spielt, schafft Huber so einen vom Subjekt ausgehenden Religiositätsbegriff, der die individuelle Persönlichkeit im Verhältnis zur Umwelt berücksichtigt. Mittelpunkt der Zentralität und der Inhalte persönlicher religiöser Konstruktsysteme ist das religiöse Erleben und Verhalten. 34 Der Grad des Einflusses des religiösen Konstruktsystems auf das Erleben und Verhalten des Menschen hängt bei Huber von seiner Zentralität in der Persönlichkeit eines Individuums ab, also in welcher Art beziehungsweise wie stark die Begriffe beim Einzelnen verankert sind. Wenn man beim Bild der „religiösen Brille“ bleibt, würde Huber sagen: „Je öfter ein Mensch seine ‚religiöse Brille’ aufsetzt, desto religiöser ist er.“ Der jeweilige (alternativ konstruierbare) Inhalt der religiösen Deutungsmuster bestimmt die Richtung des Einflusses des religiösen Konstruktsystems auf das Erleben und Verhalten des Menschen. So kann ein Mensch beispielsweise ein vergebendes oder strafendes Gottesbild haben, je nachdem wie seine „religiöse Brille“ getönt ist.35 Huber benennt in Anlehnung an Glocks fünf die religiöse Zentralität bestimmende Dimensionen: 1. religiöse Ideologie (messbar etwa daran, wie hoch jemand die Wahrscheinlichkeit eines Lebens nach dem Tod einschätzt) 2. Gebet (messbar etwa daran, wie häufig jemand betet und wie wichtig ihm Gebet ist) 3. religiöse Erfahrung (messbar etwa daran, wie oft jemand das Gefühl hat, dass Gott in das eigene Leben eingreift) 4. Gottesdienst (messbar etwa daran, wie häufig jemand am Gottesdienst teilnimmt und wie wichtig ihm das ist) 32 Huber (2004), S. 80. Huber (2004), S. 80. 34 Die Zusammenfassung des Modells von Stefan Huber stützt sich auf die Erläuterungen von Achtermann (2006), S. 1. 35 Vgl. Huber (2004), S. 81. 33 30 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 5. Interesse an Religion (messbar etwa daran, wie oft jemand über religiöse Fragen nachdenkt und wie sehr er sich dafür interessiert, etwas über religiöse Fragen zu erfahren) Bezüglich der Messbarkeit von Religiosität und ihren Möglichkeiten sollen weitere Überlegungen im fünften Kapitel dieser Arbeit vertiefend angestellt werden. Positiv hervorzuheben an diesem Modell ist im Zusammenhang mit dem vorliegenden Forschungsinteresse, dass es das Individuum in seiner ganzen Komplexität berücksichtigt. Die formale Unterscheidung der verschiedenen Ebenen ermöglicht einen differenzierten Blick auf die verschiedenen Ausdrucksformen von Religiosität. Die Zentralitätsskala nimmt Kirchlichkeit als einen Faktor von Religiosität wahr, beachtet aber nicht nur konkret die Erfahrungen, die Jugendliche im Glauben machen und Empfindungen beziehungsweise Haltungen, die sich in ihnen gegenüber dem Glauben ausgeprägt haben. Sie berücksichtigt auch, inwiefern ihr praktisches Verhaltensmuster mit Glaubensinhalten korrespondiert oder auch nicht. Darüber hinaus erfasst der Religiositätsbegriff auch die Inhalte und Deutungsmuster, beispielsweise des bestimmten Gottesbildes (personal, apersonal atheistisch) oder auch Fundamentalismus, was gerade angesichts aktueller gesellschaftlicher Realitäten wie Pluralismus und religiösem Fanatismus sinnvoll erscheint, und schließlich auch Inhalte, die die Empfindungen betreffen wie etwa die Erfahrung von Hilfe und Geborgenheit durch Religion oder auch belastende Emotionen wie Schuld oder Angst – Gefühle, die bei Jugendlichen wie Erwachsenen traurigerweise nicht selten im Zusammenhang mit Kirche und Glauben zitiert werden. Durch diese Wahrnehmung wird jedes weitere Erleben und Erfahren gefiltert und beurteilt, und so kommen abfragbare Meinungen und sichtbares Verhalten zustande. Dieser religionspsychologische Ansatz Hubers auf Grundlage von Allport und Glock zur Erklärung von Religiosität hat gegenüber anderen Vorschlägen den Pluspunkt, dass sein Interesse an der inneren Haltung und das Verhalten bei dem ansetzen, was Religiosität einerseits erklärt und anderseits sichtbar macht. Anders als theologische Modelle, die sich eher auf die inhaltliche Seite der Religiosität, insbesondere auf den Zusammenhang zwischen Religiosität und institutionell repräsentierter Religion (z. B. Glaubensbekenntnis, Sakramente, Gottesdienstbesuch usw.) konzentrieren, bestimmt Huber Religiosität nicht allein von den kirchlichen Riten und Ausrucksformen her, 31 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen sondern respektiert konfessionsunabhängige Faktoren und lässt sie trotzdem als religiös gelten.36 In dieser Form nimmt das Hubersche Konzept dann auch entwicklungspsychologische Spezifika der jeweilig empirisch zu erfassenden Generation wahr, also etwa die konkrete Stufe der jugendlichen Identitätsentwicklung und Sinndefinition, welche in einem bestimmten Entwicklungsstadium entsprechend ausgeprägt ist, und einem normativ fixierten Religiositätskonzept mit seiner christlichen Glaubenslehre und sittlichem Anspruch widerspricht. Nach dessen Definition wäre dann nämlich ein die Sakramente missachtender Mensch von vorneherein „weniger religiös“, was die vorliegende Arbeit hinterfragen möchte: Unser heutiges Menschen- und Weltbild kann nicht mehr in diesem Maße von dem Anspruch der Kirche geprägt sein, was insbesondere für Jugendliche als religiöse Wirklichkeit anzuerkennen ist. Begriffe wie etwa Erbsünde rufen in heutigen Zeiten vielfach mehr Kopfschütteln als ein demütiges sich Beugen hervor. Interessant bezüglich der Wahrnehmung von Religiosität ist beim Huberschen Ansatz noch seine Überlegung bezüglich der Motivation von Religiosität, die Huber von Allport übernimmt. Allport postuliert eine intrinsische religiöse Motivation, wenn Religion zu den zentralen religiösen Werten eines Menschen gehört.37 In diesem Fall ist „ein eigenständiges religiöses Motivsystem vorhanden …, das in genuiner Weise das Erleben und Verhalten des Menschen bestimmt. Dies sollte sich in einem religiös geprägten Selbstbild, in zahlreichen alltäglichen Konsequenzen der Religion und nicht zuletzt in einem vielfältigen und intensiven spezifisch religiösen Erleben und Verhalten ausdrücken.“ Huber spricht in diesem Fall von einer „religiös geprägten Persönlichkeit“.38 Gehört Religion nicht zu den zentralen Werten, spricht Allport von einer extrinsischen religiösen Motivation. Das religiöse Motivsystem hat dann keinen eigenständigen Charakter, sondern ist abhängig von Vorgaben anderer, nicht-religiöser Motivsysteme, die in der Persönlichkeit eine zentrale Rolle spielen. Dies könnten beispielsweise Rückmeldungen bezüglich Religion wie etwa ein Gutheißen oder Ablehnung durch direkte Bezugsperson wie die Eltern, Lehrer usw. sein, ein areligiöser Freundeskreis oder Bestätigung in einer Ministrantengruppe. Huber nimmt 36 Ziebertz, Kalbheim und Riegel erklären allerdings, dass diese beiden Zugangsweisen nicht als Konkurrenz zueinander stünden und sich auch nicht ausschlössen; vielmehr könne die christlich-theologische Reflexion von den formalen Modellen profitieren und untersuchen, wie sie inhaltlich gefüllt würden. Vgl. Dies. (2003), S. 19. 37 Huber (2004), S. 82. 38 Huber (2004), S. 82. 32 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen mit Allport an, dass mit der Stärke des religiösen Selbstbildes, der alltäglichen Konsequenzen der Religiosität und dem spezifischen religiösen Erleben und Verhalten auch die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass das religiöse Motivsystem in der Persönlichkeit einen funktionell autonomen Status hat beziehungsweise dass eine intrinsisch motivierte Religiosität vorliegt.39 Mit diesem Modell konstruieren Allport und Ross eine Skala, die in Items den Grad der religiösen Prägung erfasst. Huber greift diesen Ansatz in seiner Synthese der Ansätze von Allport und Glock auf und legt mit seiner Zentralitätsskala einen m. E. glaubwürdigen Ansatz zur Erfassung zur Religiosität vor. 2. 4 (Inwiefern) ist der Mensch ein religiöses Wesen? – Kritische Diskussion der Frage nach der religiösen Motivation 2. 4. 1 Religion als Teil humaner Biologie und als Teil menschlicher Kultur Bei der Erfassung von Religiosität geht es nicht nur darum, Vorhandensein und Art derselbigen aufzuspüren. Früher oder später tritt vielmehr auch ein Interesse daran zutage, worauf diese individuell ausgeprägte Religiosität gründet. Wenn wir heute im Schulunterricht Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichsten Biografien und religiösen Erfahrungen begegnen, stellt sich immer wieder neu die Frage nach dem „Woher“ des Glaubens. Wie kommt es, dass bei manchen der Glaube unhinterfragbar vorhanden zu sein scheint, während bei anderen sich die Glaubensfrage laut ihrer eigenen Auskunft nie gestellt hat? Ist Religiosität ein Teil des Menschen? Ist sie intrinsisch oder extrinsisch motiviert? Mit der „Vermessung des Glaubens“ haben, wie Werner Trutwin in einer Rezension des gleichnamigen Werks von Ulrich Schnabels konstatiert, nicht mehr allein die Geisteswissenschaftler zu tun: „Heute sind es Mediziner, Neurologen, Paläontologen, Genetiker, Evolutionsbiologen und Hirnforscher, die wissen wollen, wie Religion entstanden ist, wie sie sich auswirkt, ob sie Krankheiten und Heilung bewirken kann, welche 39 Vgl. Huber (2004), S. 88. 33 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Hirnzellen bei religiösem Tun aktiv werden, ob Gebete fassbare Ergebnisse haben, wie sich religiöse Ekstasen zu Drogenwirkungen verhalten und ob es ein Gott-Gen gibt.“40 Entsprechend beschäftigt sich in seinen Forschungsarbeiten der kognitiven Neurowissenschaft der Professor für Psychiatrie Dr. Manfred Spitzer u. A. mit der Frage nach dem Gott-Gen: Besitzt der Mensch ein Gen, das uns Menschen die Persönlichkeitseigenschaft der Neigung zur Spiritualität mitgibt? Seine Antwort ist Ja, und er sagt gleichzeitig „aber“: Zwar entdeckte der Verhaltensgenetiker Dean Hamer als „Nebenprodukt der Arbeit zur Genetik von Suchterkrankungen (...), dass die Persönlichkeitseigenschaft der Neigung zur Spiritualität mit Varianten (...) eines Gens korreliert, das ein Protein codiert, welches in der Transmission von Dopamin, Serotonin und Noradrenalin eine Rolle spielt. (...) Das Gen liegt auf Chromosom 10 des menschlichen Genoms. Sein Name bezeichnet den genauen Ort, an dem sich entweder die Base Adenin (A-Variante) oder Cytosin (C-Variante) befindet. Wer die C-Variante auf mindestens einem seiner beiden Chromosomen Nr. 10 mit sich herumträgt, neigt signifikant zur ‚Selbsttranszendenz’ und etwas zu ‚Mystizismus’ und ‚transpersonaler Identifikation’ in entsprechenden Persönlichkeitsfragebögen.“41 Dabei handelt es sich laut Spitzer weniger um ein Gott-Gen – hinter diesem Titel vermutet er eine Marketing-Strategie von Hamers Verlag...-,42 sondern um eine „Persönlichkeitsvariante wie etwa Neugier oder Extraversion, (...und es gehe also nicht) um einen bestimmten Glauben, denn dieser ist erlernt und damit nicht genetisch, sondern durch die Umwelt bedingt, wie zahlreiche Studien belegen“43 Alsdann fragt sich Spitzer danach, wie sich dieses Gen herausgebildet haben könnte, und gelangt nach einer Prüfung unterschiedlicher Studien zu dem Schluss, dass die Überlegungen zu den evolutionären Vorteilen von Religiosität damit „letztendlich auf die Argumente von Gruppenselektion“ hinausliefen: „ Indem (Religiosität) Normen etabliert, soziale Bindung und Identität stiftet und nicht zuletzt potentielle Betrüger fernhält, fördert 40 Trutwin (2009), S. 129. Quelle für die nachfolgende wissenschaftliche Darstellung ist Spitzer (2006), S. 1. 42 Ebd. 43 Spitzer (2006), S. 2. Er zitiert Arbeiten aus der Zwillingsforschung: „Eine Untersuchung an 3.810 australischen Zwillingen ergab, dass sich die Religionszugehörigkeit vor allem nach der Umgebung und kaum nach den Genen richtet. Mütter haben einen größeren Einfluss auf die Religiosität der Kinder als Väter, und es ist der Effekt des gleichen Elternhauses (nicht der gleichen Gene), der sich in der gleichen Religionszugehörigkeit bei Zwillingen zeigt. Nicht religiöse Inhalte werden vererbt, sondern der Grad der Religiosität.“ 41 34 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen sie Kooperation nach innen und Konkurrenzfähigkeit nach außen. Kurz: Religiosität ist eine biologische Angepasstheit“.44 Hierfür wurden von den von Spitzers These herangezogenen Wissenschaftlern Voland und Soeling vier sogenannte „kognitive Domänen“ identifiziert, deren „komplexes Zusammenspiel das Phänomen Religiosität bewirken“ soll: 1. Mystik 2. Ethik 3. Mythen 4. Rituale Diese vier „Module“ seinen von evolutionärem Vorteil gewesen: „Mystik beruht auf intuitiven Ontologien und dient der Kontingenzbewältigung und Entscheidungsfindung in einer fluktuierenden und ungewissen Lebenswelt. Ethik erhöht die Sozialkompetenz und die Kooperationsgewinne in einer Welt persönlicher Nutzenmaximierer. Mythen dienen als Identität stiftende soziale Bindemittel der In-group / out-group-Differenzierung, und Rituale schließlich exekutieren das ’Handicap-Prinzip’ zur Etablierung verlässlicher moralischer Standards innerhalb der Gruppe“.45 Halten wir Spitzers Erkenntnisse für plausibel, bedeutet dies aber noch längst nicht, dass Religiosität als rein biologisches Phänomen abgetan werden kann. Mit der Identifizierung eines Gens für das Persönlichkeitsmerkmal der Religiosität verstehen wir möglicherweise besser, warum manche Menschen mehr und andere weniger religiös sind.46 Jedoch heißt dies nicht automatisch, dass die konkreten religiösen Gottesbilder und religiösen Vorstellungen der verschiedenen Religionen „Hirngespinste“ auf Grundlage einer biologischen religiösen Disposition wären. Wir finden mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen nur eine Teilwahrheit heraus, nicht jedoch eine allgemeingültige Aussage über die Bedeutung von etwa Jesus Christus oder anderer personaler religiöser Sinnstifter. Relevant für die Frage, ob der Mensch kulturell ein religiöses Wesen sei, könnte die Feststellung sein, dass Kulturforschung sich stets auch mit Gottesglauben auseinandergesetzt hat. Angefangen bei den religiösen Funden alter Kulturen wie bei den Ägyptern scheinen die Menschen zu allen Zeiten einen wie auch immer ausgeprägten 44 Spitzer (2006), S. 7, letztes Zitat von Voland und Soeling, zitiert nach Spitzer ebd., Hervorhebung von mir, S. D. 45 Spitzer (2006), S. 7, Hervorhebung von mir, S. D. 46 Ebd. 35 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen göttlichen Dialog geführt zu haben; und so wird in der Forschung Religiosität selbstbewusst als „anthropologische Konstante“ 47 beschrieben. Immerhin bezeichnen auch Theologen wie Hans Küng die kulturhistorische These vom Ende oder Absterben der Religion als eindeutig falsifiziert: „Weder dem atheistischen Humanismus (à la Feuerbach) noch den atheistischen Sozialismus (à la Marx) noch der atheistischen Wissenschaft (à la Freud oder Russell) ist es gelungen, die Religion zu ersetzen. Im Gegenteil: Je mehr die Ideologien, diese modernen säkularen Glaubensüberzeugungen, an Glaubwürdigkeit verloren, umso mehr hatten die Religionen, alte und neue Glaubensüberzeugungen, Auftrieb. Man spricht heute von einem postideologischen, aber kaum jedoch von einem post-religiösen Zeitalter.“48 Als Beleg führt Küng Statistiken der 1990er Jahre an, die zeigen, dass von einem „Massenatheismus“ selbst in Westeuropa nicht ausgegangen werden kann, selbst wenn die westliche Gesellschaft nicht zu leugnende säkulare Spuren mit sich trägt.49 Es ist laut Küng vielmehr die institutionalisierte Religion, die zumindest in Europa in einer Krise steckt. Die These vom Absterben der Religion sei falsch, selbst bei einem Trend zur „Diffusion von Religion und dem Bekehrungseifer fundamentalistischer oder alternativer Gemeinschaften“50. Falls wir aber von einer „dem Menschen eigenen“ Religiosität ausgehen, beobachten wir doch – das ist Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit – eine sich verändernde Grundlage beziehungsweise Ausformung von Religiosität. Können wir daher von einer „neuen Religiosität“ sprechen, die ihre traditionellen Wurzeln hinter sich lässt? Die Antwort lautet Nein. Zwar können wir beobachten, dass Religiosität, wie wir sie heute beobachten, sich von den Kirchen und ihren Sakramenten und Vorschriften entfernt, jedoch finden wir in unserem Alltag immer noch Rituale und Verhaltensweisen (zum Beispiel die liturgieähnliche Gestaltung wichtiger Fußballspiele oder messiasähnliche 47 Siehe hierzu etwa Schmälzle (1999/2000), S. 4. Schmälzle bescheinigt der Religion als anthropologische Konstante eine breite Anerkennung und zeichnet auf, dass sich in Europa etwa drei Viertel der Bevölkerung zum Glauben an Gott bekennen und sich immerhin zwei Drittel als religiös bezeichnen. 48 Küng (1990), S. 68. Hervorhebung von mir, S. D. 49 So zählt er auf, dass einer Gallup-Umfrage zufolge 1987 in den USA 94% an Gott glaubten, in Deutschland nach einer Allensbacher Umfrage 70%, nur 13% nicht. Vgl. Küng (1990), S. 68. 50 Küng (1990), S. 68. 36 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Vergötterung bestimmter Popstars51) sowie alternative Gemeinschaften beziehungsweise außerkirchlicher Bewegungen wie die Sekten, die das Religiöse auf irgendeine Art in sich tragen. Es handelt sich hierbei um Inhalte und Verhaltensweisen, die von offizieller kirchlicher Seite bisher nur zögerlich oder gar nicht mehr als religiös im christlichen Sinn betrachtet und meist als spirituell bezeichnet werden. 2. 4. 2 Religion und religiöse Ausdrucksformen als Teil der Spezies Mensch Lange Zeit war es so, dass mit fehlender Kirchlichkeit auch das religiöse Apriori des Menschen infrage gestellt wurde. Im familiären wie auch beruflichen Alltag mit Kindern und Jugendlichen können wir nun aber immer wieder beobachten, dass Jugendliche sich durchaus mit religiösen Fragen beschäftigen, religiöse Bedürfnisse äußern und nach Ausdrucksformen dafür suchen, auch wenn sie nicht Kirchgänger sind. Besonders häufig fragen Kinder und Jugendliche auf ihrer entwicklungspsychologisch existenziellen Suche nach dem Warum, nach dem Sinn hinter den Dingen. Sie nehmen die materielle Welt nicht mehr als ausschließlich hin, sondern öffnen sich für Transzendenz. Aber sind sie deswegen schon religiös? Unterhalten wird die Theorie, dass dem Menschen Religiosität inne sei, auch von Forschungen, die sich etwa mit der Suche Jugendlicher nach emotionaler Stabilität auseinandersetzt. So beschreibt Josef Sudbrack den Wunsch Jugendlicher nach Wärme, Geborgenheit Eindeutigkeit, Glaubenssicherheit, Sinnerfüllung und Frieden als religiöse Sehnsucht.52 Das seinsphilosophische Konzept, das von einem religiösen Apriori des Menschen ausgeht, also einer Anlage, die der Mensch „existenziell aktualisiert“53, will nicht konfessionellreligiös bevormunden. So steht im „Handbuch für Religionspädagogik“ etwa der RU nicht mehr unter dem Anspruch der Glaubensvermittlung; es soll garantiert sein, dass „die Religionspädagogik auch gegenüber anderen Wissenschaften Bestand haben kann. Religiosität sichert Humanität. Religiöse Erziehung ist Teil menschlicher Erziehung, sie ist 51 So stilisierte sich der Sänger Michael Jackson († 2009) während seiner erfolgreichen Zeit als Messias. Siehe hierzu auch Buschmann (1999), S. 59-63. 52 Vgl. Sudbrack (1987), S. 38. 53 Vgl. Schmälzle (1999/2000), S. 32. 37 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen methodisch wie didaktisch so zu gestalten, daß sie den Menschen für sein tiefstes Vermögen, nämlich zur Transzendenzerfahrung fähig macht“54. Theodore Roszak formuliert,55 dass die Menschen unserer Zeit in der Auseinandersetzung mit fundamentalen Verlusterfahrungen eine alte Wahrheit neu entdecken lernen, die „Tolstoj gegenüber Marx geltend machte, die Jung gegenüber Freud geltend machte: daß wir bis ins Innerste religiöse Wesen sind; daß es für uns keine Ganzheit, keine geistige Gesundheit gibt, bis wir die spirituellen Bedürfnisse für noch fundamentaler halten als alles andre“56. Aus ähnlicher Richtung kommend beschäftigt sich auch der Religionssoziologe Jakobus Wössner mit dem Thema. Er schreibt dem Menschen zwei grundlegende religiöse Bedürfnisse zu: das Bedürfnis nach Absolutheit und das Bedürfnis nach existenzieller Annahme. Letzteres zielt auf eine Identität, die die Kontingenz des Menschen überwinden kann, etwa Handlungen, mithilfe derer man die Verlusterfahrungen des Todes verarbeiten und überwinden kann. Diese Grunderfahrungen bestimmen das Leben jedes Menschen und werden von Wössner als religiös beschrieben.57 Es handelt sich also weniger um eine „neue Religiosität“, sondern metaphorisch gesprochen um Saat, die jeder Mensch in sich trägt, die gegossen werden muss und Triebe schlagen will. Die Blüten sind heute anders, aber die Saat ist noch dieselbe.58 Die Abkopplung der Religiosität von Konfessionalität durch einen empirisch-analytischen Religionsbegriff macht sie zu einem gewissen Teil auch unabhängig vom Zugriff christlicher Theologie, christlicher Glaubensvorstellung und kirchlicher Lehrtraditionen: Religiosität als „anthropologisch grundlegende Erfahrung“ wird anthropologisch „vom Individuum aus definiert“.59 Dieser ontologische Religionsbegriff ist durchaus angreifbar. So vermutet Nipkow, dass „die Generalisierung empirisch-anthropologischer Erfahrung … ins Ontologische“ den 54 Schmälzle (1999/2000), S. 33. Schmälzles Beschreibung der Theorie und der darauf aufbauenden Arbeitsweise des „Handbuchs für Religionspädagogik“ (Feifel u. a., 1973, S. 62 f.) wird im folgenden Haupttext übernommen. 55 Vgl. Schmälzle (1999/2000), S. 4. 56 Roszak (1982), S. 7, zitiert nach Schmälzle (1999/2000), S. 4. 57 Vgl. Wössner (1973), S. 133-143. 58 Vgl. hierzu auch Schmälzles Aussage, dass es die alte Religion sei, „die sich in den heutigen Bedürfnissen und Erlebnismöglichkeiten entsprechende Formen schafft. (…) Faktum ist, daß die religiöse Frage in der Moderne verdrängt wurde und heute neue Formen sucht. Sie tritt im Gegensatz zu den überlieferten Institutionen und gesellschaftlich legitimierten Sozialisationssystemen auf, die ihre integrierende und orientierende Kraft verloren haben und deshalb die fundamentale religiöse Problematik menschlicher Existenz nicht mehr lösen können.“ Schmälzle (1999/2000), S. 4 f. 59 Schmälzle (1999/2000), S. 28. 38 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Religionsbegriff endgültig absichere und damit die Präsenz der Kirche in der Schule unangreifbar werde.60 Nipkow wehrt sich dagegen, Sinnfragen wie die nach Wahrheit, dem Guten, der Zukunft usw. automatisch mit Religion zu verknüpfen; so würde Religion „für jeden zu einer unentrinnbaren Seinsverfassung erklärt, ob er will oder nicht und ob er es weiß oder nicht. Andere wissen es für ihn.“61 Dabei hält Schmälzle Nipkow jedoch die Unabhängigkeit der Kirchen von Religion entgegen: „Faktum ist, daß es auch dort noch Religion gibt, wo keine Kirche anwesend ist. Faktum ist weiter, daß alle wichtigen Beiträge zum Verständnis von Religion und Religiosität nur danach entstanden sind, daß sie sich von konfessionellen Engführungen freigemacht haben.“62 Schmälzle fordert daher eine starke Verortung der empirischanalytischen Forschung in den religiösen Ausdrucksformen. Sie soll inhaltlich beschreiben, welche Einstellungen und Verhaltensweisen Menschen mit Religion und Religiosität in Verbindung bringen.63 Der Hubersche Ansatz tut genau dies. Solange Religiosität konfessionsunabhängig zuschreibbar ist und sich nicht vom Anspruch der Kirchlichkeit instrumentalisieren lässt, ist der Vorwurf Nipkows nicht mehr wirklich haltbar. In diesem Sinne argumentiert dann auch Judith Könemann: „Als Vermögen der Offenheit ist (das transzendentale Verhältnis von Religion) nicht allein das Vermögen der Offenheit zur Ausbildung einer religiösen Haltung innerhalb eines konkreten religiösen Umfeldes, sondern das Vermögen der Offenheit zur Transzendenz.“64 Könemann möchte Religion aber nicht lediglich im Sinne eines Vermögens oder als anthropologische Grundkonstante begreifen, sondern mit Bezug auf Bewusstseinsphilosophie und den Ansatz Udo Schmälzles als religiöses Bewusstsein,65 das man nicht hintergehen kann und bestimmt wird als „Fähigkeit wie auch ein Bedürfnis“, als 60 Nipkow (1984), S. 148, zitiert nach Schmälzle (1999/2000), S. 31. Nipkow (1984), S. 148, zitiert nach Schmälzle (1999/2000), S. 31. 62 Schmälzle (1999/2000), S. 32. 63 Vgl. Schmälzle (1999/2000), S. 31. 64 Könemann (2002), S. 69. Könemann bezieht sich ausdrücklich auf das Rahnersche Konzept einer transzendentalen Religionsphilosophie, das auf Heideggers Existenzphilosophie zurückgreift. Jedoch sei laut Könemann hier keineswegs das christliche Verständnis von Religion vorausgesetzt. Rahner entfalte seine Religionsphilosophie zunächst einmal unabhängig von der christlichen Religion. Vgl. Könemann (2002), S. 69. 65 Für Schmälzle wird Religiosität greifbar im religiösen Selbstbewusstsein des Menschen, für ihn bezieht sich religiöses Bewusstsein „auf radikale Endlichkeit menschlicher Existenz und umfasst darüber hinaus alle inneren und äußeren Aktivitäten, in denen der Mensch seine Endlichkeit zu leben und zu überwinden sucht.“ Schmälzle (1996), S. 116 f., zitiert nach Könemann (2002), S. 69. 61 39 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen transzendentales Apriori des Menschen.66. Dabei betont Könemann, dass dieses religiöse Bewusstsein keineswegs den Zwang oder auch die Notwendigkeit beinhalte, „diese Offenheit auf Religion hin konkret zu vollziehen“. Religiöses Bewusstsein könne sich in der Auseinandersetzung mit den Grundfragen menschlicher Existenz in eine Öffnung auf konkrete Religion hin münden, müsse dies aber nicht; der Mensch habe die Freiheit zu entscheiden, wie und mit welchen religiösen beziehungsweise nicht-religiösen Sinndeutungssystemen er diese existenziellen Grundfragen angehen möchte – entziehen aber könne er sich dieser Entscheidung nicht.67 In dieser Konsequenz spielt also auch Könemann dem Ansatz Hubers zu, dass Religiosität zum Selbst des Menschen gehört, auch wenn dieser Mensch unter Umständen völlig säkularisiert ist. Verändert oder verschwunden ist dann nicht die Religiosität selbst, sondern lediglich ihr Inhalt. 2. 4. 3 Der religiöse Mensch in der Kritik „Jedem Menschen wohnt Religion inne.“ Diese These ist nicht wirklich neu, sondern im Grunde das, was Christen seit Jahrhunderten im Glauben trägt – und was auch die Religionskritiker, neben den erwähnten Marx und Freud allen voran Ludwig Feuerbach, scharf verurteilt haben. Als Begründer des modernen, philosophisch durchdachten Atheismus und Vertreter der Projektionstheorie, Gott sei ein Wunschgebilde menschlicher Hoffnungen und Sehnsüchte, kommt Feuerbach zu dem Schluss: „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde“ und „Der Mensch hat sein eigenes Wesen angebetet“68. Das, was der Mensch an Religion und Gottesbild in sich trägt, ist nach Feuerbach also – um in der Bildersprache zu bleiben – Saatgut, das er selbst gesät hat. Warum der Mensch dies tue, erklärt Feuerbach im Grunde mit demselben Argument, das auch die Vertreter von Religion als anthropologische Konstante benennen: „weil er (der Mensch) den Trieb hat, glücklich zu sein. (…) Hätte der Mensch keine Wünsche, so hätte er trotz Phantasie und Gefühl keine Religion“69. Allerdings ist der Umkehrschluss der Feuerbach-Gegner ein genau gegenteiliger: Während Feuerbach aus der richtigen (!) These 66 Könemann (2002), S. 70. Könemann (2002), S. 70. 68 Feuerbach (1841), zitiert nach Reclam (1969), S. 53 ff. 67 40 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen über inneliegende Wünsche und Sehnsüchte den Schluss zieht, die Erfüllung dieses Wunsches könne nur Projektion und kein tatsächlicher Gott sein, muss man ihm kritisch entgegensetzen, dass ein Wesen, das menschlichen Wunschvorstellungen entspricht, sehr wohl auch existieren kann. So hielten Feuerbachs Kritiker ihm auch bald entgegen, etwa dass Brot nicht eine Projektion des Hungers sein müsse, nur weil es dem Bedürfnis nach Sättigung entspricht. Insgesamt, so resümiert es etwa auch Küng, darf Feuerbachs Projektionsargument als „erkenntnistheoretisch durchschaut gelten“70, denn auch wenn psychologisch gesehen der Gottesglaube selbstverständlich immer Strukturen und Gehalt einer Projektion ausweisen, entscheidet diese Tatsache noch lange nicht darüber, ob das Objekt, auf das sich das Projizieren bezieht, existiert oder nicht. Feuerbach geht, so beschreibt es auch Peter Kliemann, bei seiner Argumentation selbst von unbewiesenen und auch nicht beweisbaren Annahmen aus und ignoriert zudem die Betonung des Alten Testaments, dass der Gott Israels der ganz andere, der nicht Verfügbare und Kalkulierbare sei (so etwa in Ex 3, 14), von dem der Mensch sich kein Bild machen dürfe (Ex 20, 4).71 Kliemann argumentiert auch, dass der biblische Gott sich nicht den menschlichen Vorstellungen füge und sich auch im Neuen Testament zeige, „wenn der von den Menschen sehnsüchtig erwartete Messias als Obdachlosenkind im Stall geboren und am Kreuz als politischer Aufrührer unschuldig hingerichtet wird. Dass ein solches Gottesbild – zumindest auf den ersten Blick – nicht gerade menschlichen Wünschen und Sehnsüchten entspricht, sieht schon Paulus; er schreibt, der gekreuzigte Christus sei „für den gesunden Menschenverstand (…) eigentlich ‚ein Ärgernis’ und ‚eine Torheit’ (1 Kor 1, 18 ff).“72 In Wahrheit, so sehen es die Theologen, betrieb Feuerbach keine Lehre von Gott (Theologie), sondern eine Lehre vom Menschen (Anthropologie). Diese kann uns immerhin helfen, uns unserer vielleicht durchaus vorhandenen Projektionen bewusst zu werden – es wäre sicher unrealistisch, vom Menschen zu erwarten, sich gar keine Bilder und Vorstellungen von Gott zu machen -, was aber eben nicht dazu führen muss, dass der tatsächliche Gott bezweifelt wird. Darüber hinaus verwendet Feuerbach den Einheitsbegriff der Religion gänzlich undifferenziert: Er subsumiert alle Religionen unter dem Theismus. Feuerbach tut dies, „um dadurch eine deutliche Grenze zum Atheismus zu erhalten, die in 69 Ebd. Küng (1990), S. 70. 71 Siehe hierzu die Darstellung von Feuerbachs und seinen Kritikern bei Kliemann (1990), S. 27 f. 70 41 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Wirklichkeit in der Religionsgeschichte nicht zu ziehen ist, und dies wiederum rührt daher, daß Modell und polemischer Gegenstand im Grunde ausschließlich das Christentum ist“.73 In diesem Sinne ist die Ausgangsfrage zu bejahen: Der Mensch ist ein religiöses Wesen in dem Sinne, dass er eine Sehnsucht in sich trägt, die nur Religion und religiöse Formen zufriedenstellen können. Denn die existenziellen Grundfragen des Lebens wie etwa nach dem Ursprung, nach dem Lebenssinn, nach Leid und dem Tod, sind anthropologisch unbestreitbar immanente Fragen, die nicht rein philosophisch zu beantworten sind. Man muss also davon ausgehen, dass die unterschiedlichen Ausprägungen (kirchliche Religiosität, außerkirchliche usw.) zu tun haben mit externen Einflüssen, die den Menschen dazu veranlassen, seine Suche nach spiritueller Zufriedenheit in diese oder eine andere Richtung zu verfolgen. Religiosität ist also ein echtes, menschliche Identität formierendes Bewusstsein und ist primär intrinsisch. Die Art ihrer Ausprägung hängt von extrinsischen Einflüssen ab. Diese Wahrnehmung korrespondiert mit dem Religiositätsmodell Hubers. Wir besitzen eine religiöse Brille, aber ob und wie wir uns religiös zeigen, hängt davon ab, wie oft wir die Brille aufsetzen und wie sie getönt ist! Verantwortlich für das „Aufsetzen“ sind neueren Forschungen zufolge nicht die Eltern allein. Zwar antwortet das Kind nach dem Reiz-Reaktion-Schema auf Zuwendung und Belohnung, Ablehnung oder Strafe, jedoch bedeutet das nicht, dass das Verhältnis des Kindes zur Umwelt auf der geraden, nicht umkehrbaren Linie verlaufen muss, wie es Kohlberg und Piaget beschreiben. Vielmehr nimmt das Kind von Beginn an an sozialen Interaktionsprozessen teil, „in denen die Art der kognitiven Entwicklung und die Art des Erlernens sozialer Kompetenzen abhängt von der affektiven Beziehung zu den Bezugspersonen“74. Als Konsequenz für Erzieher, insbesondere für die Eltern als engste Bezugspersonen bedeutet dies, dass sie sich von Anfang an den emotionalen Bedürfnissen und Interessen des Kindes annehmen müssen. Lothar Kuld kritisiert die Piagetsche Theorie zur kognitiven Entwicklung des Kindes und neuere darauf aufbauende Arbeiten zum religiösen Denken des Kindes als zu vereinfacht, 72 Kliemann (1990), S. 28. Gollwitzer (1970), S. 31 f. 74 Roster (1993), S. 270 f. 73 42 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen weil Kinder eben sehr wohl schon Gott als etwas Unsichtbares begreifen, und zwischen „Darstellung und Gemeintem“ unterscheiden könnten. Dabei geht es Kuld in jedem Fall um die kognitive Seite des Glaubens, jedoch unter Einbeziehung anderer Dimensionen wie Gefühl, Beziehung, Hingabe, Mutterbindung und Vaterbild, Familientradition und Milieu. Damit leistet Kuld einen m. E. glaubwürdigen Kompromiss der Erfassung von Religiosität, indem er die Piaget-Tradition mit ihren Möglichkeiten ihrer Konstruktion wahrnimmt, jedoch den Glaubens- und Gottesbildhorizont des Menschen weiter zieht und so öffnet für seine individuellen Erfahrungen und Wahrnehmungen. Kuld formuliert es so: „Darin liegt der Stachel zum Denken. Alle weiteren Konstruktionen Gottes bis hin zu Gott als „Kraft“ oder „Gefühl“ sind Konstruktionen des Unsichtbaren in immer neuen Anläufen. (…) Wir setzen (…) auf die Piagettradition, weil sie uns die Entwicklung von Kognition zeigt. Kognition, philosophisch: Verstand und Rationalität, ist das Medium der Vermittlung und Selbstverständigung in unserer Kultur. Auch die Religion braucht Kognition und Rationalität.“75 Wenn wir es schaffen, das Unsichtbarkeitsproblem mit seinen verschiedenen Lösungsmöglichkeiten, die der Jugendliche vornimmt, zu verstehen, ist ein erster Schritt in Richtung des Verständnisses jugendlicher Religiosität getan: Gott kann, nach dem Abschied von Bildervorstellungen im Kindesalter entweder als Märchen beschrieben werden oder auch als Gefühl. Kult beschreibt sehr eindrücklich, wie diese Psychologisierung und Entmythologisierung im Jugendalter keineswegs einen direkten Religiositätsverlust bedeuten muss.76 Wenn wir als Interpretatoren jugendlicher Aussagen über Religiosität es schaffen, eine Sprache (für Antwortmöglichkeiten) zu finden, um Jugendlichen das Beschreiben ihres Glaubens zu erleichtern, oder erst recht ihnen die Chance geben, dies in eigene Worte zu fassen, hätte eine messbare Erkenntnis über die Religiosität Jugendlicher gar nicht so schlechte Chancen. Relevant für die empirische Erfassung von Religiosität, die auf dem hier entwickelten Religiositätsbegriff fußen soll, ist die Erkenntnis darüber, wie Jugendliche in dieser religiösen Verfasstheit als Subjekt das Transzendente, das Heilige konkret erleben und beschreiben. Die Diskussion hat mit Feuerbachs religiöser Anthropologie einerseits und dem seinsphilosophischen beziehungsweise empirisch-analytischen Ansatz andererseits das 75 Kuld (2001), S. 16. Kuld entnimmt den Begriff der Konstruktion der gleichnamigen philosophischen Strömung, die eine nicht ontologische Erkenntnistheorie zum Inhalt hat und die Rationalität des Einzelnen betont. Ebd. 76 Kuld (2001), S. 63-78. 43 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Problem der Verabsolutierung des Subjekts angesprochen. Hierfür zitiert der jüdische christliche Denker Levina folgenden Ausweg aus dem babylonischen Talmud: „Wenn ich nicht für mich einstehe, wer wird dann für mich einstehen? Aber wenn ich nur für mich einstehe – bin ich dann noch ich?“77. Hierbei handelt es sich um eine „vom anderen Mitmenschen bestimmte Begründungsmöglichkeit des menschlichen Subjekts und der menschlichen Erfahrung“ 78. Für die Empirie wie auch für die Religionspädagogik bedeutet dies die Wahrnehmung des Individuums in seiner sozialen Eingebundenheit beziehungsweise – um bereits mit Begegnungsphilosophen wie Buber zu sprechen - der „Ich-Einsamkeit“. Ist dann aber jegliche Art der Offenbarung religiös? Welches Gottesbild steht hinter dieser doch relativ „großzügigen“ Transzendenz und Transpersonalität und wie und mit welchen Inhalten wird das Absolute beschreibbar? Hierbei kann das Einbringen des Glaubens- sowie Spiritualitätsbegriffs hilfreich sein. Diese sollen im Folgenden zudem in ihren Verzweigungen beziehungsweise häufig synonymen Verwendungen bezüglich Religiosität beleuchtet werden. 2. 4. 4 Der Mensch auf der Suche nach der Begegnung mit dem Heiligen – Interpretation einer Theorie als Hinführung zur Eventisierung von Religion “This is my church This is where I heal my hurt For tonight God is a DJ” Faithless: God is a DJ (Techno-Popsong) Akzeptiert man den Huberschen Ansatz, kann das seinsphilosophische Konzept von Religion nicht allein stehen bleiben - es fehlt ihm die Gegenstandsdimension religiöser Erfahrung: Wir können uns mit ihm noch nicht wirklich etwas unter religiösen Ausdrucksformen vorstellen oder religiöse Phänomene oder Gefühle beschreiben. 77 Levina, zitiert nach Schmälzle (1999/2000), S. 38. 44 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Schmälzle verweist hier unter anderem auf die Arbeiten von Otto, die die irrationale Welt des Religiösen („Die Welt des Numinosen, Dämonischen und Irrationalen“)79 mit dem Heiligen in Verbindung bringen: „Religion ist die Begegnung des Menschen mit dem Heiligen … Das Heilige im vollen Sinne des Wortes ist für uns eine zusammengesetzte Kategorie.“80 Die Hubersche „religiöse Brille“ wäre demnach prinzipiell nichts anderes als die Wahrnehmung von Heiligkeit. Wie der Einzelne dieses Heilige fasst, erlebt, ideell füllt und empfindet, ist graduell verschieden, doch es eint die Menschen. So beschreibt es der Sozialphilosoph Max Horkheimer als eine „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“81. Dass für Jugendliche Heiligtümer nicht selten etwas ganz anderes bedeuten als für ihre Eltern, ist nicht wirklich überraschend. Sie verbinden mit der Vokabel meist etwas, das ihnen über alles andere hinaus am Herzen liegt und ihrem Leben einen Sinn verleiht. Das kann ein Hobby sein, ein Schmuckstück oder Talisman, ein bestimmter Mensch, ein Kuscheltier, eine partikuläre Gewohnheit wie das Treffen mit der Clique am Freitagabend. In dieser semantischen Bedeutung nutzen es zudem auch Erwachsene, etwa wenn sie davon sprechen, was für sie unantastbar ist, wie beispielsweise die Ruhe bei einer bestimmten Fernsehsendung (klischeehaft: die Sportschau bei Männern) oder das Zeitunglesen am Sonntagmorgen.82 Wird mit diesen Verweisen auf den ersten Blick nichts klassisch Religiöses bezeichnet, verweisen sie doch auf den Stellenwert, den andere Dinge im Leben der Jugendlichen haben, und die oft als Ersatzbefriedigung dienen. Mitgedacht ist hierbei immer die 78 Vgl. Schmälzle (1999/2000), S. 38. Schmälzle (1999/2000), S. 34. 80 Otto (1963), S. 21 f., 27 f., 35 f. Was dies ferner bedeuten kann, definieren u. a. Kamper und Wulf: „Was man unter dem Vorzeichen des sensus numinis, dem Zorn Gottes, die schlechthinnige Unnahbarkeit, die numinose Leidenschaft, Kraft, Bewegung, Erregtheit, Tätigkeit … nennt, das sind keine einfachen Zeichen oder natürliche Prädikate für das Dämonisch-Gespenstische, das Tremendum oder die Majestas, die liebende Energie, das andere, sondern es sind Ideogramme oder reine Deutezeichen eines eigentümlichen Gefühlsmomentes im religiösen Erleben.“ Dies. (1987), S. 44; beide Stellen zitiert nach Schmälzle (1999/2000), S. 34. 81 Siehe hierzu etwa Horkheimers Werk „Dialektik der Aufklärung“ in Zusammenarbeit mit Adorno (1947/1969). 82 Leopold Neuhold bezeichnet dies als etwas, das Jugendliche „nicht angetastet wissen wollen“. Neuhold (2005b), S. 22. 79 45 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Begegnung mit dem Sakralen, wobei dies in der Erfahrung des religiösen Menschen von den primitiven Äußerungen reichen kann, die mit einem Stein oder Baum verbunden sind, „bis zu der höchsten, die für den Christen die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist“83. Das Sakrale manifestiert sich laut Pollo in „der religiösen Erfahrung des vormodernen Menschen in einem Gegenstand der profanen Welt, der jedoch im selben Augenblick, in dem er etwas anderes zeigt, nicht mehr er selbst ist, sondern das Sakrale, das ganz Andere.“84 Ein entsprechendes Phänomen ist beschreibbar mit den modernen utopischen Formen der Esoterik und Parapsychologie. Neuhold bezeichnet die auch als die Befriedigung „des kleinen spirituellen Hungers zwischendurch“85. Es ist die Suche nach „Verzauberung in der entzauberten Welt“,86 in der wir heute leben und doch auch spirituell Mensch bleiben wollen. So vertritt etwa Christoph Wulf die Theorie, dass das Heilige nicht vergangen ist, sondern als „Verschobenes, Verborgenes, Verdrängtes und Vergessenes durchaus aktuell“ sei.87 Gemeint ist, dass wir in unserem Alltag zuweilen aufgerüttelt werden durch Erlebnisse, Dinge, Situationen oder Menschen, die in unser Leben treten und dessen normale Ordnung durcheinanderbringen. Unsere Routine wird verändert und gerät aus dem Rhythmus, und wir nehmen an sich Vertrautes anders, neu wahr. Wir machen die Erfahrung, nicht alles kontrollieren zu können, ja, auch verletzlich „verfügbar“88 und schutzbedürftig zu sein. Diese veränderte Wahrnehmung von Menschen, Zeit und Raum können den Menschen in seinem Verständnis von sich und der Welt verändern. Insofern verweisen solche Erfahrungen auf das Heilige, das als Erfahrung des Geheimnisvollen (numinosum), Faszinierenden (fascinosum) und Schrecklichen (tremendum) beschrieben wird. Denn der Mensch wird sensibler für das, was sich ihm in der Religion anbietet. An diesen Schnittstellen des Lebens, in den Momenten von Freude, des sich getragen Fühlens, aber insbesondere auch von Angst und Leid, kann ein Erleben des Heiligen stattfinden, und dieses Erlebnis der Heiligkeit muss nicht an Religion gebunden sein – kann es aber. 83 Pollo (1998), S. 59. Pollo (1998), S. 61. 85 Neuhold (2005b), S. 23. 86 Die Bezeichnung benutzt Wulf (2005), S. 24. 87 Wulf (2005), S. 24. Wulf bezieht sich hier auf weitere Überlegungen in dieser Art von Kamper, s. Wulf (1987), S. 1. 84 46 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Erzeugt beziehungsweise vermittelt wird diese Erfahrung meist durch Rituale, etwa durch Feste religiöser oder nicht-religiöser Natur. Beispiele hierfür können der Weihnachtsgottesdienst sein oder die Wahrnehmung bestimmter Sakramente (Taufe, Kommunion, Konfirmation, Hochzeit) als festliche Anlässe. Insofern hat die Kirche mit ihren Riten der Taufe, Kommunion, Firmung, Trauung, und Beerdigung immer noch wie Morgenthaler es nennt ein „breites (und unkonkurrenziertes) Angebot von symbolischen Handlungen, die sich zwar auf jenseitige Mächte, aber spezifisch auch auf die Übergänge im Familienleben beziehen und dieses damit sakral bestätigen und überhöhen.“89 In diesem Tenor bewertet auch der Bruder Papst Benedikts XVI., Georg Ratzinger, die praktizierte Volksfrömmigkeit. Er schreibt: Das besonders Schöne am katholischen Glauben seien „die sinnlichen Elemente. Unser Glaube beschränkt sich nicht nur auf das Gebet, auf die Innerlichkeit und die Rationalität. Er erfasst den ganzen Menschen. Der ganze Mensch ist zur Heiligkeit berufen, und so muss auch der ganze Mensch mitwirken und aktiv werden“.90 Aber auch Jugendweihen in der ehemaligen DDR, und m. E. auf jeden Fall auch das Mitwirken in Vereinen (das berühmte Lagerfeuer mit Singen zur Gitarre im Zeltlager der Messdiener oder auch Pfadfinder), musikalische Großveranstaltungen wie Popkonzerte oder eben auch der Weltjugendtag, die alljährliche Karnevalsprozession oder das Feiern des luxemburgischen Nationalfeiertags mit Fackelumzug können diese Funktion auf vergleichbare Art und Weise erfüllen. Diese Anlässe schaffen Ähnliches wie das, was Wulf für das Weihnachtsfest in der Kirche beschreibt: „Wenn im Rahmen der christlichen Liturgie die Weihnachtsgeschichte verlesen wird, die Gemeinde die vertrauten Lieder singt, der Pfarrer oder Pastor die den Kirchenbesuchern seit früher Kindheit bekannten rituellen Handlungen vornimmt, dann entsteht zwischen den Anwesenden ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Gemeinschaft, in der Festgemeinde breitet sich ein „Fließen“ aus. In solchen Momenten entstehen Gefühle der Sicherheit und der Geborgenheit. Kosmos und Welt werden als geordnet erfahren.“91 Ähnliches oder Gleiches kann jeder beschreiben, der Gemeinschaft im positiven Sinne erlebt und gespürt hat, welche Gefühle, welches Sich-fallen-Lassen, welche Kräfte und welche Faszination diese Erfahrung in einem Menschen freisetzen kann. 88 Wulf (2005), S. 25. Morgenthaler (2002b), S. 49. 90 Thurn und Taxis (2009), Vorwort. Hervorhebung von mir, S. D. 91 Wulf (2005), S. 27. Hervorhebung von mir, S. D. 89 47 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Diese Sehnsucht nach Heiligem finden junge Menschen laut aktueller Jugendforschung92 mehr und mehr in der Sozial- und Erlebnisform des Events. Das Event erfüllt nämlich eine ganze Reihe postmoderner Grundbedürfnisse, die im Folgenden dargestellt werden. Unter Event versteht man nach Hobelsberger „Anlässe, Orte und Zeiträume posttraditionaler Vergemeinschaftung“93. Das Event ist insbesondere für Individuen attraktiv, die „vom unmittelbaren Einfluss ihrer Herkunftsbildungen frei sind“ und ihre Zugehörigkeit „selbsttätig im Modus der Wahl“ herstellen können.94 Außerdem offerieren Großveranstaltungen den Jugendlichen die Chance, Zugehörigkeit und Gemeinschaft in einer Kirche zu erleben, was sie in ihrem zeitökonomisch weitgehend fremdbestimmten Alltag oft nicht mehr können.95 Beim Event müssen die Jugendlichen nicht t a t s ä c h l i c h zu der Gemeinschaft gehören, sie müssen es aber so e m p f i n d e n . So bezeichneten Jugendliche, die nach ihrer Motivation für ihre Reise zum Weltjugendtag nach Toronto im Jahr 2002 befragt wurden, „personale Begegnungen und Zugehörigkeitsartikulationen“ als wichtigstes Motiv.96 Hobelsberger bezeichnet diese „Gemeinschaftssehnsucht“ des Individuums, das sich seine Existenz aufbaut, als spezifisch: Es sucht „Gesinnungsfreunde“, die es aber nicht in „schicksalhaft auferlegten Traditionsmilieus findet, sondern heutzutage in Gemeinschaften, denen man völlig informell beitreten und auch wieder verlassen kann, und so eine Art „Teilzeitorientierung“ bieten, die bis auf das Event selbst kein Verpflichtungspotenzial tragen.97 Die Jugendlichen müssen keine dauerhaften Verpflichtungen oder Opfer bringen – mag das Event selbst beziehungsweise der Weg dorthin oft mühevoll sein, so ist doch der Alltag weitgehend von ihm unbelastet – auch das ist für Jugendliche häufig attraktiv. Event ist somit ein wichtiges Merkmal individualisierter Religion, hält andererseits jedoch die vereinzelten Gläubigen zusammen.98 92 Verwendet sei hier exemplarisch der Artikel von Hans Hobelsberger (2006). Hobelsberger (2006), S. 53. 94 Ebd. 95 Vgl. Hobelsberger (2006), S. 54. 96 Scharnberg / Ziebertz (o. J), zitiert nach Hobelsberger (2006), S. 55. 97 Hobelsberger (2006), S. 53. Er zitiert hierbei auch Hitzler (1998), S. 226. 98 Vgl. Hobelsberger (2006), S. 55. 93 48 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Nicht zu unterschätzen ist der sogenannte Fun-Faktor bei der religiösen Suche. Leopold Neuhold beschreibt, dass Religion mehr und mehr zu einem Angebot wird, das auf Erfahrungen und Erlebnisse ausgerichtet ist: „Warum dieses oder jenes hilft, ist nicht so wichtig. Nicht Denkmodelle sind gefragt, sondern Erlebnis und Event. So ist das wieder erwachte Interesse an Wallfahrten ein Zeichen für eine solche Ausrichtung auf ganzheitliche Erfahrung, die durch eine Theoretisierung des Glaubens verloren gegangen ist.“99 Außerdem steht die Verfolgung des Glücks im Hier und Jetzt im Vordergrund: the pursuit of happiness.100 Nach Hobelsberger ist in den vergangenen Jahren mit der Eventkultur zudem eine „Ästhetik des Außergewöhnlichen“ entstanden: „Was vormals die Funktion des Alternativen war, nämlich für Aufmerksamkeit, Mobilisierung und Attraktivität zu sorgen, erfüllt heute das Außergewöhnliche. So werden traditionelle Veranstaltungen mit einer Attraktivitätsstruktur ‚aufgepeppt’, die auf einem multisensualen Erleben von Außergewöhnlichem beruhen.“101 In der Veranstaltung kann das Individuum seine Nähe oder Distanz zum Geschehen frei wählen; und nicht der Inhalt steht im Vordergrund, sondern das Ergriffenwerden: „Religion wird zum Live-Erlebnis“, bei dem das Gefühl, anders als früher, nicht Begleiterscheinung ist, sondern im Mittelpunkt steht. 102 Da sich die vorliegende Arbeit im Hauptteil von religiöser Parteinahme freihalten möchte, soll auf die Darstellungen religionspädagogischer Chancen an dieser Stelle verzichtet werden. Bemerkt sei lediglich, dass die zunehmende Teilnahme Jugendlicher an Events bei gleichzeitigen Kirchenaustritten aus Sicht der Kirche dies keineswegs eine Glaubensabkehr, sondern ein anderer Weg hin zum Glauben darstellen könnte. 2. 5 Die Vokabel „Glaube“ in ihrem Verhältnis zur Religiosität „Viele Leute sagen: An etwas muss man doch glauben. Die Frage ist nur, an was. Was bieten wir den Menschen jenseits voller Schaufenster?“ Roman Herzog, 99 Neuhold (2005a), S. 20. Neuhold (2005a), S. 20. 101 Hobelsberger (2006), S. 52. 102 Hobelsberger (2006), S. 54 f. 100 49 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Deutscher Bundespräsident a. D.103 Das deutsche Wort „glauben“ entspringt eigentlich der Sprachwurzel „liob“ und bedeutet „für lieb halten, gut heißen, das Gute sehen“. In diesem Sinne bedeutet Glauben also einen spezifischen Zugriff auf die Wirklichkeit: die bewusste Wahrnehmung des Guten in der Welt. „An etwas glauben“ ist also immer etwas Positives, wenn auch nicht zwingend religiös gemeint. Im Gegensatz hierzu sind das lateinische Wort „credere“ und das griechische Wort „pisteuein“ mehr religiös konnotiert und verweisen auf die Gottesbeziehung („für wahr halten und trauen, vertrauen“).104 Fragt man im Unterricht die Jugendlichen danach, ob sie „glauben“, kommt häufig auch die prompte Antwort: „Klar – jeder glaubt doch an etwas!“ Religiosität jedoch weisen viele der Jugendlichen expressiv und vehement von sich: Glauben: Ja, aber „gläubig sein – nein, das doch nicht!!!“ Diese Haltung trägt sich weiter bis ins Erwachsensein, wie etwa Karlheinz Deschners Sammlung von „Glaubensbekenntnissen“ von Wissenschaftlern, Theologen und Künstlern verschiedener Disziplinen veranschaulicht:105 Alle Befragten glauben an etwas, jedoch in den seltensten Fällen in Form eines religiösen Bekenntnisses, sondern im Sinne der Sprachwurzel „liob“. Im Grunde kann sich niemand dessen entziehen, von etwas im Tillichschen Sinne e r g r i f f e n sein zu wollen.106 So meint auch Ladislaus Boros, gibt es kein echtes Menschsein ohne Glauben.107 Die Mehrheit der Leute bekennt sich zu einem Glauben, den sie jedoch von Religion entkoppelt wissen möchte. In einer Befragung von Jugendlichen wäre also terminologisch klar zu unterscheiden zwischen „gläubig sein“ und „an etwas glauben“. „An etwas glauben“ – das heißt selbst bei konfessionsgebundenen Jugendlichen noch längst nicht, dass ein Gottesbild gemeint ist. Als Beispiel dienen Statements, die Kinder und Jugendliche beziehungsweise junge Erwachsene auf Nachfrage der deutschen Zeitschrift schüler108 machten, und die im Folgenden in Auszügen zitiert werden. 103 Zitiert nach Hahne (2005), S. 61. Siehe die Erläuterungen bei Grün (2001), S. 289 f. 105 Deschner (1990). 106 Tillich definiert Glaube als „Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht“, zitiert nach Grün (2001), S. 289. 107 Siehe hierzu etwa Boros Werk „Der nahe Gott“ (1971). 108 Baader u. a. (2005), S. 4-7. 104 50 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Ich glaube schon an so was wie einen Gott, jedoch habe ich kein Interesse an Kirche und gehe auch nicht in Gottesdienste. Wichtig ist für mich, dass man Tiere vor dem Aussterben schützt und besonders sollte man alles Mögliche versuchen, den Lebensraum von Tieren zu erhalten. Christopher, 11 Jahre, konfessionslos Ich glaube, dass ich nicht an Gott glaube. Wichtig ist für mich Gerechtigkeit, ich bin mir aber bewusst, dass es die nicht gibt. Arek, 22 Jahre, katholisch Ich glaube schon an Gott, aber manche Geschichten in der Bibel sind nicht wahr. Ich würde um mein Leben kämpfen, das ist ja das Wichtigste. Daniel, 7 Jahre, evangelisch-lutherisch Ich glaube nicht an Gott, Religion hat für mich keine Bedeutung. Mir ist wichtig, sich gegen Ausländerhass und Rassismus einzusetzen. Ich kann nicht verstehen, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert werden. Anke 13 Jahre Ich glaube nicht an Gott, habe auch keinen Bezug zur Institution Kirche. Dennoch denke ich, dass der Glaube für viele Menschen eine große Bedeutung im Leben hat. Die Welt erkläre ich mir eher vor dem Hintergrund der Naturwissenschaften. Meiner Ansicht nach sollte man alles Mögliche tun, um soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Nina, 21 Jahre, evangelisch-lutherisch Ich glaube nicht an Gott, aber dafür an mich selbst. Wenn ich etwas unbedingt will oder etwas Besonderes schaffen möchte, sage ich mir immer, dass ich nur an mich glauben muss, dann klappt es. Ich bin der Meinung, dass man sich für die Flutopfer in Asien einsetzen sollte, damit sie wieder ein Zuhause bekommen und genug Nahrung und Trinkwasser haben. Christopher, 12 Jahre, evangelisch-lutherisch An Gott glaube ich und an Jesus. Ja, und dass ich das schaffe, was ich mir vornehme. Ich finde es wichtig, sich für Tiere einzusetzen, die vom Aussterben bedroht sind, und für Kinderheime spenden zu geben, damit andere Kinder auch ein Zuhause haben. Julia, 10 Jahre, römisch-katholisch Ich glaube an die Liebe meiner Hunde. Sie geben mir Kraft und Zuversicht und sind immer für mich da. Jessica, 24 Jahre, konfessionslos Ich glaube auf jeden Fall an Gott. Beschreiben kann ich ihn aber nicht. Ich würde in Indien gern eine Kirche bauen, um kranken Menschen zu helfen. Für Kinder würde ich mich besonders einsetzen. 51 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Manjet, 14 Jahre, Sikh Die Beispiele veranschaulichen zum einen die Unabhängigkeit von Konfession und Gottesbild beziehungsweise kirchliche Praxis. Umfragen, die allein die Gottesbilder abhören, sagen noch längst nichts über die Werte der Jugendlichen aus. Zum anderen machen die Aussagen aber auch darauf aufmerksam, dass in einer empirischen Befragung Jugendlicher mit der Vokabel „glauben“ und „werten“ beziehungsweise „wichtig sein“ sehr vorsichtig beziehungsweise bewusst umgegangen werden muss. Wie bereits gezeigt, ist es menschlich, an etwas zu glauben, und das konfessionsunabhängig. Der Fragende muss sich also genau überlegen, was er mit dem Begriff erfassen will: Sollte „glauben“ im Zusammenhang mit Gott verstanden werden, sollte dies auch möglichst so formuliert werden. Die Beispiele demonstrieren außerdem, dass „Glaube“ und bestimmte Werte von den Jugendlichen nicht zwingend miteinander verbunden sein müssen und die Kinder von sich aus dazu, „was jemandem wichtig“ ist, kategoriell ganz unterschiedliche Dinge nennen, obwohl nicht auszuschließen ist, dass sie auf eine gemeinsame Schnittmenge kämen. Das heißt überspitzt gesagt, dass derjenige natürlich auch um sein Leben kämpfen und sich gegen Rassismus einsetzen könnte, der ein großer Hundefreund ist! Das ist, neben Chancen, eines der Risiken, die bestehen, wenn man in der Frage, woran Jugendliche glauben und was ihnen wichtig ist, offen fragt. Interessant ist ebenfalls die Feststellung, dass Glaubensüberzeugung nicht unbedingt etwas mit der Konfessionsgemeinschaft zu tun haben muss. Zu diesem Ergebnis kommt die Allensbach-Studie, die sich 1992 mit den Entscheidungsprofilen von Kirchenaustritten in Deutschland beschäftigt hat, und von Udo Schmälzle weiter interpretiert worden ist.109 In den Tiefeninterviews wird geäußert, dass Glaube und Kirche für die Befragten zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Es sei eher die Kritik an der Amtskirche, die zum Austritt bewegt hat, und für so manchen sei es durchaus bedeutsam, die moralischen Grundsätze der Zehn Gebote einzuhalten.110 Dies ist ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit einer inhaltlichen Differenzierung von Kirchlichkeit, Moralität, Glaube und Religiosität. 109 110 Schmälzle (1998). Vgl. Schmälzle (1998), S. 172. 52 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Eine aus theologischer Sicht möglicherweise laienhafte Definition von Glauben gibt der promovierte Philologe und Volkswirt Jens Bandemer. Sie erscheint mir gerade deswegen in unserem Kontext beziehungsweise für unser Interesse als tragfähig, weil sie die unvoreingenommene Sicht des Individuums auf die Vokabel wiedergibt, und sie wahrscheinlich näher an den Jugendlichen ist als die so manches studierten Theologen. Bandemer antwortet auf die Frage „Was ist Glaube und was heißt glauben“: „Glaube ist für mich die persönliche, durch unsere Wünsche und Ängste, unsere Charakteranlagen und Lebensumstände, aber auch unsere Denkgewohnheiten und Vorstellungen ‚gefärbte’ Ahnung von Wahrheit.“111 Auch wenn sich Bandemer von einem religionstheoretisch verorteten Glauben distanziert und sich im Glauben an die Realität verhaftet sieht, beinhaltet seine Definition doch wesentliche Merkmale, die das Transzendente am Glauben erfassen: Die „Ahnung der Wahrheit“ spürt der Wahrhaftigkeit nach, wie sie der religiöse Mensch nur im Glauben an das Absolute bei Gott findet. Bandemer erklärt: „Nach meiner Erfahrung besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem, was wir im Leben wollen und unserem Glauben, wobei ich hier auch nicht den ‚erlernten’ Glauben, sondern den er-lebten persönlichen Glauben meine. Mein ‚Himmel’ ist kein inneres Refugium, in dem ich vor den Härten des irdischen Daseins Zuflucht suche. Ich erfahre die Realität Gottes bei der Bewältigung des Alltags. (…) Ich glaube, daß Gott als Lebenskraft, Energie und Weisheit in jedem von uns ist.“ 112 Gleichzeitig beinhaltet die Definition die menschlich-individuellen Prägungsfarben des Glaubensbegriffs: Glaube, so kollektiv oder diktiert er auch sein kann, muss schlussendlich immer wieder zurückgeführt werden auf den einzelnen Menschen – auch das muss jede Empirie anerkennen, die sich mit der Suche nach Glauben und Religiosität befasst. In diesem Tenor erhalten wir eben das (nicht zwingend religiöse) Statement „Jeder glaubt an etwas“. Ihre unbedingte Forderung nach Autonomie und Akzeptanz ihrer Entwicklung und Persönlichkeit lässt häufig keine weitere religiöse Konkretisierung zu außer der Vokabel vom „Glauben“. In diesem Sinne beantwortet der Psychologe Erich Fromm für sich die Glaubensfrage: 111 112 Bandemer (1990), S. 35. Bandemer (1990), S. 35 bzw. 37. 53 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen „Kann der Mensch ohne Glaube leben? Muss der Säugling nicht an die Mutterbrust glauben? Müssen wir nicht alle an unsere Mitmenschen glauben, an unsere Liebsten und an uns selbst? Können wir ohne Glaube an die Gültigkeit von Normen für unser Leben existieren? Ohne Glaube wird der Mensch in der Tat unfruchtbar, hoffnungslos und bis ins Innerste seines Wesens verängstigt.“113 Jedoch zieht Fromm eine Schlussfolgerung, die beim glaubenskritischen Menschen wie auch bei vielen Jugendlichen noch auf sich warten lässt; er meint: „Es ist die Gewissheit einer Wahrheit, die nicht durch rational zwingende Evidenz bewiesen werden kann, von der ich aber aufgrund der Evidenz meiner subjektiven Erfahrungen überzeugt bin.“ 114 Dieses Verständnis von Glauben als Wirklichkeitserkenntnis korrespondiert mit den Vorstellungen des Evangelisten Johannes. Anselm Grün beschreibt dessen Glaubensverständnis so: „Im Glauben … erkennen wir die Wahrheit, da geht uns auf, was uns eigentlich trägt und woraus wir leben.“ Im Unterschied jedoch zum jugendlichen Begriffsverständnis der Vokabel, wenn sie etwa sagen „Ich glaube an meinen Fußballverein“, besitzt Glaube, wie ihn Johannes und auch Paulus im Sinn hatten, keinerlei Anspruchsdenken an das Diesseits. Anders formuliert: Wenn ich mit Jesus Christus glaube, rechtfertigt dies alles, denn den Wert, den ich durch Jesus Christus erfahre, muss ich nicht mehr durch meine eigene Kraft beweisen. Glaube steht sozusagen im Gegensatz zur eigenen Leistung.115 In diesem Sinne müsste Glaube den Menschen befreien – er wird freilich oft jedoch nicht so wahrgenommen. Ein ähnliches Vokabular zur Beschreibung von Glauben benutzt auch der theologische Laie Bandemer, wenn auch mit einem verschobenen Verständnis von Kraft durch den Glauben: „Im Glauben bemühe ich mich um eine Antwort auf die Frage nach Gott und dem Sinn unseres Daseins. Es geht mir nicht um Weltanschauung, um theologisches, philosophisches oder esoterisches ‚Wissen’. Was mir nicht im Inneren Geborgenheit, Gelassenheit und Kraft und im Äußeren Orientierung für mein Verhalten gibt, ist meinem Empfinden nach nicht Glaube.“116 113 Fromm (1976), S. 50 f. Ebd. 115 Siehe hierzu auch die Darstellung bei Grün (2001), S. 290. 116 Bandemer (1990), S. 35. 114 54 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Für Bandemer ist Glauben ebenfalls mit einem Geschenk an den Menschen verbunden: Geborgenheit, Gelassenheit, Kraft. Im Unterschied zu Johannes, bei dem Glaube in dem Sinne freimacht, weil er dem Menschen nicht streitig gemacht werden kann, verlangt ein Glaube im Sinne Bandemers eine Zweifellosigkeit im gnostischen Sinne117: Ich muss den Glauben sozusagen wissen. Glaube jedoch ist immer mit Zweifel verbunden, Anselm Grün nennt ihn gar „immer nur überwundener Zweifel“118, eben nicht Wissen. Mit dem letzten Satz drückt Bandemer eben das aus, was Äußerungen Jugendlicher oft eigen ist: die Distanzierung von einem Glauben, der Hürden überwunden hat, der nicht nur gerade Wege geht, der auch einmal holprig oder auch unbequem sein kann, und von dem auch Ladislaus Boros sagt, dass es ohne diese Überwindung des Zweifels auch kein echtes Menschsein geben kann. Mit den diesbezüglichen Signaturen der heutigen Spaß- und Eventgesellschaft wird sich das vierte Kapitel der vorliegenden Arbeit genauer befassen, wenn es um die Analyse der Lebensumwelt Jugendlicher im Zusammenhang mit religiöser Wahrnehmung geht. Im Zusammenhang mit jugendlichem Glauben scheint mir aber auch eine weitere, letzte Dimension des Glaubens von entscheidender Bedeutung: Glauben heißt Vertrauen. Diese Theorie möchte ich folgendermaßen entwickeln: Als eine Hinführung diene der Auszug aus „Hallo Mister Gott, hier spricht Anna“, einer fiktiven Geschichte eines kleinen Mädchens, das mit seinem erwachsenen Freund Fynn buchstäblich über Gott und die Welt philosophiert. Ich möchte ihn mit „Ein typischer (?) Glaubensweg“ betiteln: „Wenn du ein Kind bist, dann verstehst du alles. Mister Gott sitzt auf einem goldenen Thron; er hat einen langen weißen Bart und einen Schnurrbart, und eine Krone hat er auf dem Kopf. Und alle um ihn rum singen die ganze Zeit wie die Verrückten. Immerzu Hymnen und so Zeug. Kein Mensch kann das aushalten. 117 Die Rede ist von Gnosis als breite Strömung des 1. Jahrhunderts, in der sich die Sehnsucht nach Erleuchtung formulierte. Der Mensch wünschte sich, ähnlich unserer New-AgeBewegung, „der Schleier, der über allem liegt, möge endlich weggezogen werden, damit wir durchblicken, damit wir das Eigentliche erkennen.“ Grün (2001), S. 290. 118 Grün (2001), S. 291. 55 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Und Mister Gott macht einfach alles, wenn man bloß nett genug darum bittet. Er kann Willy nebenan eine Warze auf die Nase machen zur Strafe, weil er Millie verhaut, wenn sie nicht genug Geld abliefert. All sowas macht er ganz fabelhaft, und darum ist er so wichtig, und man benützt ihn die ganze Zeit. Und ein bißchen später, dann denkt man was ganz anderes, und Mister Gott ist immer schwieriger zu verstehen. Aber es geht noch gerade. Dann kommt einem plötzlich vor, als ob er einen nicht mehr verstehen will. Jetzt hört er einfach nicht mehr zu. Er sieht es plötzlich nicht ein, daß man unbedingt ein neues Fahrrad braucht. Und dann kriegt man auch keins. Und dann versteht man ihn schon viel weniger. Und wenn man noch älter wird (…), dann ist es schon wieder schwieriger. Und dabei wird er irgendwie kleiner. Und man versteht ihn nur noch soviel wie viele andere Sachen, die auch schwierig sind. Die ganze Zeit in deinem Leben bröckeln da Stücke von ihm ab. Und dann kommt der Punkt, da sagst du, du verstehst ihn überhaupt nicht mehr. Siehst du, und dann ist er wieder ganz ganz groß. So groß wie er in Wirklichkeit ist. Und wumm, da lacht er dich aus, weil du so blöd warst.“119 Diese Darstellung einer religiösen Biografie seitens der fiktiven sechsjährigen Romanfigur Anna mag zum Lächeln anregen, aber sicher auch bei den meisten Menschen zu einem zustimmenden Nicken, denn auch wenn Religiosität so viele Wege und Ausprägungen haben mag wie es Menschen gibt, verläuft in unserer westeuropäischen Gesellschaft ein Glaubensweg nicht selten so. Dies hängt nicht zuletzt natürlich auch mit der intellektuellen wie emotionalen Entwicklung des Menschen zusammen: Naiver Glaube wird abgelöst von Erkenntnisfrustration: Wie es dann aber weitergeht, hängt zu einem entscheidenden Punkt von den Erfahrungen ab, mit denen Religion verknüpft wird, und hier setzt die Verantwortung des Umfelds ein. Anders als Freud uns glauben machen wollte, verläuft nach Erkenntnissen psychologischer und soziologischer Theorien die kindliche Entwicklung nicht nur triebtheoretisch, sondern als sozio-kultureller Lernprozess. Als Klassiker dieser Identitätstheorie gilt der Tiefenpsychologe Erik H. Erikson, für den Urvertrauen geradezu der Eckstein der seelisch gesunden Persönlichkeitsentwicklung ist. Unter diesem Urvertrauen versteht Erikson „eine auf die Erfahrung des ersten Lebensjahres zurückgehende Einstellung zu sich selbst und zur Welt“120. In Eriksons Überlegungen muss das Ich zwischen Es und Über-Ich vermitteln; die Ich-Identität ist nicht triebgesteuert, sondern eine selbstreflexive Leistung menschlicher Persönlichkeit. Ähnlich wie Piaget, Kohlberg und Oser und Gmünder entwickelt auch Erikson ein Phasenmodell, das sich an der kognitiven und emotionalen Entwicklung beziehungsweise bei ihm: Entwicklungskrisen, der Kinder orientiert. 119 120 Fynn (1974/2002), S. 111f. Erikson (1966), S. 62. 56 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Erikson versteht Identität also nicht nur als etwas Determiniertes oder von außen Vorgegebenes, sondern als vom Bewusstsein und Willen des Einzelnen steuerbare Leistung. Wichtig in unserem Zusammenhang wäre eine Einschränkung des Erikson-Modells. Erikson ist jedoch insofern zu kritisieren, als die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit mit der Adoleszenz nicht abgeschlossen, sondern bis zum Lebensende ein Prozess ist. Auch würden sich in weiteren Forschungsvorhaben religionspädagogische Überlegungen nicht nur resümierender, sondern auch zukunftsperspektivischer Natur lohnen. Im Zusammenhang mit der Frage nach Religiosität versteht Erikson unter menschlichem Urvertrauen das, „was man im Allgemeinen als ein Gefühl des Sich-verlassen-dürfens kennt, und zwar in Bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst“121. Zwar kann man das Urvertrauen nicht mit dem religiösen Glauben gleichsetzen, doch ist ein emotionales Klima in der Familie, in der ein Kind Urvertrauen erfahren kann, beim Erwerb einer religiösen Glaubenshaltung förderlich. Die Eltern bieten dem Kind in gewisser Weise die erste „Gotteserfahrung“, indem sie ihm Vertrauen und Liebe schenken. In dieser Erkenntnis wird deutlich, wie groß die Verantwortung der Eltern ist, wenn sie ihrem Kind die menschlichen Bedingungen für ein positives Verhältnis zwischen Welt und Gott bereitstellen wollen. In einem weiteren Sinne hat dann auch Glauben immer mit der Vertrauensfähigkeit des Menschen zu tun. Ein in diesem Kontext schönes Bild scheint mir das folgende Foto: 122 121 122 Erikson (1966), S. 62. Foto: Rudolf Dietrich; aus Phil Bosmann: Blumen des Glücks mußt du selber pflanzen. Freiburg i. Br. 1982. S. 72. 57 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Das Bild passt m. E. deshalb gut in den Zusammenhang, weil seine Sprache das Getragenwerden durch Gott impliziert: Einerseits weist es die besondere Bedeutung des Kindes für die Eltern aus, zweitens bildet es das bedingungslose Vertrauen des Kindes ab, das durch das Gehaltenwerden und die Höhe sichtlich Freude empfindet. Um Glauben zu können, muss man sich so fallen beziehungsweise tragen lassen, muss buchstäblich der Tragfähigkeit der Sache, an die wir glauben, so bedingungslos trauen wie das kleine Kind auf dem Bild mit Mutter und Vater. Das Bild erzählt vom Urvertrauen wie Erikson es meint, und das der Mensch am besten in der Familie lernen kann. Glaube kann tragen, ist aber auch stets mit einem Restrisiko verbunden. Der, der uns trägt, hält uns hoch, zeigt uns als Menschen mit Stolz und ist dennoch der Starke in unserer Beziehung. Diese Stärke schenkt er dem Menschen als Gewinn, nicht als Erniedrigung. Nach diesem Glauben müssen wir bei Jugendlichen suchen, auch wenn ihr Glaube nicht unmittelbar mit Gott verknüpft sein mag. Wir suchen nach einem Glauben an eine Sache, der die Jugendlichen in ihrer ganzen Spiritualität trägt. 2. 6 Spiritualität in ihrem Verhältnis zur Religiosität Ähnliche Verwirrung wie dem Begriff „Glaube“ widerfährt der Begrifflichkeit der Spiritualität, die oft, aber nicht immer mit Religiosität verbunden wird. Der Begriff „Spiritualität“ wird in verschiedenen Zusammenhängen als vager Ausdruck von Religiösem bis Okkultem hin zu „Sinnerfahrung“ und ‚An-etwas-glauben’ gegen das spirituelle Vakuum verwendet, und erlebte in den vergangenen Jahren eine regelrechte Karriere, die er mit dem Luxemburger Jean Leyder gesprochen, „einer gesellschaftlichen Situation der religiösen Unbestimmtheit und Offenheit“ verdankt: „An die Stelle kirchlichinstitutioneller Vorgaben, die Eindeutigkeit und Gewißheit beanspruchten, tritt das Fragen und das Suchen.“123 „Spiritualität“ leitet sich von dem lateinischen Wort spiritus (Geist) beziehungsweise spiritualis (geistlich) ab. 123 Leyder (2006), S. 39. 58 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Folglich meint Spiritualität im Prinzip nichts anderes als das, was Menschen mit Geist erfüllt. So gesehen muss jeder Mensch spirituell sein, denn jeder Mensch besitzt eine geistige Dimension – wie geartet oder wie tief oder flach sie auch immer sein mag. Es geht bei Spiritualität um eine Geisteshaltung, nicht um ein Gefühl. Nun stellt der Spiritualitätsbegriff in den vergangenen Jahren mehr und mehr im Zusammenhang mit Jugendlichen und Religion ein Schlagwort dar, das boomt. Auf „spiritueller Suche sein“, überhaupt „spirituell“ zu sein scheint dem Menschen im Allgemeinen leichter über die Lippen zu gehen, als sich als religiös oder gar gläubig (und schon gar nicht mehr als fromm - „wie hausbacken altmodisch!“) zu bezeichnen. Ähnlich beschreibt es auch Petra Burkert: „Allgemein wird mit Religiosität kirchliche Enge, Erfahrungsarmut, Pflicht assoziiert, mit Spiritualität dagegen Selbstverwirklichung, Selbstfindung und besseres Leben. Wer im Bereich der Esoterik-Szene oder des New Age von Spiritualität spricht, möchte sich von Kirchlichkeit, christlicher Frömmigkeit, Religion distanzieren.“124 Entsprechend liefert Elisabeth von Thurn und Taxis’ Plädoyer für eine engagierte und gelebte Volksfrömmigkeit in ihrem Buch fromm! Eine Einladung, das Katholische wieder mit allen Sinnen zu erleben eine Gegenbewegung zu der zuvor beschriebenen Entwicklung. 1982 geboren bemüht Thurn und Taxis sich darum, Praktiken wie das Rosenkranzgebet, Frühbeichte oder Mundkommunion unter jungen Menschen zu rehabilitieren und benutzt dazu ein ihrer Peer-Gruppe geläufiges Vokabular: So sei etwa die Beichte, gleich einem Frühstücksei (sic!), ein "Genuss, den man ruhig öfters mal konsumieren"125 dürfe, und den Rosenkranz bezeichnet sie als "Vitaminbombe für die Seele"126. Ob sich Thurn und Taxis’ Sicht der Dinge um eine Einzelstimme, eine kurzlebige Mode oder doch eine eingeläutete Trendwende handeln, bleibt abzuwarten. Petra Burkert hingegen befasst sich wissenschaftlich mit der genaueren Verquickung von Religiosität und Spiritualität und gelangt zu dem Ergebnis, dass es bezüglich der Begriffe eine Überlappung gibt, die nur schwer trennscharf zu fassen ist. Sie unterscheidet Religiosität als „kollektive Formen mit quasi-religiösen Elementen aus dem Bereich „Kult / 124 125 Burkert (1993), S. 2. Thurn und Taxis (2009), S. 16, Hervorhebung von mir, S. D. 59 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Ritus“, während Spiritualität „individuelle Formen der Sinnfindung“ sei. Bereits hier wird der Konflikt deutlich mit der Erkenntnis, dass auch Religiosität individuell verfasst sein kann. Burkerts Versuch einer Gesamtdarstellung macht die Verzweigtheit und Komplexität der Thematik noch einmal deutlich und bedeutet im Bezug auf die vorliegende Arbeit die Konsequenz einer Fokussierung auf den Religiositätsbegriff. Vermutlich ist es so, dass Spiritualität weniger mit einer Nähe zu kirchlichen Institutionen verbunden wird als der bei Jugendlichen nicht selten negativ konnotierte Religiositätsbegriff. Paul Zulehner meint festzustellen, „dass die Spiritualität aus der Säkularität zu kommen scheint und nicht aus den alten Kirchen, die hier eher nahezu gekränkt diese neuen spirituellen Suchbewegungen als ungläubig, als ‚Religion ohne Gott’ verteufeln“127. Dementsprechend wird Spiritualität zwar auch mit Religion in Verbindung gebracht, aber eben auch mit vielfachen Formen des Aberglaubens oder gar auch esoterischen Richtungen. Der Religiositätsbegriff als „komplexes Konstruktsystem“ (vgl. Kapitel 2. 3) ist verquickt mit den verschiedenen Dimensionen von Spiritualität:128 Dazu gehören die religiöse Praxis beziehungsweise religiöse Kultformen wie Kirchgang, die Sakramente und Gebetspraxis, zweitens kommen okkulte Praktiken wie die Neigung zu Horoskopen, Satanismus, Gläserrücken zum Tragen, drittens sind meditative Praktiken wie Yoga oder „sich zurückziehen“ als spirituell zu nennen. Diese drei Aspekte sind in einer empirischen Studie in einfachen Itemstrukturen abfragbar, etwa bezüglich der okkulten Praktiken mit Fragen wie „Würdest du an einer spiritistischen Sitzung mit Gläserrücken“ teilnehmen?“ und „Würdest du der Aussage eines spiritistischen Orakels Glauben schenken?“ usw. 126 Thurn und Taxis (2009), S. 43. Zulehner (2005a), S. 95. 128 Vgl. Burkert (2003), S. 7. 127 60 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Entsprechende Fragestrukturen finden sich in den Bögen von Stefan Huber zur Religiosität. Das Ergebnis bei den Luxemburger Jugendlichen nach bisherigen Erfahrungswerten ist vermutlich eine begrenzte Einordnung in Kult, eine breite latente okkulte Praxis sowie Offenheit für meditative Praxis. Bereits hier wird die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen den Begriffen deutlich: Wo hört Religiosität auf, wo fängt Spiritualität an - oder umgekehrt…? Die Begriffe überschneiden sich sehr. Spiritualität wird subsumiert unter Religiosität, Religiosität wiederum wird festgemacht an religiösem Verhalten, an Selbstdefinition und Mythisierungseffekten. Wer religiös ist, ist auch spirituell – nicht umgekehrt! Simone Honecker versteht die Spiritualität so als den lebendigen Ausdruck einer inneren Einstellung, die so betrachtet dann auch mit Frömmigkeit synonym verwendet werden kann, wenn sie folgende Aspekte mitdenkt: 1. eine Orientierung auf Gott hin, 2. eine Fähigkeit zum Mitleiden, die an Jesus Christus erinnert, 3. konsequent solidarisches Leben mit einer besonderen Option für die Notleidenden, 4. Bereitschaft zur Versöhnung, die den Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit bedeutet.129 Interessant hierbei ist eine Anlehnung an die Elemente c h r i s t l i c h e r Spiritualität bei Bonaventura. Diese sind: 1. die innere und ganzheitliche Hingabe an Gott 2. die Sinndeutung des Lebens im Mitleiden mit Jesus Christus 3. die stets gesuchte Solidarität mit dem Nächsten 4. die Wiedergewinnung der ursprünglichen Umwelt durch ein versöhnendes Leben mit Allem und Jedem130 Mit Bonaventura begegnen wir Gott im Nächsten und mit der vierten Dimension auch in der Versöhnung mit der Schöpfung. Die angesprochene, notwendige Du-Begegnung, die im Glauben stattfinden soll, wird real, weil Gott uns in der Gestalt Jesu Christi, der menschliche Gestalt angenommen hat, geschenkt wird, aber auch mitten im weltlichen Leben selbst: in der Begegnung mit dem Mitmenschen, in dem sich Jesus Christus verhüllt. 129 Honecker (2000), S. 14. 61 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Dies ist sicher von den wenigsten Jugendlichen wie Erwachsenen mitgedacht, wenn sie über Spiritualität sprechen. Daher soll auf der Suche nach Religiosität die Spiritualität nur eine implizite Rolle spielen. 2. 7 Die Verankerung von Moral, Ethik, Tugenden und Werten: Ein Beziehungsgeflecht und sein Bezug zur Religiosität 2. 7. 1 Über die Bedeutung und Verbindlichkeit von Werten im Zusammenhang mit Religiosität „Liebe und tu was du willst.“ Kirchenvater Augustinus zugeschrieben Bezeichnet man einen Menschen als religiös, verbindet man mit ihm stets auch ein bestimmtes moralisches Verhaltensspektrum. In ähnlicher Weise können Werte auch verstanden werden als „Güter materieller, kultureller und ethischer Art, die dem einzelnen oder einer menschlichen Gemeinschaft als Handlungsziele vorgegeben sind oder als solche verstanden werden.“131 So hält etwa eine große Mehrheit der Jugendlichen „Demokratie“ für die am besten geeignete Staatsform.132 Diesen Gedanken hat auch Stefan Huber in sein Itemschema zur Erforschung von Religiosität aufgenommen, und eben deshalb halte ich seinen Ansatz für einleuchtend und sinnvoll. Der Anspruch gründet sich auf Werte, die man mit Religiosität assoziiert und die sich übersetzen lassen in entsprechende Tugenden: Besitzt jemand den Wert X, verhält er sich auch danach; und entsprechend wird das Agieren einer Person moralisch 130 131 Bonaventura (1961), S. 592, zitiert nach Schmälzle (1999/2000), S. 42. Seeber (1986), S. 489, zitiert nach Schomaker (1997), S. 55. 62 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen eingestuft. Mit Moral (lat. moralis: sittlich) ist die Gesamtheit der Regeln gemeint, „die in einer Gesellschaft akzeptiert sind und festlegen, was sittlich geboten ist, was als falsch und richtig, gut und böse gilt“ (Hahne).133 Bezogen auf Religion wird beispielsweise gern geschimpft über kirchliche Würdenträger, deren Verhalten beziehungsweise Lebenswandel im Gegensatz zu dem steht, was sie auf der Kanzel predigen. Beispiele in jüngerer Zeit sind etwa der deutsche Bischof von Augsburg, Walter Mixa, der als junger Pfarrer Schutzbefohlene schlug und die für ein Waisenheim bestimmten Stiftungsgelder für sein Privatleben nutzte. Nach einigem Ringen und großem Druck seitens der öffentlichen Meinung wird er im Mai 2010 von Papst Benedikt XVI. von all seinen Kirchenämtern entlassen. Ähnlich empörten sich viele über die EKD134Ratsvorsitzende, Margot Käßmann, die von der Polizei ertappt wurde, wie sie alkoholisiert eine rote Ampel überfuhr. „Sie predigen Wasser und trinken Wein!“, so textete die Presse vorwurfsvoll,135 woraufhin Käßmann im März 2010 ihr Amt niederlegte. Solches Verhalten gilt als unmoralisch. Entsprechend hegen, wie Lehrer an katholischen Privatschulen häufig hören, jene Eltern, die ihre Kinder dort anmelden, oft besondere Erwartungen an den Unterricht und pädagogische Aktivitäten der schulischen Einrichtungen: Sie sollen über die reine Wissensvermittlung hinaus ihren Kindern Respekt vor dem Nächsten vermitteln. Ähnlich funktioniert dies auch bei politischen Parteien wie in Luxemburg der CSV136. Der religiöse Name, bei Schule wie Partei, wird mit entsprechendem Verhalten der Mitarbeiter beziehungsweise der Anhänger oder Mitglieder assoziiert. Allen ist klar, dass sich während gesellschaftlicher Umstrukturierung auch Werte wandeln und sich wandeln müssen, damit sich Individuum und Gemeinschaft neuen Herausforderungen stellen können. Moralische Prinzipien, die man mit Religiosität assoziiert, sind jedoch in der Realität nicht identisch mit den Zehn Geboten des Christentums. Vielmehr beinhaltet Religiosität, wie sie 132 Vgl. Gille / Krüger (2000), S. 220. Hahne (2005), S. 32. 134 Evangelische Kirche Deutschland 135 Vgl. etwa Focus Online im Februar 2010, weitere Magazine folgten. 136 Die Abkürzung steht für „Christlich Soziale Volkspartei“ und beruft sich in ihrem Parteiprogramm auf traditionell religiöse Werte wie die Rechte des Einzelnen (der aktuelle Parteislogan lautet „Jeder Einzelne zählt“). S. die Webseite der Partei. 133 63 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen in dieser Arbeit vorgestellt wird, ein Werteschema, das auch in anderen Konfessionen zu finden ist. Werte unterliegen in jedem Fall dem Wandel und sind nach Oerter aufspaltbar in sogenannte attitudes (Werthaltungen), zu denen auch die Religiosität zählt, und zwar in eine kognitive, in eine affektive und in eine Handlungskomponente.137 In unserem Glauben finden wir Elemente des Wissens, der Emotionalität und des Handelns.138 Im Folgenden soll dargestellt werden, was mit Werten gemeint ist und wie man den Begriff in die Religiosität und Christlichkeit einbinden kann. In den Medien ist immer wieder von einem „Comeback der Werte“ zu lesen und zu hören; man sucht, vermisst und beschwört die Werte, die der Gesellschaft nützen. In Zeiten der globalen Finanzkrise, die die Politik und gesellschaftliche Stimmung zum Jahrzehntwechsel bestimmt, fehlen den internationalen Märkten verbindliche soziale Werte. Sie bedeuten in Zeiten von Globalisierung und Effizienzdenken eine nützliche ethische Grundorientierung, und in diesem Tenor etablieren sie sich andererseits in immer mehr Wirtschaftsunternehmen sogenannten Corporate Identities. Diese sollen der Belegschaft ein gemeinsames Interesse beziehungsweise einen Gemeinschaftsgeist beibringen. Diese (wohlwollend gedacht: gut gemeinte, realistisch interpretiert: auf Profit abzielende) Strategie ist jedoch schon dann zum Scheitern verurteilt, solange die Mitarbeiterslogans insbesondere beim Sozialverhalten keine verbindlichen Werte enthalten. Unser Zusammenleben mit anderen funktioniert nur auf einer ähnlichen Wertegrundlage. Entsprechend seien hier Werte definiert als Vorstellungen, die in einer Gesellschaft allgemein oder zumindest von vielen als wünschenswert anerkannt sind. Werte sollen und wollen Orientierung geben.139 Hierzu unterscheidet Hahne moralische Werte wie Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Treue, religiöse Werte wie Nächstenliebe oder Gottesfurcht, politische Werte wie Toleranz, Freiheit und Gleichheit und materielle Werte wie Wohlstand.140 Ist diese Wertegrundlage nicht geklärt beziehungsweise sind die Werte 137 Siehe Oerter (1984), S. 289-297. Siehe hierzu auch Rebell (1988), S. 59ff. 139 Vgl. Hahne (2005), S. 32. 140 Vgl. Hahne (2005), S. 33. 138 64 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen innerhalb einer Lebensgemeinschaft oder Gruppe nicht deckungsgleich, kommt es unvermeidlich zum Konflikt. Welche Konsequenzen es nach sich ziehen kann, wenn eine Gesellschaft sich werte-uneinig ist, ist aktuell besonders drastisch sichtbar an dem kulturell wie wirtschaftlich und auch religiös motivierten Krieg zwischen den USA und verbündeten Staaten in Europa mit der Terrororganisation Al Quaida. Ein weiteres Beispiel liefern auch andere radikalmuslimische oder politisch motivierte Terrororganisationen wie zum Beispiel die Hisbollah gegenüber dem Westen, die sich gegenseitig den Werteanspruch aberkennen und auf die absolute Realisation ihrer eigenen Werte pochen. Dabei berufen sich alle Seiten meist auf ihre jeweilige Religion, Islam wie Christentum, die ihnen die Werte vorgebe. Dies führt uns zu der Frage erstens nach der Trennbarkeit von Wertemustern nach religiös, moralisch und/oder politisch und damit zweitens auch nach der Herkunft oder Quelle von Werten. In Zeiten zunehmender Kirchenaustritte könnte man eine Entfremdung zwischen Werten der Religion beziehungsweise auch der kirchlichen Institution und dem Bürger vermuten – was aber eben nicht heißen muss, dass verminderte Kirchlichkeit gleichbedeutend ist mit Werteverfall insgesamt: Vielleicht mögen die Werte Luxemburger Jugendlicher jetzt andere sein als vor einigen Jahren. Inwiefern diese Werte mit Religion in Verbindung gebracht werden, wäre in einer empirischen Studie mittels einer entsprechenden Itemstruktur interessant zu veri- beziehungsweise falsifizieren. 2. 7. 2 Christlichkeit und Tugend – Eine kritische Hinterfragung der Begriffe Wenn wir im Zusammenhang mit Westeuropa von Religiosität sprechen, verstehen wir darunter implizit meist christliche Religiosität. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden diese Begriffe sowieso synonym verwendet.141 Wenn wir heute von Säkularisierung reden, geht es (meist immer noch) um die katholischen oder protestantischen Gotteshäuser, die leer stehen oder christliche Kirchenaustritte und überhaupt das Fehlen konkret christlicher Signaturen im Alltag. Auch wenn wir uns bis hierhin um die Objektivierung beziehungsweise um einen möglichst konfessionsunabhängigen Religiositätsbegriff bemüht haben, ist Religiosität in unserem Zusammenhang im zweiten Schritt als christlich gedacht. 141 Vgl. Schmälzle (1999/2000), S. 25. 65 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Mit Christlichkeit ist ein Verhaltenskodex auf Grundlage des Neuen Testaments gemeint. Dieser christliche Religiositätsbegriff hat eine mystisch-spirituelle Dimension, bei der es um die Gottesbeziehung geht. Sie macht sich fest im konkreten Handeln des Gläubigen, also beispielsweise in der Gebetspraxis, aber auch im Miteinander mit dem Nächsten (siehe die Darstellung zur spirituellen Du-Beziehung im vorangegangenen Teilkapitel). In dieser Spiritualität sind also bestimmte Werte dominant. Hierbei wird schnell klar, dass das Aufzählen von Werten wie etwa Peter Hahne es vornimmt, durchaus nicht eindeutig zuzuordnen ist. Denn Werte des Evangeliums wie Toleranz sind nicht allein klassisch religiös, sondern durchaus auch politisch zu verstehen. Wenn Anselm Grün in seinen Schriften über verschiedene Engel schreibt, mit denen er eigentlich unterschiedliche Tugenden wie etwa Demut oder Großzügigkeit meint,142 haben diese Tugenden sicherlich eine christlich-religiöse Verhaftung, jedoch hat Religion den Anspruch auf sie nicht allein. Im Zusammenhang mit Tugenden und Werten zählen wir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft sowohl auf private wie auch öffentliche Tugenden. Ralf Dahrendorf definiert die sogenannten „öffentlichen Tugenden“, wie etwa Kooperationsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Artikulationsfähigkeit. Solche Werte zielen „vor allem auf die reibungslose Bewältigung der Beziehungen zwischen Menschen“ wie etwa das Verhalten am Eßtisch, in der Schule, auf der Straße, bei der Arbeit, auf dem Sportplatz und in der politischen Diskussion.143 Öffentliche Tugenden sind meist auch Regeln und Werte des Sports, das kann Dahrendorf für die 1970er Jahre ebenso behaupten wie wir in der Aktualität. Nicht umsonst proklamierten alle teilnehmenden Mannschaften der FIFA-Weltmeisterschaft 2006 in den Halbfinalspielen vor den Spielanpfiffen öffentlich die Wichtigkeit von Fair Play. Dem entsprechen im privaten Sinne tugendhafte Formen des Verkehrs zwischen Menschen. Sie sind unmittelbar, durch allgemeine Regeln nicht gezügelt, weniger auf Reibungslosigkeit und Leichtigkeit als auf Ehrlichkeit und Tiefe bedacht.144 Beispiele hierfür wären etwa Wahrhaftigkeit oder Treue. 142 Siehe hierzu Grün (2001). Dahrendorf (1972), S. 74. 144 Vgl. Dahrendorf (1972), S. 76. 143 66 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Eine weitere, eigentlich wichtigere öffentliche Tugend ist das friedliche Miteinander mit seiner Umgebung, das Miteinander-auskommen. Dies aber klappt nur, wenn man das Verhältnis zu anderen nicht durch persönliche Untugenden wie Egoismus und Geltungssucht stört. Dies mag auf einer oberflächlichen Ebene funktionieren, etwa bei Menschen, die einem eigentlich unsympathisch sind, denen man aus öffentlichem Interesse mit einem Lächeln („keep smiling“) begegnet. Wendet man diese Art der Freundlichkeit auf privater Ebene an, gilt man schnell als unaufrichtig. Dabei ist Ehrlichkeit eine weithin anerkannte Zentraltugend. In vielen Assessment Centern zur Rekrutierung neuer, meist junger Angestellter suchen Personalleiter vielseitige (manchmal scheint’s: multiple…) Persönlichkeiten: Jugendliche sollen selbstständig, ehrgeizig und durchsetzungsstark sein, das heißt also: selbstorientiert, gleichzeitig aber formbar durch das neue Unternehmen sowie teamfähig. Wie kann das funktionieren?! Der Druck, dem sich Heranwachsende diesbezüglich ausgesetzt sehen, macht ihnen die Entwicklung zu einer stringenten charakterfesten Persönlichkeit nicht eben leichter. Es muss einerseits eine Trennung und anderseits ein Zusammenspiel der beiden Bereiche stattfinden – was angesichts heutiger Anforderungen gerade an Jugendliche oft sehr schwer zu bewerkstelligen ist. Es werden also zumindest bezüglich allgemein-gesellschaftlicher Tugenden Interessenkonflikte deutlich, die eine Entscheidung für einen eindeutigen Tugendkatalog insbesondere für junge Menschen erschweren. Geht es allein um christliche Tugenden, sollte die Orientierung schon leichter fallen, da sie sich gemeinhin am Wertekonsens der festgeschriebenen Religion orientiert, mit Nächstenliebe, der caritas145, als dem Kern der Evangeliumsbotschaft. Dass es sich jedoch lohnen würde, einen religionsunabhängigen Wertekonsens zu schaffen, soll das folgende Teilkapitel hervorbringen. 2. 7. 3 Über den Nutzen eines religionsunabhängigen Wertekonsens Die Identifizierung von Werten allein beinhaltet noch keinen Nutzen für eine empirische Studie über Religiosität bei Jugendlichen. Es wurde bereits eine Reihe von Wertestudien in Europa durchgeführt; was aber den eigentlichen Beitrag ausmacht, ist die Erkenntnis über die Werte bezüglich ihres ideologischen Bezugsrahmens und auch ihrer Verortung innerhalb eines weltweiten kulturellen Zusammenhangs. Nicht nur luxemburgische Jugendliche sehen 145 Vgl. hierzu die Enzyklika „Deus caritas est“ von Papst Benedikt XVI. aus dem Jahr 2006. 67 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen sich der pluralistischen Welt ausgesetzt, sondern in den Zeiten der Globalisierung betreffen moralisch-ethische Entscheidungen der Industrienationen auch die Entwicklungsländer und umgekehrt. Ökologische wie politische Fragen sind grenz-unabhängig gültig wie effektiv. Insofern schafft eine Werteidentifizierung und -zuordnung auf religiöser Grundlage ein gemeinsames gesellschaftliches Ethos, weil sie einen wenn nicht den humanen Faktor für eine lebenswerte Gesellschaft darstellt. In Zeiten der Globalisierung muss es den Menschen gelingen, sich religionsunabhängig auf eine Wertegrundlage zu einigen, so wie es beispielsweise auch Hans Küng in seinem Ruf nach einem Weltethos tut.146 Küng beschreibt die weltweite soziale Situation als vor einem Paradigmenwechsel stehend, der nicht notwendigerweise einen Wertezerfall, „wohl aber einen Wertewandel“147 mit einschließt: „von einer ethikfreien zu einer ethisch verantwortlichen Wissenschaft; von einer den Menschen beherrschenden Technokratie zu einer der Menschlichkeit des Menschen dienenden Technologie; von einer Industrie, die die Umwelt zerstört, zu einer Industrie, die die wahren Interessen und Bedürfnisse des Menschen im Einklang mit der Natur fördert; von einer formalrechtlichen Demokratie zu einer gelebten Demokratie, in der Freiheit und Gerechtigkeit versöhnt sind.“148 Hierbei geht es Küng nicht um die Schaffung einer „Gegenmoderne“ oder „Ultramoderne“, sondern um die Aufhebung der Moderne mit einem „Grundkonsens von integrierenden humanen Überzeugungen, auf den gerade die demokratische pluralistische Gesellschaft unbedingt angewiesen ist, wenn sie überleben will.“149 Der Umgang der Menschen miteinander soll geprägt sein von den Werten, die ein nachhaltiges soziales Zusammenleben gewährleisten. Auf diese Maxime der Mitmenschlichkeit müssen bestehende Werte überprüft werden. Der öffentliche Ruf seitens der Gesellschaft nach Werten gerät nämlich beispielsweise in einen Widerspruch, wenn die Gesellschaft gleichzeitig nicht ablässt von Individualisierungsprozessen, die das Ego des Einzelnen allem anderen voranstellen: Sozialdarwinismus, „Jeder ist sich selbst der Nächste“, „Geiz ist geil“-Mentalität, überzogene Bonizahlungen an mehr oder auch weniger erfolgreiche Bankmanager… die 146 Siehe hierzu etwa sein Werk „Projekt Weltethos“ (1990). Küng (1990), S. 41. 148 Küng (1990), S. 41. 147 68 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Moral wird sozusagen „privatisiert“150. Eine solche Subjektautonomie führt eine gemeinsame Ethik, einen Wertekonsens zwangsläufig in eine Krise, denn ohne die Akzeptanz einer Werte-Instanz oder eines Norm-Gebers kann keine Entwicklung gemeinsamer Werte geschweige denn Tugenden gelingen. Ähnliches beschreibt Pierre Schmidt, wenn er im Zusammenhang mit Jugendlichen von der „religion à la carte“ und einem „bricolage religieux“ spricht,151 oder auch Paul Zulehner, der zwischen privater und öffentlicher Religiosität unterscheidet und beklagt, dass die „moderne Kultur der privaten Religiosität zugesetzt“ habe.152 Zu den Religionskomponisten zählt Zulehner diejenigen, deren Religiosität weithin entkirchlicht und privatisiert ist, sie leben in einer „Religion nach Wahl“ – und diese macht einen Wertekonsens nahezu unmöglich. Sicherlich kommt eine individuelle Religion mit autonomem Werteschema nicht zuletzt deswegen zustande, weil auch die Jugendlichen sich immer wieder entscheiden können und müssen. In Luxemburg besteht mittlerweile ein alternatives Angebot zur früher ausschließlichen kirchlichen Offerte für alle möglichen Lebensbereiche. Als Beispiel diene etwa die Akzeptanz des Unterrichtsfaches „Moral“ als Ersatzfach zum klassischen RU an staatlichen Schulen, die zunehmende Nichtwahrnehmung der Sakramentenspendungen wie Taufe, Kommunion, Firmung, Ehe oder später auch die Toleranz und Emanzipation beim Zusammenleben „ohne Trauschein“. Unabhängig davon müssen wir uns fragen, ob solche Statistiken allein zur Beschreibung von Vorhandensein beziehungsweise Verschwinden oder Fehlen von Religiosität reichen. Die Suche junger Leute nach Gemeinschaft, nach Events, spiritueller Erfüllung, nach Sinnstiftung für das eigene Leben scheint zeitlos gültig, unabhängig von Kirche. Besteht vielleicht jedoch genau hier eine Verbindung beider Bereiche? Fest steht, dass ein freiheitlich-demokratisch verfasster Staat wie Luxemburg in einem Dilemma steckt, einerseits von seinem Selbstverständnis her weltanschaulich neutral zu sein, wie es die meisten Demokratien sind, das heißt: verschiedene Religionen, Konfessionen, Philosophien und Ideologien dulden zu müssen und seiner Verfassung gemäß alle Freiheiten, die zu den modernen Menschenrechten gehören, schützen. 149 Küng (1990), S. 44. Hahne (2005), S. 84. 151 Schmidt (2005), S. 9. 152 Zulehner (2005a), S. 93 sowie Zulehner (2005b), S. 100. 150 69 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Andererseits darf ein Staat, so formuliert es Küng, „gerade keinen Lebenssinn und Lebensstil dekretieren, er darf keine oberen Werte und letzte Normen rechtlich vorschreiben, wenn er seine weltanschauliche Neutralität nicht verletzen will“153. Insofern ist diese zunächst einmal in jedem Fall wünschenswerte Suche nach Werten kulturunspezifisch und deshalb auch universal gültig, da sie nicht der Religiosität des Menschen, sondern dem Menschen für sich und in der Gemeinschaft zu einem – auch im christlichen Sinne – lebenswertem Dasein verhilft. So bescheinigt auch Küng unserem modernen Staatswesen: „Was es rechtlich nicht vorschreiben darf, darauf ist es zugleich angewiesen. Gerade die plurale Gesellschaft, wenn in ihr die verschiedenen Weltanschauungen zusammenleben wollen, braucht einen grundlegenden Konsens, zu dem die verschiedenen Weltanschauungen beitragen, so daß sich zwar kein ‚strenger’ oder ‚totaler’, wohl aber ein ‚Overlapping Consensus’ (John Rawls) bilden kann.“154 Verbindend hierbei vermag die bereits in vorangegangenen Kapiteln dargestellte Sehnsucht des Menschen nach Begegnung und Orientierung sein. Menschen verspüren normalerweise ein unausrottbares Verlangen danach, sich auf etwas verlassen zu können, sich an etwas festzuhalten. Sie suchen eine ethische Grundorientierung. Sollte diese Grundorientierung auf einem Wertekanon fußen, ist dieser nicht notwendigerweise religiös gebunden, jedoch sollte er eingedenk seiner „planetarischen Verantwortung“155 sein. 2. 7. 4 „Im Geist der Brüderlichkeit leben…“ – Über das Verhältnis von Religiosität und Moralität, ihre sittliche Autonomie und die Notwendigkeit einer Verbindung auf der Grundlage des Ansatzes von Hans Küng „Es ist nicht zu bestreiten: Durch alle Jahrtausende hindurch waren die Religionen jene Orientierungssysteme, welche die Grundlage für eine bestimmte Moral bildeten, sie legitimierten, motivierten und oft auch mit Strafen sanktionierten. Aber – muß das 153 Küng (1990), S. 48 f. Küng (1990), S. 49. Küng zitiert mit dem Begriff des „Overlapping Consensus“ John Rawls Theorie der Gerechtigkeit, siehe hierzu Rawls (1971), S. 387 f. 155 Küng (1990), S. 51. 154 70 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen auch heute noch, in unserer weitgehend säkularisierten Welt, so sein?“ Hans Küng156 Als Antwort muss man Küng sagen – und er gibt sie sich auch selbst: Religiosität ist nicht mit Moralität gleichzusetzen. Um es einmal plakativ auszudrücken: Es kann jemand ein Gauner sein und dennoch religiös, Maria Magdalena etwa.157 In umgekehrter Richtung ist dann aber auch dem Pariser Soziologen Alfred Grosser beizupflichten, der für die Anerkennung bestimmter ethischer Werte wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit für Politik und Soziologie streitet, bei gleichzeitiger ausdrücklicher Ablehnung eines religiösen Bekenntnisses.158 Küng nennt hierfür unbestreitbare Belege, wie etwa, dass es in der Geschichte nicht selten religiös Nichtgläubige waren, die einen neuen Sinn für Menschenwürde vorgelebt und sich für Menschenrechte eingesetzt haben oder auch, von philosophischem Standpunkt her, dass dem Menschen „als Vernunftwesen eine wirkliche menschliche Autonomie zukommt, die ihn auch ohne Gottesglauben ein Grundvertrauen in die Wirklichkeit realisieren und seine Verantwortung in der Welt wahrnehmen läßt“159. Es wird von vielen säkularen Menschen eine Moral vorgelebt, die sich an der Würde eines jeden Menschen und nach dem kategorischen Imperativ im Sinne Kants ausrichtet, wie es sich die christliche Maxime der Nächstenliebe wünscht, ohne sich ihrer bewusst zu sein. Eben dieses Verhalten, wie es auch in Artikel 1 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen steht: „Alle Menschen werden frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen sich zueinander im Geist der Brüderlichkeit verhalten“.160 Es ist genau dieser von den Vertretern der Vereinten Nationen gewünschte und geforderte Geist der Brüderlichkeit, der den moralischen vom unmoralischen Menschen unterscheidet; und es ist ebenso dieser Geist der Brüderlichkeit, der den fanatischen Gläubigen um Lichtjahre ferner ist als dem gütigen Atheisten. Hierbei kommen wir wieder 156 Küng (1990), S. 58. So konstatiert Küng: „Ihre moralische Funktion haben die Religionen (…) recht und schlecht wahrgenommen. (…) Positives und Negatives ließe sich freilich wie vom Christentum so auch vom Judentum und vom Islam, vom Hinduismus und Buddhismus, vom chinesischen Konfuzianismus und Taoismus berichten. In jeder großen Weltreligion findet sich neben einer (den Anhängern meist besser bekannten) mehr oder weniger triumphalen Erfolgsgeschichte auch eine (von ihnen verschwiegene) Chronique scandaleuse.“ Ders. (1990), S. 58. 158 Siehe hierzu Grosser (1969). 159 Küng (1990), S. 59. 160 S. Bibliographie. 157 71 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen auf den Kern der Werte, die wir auch im Evangelium wie im Kern bei der Suche nach der Begegnung mit dem im Menschen immanenten Religiösen finden: dem Geist und der Brüderlichkeit beziehungsweise Geschwisterlichkeit. Wir begegnen Gott im Du; wir erfahren ihn in der Liebe des Mitmenschen, wir sind – um es als Schlagwort zu formulieren – „Brüder im Geiste“, und dies religionsunabhängig. Dass wir aber diese Sehnsüchte des Menschen nach Solidarität und Freiheit in der religiösen Heilsverkündung finden, ist eben kein Zufall, sondern Wesen von Religion und Wesenhaftigkeit von Religiosität. 2. 7. 5 Die Abhängigkeit von Religiosität und tatsächlichem Verhalten auf der Grundlage des Ansatzes von Kohlberg Die beschriebene Emanzipation der Moral von Religiosität sei an einem weiteren Aspekt untersucht. Tagtäglich begegnen wir Entscheidungssituationen, die unser Gewissen betreffen. Die Alltäglichen unter ihnen sind meist einfach, zumindest bezüglich ihres moralischen Handlungsspielraums: Bei einer Nachfrage bezüglich einer Verspätung etwa w e i ß zumindest jeder, dass man eigentlich die Wahrheit sagen sollte – auch wenn der ein oder andere vielleicht eine Ausrede erfinden mag. Ein anderes Beispiel wäre eine Einladung zu einem Essen bei Bekannten, die kurze Zeit später „überboten“ wird von der Möglichkeit einer besseren Unterhaltung am selben Abend, die eigentlich weniger bindend ist, außer wenn man an sein eigenes Vergnügen denkt. Selbst wenn man sich entscheiden sollte, den Bekannten abzusagen, wäre den meisten unter uns bewusst, sich moralisch nicht korrekt zu verhalten. Komplizierter werden solche Entscheidungen in sogenannten Dilemmasituationen, in denen weder das Verhalten noch dessen Begründung eindeutig festzulegen sind. Laurence Kohlberg ist der Überzeugung, dass die Werteentwicklung und die Werteinhalte selbst universell sind, das heißt für alle Gesellschaften und Kulturen gleich.161 Kohlberg 161 Jede Kultur und Subkultur der Welt beruht auf denselben moralischen Grundwerten und der gleichen schrittweisen Entwicklung moralischer Reife. Kohlberg / Turiel (1978), S. 37, zitiert nach Schmälzle (1999/2000), S. 72. 72 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen konzipiert ein ontogenetisches Stufenmodell für die menschliche Entwicklung, das sechs zwingend aufeinanderfolgenden Stufen enthält, bei denen kein Rückschritt möglich ist.162 Das Modell sei hier in Knappheit dargestellt: Niveau A: Präkonventionelle Ebene Stufe 1 (heteronome Stufe) Stufe 2 (Stufe des Individualismus, des Zweck-Mittel-Denkens und des Austauschs) Moralische Entscheidungen werden mit drohender Strafen, mächtigen Autoritäten oder eigenen Interessen begründet. Handlungen sind an eigenen Bedürfnissen orientiert. Ansätze von Gegenseitigkeit; moralische Entscheidungen sind keine Frage von Gerechtigkeit oder Dankbarkeit. Niveau B: konventionelle Ebene Stufe 3 (Stufe gegenseitiger interpersoneller Erwartungen, Beziehungen und interpersoneller Konformität) Richtig ist, was anderen gefällt oder hilft. Die gute Absicht wird zum ersten Mal wichtig. Stufe 4 (Stufe des sozialen Systems und des verlorenen Gewissens) Motiv ist nicht mehr nur der Erhalt der sozialen Ordnung in der unmittelbar umgebenden Gruppe, sondern auch übergreifende Systeme. Niveau C: Postkonventionelle Ebene Stufe 5 (Stufe des Sozialvertragens oder des Nutzens für alle und der Rechte des Individuums) Das Verhältnis zur Gesellschaft wird als Sozialvertrag gesehen, Relativität persönlicher Meinungen und Wertungen wird gesehen. Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Stufe 6 (Stufe universaler ethischer Prinzipien) Recht wird definiert durch eine bewusste Entscheidung in Übereinstimmung mit selbst gewählten, logisch widerspruchsfreien und umfassenden ethischen Prinzipien wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Die Stufen stehen in einer direkten Beziehung zu Piagets Modell von der Entwicklung des logischen Denkens: Hierzu stellt Schmälzle fest: „Moralische Entwicklung ist damit ein in der Natur des Menschen angelegtes Potential, das in der individuellen Entwicklung auszuschöpfen ist. Die Entwicklung des formallogischen Denkens, mit der sich Piaget 162 Als wichtige Quellen für die folgende Darstellung des Kohlberg-Modells dienen zum einen Kohlberg (1974) sowie www.deutsch-geschichte-unterricht.de/didaktik/moralerziehung.html. 73 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen beschäftigt hat, korreliert mit der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit und nach Oser und Gmünder auch mit der religiösen Entwicklung.“163 Die Theorien eröffnen somit eine Grundlage für den Erwartungshorizont bezüglich der Antworten von Jugendlichen zur Religiosität. Nach den Erkenntnissen Piagets, Kohlbergs, und Osers und Gmünders liegt es m. E. nahe, das Altersfenster der Jugendlichen relativ hoch anzusetzen, das heißt bei zwischen 17 – 19 Jahren, da zu diesem Zeitpunkt die verlässlichsten beziehungsweise aussagekräftigsten, da reiferen Aussagen bezüglich der eigenen Religiosität erwartet werden können. Kohlberg ermittelt die einzelnen Vorstellungen von Moral anhand von Konfliktgeschichten, in denen etwa eine Springflut droht, und jemand einen Deich vor einem Krankenhaus bewachen soll. Zwei Kilometer weiter befindet sich die eigene Frau mit zwei Kindern, wo der Deich gleich brechen wird. Soll der Deichwächter bleiben oder weglaufen und seine Familie retten? Wichtig bei der Entscheidung ist weniger das tatsächliche Handeln (in diesem Falle „Gehen oder Bleiben“), sondern das Argumentationsmuster, das das Handeln untermauert. Sowohl für das Weiterbewachen als auch das Verlassen des Deiches zugunsten der Familie des Deichwächters gibt es moralisch hoch- und niedrigstehende Beweggründe. So könnte der Deichwächter sein Bleiben am Deich auf der moralisch niedrigsten Stufe 1 entschuldigen, welche moralische Entscheidungen mit drohenden Strafen, mächtigen Autoritäten oder eigenen Interessen begründet: ‚Ich bleibe, da ich sonst Ärger mit den Behörden bekomme!“ Die meisten Erwachsenen und viele ältere Jugendliche würden dies wohl verurteilen. Anders sähe aber die Wertung des identischen Verhaltens aus, wenn der Deichwächter zur Begründung erklären würde, dass er bleibt, da er nicht die Sicherheit weniger über die Sicherheit vieler stellen möchte – dieses Argument bewegt sich auf Stufe 6, bei der das Recht definiert wird durch eine bewusste Entscheidung in Übereinstimmung mit selbst gewählten, logisch widerspruchsfreien und umfassenden ethischen Prinzipien wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Noch komplizierter wird die Moral, weil sie genau das umgekehrte Verhalten, nämlich das Gehen des Deichwärter ebenso „wertvoll“ oder auch wertlos, je nach Argumentationsstufe, 163 Schmälzle (1999/2000), S. 72. 74 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen einstufen kann, etwa wenn der Deichwächter anführt, er verlasse die Wache des Krankenhauses, weil er die Menschenrechte des Individuums, in dem Fall seiner Frau und Kinder, nicht brechen will und dies vor seinem Gewissen nicht verantworten kann (Stufe 5). Auch wenn die Dilemmasituationen von Kohlberg konstruiert sind, veranschaulichen sie dennoch eindrücklich die Variabilität der Moral, von der wir doch eigentlich überzeugt sind, sie beurteilen zu können – jeder hat seine eigene Meinung, was als moralisch zu gelten hat oder nicht. Auf dieser Grundlage funktionieren auch Gesetze und werden Menschen, nicht nur Richter, sondern auch Laien, etwa im Schöffen- oder Geschworenengericht, zur Beurteilung von Recht oder Unrecht herangezogen. Kann daher Moral überhaupt im Sinne von Religiosität agieren? Die Antwort lautet klar: Nein. Religiosität, wenn sie konfessionell vermittelt wird, gibt einen verbindlichen Wertekodex vor (siehe die oben angegebenen Werte des Gebotes der Nächstenliebe). Sobald wir jedoch den erweiterten Religiositätsbegriff ernst nehmen, können wir ihn immer weniger binden an das eine wie andere moralische Muster, sondern müssen uns orientieren an dem, was jedem Menschen mitgegeben ist: Vernunft plus die eigene Biografie aus Erfahrung und Erziehung. Immerhin bewegen sich laut Statistik achtundzwanzig Prozent der 16-jährigen bezüglich ihrer moralischen Urteilsfähigkeit auf Stufe fünf, ca. acht Prozent auf Stufe sechs.164 Hinsichtlich eines schulischen RUs gilt es daher einmal mehr, Moral weniger per se als Autorität seitens der Religion zu verstehen, sondern immer mit dem Schüler zu verorten. Die Tatsache, dass mit dem Ansatz von Kohlberg ein und dasselbe Verhalten lediglich aufgrund seiner moralischen Begründung als verurteilenswert oder aber als beispielhaft beurteilt werden kann, kann ein Gefühl von Unbehagen hervorrufen, scheint es doch Tür und Tor zu öffnen für Entscheidungswillkür, die akzeptiert wird, solange die Rechtfertigung stimmt. Zudem ist zu sagen, dass die Fähigkeit, auf einem hohen Niveau moralisch argumentieren zu können, nicht automatisch bedeutet, dass auch so gehandelt wird! Reifes moralisches Urteilen ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für reifes moralisches Handeln.165 164 165 Quelle: www.deutsch-geschichte-unterricht.de/didaktik/moralerziehung.html. Immerhin weist die Statistik nach, dass Urteilen und Handeln umso enger verknüpft sind, je höher die Stufe des moralischen Urteilsvermögens ist. So zeigte ein moralpsychologischer Test, in dem den Teilnehmern vermeintlich unbemerkt die Gelegenheit zum Betrug gegeben 75 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Zu problematisieren bei Kohlbergs Ansatz ist zudem die Theorie der Linearität des Entwicklungsverlaufs. Studien von Nunner-Winkler haben Gegenteiliges bewiesen, nämlich, dass sich Kinder auf einer ersten Stufe ein kognitives Wissen um die Regelgeltungen aneignen und in einem zweiten Schritt erst eine moralische Motivation entfalten.166 Die Regelkenntnis jedoch – so ist es festzustellen – zieht auch bei älteren Kindern nicht unbedingt die Befolgung des Erkannten nach sich. Es ist also durchaus möglich, dass Kinder auf eine frühere moralische Stufe zurückfallen!167 Ein weiteres ungelöstes Problem tritt bei Moralpädagogen wie Kohlberg oder auch Dahrendorf, die religiöses Bewusstsein als „falsches Bewusstsein“ ablehnten,168 auf, nämlich wie sich „in der Erziehung Werte wie Wahrhaftigkeit, Treue und Solidarität ohne ein religiöses Fundament absichern lassen.“169 Deutlich wird mit diesem Modell immerhin die Unabhängigkeit zwischen (messbarer) Religiosität und moralischem Verhalten. Diese Angaben variieren mit kulturellem Hintergrund und auch dem Bereich, aus dem das Dilemma stammt. Interessant ist in diesem Kontext auch, dass falls eine harte Bestrafung für moralisch reifes Handeln sehr hoch ist (etwa eine Konkurrenzsituation in einer Firma), vorkonventionelle Handlungsweisen eventuell erzwungen werden. Auch dies macht deutlich, dass gutes, richtiges Handeln im christlichen Sinne nicht nur alters- sondern auch kontextund kulturabhängig ist. Mag für Christen also der Maßstab ihres Handlungsspielraums das Evangelium sein, ist dies in einem konfessionsunabhängigen Religiositätsbegriff anders zu sehen: Jugendliche, die sich nicht explizit als Christen bekennen, befinden sich, abgesehen von der Zuordnung durch ihre Entwicklungsstufe, auf einer Gratwanderung zwischen den moralischen Welten, in denen sie aufwachsen. Sie werden getragen von der jeweiligen familiären und gesamtedukativen Situation sowie ihrem sozialkulturellen Kontext. Als Konsequenz bezüglich einer empirischen Studie über Religiosität bleibt alsdann festzuhalten, dass Fragen, die die moralische Beurteilung oder Einschätzung einer Situation betreffen, als problematisch gelten müssen. Religiosität kann sich als völlig unabhängig von wird, dass siebzig Prozent der präkonventionell eingestuften Teilnehmer, jedoch nur fünfzehn Prozent der postkonventionellen betrogen. 166 Nunner-Winkler (1992). 167 Vgl. Nunner-Winkler (1992), S. 258 f. 168 Schmälzle (1995), S. 372. 169 Schmälzle (1995), S. 372. 76 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Einstellung zu religiösen Fragen darstellen, wenn man aber religiös am Nächsten handelt (Diakonie). Es gibt schließlich doch eine religionslose Gläubigkeit, die nicht festzumachen ist an bestimmten Gefühlen oder Praktiken oder Gotteserfahrungen, sondern die sich speist am Dienst am Nächsten. 2. 8 Zusammenfassung Wenn in der vorliegenden Arbeit von Religiosität die Rede ist, stellen wir erstens fest, dass die Unübersichtlichkeit bezüglich der Definition von Religiosität öffentlich groß ist und im Zusammenhang mit einer Bewertung religiöser Bedürfnisse von Jugendlichen, etwa durch eine Studie, genau zu erklären ist. Zweitens stellt sich heraus, dass der Begriff sich von seiner meist unterstellten Nähe oder gar Deckungsgleichheit zur Kirchlichkeit und Christlichkeit in der Öffentlichkeit gelöst hat. Wir müssen heute ausgehen von einem Religiositätsbegriff jenseits der klassischen Kategorien und Annahmen. Wenn wir aber Religiosität als Bereicherung der Wahrnehmungskategorie der Welt in Bezug zu Gott benennen wollen, müssen wir uns bezüglich einer Wahrnehmung jugendlicher Religiosität über folgende Dinge klar werden: 1. Religiosität muss im Huberschen Sinne betrachtet werden als subjektiv. 2. Religiosität mit Huber verstanden muss außerdem in ihrer Komplexität als Konstruktsystem verstanden werden. 3. Religiosität wird dem Menschen allenfalls konfessionsungebunden unterstellt, dann jedoch 4. als anthropologische Konstante in dem Sinne, dass sie die Suche des Menschen nach dem Absoluten befriedigt. 5. Religiosität kann neben ihrer sich im Menschen autonomen Entwicklung von außen explizit gefördert sein (Elternhaus, Schule, Peer-Gruppe, Medien, kirchliche und pastorale Angebote). 6. Religiosität ist unabhängig von moralischer Urteilsfähigkeit sowie moralischem Handeln. Ausschlaggebend hierfür ist das individuelle Bekenntnis, das hinter jeder Religiosität steckt („Religiosität im Geiste der Geschwisterlichkeit“) mit dem Ziel eines werteidentischen Ethos. 7. Beim Verständnis von Religiosität im christlichen Kontext wie etwa auch bei Huber fehlt die Anerkennung einer Handlungsweise, die aus der religiösen Motivation kommt und sich 77 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen in der Diakonie festmachen lässt. Die klassischen Indikatoren wie Gebet und Gottesdienstbesuch reichen hier also nicht. Abgeschlossen sei die in diesem Kapitel versuchte Definition von Religiosität und Spiritualität mit einem einschränkenden Gedanken von Ziebertz, Kalbheim und Riegel, dass es sich bei Religiosität um einen Aspekt der sozialen Wirklichkeit handelt, deren Teil wir doch selber sind. So relativieren sie: „Wir reflektieren etwas, was wir kontinuierlich selbst hervorbringen.“ Falls man also eine Studie zur Religiosität durchzuführen plant, kann es zu der „merkwürdigen Situation (kommen, dass) die Untersuchung selbst zur Klärung dessen beiträgt, was unter ‚Religiosität’ verstanden werden kann. Das Diskursuniversum ist in Bewegung (…).“170 Dem sei nichts hinzuzufügen. 170 Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 19. 78 betreffende Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 3 Religiosität und gesellschaftliche Wirklichkeit in Luxemburg – Gegenüber oder Miteinander? 3. 1 Glaube, Religion, Gesellschaft 3. 1. 1 Die Rolle des katholischen Glaubens und der Religion in der Gesellschaft „Die kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung.“ Johann Baptist Metz, Fundamentaltheologe Trotz aller wissenschaftlicher Aufklärung ist uns die Religion dennoch geblieben. In Luxemburg sind ihre christlichen Wurzeln immer noch im Alltag sichtbar: Es werden Kinder getauft, zur Kommunion angemeldet und gefirmt, es wird kirchlich geheiratet –die Sakramente werden in Anspruch genommen, auch wenn sicher nicht jeder hinter der katholischen Kirche steht oder entsprechend das glaubt, was im Gottesdienst postuliert wird. Auch wenn die 2006 von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegebene Sinus-Studie gezeigt hat, dass die katholische Kirche nur noch in drei von zehn Milieus fest verankert ist – nämlich hauptsächlich bei der bürgerlichen Mitte (16%), bei den Traditionsverwurzelten (14%) sowie den Konservativen (5%) - 171 und die Amtskirche dort wir hier an Mitgliedern verliert, hat sie doch ihren angestammten Platz innerhalb der Gesellschaft nie wirklich verlassen, allerdings doch deutlich verkleinert. Die sogenannten Sinus-Milieus fassen Menschen mit einer ähnlichen Lebensweise und – auffassung zusammen. Bezüglich der Jugendlichen sind dies, wie die „SinusMilieustudie U27“172 2008 zeigen konnte, neben dem Minderheitsmilieu der Traditionsverwurzelten hauptsächlich „Bürgerliche“ und „Postmaterielle“.173 Die „traditionellen Jugendlichen“ sind mit der Mehrheitsgesellschaft grundsätzlich einverstanden und haben eine hohe beziehungsweise mittlere Bildung, die „bürgerlichen“ möchten überwiegend einerseits an gesellschaftlichen Trends teilhaben und neue Freiheiten genießen, andererseits aber ein „normales Leben“ führen, die Gruppe der „postmateriellen“ setzt der 171 172 Quelle: Weber (2006), S. 71. Wippermann / Calmbach (2008). 79 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen realen Welt einen idealen Weltentwurf gegenüber, will vorgesetzte Positionen und Regeln aufbrechen, aber auch sich selbst zu neuen Denkformen und Geisteshaltungen aufmachen.174 Ein Vergleich dieser drei Milieus macht klar, dass sie völlig unterschiedliche Vorstellungen von und Ansprüche an Kirche haben: „Während traditionelle Jugendliche die Kirche als Hüterin religiöser und moralischer Wahrheit begreifen und in Jugendarbeit und Gottesdienst ein starkes Gefühl von Zusammengehörigkeit suchen und finden, akzeptieren die ‚Postmateriellen’ die Kirche höchstens als Bündnispartnerin für bestimmte Werte und Projekte, empfinden sie meist als zu autoritär, konservativ und rückständig“.175 Nichtsdestoweniger beansprucht die katholische Kirche in Luxemburg einen fundamentalen Platz im religiösen Leben des Großherzogtums; die große Mehrheit der Gläubigen (geschätzte 88 Prozent) gehört dem katholischen Glauben an. Geführt und geleitet vom Erzbischof Fernand Franck teilt sich das Großherzogtum in fünf Pastoralregionen, vierzehn Dekanate und 274 Pfarren.176 Die Angaben, wie viele Katholiken tatsächlich im Großherzogtum leben, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die letzte offizielle Statistik bezüglich der religiösen Zusammensetzung des Großherzogtums bezieht sich auf eine Erhebung von 1970. Damals verteilten sich die zahlen wie folgt:177 Katholiken: 96,9% Protestanten: 1,2% Juden: 0,2% Andere: 1,7% Seitdem zählen per Datenschutzgesetz die Angaben über die religiösen oder philosophischen Überzeugungen einer Person zu den sensiblen Datenarten, die grundsätzlich nicht (mehr) erhoben werden dürfen, und infolgedessen liegen keinerlei offiziell bestätigte Angaben über die Zahl der Anhänger der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften vor. Dennoch ist man sich einig, dass der Katholizismus der 173 Quelle: Neumann (2009), 127-128. Neumann (2009), 127. 175 Neumann (2009), S. 128. 176 Referenz: Administration diocésaine b.p. 419, L-2014 Luxembourg (www.luxembourg.public.lu) beziehungsweise das Annuaire des Erzbistums 2006. 174 80 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen entscheidende Faktor unter den Religionen im Großherzogtum ist. Eine stichprobenartige Untersuchung des ILReS von 1996 ergab, 88% der Bevölkerung seien Katholiken, daneben 9% ohne Religion, 1% Protestanten, 1% andere und 1% ohne Angabe, 178 Laut Statistik des Auswärtigen Amtes seien 98 % der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft Katholiken, daneben gibt es noch Protestanten, Juden (etwa 1000 Gemeindemitglieder) und Muslime, wobei der Islam mit etwa 2% (laut eigenen Angaben) die zweitgrößte Religion Luxemburgs darstellt.179 1988 wurde das Bistum Luxemburg von Papst Johannes Paul II. zum Erzbistum erhoben. Das Verhältnis der Gemeinschaften zum Staat ist durch sogenannte Konventionen, konsensuale Vereinbarungen zwischen Religionsgemeinschaft und Staat, geregelt. 1982 hat der Staat eine Konvention mit der Protestantisch-Reformierten Kirche geschlossen. 1997 folgten die Verträge mit dem Erzbistum, der Protestantischen Kirche von Luxemburg, der griechisch-orthodoxen Kirche und der jüdischen Kultusgemeinde die Vereinbarung mit den religiösen Bekenntnissen ist nach Veröffentlichung im Luxemburger Gesetzblatt (Memorial) am 20. August 1998 in Kraft getreten. Die muslimische Seite bemüht sich bis heute, eine solche Konvention zustande zu bekommen. Die katholische Kirche ist im öffentlichen Leben Luxemburgs äußerst präsent: Die Erzdiözese zählt eine Vielzahl an katholischen Vereinigungen und Verbände, das Angebot religiöser Veranstaltungen ist groß. Außerdem unterhalten die großherzogliche Familie, die Armee, die Polizei, der Zivilschutz und viele andere öffentliche Einrichtungen eine Seelsorge (Aumônerie). Trotz des zitierten zuweilen kritischen Verhältnisses zwischen Bürgern und Institution Kirche sahen und sehen sich Luxemburgs kirchliche Organisationen immer noch in der Pflicht und formulieren ihre Aufgaben: „Wie die Weltkirche, so unterhält auch Luxemburg eine besondere Sorge gegenüber der heranwachsenden Generation. Seit langer Zeit war die Kirche nahezu die einzige Institution, die sich breit gefächert den Heranwachsenden widmete.“180 Zu nennen sind hier neben dem schulischen RU die Jugendarbeit der kirchlichen Verbände, der Dekanate, Regionen und Gemeinden, die Katechese in den Pfarreien, die Ministrantenbegleitung oder auch die 177 Angaben siehe www.luxembourg.public.lu. Siehe hierzu www.luxembourg.public.lu/fr/vivre/population/religion. 179 Angaben siehe www.islam.lu, Stand: August 2010. 180 Gindt (1991), S. 11f. 178 81 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Angebote von Klöstern. Mit einer genauen Aufschlüsselung des pastoralen Lebens in Luxemburg beschäftigt sich der zweite Teil des vorliegenden Kapitels. Spannend ist die Tatsache, dass in Luxemburg der Anteil der Ausländer mit 43,7% der höchste innerhalb der EU ist,181 davon u. a. 80.000 Portugiesen, 28.500 Franzosen, 19.400 Italiener, 16.700 Belgier und 12.000 Deutsche. Eine Reihe interessanter Daten liefert das Ergebnis der großen luxemburgischen Wertestudie aus dem Jahr 2002, die sich die Aufgabe stellte, intensiv die Wertemuster der Luxemburger Bevölkerung zu analysieren. Auch Religion stellte einen wichtigen Aspekt dar und wurde u. a. in eine Wertehierarchie eingeordnet:182 Das Ranking zeigt, was für eine untergeordnete Rolle Religion im Vergleich zu anderen Werten wie Familie, Gesundheit und Arbeit, aber auch Lebensqualität oder materieller Sicherheit zu spielen scheint: Lediglich 2,4 Prozent der Befragten äußerten spontan Religion als wichtigsten oder zweitwichtigsten Wert.183 181 Angaben siehe www.auswaertiges-amt.de, Stand: Oktober 2009. Legrand (2002), S. 59. 183 Legrand (2002), S. 59. 182 82 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Bedeutet dieses Ergebnis eine Marginalisierung der Religion im Leben der Luxemburger oder sind mit Religion eher die „religiösen Pflichten“ wie Kirchgang und Empfang der Sakramente gemeint? Spannend ist die Tatsache, dass die Werte „Frieden“ und „Liebe“ deutlich häufiger als Religion genannt werden, jedoch eine nicht bestreitbare Affinität zur Religiosität besitzen, wenn auch der Gottesglaube nicht impliziert ist. Immerhin wurde Religion als Wert ausgewählt, um ihre Wichtigkeit gegenüber anderen gesellschaftlichen Werten im Detail einordnen zu können, mit folgendem Ergebnis:184 Immerhin 29% halten Religion für „ziemlich wichtig“, aber ebenso viele denken dies auch über Politik, wobei diese beiden Bereiche hinter Gesundheit, Familie und Arbeit weiterhin abgeschlagen zurückliegen. Im Vergleich mit Frankreich, Belgien und Deutschland nimmt das Großherzogtum bei der Frage nach der Wichtigkeit von Religion immer noch den zweiten Platz hinter Belgien ein.185 Prozentual halten sogar doppelt so viele Luxemburger wie Deutsche Religion für „sehr wichtig“. Allerdings ist hier in unserem Zusammenhang die Feststellung bedeutsam, dass von denen, die Religion für sehr wichtig halten, die geringste Ziffer auf die unter 25-Jährigen fällt, nämlich 8% im Vergleich zu 27% bei den über 60-Jährigen.186 Das Interesse an Religion scheint also mit dem Alter abzunehmen oder möglicherweise bei der jüngeren Generation gar nicht erst herausgebildet zu sein. Nicht erst zu Beginn des neuen Jahrtausends, sondern bereits Anfang der 1990er Jahre wurde das Verhältnis Jugendlicher in Luxemburg gegenüber der Kirche als kritisch gesehen: So konstatiert der Luxemburger Lehrer Jean-Louis Gindt „Christsein und Kirche sind auch in Luxemburg nicht mehr die ausschlaggebenden Grundpfeiler unserer Gesellschaft, (…) und das religiöse Bewußtsein hat sich losgelöst von der katholisch-christlichen Interpretation der Religiosität und seiner typischen Gottesbeziehung“.187 184 Legrand (2002), S. 60. Die dazugehörige Tabelle findet sich im Anhang. Legrand (2002), S. 61. Die dazugehörige Tabelle findet sich im Anhang. 186 Legrand (2002), S. 77. 185 83 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Das Selbstbild der Luxemburger in Bezug auf ihre Religiosität ist ebenfalls aufschlussreich:188 58% der Bevölkerung beschreiben sich selbst als religiös, 27% als nichtreligiös (was bedeutet das eigentlich?) und 7% als überzeugte Atheisten - immerhin nur halb so viele wie in Frankreich. Im Vergleich mit direkten Nachbarn liegt Luxemburg damit im oberen Bereich des Religiositätsempfindens,189 gesamteuropäisch im Mittelfeld.190 Betrachtet man diesen Ausschnitt der Studie, stellt sich aber immer noch die Frage, welche Basis Luxemburg zur Herausbildung von Religiosität bietet. Die Analyse liefert zwar ein beachtenswertes Zahlenmaterial, wie hoch die Luxemburger den Wert Religion ansiedeln. Dies gibt uns nicht wirklich eine Auskunft darüber, wie es um das religiöse Gesamtklima in Luxemburg bestellt ist. Zudem ist mit Beachtung des hohen Anteils an Ausländern, die in Luxemburg leben, klar geworden, dass es sich hier um einen Standort handelt, der in Wertefragen komplexer ist als anderswo. Um diese Frage soll es im vorliegenden vierten Kapitel gehen. Analysiert werden sollen die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche im Großherzogtum aufwachsen und die Möglichkeit erhalten, sich religiös zu entwickeln beziehungsweise Religiosität vorgelebt zu bekommen und auch selbst zu praktizieren. Die Gegenstände, auf die hier der Fokus gerichtet ist, orientieren sich an den Leitsätzen, die in den vorangegangenen Kapiteln aufgestellt wurden. Das bedeutet: Nicht nur das Angebot von kirchlicher und institutioneller Seite in Luxemburg wird betrachtet, sondern auch das sozialgesellschaftliche Klima zur Herausbildung bestimmter Werte insgesamt. Dazu gehören unter anderem der augenfällige Wohlstand sowie auch Daten Familienstrukturen und auch zum Umgang mit den Schwächeren in der Gesellschaft. 187 Gindt (1991), S. 11. Legrand (2002), S. 551. Die dazugehörige Tabelle findet sich im Anhang. 189 Vgl. hierzu die Figur 9 in Legrand (2002), S. 552, bei der Luxemburgs Angaben, religiös zu sein, mit 59% hinter Belgien (62%), jedoch vor Deutschland (58%) und Frankreich (44%) liegt. Die dazugehörige Tabelle findet sich im Anhang. 188 84 zu Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 3. 1. 2 „Geld regiert die Welt“ – Materialismus als wertprägender Faktor „Das Geld ist der Gott unserer Zeit.“ Heinrich Heine Betrachtet man das ökonomische Umfeld Luxemburger Jugendlicher, kann auch in Zeiten der internationalen Finanzkrise und den 2010 von der Luxemburger Regierung beschlossenen Einsparungen im Sozialsystem beziehungsweise trotz der Steuererhöhungen im Allgemeinen immer noch getrost von einer vergleichsweise rosigen Situation sprechen. Die Jungen und Mädchen wachsen in einer Welt auf, in der sie sich zumindest aus finanzieller Sicht keine existenziellen Sorgen machen müssen beziehungsweise dies vonseiten ihrer Eltern nicht kennen. Die Kaufkraft ist eine der höchsten weltweit, auf der Liste der Länder nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stand Luxemburg 2009 auf Platz 1, mit 104, 512 US-Dollar. Auch wenn dies innerhalb der Landeswährung ein Minus von immerhin 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutete, weist eine kaufkraftbereinigte Tabelle Luxemburg immer noch direkt hinter Katar aus.191 Im Jahr 2006 lag das Großherzogtum im internationalen Wohlstandsranking auf Platz eins. Somit sind die Luxemburger die wohlhabendsten Verbraucher der Welt - 192 und dies prägt ohne Zweifel die Gemeinschaft in all ihren Denkrichtungen, zumal die Kluft zwischen den europäischen Staaten im geeinigten Europa größer statt kleiner wird: So verkündete der Handelsverband bereits im April 2004, dass damals Bruttosozialprodukt und Kaufkraft in den einzelnen Regionen der EU sehr weit auseinander lagen. Wie aus einer von Eurostat, dem statistischen Amt der EU veröffentlichten Studie hervorgeht, erreicht das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in der reichsten Region Europas, Inner London, mehr als 61.000 Euro, während es im Gebiet Ditiki Ellada (Westgriechenland) das die Tabelle der Regionen mit dem niedrigsten BIP anführt, nur knapp über 12.000 Euro beträgt. Auf die Kaufkraft bezogen bedeutet dies, dass Westgriechenland nur knapp mehr die Hälfte des europäischen Durchschnitts erreicht, während der Kaufkraftstandard (KKS) 190 Polen hat hier mit 95% der Befragten, die angeben, religiös zu sein, die Nase vorn; zu den Schlusslichtern gehören Schweden und Weißrussland. Legrand (2002), S. 553. Die dazugehörige Tabelle findet sich im Anhang. 191 Vgl. die Angaben des IWF im April 2010 für das Jahr 2009. 85 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen der britischen Metropole den EU-Mittelwert um nicht weniger als 263 Prozent übertrifft. Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht zur Orientierung über das regionale ProKopf-Einkommen in der Europäischen Union: 193 Regionales Pro-Kopf-BIP in der EU (EU15-Durchschnitt = 100 Prozent) Die 10 Regionen mit dem höchsten BIP Die 10 Regionen mit dem niedrigsten BIP Inner London (UK) 263 Dytiki Ellada (EL) 53 Bruxelles-Capitale (BE) 217 Anatoliki Makedonia, Thraki 53 (EL) Luxemburg 194 Extremadura (ES) 53 Hamburg (DE) 171 Ipeiros (EL) 54 Île de France (FR) 165 Açores (PT) 56 Wien (AT) 152 Norte (PT) 57 Berkshire, 149 Centro (PT) 58 Buckinghamshire, Oxfordshire (UK) Oberbayern (DE) 148 Cornwall & Isles of Scilly (UK) 60 Stockholm (SE) 145 Ionia Nisia (EL) 60 Provincia Autonoma 143 Dessau (DE) 60 Bolzano (IT) Quelle: Eurostat Das Ranking führt vor Augen, in welch privilegierter Position sich Luxemburg im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarregionen befindet. Dass die Bankenkrise mit ihren Auswirkungen auf die Realwirtschaft inzwischen auch in Luxemburg angekommen ist, ist keineswegs zu leugnen. Derzeit haben mehr als 100 Unternehmen Kurzarbeit angemeldet, soviel wie seit Jahrzehnten nicht. Nach 10 Jahren mit einem durchschnittlichen jährlichen BIP-Wachstum von fünf Prozent gab es 2008 ein NullWachstum. Die Inflationsrate lag im Februar 2010 bei 1,5 Prozent. Die Arbeitslosenquote betrug im selben Monat 6,5 Prozent. Luxemburg zählt jedoch weiterhin zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt- 2009 betrug das BIP pro Kopf ca. 75.000 Euro, und für die angrenzenden Regionen ist das Großherzogtum ein wichtiger 192 Dies geht aus einer am 30. 08. 2006 veröffentlichten Untersuchung des Marktforschungsinstituts Michael Bauer Research, Nürnberg, hervor, zitiert nach dpa/Luxemburger Wort vom 31. 08. 2006, S. 62. 193 Quelle: Eurostat (http://www.handelsverband.at/News%20Online/07_2004.htm). 86 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Arbeitgeber: Täglich strömen rund 150.000 Grenzgänger in das Land, mit immer noch steigender Tendenz.194 Im Zusammenhang mit der Herausbildung von Religiosität jedoch trägt die ökonomische Situation der Luxemburger Bevölkerung, so positiv sie in vielerlei Hinsicht auch sein mag, so manches Hinterfragbares mit sich. Einerseits bekommt die Gesellschaft die Chance, sich durch Geld zu emanzipieren und auch zu egalisieren. Standesgrenzen könnten verschwinden. Entsprechend erklärt Hans Tietmeyer den Beitrag des Aufstiegs von Handel und technisch-informationsverarbeitenden Tätigkeiten zur sozialen Mobilität. Andererseits betont Tietmeyer den Verlust der sozialen Bindungen als Orientierungsrahmen sowie auch die Gefahr für den Einzelnen, sich zu „übersteigern“.195 Wenn die finanzielle Situation eines Menschen alleiniger Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung ist, besteht leicht die Gefahr, Erwerbsarbeit gegenüber ehrenamtlicher oder familiärer Arbeit höher zu bewerten; und häufig legt dies auch nahe, sogenannte „Nicht-Markt-Beziehungen“196 wie zum Beispiel die Betreuung und Pflege kranker oder älterer Angehöriger durch Marktleistungen von Heimen zu ersetzen. Dass hierbei die Mitmenschlichkeit auf der Strecke bleibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Roman Herzogs, (deutscher Bundespräsident a. D.) Anfrage „Was bieten wir den Menschen jenseits voller Schaufenster?“ (vgl. Kapitel 2. 5) bringt eben jene Spiritualität zur Sprache, die zum würdigen Leben in einer Gesellschaft unbedingt dazugehört. Innerhalb des augenscheinlichen Reichtums deckt der Statec-Bericht „Arbeit und soziale Kohäsion“197 ebenfalls auf, dass von zehn Luxemburgern ein bis zwei von Armut bedroht sind. Betroffen sind vor allem Alleinerziehende mit einem oder mehreren Kindern sowie kinderreiche Familien und alleinstehende Menschen, die älter als fünfundsechzig Jahre sind. Darüber hinaus wäre ohne die Sozialtransfers das Armutsrisiko noch wesentlich höher. Immerhin jedoch stellt ein Bericht der staatlichen Statec-Statistiker für das Jahr 2008 fest, dass es der stets als gesellschaftliches Rückgrat beschworene Mittelschicht weiterhin gut geht. Anhand ihres Sozialberichts wurde berechnet, dass rund 60 Prozent der Bevölkerung der sogenannten Mittelschicht angehören. Über die Jahre hinweg betrachtet sei dieser Prozentsatz in etwa gleich geblieben, in der jüngsten Zeit sogar noch etwas angestiegen. 194 Quellen: Statec, Auswärtiges Amt, vgl. die entsprechenden Hompages (Stand: Juli 2010). Vgl. Tietmeyer (2006), S. 11. 196 Tietmeyer (2006), S. 11. 197 Schumacher (2006), S. 2. 195 87 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Statec-Direktor Serge Allegrezza betonte bei der Vorstellung der Sozialstudie, dass von einem Schrumpfen der Mittelschicht, wie es zum Teil im Ausland gemessen werde, hierzulande keine Rede sein könne.198 Statec geht von einem verfügbaren Einkommen aus, das zwischen 1 800 und 3 900 Euro monatlich liegt. Zu einem überwiegenden Teil besitzen die Menschen der Mittelschicht den luxemburgischen Pass, verfügen über einen relativ hohen Bildungsstand und sind als Angestellte oder Beamte tätig. Den Statec-Angaben zufolge hat sich der Lebensstandard der Mittelschicht in den vergangenen Jahren stetig verbessert. Die gleiche Feststellung trifft allerdings auch auf die Unter- und die Oberschicht zu. Von 2007 auf 2008 sei das verfügbare Einkommen im Durchschnitt um 4,5 Prozent gestiegen, die Kaufkraft habe sich im gleichen Zeitraum um ein Prozent verbessert.199 Das ist zwar nicht gerade viel, aber besser als gar nichts. Die Krise macht sich im StatecBericht kaum bemerkbar. Weder ist das Armutsrisiko deutlich angestiegen (der Anteil der von Armut bedrohten Menschen lag im vergangenen Jahr bei 13,4 Prozent gegenüber 13,5 Prozent im Jahr 2007), noch machen sich starke Ungleichgewichte in der Gesellschaft bemerkbar -200 wenig Gefahr also für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. So erfreulich diese Zahlen dieses außerordentlichen Wohlstands in Luxemburg gegenüber dem Ausland auf den ersten Blick sein mögen, lassen sie jedoch auch die Annahme negativer Begleiterscheinung zu: Kapitalismus kann zum Götzendienst werden. Dieses Phänomen hat bereits Walter Benjamin in seinem 1921 erschienenen Fragment „Kapitalismus als Religion“201 beschrieben und wird u. a. von Thomas Ruster wieder aufgegriffen. Ihre These besagt, dass außerhalb des Kapitalismus keine Erfahrung mehr möglich sei und alles, was ist und sein kann, in einer ökonomischen Funktion stehe.202 Nach Benjamin besteht der Kult des Kapitalismus im geldvermittelten Warentausch, vor allem aber scheint der Kapitalismus auf die Grundfrage des Menschen nach Schuld eine Antwort geben zu können. Ruster beschreibt es so: „Religion umfasst die Totalität der Erfahrung, sie ist die Einheit der Erfahrung in ihrem symbolischen oder kultischen Ausdruck und darum das Absolute des Daseins. Die jeweilige Religion ist die Repräsentation der jeweils alles bestimmenden Wirklichkeit.“203 198 Vgl. den Bericht im Luxemburger Wort vom 16. 10. 2009. Vgl. die entsprechende Statec-Studie, Bericht 2009. 200 Vgl. Statec 201 S. Bibliographie. 202 Vgl. Ruster (2000), S. 128. 203 Ruster (2000), S. 140. 199 88 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Durch die Kaufkraft und die ökonomische Situation der Luxemburger insgesamt wird der Alltag in einem solchen Maß bestimmt, dass durchaus davon die Rede sein kann, dass hierin die alles bestimmende Wirklichkeit liegt. Symptomatisch hierfür ist vielleicht das Beispiel, dass sich bei festlichen Anlässen wie Geburtstagen, Taufen oder Hochzeiten die Sitte eingebürgert hat, dem Materialismus mehr zu huldigen als dem eigentlichen Sinn der jeweiligen Feier. So ist es mittlerweile zunehmend üblich geworden, statt einer Geschenkliste nicht bloß nach Geld zu fragen, sondern die entsprechende Bankverbindung direkt in die Einladung oder Zeitungsannonce abzudrucken. Hiermit wie auch mit der aufkommenden Sitte, zur Geburt oder Kommunion Baugrundstücke zu verschenken, wird so der Sinn des Schenkens, nämlich des Sich-Gedanken-Machens und des Überraschens pervertiert. Interessant ist auch, dass viele Gebäude des Bankensektors in Luxemburg mehr repräsentieren als die bloße Beherbergung von Geldverwaltungsbüros: Sie gehören zu den imposantesten Bauwerken Luxemburgs und werden von Touristen nicht selten für Rathäuser oder gar Schlösser gehalten. In den Banken selbst finden zahlreiche kulturelle Veranstaltungen wie etwa Vernissagen und Konzerte statt; nicht zuletzt gehören sie auch zu den wichtigsten Sponsoren des Luxemburger Sport- und Kulturlebens; nehme man den internationalen ING-Marathon als nur ein Beispiel von unzähligen. In dieser Couleur gäbe es noch viele weitere Exempel, etwa die Tatsache, dass es einen eigenen arbeitsfreien Tag gibt, um den Solden (Schlussverkäufen) im Sommer frönen zu können, die Gutscheinkultur, die auch ruhetags geöffneten Geschäfte nicht nur an den vier Adventssonntagen, sondern zu verschiedenen weiteren Anlässen im Jahr, oder dass man in der Hauptstadt Luxemburg teilweise vier Jahre vor dem Kommunionstermin des Kindes bestimmte Restaurants vormerken muss, um dort an dem Tag essen zu können oder einfach nur das ungeschriebene Gesetz, bei feierlichen Anlässen Champagner zu trinken, niemals Sekt. Welche Blüten der Wohlstand sonst noch treibt, soll an dieser Stelle nicht im Detail bemüht werden, da solche Beobachtungen häufig subjektiver Natur sind. Festzuhalten bleibt: Die genannten Exempel illustrieren alle die Wichtigkeit, ja Priorität, die dem Materiellen innerhalb der luxemburgischen Gesellschaft wohnt; und in unserer Moderne ist laut Ruster das Geld unverzichtbar für die soziale Integration.204 Auf Geld und Konsum richten sich „Haltungen, die sonst nur Gott galten“205: Vertrauen, 204 205 Vgl. Ruster (2000), S. 143. Ruster (2000), S. 142. 89 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Treue, Sicherheit, Liebe, unersättliches Begehren, und es gibt nichts, was von der Macht des Geldes unabhängig wäre. Selbstverständlich kann Geld nicht auf die gleiche Weise Gott sein, die „Welt regieren“, wie es das Christentum religionsgeschichtlich von seinem Gott meint. Dies spricht auch Ruster der Funktion des Geldes ab: „Es ist nicht personal, man kann kein Gebet an es richten. Ihm wird auch keine ausdrückliche kultische Verehrung zuteil, wie immer man auch die sakral anmutende Architektur der Bankund Versicherungsgebäude werten mag. Es ist nicht als solches eine Macht (…). Der Kapitalismus ist womöglich eine Religion ohne Gott (…), in der gleichwohl das Geld an die Stelle der alles bestimmenden Wirklichkeit besetzt.“206 Jedoch kann in Bezug auf die materialistische Wirklichkeit Luxemburgs festgestellt werden, dass die Bedeutung Gottes angesichts des Jahrmarkts der Eitelkeiten auf eine ernste Probe gestellt wird. Inwiefern Jugendliche dies wahrnehmen, soll das folgende Teilkapitel weiterführen. 3. 1. 3 „Der Tanz um das goldene Kalb“ – Eine Schülerhausaufgabe als Quelle für Einsichten über die jugendliche Wahrnehmung der spirituellen und materiellen Situation in Luxemburg Wenn ich mit Jugendlichen spreche, höre ich häufiger, dass sie sich in einem gesellschaftlichen Umfeld sehen, das von hohem Materialismus geprägt ist. Angesichts der Konsumerwartungen, die an sie gerichtet werden, erscheinen den Heranwachsenden Glaubensfragen häufig trivial. Um diesem allgemeinen Eindruck partiell näher auf den Grund zu gehen, stellte ich im Jahr 2006 Jungen und Mädchen einer IIIième (Alter: 17-19 Jahre) an einer katholischen Privatschule innerhalb der Unterrichtsreihe „Geld regiert die Welt“ eine Hausaufgabe zum 206 Ruster (2000), S. 144. 90 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Exodus-Text 32, „Der Tanz um das goldene Kalb“. Im Folgenden möchte ich die Ergebnisse vorstellen.207 Die Aufgabe lautete „Vergleiche die Exodus-Geschichte vom Tanz um das goldene Kalb mit der heutigen spirituellen und materiellen Situation in Luxemburg.“ Der Bibeltext war zuvor in der Unterrichtsstunde gelesen, eingeordnet und sein Verständnis geklärt worden. Es hatte sich eine Diskussion ergeben, inwiefern das Gelesene mit der Lebenswirklichkeit der Schüler zu tun hat. Die Ergebnisse sind, auch aufgrund der Schulform (katholisch, privat, d. h. die Eltern zahlen Schulgeld), nicht als repräsentativ für alle Luxemburger Jugendlichen zu verstehen, geben jedoch einen aufschlussreichen Einblick in das Empfinden der jungen Schülergeneration bezüglich ihrer Einstellungen und auch Erfahrungen in Bezug auf Geld und Glaube in ihrer Heimat. Heute in Luxemburg geht es den meisten gut, wir leben fast alle im Wohlstand und somit braucht niemand einen Gott und der Glaube verfällt langsam. Somit macht man sich auch keine Gedanken wie Gott aussehen würde, und falls doch, wäre es egal, weil es eh keinen interessiert und man nicht dafür bestraft wird. Heute hat jeder etwas, woran er glaubt, wobei es nicht immer Gott ist. Antoine Antoine formuliert eine Reihe interessanter Aussagen. 1. Zum einen schätzt er die finanziell angenehme Position Luxemburgs keineswegs als selbstverständlich ein. 2. Er empfindet den Gottesglauben in der Gesellschaft als schwindend. 3. Er sieht einen Kausalzusammenhang zwischen gesättigter ökonomischer Situation und abnehmendem Gottesglauben. 4. 207 Er meint, dass jeder Mensch an etwas glaubt, wenn es auch nicht religiös sein muss.208 Die Auszüge der Hausaufgaben sind mit Genehmigung der Schüler abgedruckt, werden jedoch aus Gründen des Datenschutzes unter geänderten Vornamen veröffentlicht. Eventuelle Fehler in der Rechtschreibung sowie Ungenauigkeiten im Ausdruck wurden von mir in der vorliegenden Arbeit korrigiert übernommen, ohne jedoch den Sinn der Aussage zu verändern. Die hier zitierten Aufgaben sind vollständig im Anhang dieser Arbeit zu finden. 91 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Ähnliche Meinungen vertreten auch andere Schüler, sowohl zur materiellen Situation als auch zum verlorenen Gottesglauben: Doch die Religion ist heute nicht mehr so wichtig für die Menschen. Die Religion ist nur noch sehr wichtig für ärmere Menschen. Die anderen bevorzugen ihren Beruf und ihre Familie. Sie glauben nur noch an die Religion und an Gott, wenn es ihnen schlecht geht und wenn sie etwas glauben müssen, um weiterzukommen. Lara In der heutigen Zeit spielen materielle Dinge eine große Rolle. Man kann sich mit ihnen identifizieren. Man wird oft an den Sachen, die man besitzt, beurteilt. Normalerweise spielt das Auftreten eine große Rolle. Man ist darum besorgt, einen gewissen Stil zu haben und dass man sich auch mit tollen Sachen outen kann. So war es sicherlich schon immer. Mike Luxemburg ist, wie jedem bekannt, ein äußerst reiches Land mit hohem sozialem Niveau. Dementsprechend sind eben jene sozialen Ansprüche auch höher und die materialistischen Anforderungen komplexer. (…) Das Auffallende ist hier allerdings, dass die Mentalität eines doch so gebildeten Landes sich auf ein so oberflächliches Prinzip fokussiert. Hier kann meiner Meinung nach eine große Verbindung zu dem Exodus-Text „Das goldene Kalb“ hergestellt werden. Wie wohl jedem beim Lesen dieses Textes auffällt, basieren sich diese doch im Grunde so gläubigen Menschen bei der Herstellung des Kalbes weniger auf den Ursprung oder spirituellen Wert, sondern vielmehr auf die oberflächliche Befriedigung des ‚Habens’. (…) Tom Die nächste Aussage erklärt die Funktion des Gottesglaubens: Die Menschen brauchen das Kalb zum Anbeten, weil sie eine Vorstellung haben wollen von Gott, den sie anbeten, wie dieser aussieht. Hier in Luxemburg dreht sich alles ums Materielle, sei es Geld oder Grundstücke… Es geht den Leuten heutzutage fast nur noch um Materielles. Der Glaube an Gott lässt nach und der Glauben an sich selbst, um etwas zu erreichen, und der Glaube ans Geld wachsen. Céline 208 Diese Meinung korrespondiert mit den in Kapitel 2. 5 getroffenen jugendlichen Aussagen im Zusammenhang mit der Vokabel „Glaube“. 92 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Auch die folgende Hausaufgabe betont den „Nutzen“ des Kalbs in Bezug auf das Gottesbild in Zeiten des Materialismus, aber auch (spiritueller wie echter) Armut: Heutzutage basteln wir uns ständig immer wieder irgendwelche Glücksbringer, klammern uns an Objekte, die für uns wichtig sind, und schreiben ihnen übernatürlich Kräfte zu. Genauso taten es auch die Leute in der Exodus-Geschichte. Sie nahmen ihren Goldschmuck, also etwas Kostbares, gossen daraus ein Kalb und verehrten es als ihren Gott (…). Wir tun dies im Grunde genommen jeden Tag, indem wir uns an für uns wichtige, unersetzbare Dinge klammern. Des Weiteren glauben wir dann an jene Objekte und verlangen, bitten jene darum, etwas für uns in Ordnung zu bringen und uns zu helfen. Dabei heißt es: „Du sollst keinen Gott neben mir haben.“ Dass wir an Götter, an übernatürliche Kräfte glauben, zeugt nur davon, dass wir, der Mensch, etwas braucht, auf das er sich beziehen kann, wo er Halt in seinem Leben finden und wo er sich kurz wieder besinnen kann. Wir brauchen etwas, worauf wir uns beziehen können, woran wir glauben können, und das sind halt meistens und für die meisten Leute materielle Dinge wie z. B. ein goldenes Kalb, ein Amulett… da es für die meisten Menschen schwer ist, an etwas zu glauben und sich auf etwas zu beziehen, das von spiritueller Natur und nicht sichtbar ist. Wir Menschen brauchen etwas, woran wir uns festklammern und woran wir glauben können, wenn es uns mal schlecht geht und genau deshalb hat auch jede Kultur und jeder Mensch seinen Gott oder etwas, woran er glaubt. Jérôme Jérômes Aussage streicht eine Fülle einzelner Aspekte heraus, die in dieser Arbeit zur Sprache kommen: die menschliche Sehnsucht nach Spiritualität, nach Selbstreferenz, nach Halt, der Bestand haben soll. Sie zeigt Verständnis für die Situation der Menschen, die sich um das goldene Kalb scharen, ohne sie jedoch zu entschuldigen. Auch die folgenden Aussagen enthalten Parallelen zu der von Jérôme und untermauern das Bedürfnis nach einem materiellen Gottesbild gegen das spirituelle Vakuum: Die meisten Leute von heute sagen, sie wären in der christlichen Religion, aber sie sind nicht wirklich überzeugt. Als Kind konnten sie ja nicht entscheiden, ob sie in der christlichen Religion sein wollten oder nicht. Die Eltern haben einfach entschieden. Heute ist es das Gleiche wie früher. Es gab sehr wenige, die spirituell an Gott glaubten. Da gab es auch Menschen, die es einfach so sagten, weil sie dabei sein wollten oder sie hatten Angst, dass wenn sie nicht Christen waren, sie ausgeschlossen wurden. Aber wenn man etwas sehen kann oder anfassen, dann gibt es viele Leute, die am Anfang nicht glauben, dann aber sich Gedanken drüber machen, ob sie es glauben sollen oder nicht. Mit der Geschichte „Der Tanz um das goldene Kalb“ sieht man, dass die Menschen an das goldene Kalb glauben, denn sie sehen es als Gott. (…) Laeticia 93 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Der Mensch braucht nämlich etwas zum Sehen und Anfassen zum Glauben. Jorge Solange es den Leuten finanziell gut geht, gehen sie auch nicht in die Kirche und brauchen nicht zu beten, glauben sie jedenfalls. So wie bei den Anhängern Moses. Ihnen ging es nicht gut, also wollten sie was erschaffen, was sie anbeten konnten, weil Mose ja nicht mehr ‚verfügbar’ war. Marc Gleiches empfindet auch Georges, der eine mangelhafte moralische wie spirituelle Situation beklagt: Die heutige kulturelle und spirituelle Situation in Luxemburg ist gekennzeichnet durch einen allgemeinen Werteverlust und durch einen immer größer werdenden Egoismus der Bewohner. Heute ist das goldene Kalb das Geld des Reichtums und die Macht, an die die Leute nur noch glauben. Es gibt immer weniger Solidarität gegenüber Armen. Immer weniger Leute wollen in Vereinen mitarbeiten. Somit verarmt auch spirituell das Vereinsleben. Auch gehen immer weniger Leute in die Kirche. Schlimm sind ebenfalls immer häufiger auftretende rassistische Parolen. Georges Julien widerspricht dieser These nur vordergründig. Sie meint zwar, dass man sich heute keinen künstlichen Gott mehr erschaffen müsste, spricht aber gleich anschließend von den Leuten, die Konsum als Ersatzbefriedigung brauchen: Wenn man die heutige und damalige Zeit der spirituellen und materiellen Situation vergleicht, findet man nicht so viele Unterschiede. Damals wie heute kauft oder macht man sich materielle Sachen, wenn man es braucht. Doch heute, glaube ich, würden die Menschen, die noch auf Gott warten und so fest an ihn glauben wie damals, sich keinen ‚eigenen’ Gott kaufen oder basteln. Heute kaufen sich die Leute oft materielle Sachen, die sie zum Überleben nicht brauchen, jedoch haben möchten. 94 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Julien Einige Schüler erklären für die Menschen die Notwendigkeit ihres Handelns in Bezug auf ein materialistisches Gottesbild: Damals waren die Menschen abhängig von ihrem Gott, denn sie glaubten fest daran, dass sie durch ihn gerettet werden, wenn es ihnen mal schlecht ergeht. Das Volk von Israel erschuf sich seinen eigenen Gott, da es glaubte, Mose hätte sie im Stich gelassen oder er würde nicht wiederkommen können. Da sie aber in ihrer Verzweiflung etwas brauchten, woran sie glauben könnten, gossen sie das goldene Kalb. Thierry Ähnlich folgende Äußerung: So wie in der Geschichte die Menschen ihr Kalb zum Angöttern brauchten, brauchen wir unsere materiellen Bedürfnisse. (…) Ich würde sogar sagen, dass wir viel materieller sind als in dieser Geschichte. Michel Gleichzeitig aber beurteilen Schüler das goldene Kalb als Mittel zur Selbstdarstellung und parallelisieren es mit der Kirche und ihren Bauten, aber auch mit der Suche nach Gemeinschaft: Die Menschen damals, als sie dieses wertvolle goldene Kalb angebetet haben, wollten allen zeigen, was sie anbeten; damit war dieses Kalb aus Gold für sie besser geeignet als ein Gott, der nur auf spiritueller Ebene existiert. Die Menschen wollen damit protzen und die anderen verehrten Götter anderer Stämme in den Schatten stellen. Heutzutage gibt es wundervolle Kirchen, Gemälde und andere religiöse Dinge, die auch zum Betrachten gedacht sind. (…) Die Menschen wollen zeigen, dass sie an etwas Reiches und Mächtiges (Geld ist Macht) glauben. Der Mensch ist nicht mit wenig zufrieden, und das wird sich auch sobald nicht ändern. Mike In der Exodus-Geschichte sammelt sich das Volk um ein goldenes Kalb. Bei uns sammeln wir uns in der Kirche. Steve In den Hausaufgaben treten also aus (subjektiver) Sicht der Schüler verschiedene Funktionen des Kalbs zum Vorschein: 95 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Erstens ist die Situation, in der das goldene Kalb entsteht, für die Jugendlichen vergleichbar mit ihrem Umfeld: Es fehlt finanziell / materiell an nichts. Es symbolisiert sozusagen die Wertschätzung des Geldes seitens des Volkes. In diesem Sinne erfüllt das Kalb dann auch die zweite Funktion, nämlich die der Selbstdarstellung, der spirituellen Oberflächlichkeit und Sinnentleerung. Drittens ermöglicht das Kalb eine Greifbarkeit des zunächst abstrakten Gottesbildes. In jedem Fall unterstreichen die Darstellungen der Schüler die These des vorangegangenen Teilkapitels vom Materialismus als werteprägender gesellschaftlicher Faktor, der gegenüber der Herausbildung echter Religiosität kontraproduktiv ist. 3. 1. 4 Der Umgang mit sozialethischen Fragen: drei Beispiele „Überflüssig zu werden droht, wer in einer Arbeitsgesellschaft nicht arbeitet, in einer Konsumgesellschaft nicht kauft, in einer Erlebnisgesellschaft nicht erlebt, in einer Wissensgesellschaft nicht weiß bzw. das rasch verfallende (berufliche) Wissen nicht rasch genug erneuert und wer in einer Biowissenschaftsgesellschaft nicht die richtigen Gene hat.“ Paul Zulehner, Theologe, über den Mehrwert von Religiosität in der Gesellschaft209 Wer gehört in eine Gesellschaft, wer nicht – welch anmaßende Frage! Aber in Zeiten von Diskussionen um Embryonenschutzgesetze, aktive Sterbehilfe und die steigende Zahl von Abtreibungen aufgrund eines Befundes bei der Schwangerschaftsfrühdiagnostik muss man sich zunehmend die Frage nach der Würde und dem Werte eines menschlichen Lebens stellen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es aus zeit- und platzökonomischen Gründen schwer, ein Gesamtbild zu zeichnen. Daher konzentriere ich mich auf drei Schlaglichter, die meines Erachtens besondere Aussagekraft haben: erstens das Abtreibungsrecht, zweitens das Luxemburger Jugendstrafrecht, drittens die Regelung der Sterbehilfe in Luxemburg. 209 Zulehner (2005a), S. 92. 96 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Im Vorfeld ist zunächst die Beobachtung innerhalb der luxemburgischen Wertestudie von 2002 interessant, dass obwohl Luxemburgs Bürger zu etwa 90% katholisch getauft sind, die Zustimmung zu nicht-natürlicher Empfängnisverhütung bei fast 80% liegt.210 Das bedeutet, dass die Luxemburger in Fragen der Verbundenheit gegenüber der Amtskirche und der Familienplanung zu differenzieren bereit sind. Bedeutend weiter aber geht die Feststellung, dass das Abtreibungsrecht Luxemburgs abgesehen von Dänemark, Italien und Schweden, die nach dem außerstrafrechtlichen Modell verfahren, eines der liberalsten in Europa ist:211 Es handelt sich um ein sogenanntes „flankiertes“ Strafrechtsmodell, das im Gegensatz zum reinen Strafrechtsmodell auf Beratung setzt beziehungsweise den Interessen der Schwangeren Vorrang einräumt.212 Eine Abtreibung wird in Luxemburg nicht als Delikt verfolgt, wenn das ungeborene Kind physisch oder psychisch (!) in Gefahr ist und der Abbruch in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft erfolgt. Zudem darf im Fall, dass diese Frist verstrichen ist, eine Abtreibung dann durchgeführt werden, wenn zwei Mediziner bescheinigen, dass die Gesundheit oder das Leben der Schwangeren oder des ungeborenen Kindes in Gefahr ist. Falls das Leben der Schwangeren in Gefahr ist, kann die Abtreibung praktisch bis zum Moment der Geburt durchgeführt werden. Außerdem gestattet der luxemburgische Gesetzgeber die Abtreibung, wenn der Fötus das Resultat einer Vergewaltigung oder eines Inzests ist. Außerdem kann die Frau, wenn sie sich in einer (sozioökonomisch, familiär, moralisch etc.) verzweifelten Lage sieht, ebenfalls eine Abtreibung in Betracht ziehen, ohne dass dies strafrechtlich verfolgt würde. Die Frau allein bestimmt über diese Situation und der luxemburgische Staat überlässt diese Entscheidung allein ihr. Diese Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs aufgrund einer der Letztverantwortung der Schwangeren unterliegenden Entscheidung nach Beratung ist ein „notlagenorientiertes Diskursmodell“213. 210 Quelle: Abbildung 21 im 4. Kapitel der luxemburgischen Wertestudie unter der Direktion von Legrand (2002), S. 219. 211 Quelle: http://www.fse.ulaval.ca/dpt/morale/avort/droits/luxemb./html bzw. Gespräch mit Dr. Gratia, Gynäkologe und Geburtshelfer. 212 Siehe hierzu auch Eser / Koch (1999), S. 5. 213 Eser / Koch (1999), S. 11. 97 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Es stellt sich die Frage, welcher Wert mit dieser Regelung dem mit der leisesten Stimme, dem ungeborenen Kind, zukommt. Ist das Gesetz, das die Autonomie der Frauen stärken will, nicht gleichzeitig eine Missachtung ethischer Grundparameter? Es ist der Gesellschaft, nicht nur der kirchenverbundenen, anheimgestellt, jedem Individuum, auch dem, das die nicht ins Schema passen (sollen) eine Lobby zuzuweisen: Das fängt beim ungeborenen Leben an, geht weiter bei Behinderten, Älteren, Straffälligen, nicht-arbeitsfähigen Menschen, Randgruppen, Todkranken... und so weiter. In diesem Fall überlassen Staat wie Kirche die moralische Entscheidung über das ungeborene Leben allein der Frau und vielleicht noch ihrer Bereitschaft, sich den Argumenten ihres Umfeldes zu stellen. Jedoch bedeutet ein weitestgehender Freibrief in Sachen Abtreibung nicht auch eine Prioritätensetzung zugunsten eines Sozialdarwinismus? Aus Sicht der Kirche steht das konventionell außer Frage, denn für sie ist auch das ungeborene Leben. Je weiter jedoch religiöse Themen aus dem offiziell-gesellschaftlichen Diskussionsraum einer Schule gedrängt werden, desto stärker ist jeder einzelne Bürger mit seiner Meinungsbildung und Gewissensbefragung auf sich gestellt. Denn die bildende Institution erklärt ihm etwa in einem Fach „Ethik“ allenfalls, wie das Gewissen funktioniert, nicht jedoch, was außerhalb rationaler Gründe dafür oder dagegen spricht, sich für Leben zu entscheiden, oder auch nur, was menschliche Würde überhaupt bedeutet und warum sie zu achten ist. Hier stehen sich also die liberale Abtreibungsregelung einerseits und die mit der möglichen Abschaffung des Unterrichtsfachs Religion weniger werdende religiös-moralische Urteilsbildung gegenüber. Ob dies ein Manko ist, sei an dieser Stelle beiseitegelassen. Sozialethisch interessant ist ein zweiter Aspekt: Luxemburg ist das einzige Land Europas, das kein Mindestalter für strafrechtliche Verfolgung vorschreibt.214 Das heißt: Schon ab frühester Kindheit darf strafrechtlich gesehen Verfolgung stattfinden. Wie auch bei der umstrittenen Abtreibungsregelung genießt Kindheit hier wenig beziehungsweise keinen Schutzraum. Bei Regelverstößen sind schon die Jüngsten zur Verantwortung gerufen. Wenn dies aber so ist, stellt sich alsdann die Frage, wer den Kindern und Jugendlichen beibringt, was richtig und falsch ist. Selbstverständlich muss an erster Stelle das Elternhaus die Herausbildung der moralischen Urteilsfähigkeit übernehmen. Als zweite Instanz steht die Schule in der Verantwortung; sie muss mit ihrem Unterrichtsangebot diesen Bedarf bedienen. Auch hier bleibt die Anfrage, wie der Fächerkanon einmal mit einem 214 Quelle: „Lage der Jugend in Europa“, s. Bibliographie. 98 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen konfessionellen RU oder mittels eines Einheitskurses dies zufriedenzustellen vermag. Als drittes und letztes Beispiel soll hier die Gesetzesänderung der Abtreibungsregelung in Luxemburg betrachtet werden. Inzwischen verfügt nach den Niederlanden und Belgien und der Schweiz, die Sterbehilfe im unterschiedlichen Ausmaß erlauben, als viertes Land weltweit auch Luxemburg über eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe, die auch die aktive direkte Sterbehilfe zulässt. Die aktive Sterbehilfe war 2001 bereits in den Niederlanden und ein Jahr später in Belgien unter bestimmten Voraussetzungen für straffrei erklärt worden. Bereits im Februar 2008 als Gesetz gebilligt, wurde der Gesetzesentwurf nach Textänderungen, die der Staatsrat gefordert hatte, im Dezember 2008 erneut in erster Lesung behandelt. Wiederum sprach sich eine Mehrheit des luxemburgischen Parlaments dafür aus. Mit Aufhebung des Fraktionszwangs wurde den Abgeordneten bei der Abstimmung überlassen, sich nach ihrem Gewissen zu richten. Eingebracht von den Sozialisten und Grünen, siegte der Gesetzesentwurf am Ende knapp mit 31 Für-, 26 Gegenstimmen und drei Enthaltungen. Aus Jean-Claude Junckers Partei gab es einige wenige Abgeordnete, die mit dem sozialistischen Koalitionspartner und Parlamentsmitgliedern anderer Fraktionen für die Mehrheit sorgten. Die Mehrheit (31 von 60 Abgeordneten votierten dafür) kam Medienberichten zufolge zustande, weil sich drei Abgeordnete der christlich sozialen Regierungspartei CSV enthalten hatten. Laut Umfragen folgten die Abgeordneten dem Bürgerwillen. Es hieß, zwei Drittel der Luxemburger seien für das neue Gesetz, ein Bürgerbegehren, das das Inkrafttreten stoppen wollte, scheiterte deutlich. Künftig sind Ärzte laut Gesetz nicht länger verpflichtet, das Leben von Patienten um jeden Preis zu verlängern. Dabei wird, geregelt durch ein neues Palliativgesetz, auch zugelassen, schmerzstillende Präparate in Konzentrationen zu verabreichen, die eine Lebensverkürzung mit sich bringen können. Ein Arzt soll einem unheilbar Kranken auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin bei der Lebensbeendigung unter bestimmten Voraussetzungen straffrei helfen dürfen. So müssen etwa zwei Ärzte unabhängig voneinander feststellen, dass der Patient unheilbar krank ist und dieser den Wunsch zu sterben zuvor ausdrücklich geäußert hat. Möglich wäre sowohl eine Tötung auf Verlangen als auch Selbstmord mit ärztlicher Hilfe. Auch 16- bis 18-jährige Patienten sollen um Sterbehilfe bitten können, wenn die Eltern oder die gesetzlichen Vertreter ihre Zustimmung erteilen. Bei willensunfähigen Patienten soll eine 99 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Patientenverfügung ausreichend sein. Ärzte sind nach dem Gesetz verpflichtet, mehrere ausführliche Gespräche mit ihren Patienten über ihre Entscheidung zu führen und einen anderen Arzt zur Beratung hinzuzuziehen. Sämtliche Sterbehilfe-Fälle werden laut dem Gesetz von einer Kontrollkommission überprüft. Sollte sie Gesetzesverstöße feststellen, werden die Fälle dem Staatsanwalt übermittelt. Bereits zuvor hatten die luxemburgischen Parlamentarier einstimmig einem weiteren von der Regierung eingebrachten Gesetz zugestimmt, das den Ausbau der sterbebegleitenden Versorgung vorsieht. Die Kosten sollen von den Krankenkassen übernommen werden. Die Änderung dieses Gesetzes löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus, da Großherzog Henri aus Gewissensgründen seine Zustimmung verweigerte, auf sein Recht der Zustimmung zu Gesetzen verzichtete und so vorerst eine Entscheidung des Parlaments blockierte – ein erst- und einmaliger Vorgang in Luxemburg. Dass er als repräsentativer Würdenträger das Gesetz zur Legalisierung der Sterbehilfe nicht unterzeichnen wollte, weil er auf sein Gewissen als Privatperson pochte, sorgte für große Unruhe: Regierungschef Jean-Claude Juncker, der kein Hehl daraus, dass er gegen den Gesetzentwurf war, sprach in der Presse von einer Verfassungskrise, der sozialdemokratische Fraktionschef Ben Fayot von einem „völlig neuen institutionellen Moment“.215 Henris Rolle als Großherzog brachte für viele die Erwartung mit sich, das Gesetz auch selbst auf den Weg zu schicken, und nicht, eine eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen. Dass er dies doch tat, wurde zweigeteilt wahrgenommen, von manchen staatsbehindernd, von anderen als mutig und integer. In diesem Augenblick standen Gewissensprobleme des Großherzogs der Notwendigkeit, ein Gesetz zu verabschieden gegenüber. Er ließ wissen, er wolle das Sterbehilfe-Gesetz nicht "billigen und verkünden", wie es die Verfassung vorschreibt. Dass das Gesetz tatsächlich im März 2009 endgültig durchgesetzt wurde, wurde nur - mit Henris Zustimmung - durch die Verfassungsänderung möglich, nach der er Gesetze nur noch unterzeichnen und verkünden, aber nicht mehr billigen muss. Im Schnellverfahren brachten die Abgeordneten diese Verfassungsänderung auf den Weg, und Henri verkündete alsdann das neue Gesetz – ohne seine persönliche Billigung. Sein Gewissen hatte sich, hatte er durchgesetzt. 215 Vgl. entsprechende Äußerungen in der Presse im Dezember 2008. 100 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Die katholische Kirche des Großherzogtums, mit Papst Benedikt XVI. im Rücken, brachte mehrfach ihre große Besorgnis über das Gesetz zum Ausdruck, die Ministerpräsident JeanClaude Juncker jedoch zurückwies: Er akzeptiere nicht, dass der Vatikan sich in die Angelegenheiten Luxemburgs einmische.216 Die Deutsche Hospiz Stiftung hatte die Entscheidung des luxemburgischen Parlaments für die aktive Sterbehilfe bereits zuvor kritisierte und von einem „fatalen Signal“ gesprochen:217 Aktive Sterbehilfe und ärztlich assistierter Suizid hätten nichts mit dem Recht auf palliative Versorgung zu tun. Die Palliativmedizin solle offenbar als „Weichspüler“ für die Erlaubnis zum Töten herhalten. Laut Umfragen befürworten allerdings rund zwei Drittel der Luxemburger die geplante Neuregelung. Betrachtungswürdig ist im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit nicht die Frage nach Gesetzesdetails, sondern was die schulische Institution in Luxemburg dazu beitragen kann, solche moralisch-ethischen Diskussionen in der Gesellschaft wie auch für das eigene, ganz persönliche Umfeld zu führen. Ob die straflose aktive Sterbehilfe beziehungsweise ärztliche Suizidhilfe die Entsolidarisierung mit schwerstkranken und sterbenden Menschen bedeutet, wie Eugen Brysch, Geschäftsführer der Deutschen Hospiz Stiftung, ihr vorwirft, ist anscheinend nicht allgemeingültig zu beantworten. In dieser ethischen Frage wie in den anderen beiden Beispielen zuvor muss sich das Individuum auf Werte berufen, die – hoffentlich – bei den Menschenrechten ansetzen und die Unantastbarkeit der Würde voraussetzen. Dieses dritte Beispiel der Euthanasie demonstriert neben dem Abtreibungsrecht und der Strafmündigkeit einmal mehr das hiesige liberal-ethische Klima: Das Individuum entscheidet und steht bezüglich seines eigenen Schicksals buchstäblich vom Lebensbeginn bis –ende in seiner eigenen Verantwortung zukunftsweisend und interessant, muss etwas hierfür über geradestehen. religiös-konnotierte Daher Werte wäre bei Luxemburger Bürgern zu wissen. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass insbesondere bei der medialen Diskussion um das Gesetz zur Euthanasie das scheinbare Comeback religiöser Gefühle bei der Bemühung ethischer Werte innerhalb der Diskussion auffällig war. 216 217 Vgl. entsprechende Äußerungen im Luxemburger Wort, 17. 03. 2009. Vgl. die entsprechende Pressemitteilung vom 20. 02. 2008. 101 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 3. 1. 5 Familienstrukturen Im Folgenden soll ein Eindruck von der Situation der Familien im Großherzogtum entstehen. Die luxemburgische Wertestudie 2002 beruft sich im Zusammenhang mit Familienstrukturen auf Daten, die 1991 vom Institut Statec erhoben wurden.218 Mittlerweile liegen jedoch aktuellere Daten vor. Ökonomisch gesehen befinden sich Familien in Luxemburg verglichen mit den meisten europäischen Nachbarn in einer deutlich bevorzugten Situation: Ungefähr 3,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen in Sach- und Barleistungen für Familien (europäisches Mittel: 2, 08), davon 78 Prozent in bar (europäisches Mittel: 67 Prozent), und die Barleistung für Familien in Luxemburg liegt prozentual an den Gesamtleistungen sogar mehr als doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt (nämlich bei 17 Prozent gegenüber acht in der EU).219 Auffällig ist, dass der Prozentsatz derjenigen, die finanziell in Abhängigkeit von ihren Eltern oder ihrer Familie in Luxemburg leben, im Jahr 1998 im europäischen Vergleich hinter Griechenland, Italien, Spanien und Frankreich auf einem gehobenen fünften Platz liegt.220 Außerdem war 1999 der Anteil der 15-29-Jährigen, die bei einem arbeitslosen Elternteil (2%) beziehungsweise einem Elternteil mit sozialen Schwierigkeiten (7%) leben, der niedrigste gemessene in Europa.221 Folglich scheint zumindest finanziell die Familie ein „sicherer Hafen“ für Luxemburger Jugendliche zu sein. Aber wie sieht es mit der Stabilität der familiären Verhältnisse insgesamt aus? Im Jahr 2009 kamen im Großherzogtum 5638 Kinder zur Welt. Im Vergleich zu 2008, als 5596 Geburten registriert wurden, bedeutet dies einen Anstieg von 0.8 Prozent.222 Die Geburtenrate Luxemburgs lag 2009 über dem EU-Durchschnitt, nämlich bei statistisch 1,61 lebend geborenen Kindern pro Frau bzw. 11,2 Lebensgeborenen auf 1000 Einwohner.223 218 Legrand (2002), S. 1989. Eggen (2005), S. 8. 220 Quelle: „Lage der Jugend in Europa“, s. Bibliographie. 221 Quelle: „Lage der Jugend in Europa“, s. Bibliographie. 222 Quelle: Statec. 223 EU-Durchschnitt bei der Fruchtsbarkeitsrate: 1,57, Lebensgeburten pro 1000 Einwohner: 10,4; Quelle: www.wko.at. 219 102 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Kinder scheinen also grundsätzlich in der Gesellschaft gewünscht und willkommen. Insgesamt ist die Einwohnerzahl Luxemburgs seit 1950 von damals 294 550 auf 457 250 im Jahr 2005 kontinuierlich angestiegen,224 Luxemburg besitzt 2009 das mit 17,2 Prozent höchste relative Bevölkerungswachstum insgesamt der EU,225 was allerdings nicht allein etwas mit der Geburtenrate, sondern mit der Zuwanderung zu tun hat. Interessanterweise ist die Anzahl der Eheschließungen im selben Zeitraum aber nicht proportional gestiegen, sondern im Gegenteil geringer geworden (1950: 2.580 Eheschließungen; 2005: 2.032 Eheschließungen). Gleichzeitig aber ist die Anzahl der gescheiterten Ehen seit 1950 (damals: 161) stetig angestiegen und hat sich seit Mitte der 1990er Jahre auf einen Stand von etwa 1.000 Scheidungen pro Jahr im Großherzogtum eingependelt. Das bedeutet im Verhältnis zu den Hochzeiten ein Verhältnis von einer Scheidung auf zwei Eheschließungen. Im Jahr 2009 lag laut Statec die Scheidungsrate bei 60 Prozent, eine der höchsten weltweit. Das Eheversprechen wird nicht mehr als bindend empfunden, weder gegenüber dem Staat und auch nicht moralisch oder religiös im Sinne des Sakraments, das man sich gegenseitig gespendet hat. Die Stabilität der Ehe als Grundlage der Familie ist in Luxemburg folglich sehr fraglich geworden und keinesfalls mehr verlässlich. Das gilt insbesondere für die Kinder und Jugendlichen, die in diesen Verhältnissen aufwachsen und von den Veränderungen in ihrem nächsten Umfeld betroffen sind, denn in immerhin der Hälfte der Haushalte, die sich trennen, werden Kinder versorgt. Das klassische Familienmuster scheint insgesamt für immer mehr Menschen nicht mehr tragfähig, da auch die Anzahl der unehelichen Kinder wie auch die der alleinerziehenden Mütter wie Väter kontinuierlich zunimmt. Wurden 1950 in Luxemburg noch 149 Kinder außerehelich geboren, waren es 2005 1.463 Kinder; das ist weit mehr als ein Drittel aller im Großherzogtum zur Welt gekommen Kinder (nämlich 3908), deren Eltern nicht verheiratet waren. Die Anzahl der Haushalte (Gesamtanzahl aller Haushalte: 171.953) mit einem alleinerziehenden Elternteil mit einem oder mehreren Kindern betrug im Jahr 2005 2.382, wobei der Anteil der alleinerziehenden Mütter um ein Zehnfaches höher ist als das der Väter. Auf der anderen Seite sinkt die Anzahl derjenigen Haushalte, in denen mehrere Generationen unter einem Dach zusammenleben. 224 225 Quelle dieser und der im Absatz folgenden Daten: Statec: www.statistiques.public.lu/stat. Quelle: Statista.com. 103 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Auch wenn bereits in der im zweiten Kapitel vorgestellten luxemburgischen Wertestudie aus dem Jahr 2002 davon die Rede war, wie hoch Familie im Kurs zu stehen scheint, belegen die Zahlen doch die Brüchigkeit familiärer Strukturen in Luxemburg. Insbesondere die Feststellung der Scheidungsrate deutet an, dass Familie als Raum des Rückhalts und der Geborgenheit für viele nicht mehr funktioniert und gültig ist und die betroffenen Kinder und Jugendlichen sich auf alternative Lebensumstände einstellen müssen, mit allem was dazu gehören: Bezugspersonen, Absprachen, Wohnorte und damit ein Zuhause, Rituale, Feste und vieles mehr werden beliebiger, zumindest jedoch hinterfragt. Eingedenk der Erkenntnisse über die Erfahrung von Heiligkeit im zweiten Kapitel dieser Arbeit stellen wir fest, dass sich die Jugendlichen Ersatz schaffen müssen für das, was ihnen in der Familie versagt bleibt: die Erfahrung von Gemeinschaft und entsprechenden Ritualen. Viele Jugendliche sind zurückgeworfen auf sich selbst und müssen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden „familientechnisch“ eine Menge Schlenker hinnehmen, die zweifelsohne ihre Persönlichkeitsentwicklung prägen. Die Sicht auf die Dinge, das Herausbilden eines Werterasters, die Erfahrung von unverrückbarem Urvertrauen und Zwischenmenschlichkeit wird Zeuge von Einschnitten, werden sie von vielen Eltern noch so behutsam vorgenommen und sicher in den wenigsten Fällen beabsichtigt oder gewünscht. Das Verschwinden des Schutzgemeinschaft Rückzugsraums der heilen macht und Jugendliche Kinder Familie als fragiler verlässliche und auch eigenständiger. Welche Konsequenz dies im Bezug auf die Herausbildung von Religiosität hat, soll im vierten Kapitel erarbeitet werden. 3. 1. 6 „Ein glückliches Umfeld?“ Wie bereits bei den familiären Strukturen festgestellt, bietet finanzielles Wohlergehen vordergründig Sicherheit, garantiert jedoch kein Gelingen in sozialen Fragen des Miteinanders. Geld ist keineswegs gleichbedeutend mit einer glücklichen Jugend, und die vorfindbare finanzielle Spitzenposition 104 Luxemburgs bringt gesellschaftliche Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Begleiterscheinungen mit sich, die es einem Glück nicht nur erschweren, sondern in mancher Hinsicht sogar das Gegenteil: Unglücklichsein auslösen. Für seine Studie „Was Kinder glücklich macht“ befragte der Religionspädagoge Anton A. Bucher über 1300 Kinder.226 Erfreulicherweise fühlen sich 93 Prozent aller Jungen und Mädchen als „sehr glücklich“ oder „glücklich“. Interessant und aus Kirchensicht enttäuschend stimmt sicher das Resultat, wann die Kinder am wenigsten glücklich sind, nämlich an vierter Stelle, hinter dem berühmten Zahnarzt, der Schule und den Hausaufgaben in der Kirche! Man muss aus institutioneller Sicht einräumen, dass kirchliche Räume den Kindern nicht nur kein attraktives Angebot machen, sondern im Gegenteil ihnen Unbehagen einräumen – von spiritueller Befriedigung also keine Spur. Dies sollte im Allgemeinen den Kirchen Anlass geben, ihre Einladung an die Kinder zu überprüfen. Immerhin liegt das Großherzogtum weltweit gesehen und altersunabhängig auf Platz zwölf auf der „Weltkarte des Glücks“, die 178 Nationen befragte.227 Jedoch ist es mit der mentalen Gesundheit der Kinder in Luxemburg laut ORK-Daten nicht zum Besten bestellt: Das „Ombuds-Comité fir d’Rechter vum Kand“ (ORK) stellte in seinem Bericht aus dem Jahr 2006 mit Besorgnis fest, dass sich unter der jungen Bevölkerung eine „besorgniserregende Lebensüberdrüssigkeit“ breitmache.228 Die Zahlen, die das ORK zusammenstellte, klingen alarmierend: So suchten allein im Jahr 2005 2.611 Kinder und Jugendliche Hilfe in der pädopsychiatrischen Abteilung des „Centre Hospitalier“ in Luxemburg, 467 junge Betroffene mussten in Luxemburg oder im Ausland wegen psychischer Krankheiten behandelt werden. Gründe und Hintergründe hierbei sind laut dem ORK vor allem 1. gescheiterte Familienverhältnisse beziehungsweise Trennungen, 2. Drogenmissbrauch, 3. falsche Schönheitsideale und 4. der falsche Umgang mit neuen Technologien und Medien. 226 Bucher (2001), zitiert nach Eltern (9/2006), S. 38. Rovatti (2006), S. 24. 228 Quelle: Artikel im Luxemburger Wort, Hamus (2006), S. 19. 227 105 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Der letzte Punkt weist aus, dass sich Eltern und Mediziner mit dem Vormarsch neuer Medien einem ganz neuen Phänomen gegenübersehen: Bei übertriebener Nutzung von multimedialen Angeboten laufen Kinder und Jugendliche Gefahr, sich vollständig von der Außenwelt abzukapseln und ihr Dasein nur noch in der virtuellen Welt zu fristen. In Luxemburg sind zuletzt erste Fälle dieses Krankheitsbildes „Hikikomori“229 aufgetreten, bei dem Menschen sich einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft freiwillig auf ein Minimum reduzieren. Diese Statistik bestätigt die Gedanken aus dem Teilkapitel 3. 1. 2, in dem die Gefahr der Übersteigerung angemahnt wurde. In einer Gesellschaft, in der die durchschnittliche Familie sich nicht sonderlich um Existenzielles sorgen muss, treten Randerscheinungen, ich nenne sie „Nebenschauplätze“, in den Vordergrund. Überdrüssig mögen sich auch jene vorkommen, die am aktiven Arbeitsprozess nicht teilnehmen können. So lag die Arbeitslosenrate in Luxemburg im Oktober 2006 bei 4,5 Prozent. Dies bedeutet eine leichte Senkung im Vergleich zum Vorjahr, von 10.354 auf nun 9.835 Erwerbslose,230 und mag im internationalen Vergleich in Zeiten wirtschaftlicher Krise nicht dramatisch erscheinen. Jedoch haben diese Zahlen innerhalb eines Landes mit entsprechender Kaufkraft pro Bürger wie in Luxemburg eine spezielle Aussagekraft. Diejenigen, die nicht mehr kaufen können, fühlen sich leichter ins Abseits gedrängt, Kinder aus solchen Familien können mit dem Markendruck ihrer Schulkameraden oder Freunde nicht mehr mithalten und geraten ins Außenseitertum. Mit diesen Beispielen kann man sich vorstellen, dass die innere Struktur einer nach außen hin sozial intakten Gesellschaft marode sein kann, und es ist anzunehmen, dass dies durchaus Auswirkungen auf die religiöse Identität eines jungen Menschen hat. 229 230 Der Name stammt aus Japan. Vgl. Luxemburger Wort vom 23. 11. 2006, S. 1 bzw. 2. 106 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 3. 2 „Religion im Angebot“ – Ein Überblick 3. 2. 1 Religionsunterricht an den Schulen Der heutige RU an den öffentlichen Schulen versteht sich als der Beitrag der katholischen Kirche im Rahmen einer ganzheitlichen Erziehung im 'Lebensraum Schule'. Mit dem Eintritt in den Cycle 2 (früher 1. Primärschuljahr) des staatlichen Schulsystems erhalten die Eltern die Wahl, ihr Kind entweder für den Religions- oder den Moralunterricht231 anzumelden; letzterer wurde 1998 eingeführt. Es soll an dieser Stelle weniger um einen geschichtlichen Überblick des Luxemburger RUs gehen, sondern um die Wegweisung zur heutigen Situation. Durch die Reform des Sekundarunterrichts gemäß dem Gesetz vom 10. Mai 1968 wurde das ehemalige Statut von Religion und RU in den öffentlichen Schulen wesentlich abgeändert und trug so einer pluralistischen Gesellschaft Rechnung.232 Zum einen wurde die verpflichtende Teilnahme am religiösen Schulleben, so etwa an gemeinsamen Messen, Prozessionen, Kommuniontagen und Beichtgelegenheiten aufgehoben beziehungsweise als religiöse Manifestation stark reduziert. Zum Zweiten wurde die obligatorische Teilnahme am RU, von der sich seit dem Schulgesetz von 1912 lediglich Angehörige anderer Religionen dispensieren lassen konnten und die in allen Lehrplänen bis zum Studienabschluss immer an erster Stelle stand, abgeschafft. Zum Dritten zählte dieses Fach nicht mehr zur Versetzung in die nächste Klasse und war ebenfalls kein Examensfach (auf Quarta und Prima) mehr. Schließlich wurde der Posten des offiziell anerkannten Schulaumôniers ebenfalls gestrichen. Stattdessen wurde das Fach „morale laïque“ neu eingeführt (im Primärunterricht geschah dies 1998)233, das fortan neben dem RU den Schülern zur Auswahl stand. Außerdem wurde die bestehende Möglichkeit eines Dispenses losgelöst von der Zugehörigkeit einer nichtkatholischen Religionsgemeinschaft und in dem Sinne verallgemeinert, dass man sich von den beiden Alternativfächern Laienmoral und Religion „sur déclaration écrite“ dispensieren lassen konnte. Der Wertunterricht 231 war außerdem nicht mehr Vgl. hierzu auch Jean-Louis Zeien (2010). Gindt (2002), S. 1-2. Die Darstellung dieses inhaltlichen Abschnitts ist ebd. Quelle entnommen. 233 Hier sowie weitere Inhalte dieses Abschnitts: Conférence des professeurs (…) (2008), S. 36. 232 107 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen versetzungsrelevant. Dieses Gesetz wurde jedoch nachgebessert, da nach kurzer Zeit etwa dreißig Prozent der Schülerinnen und Schüler von dem Dispens Gebrauch machten und so zwei Unterrichtsstunden weniger pro Woche hatten als ihre Mitschüler im Religionsbeziehungsweise Moralunterricht. Das Gesetz vom 16. November 1988 regelte alsdann den Wertunterricht so, dass er aus zwei Alternativfächern, der „Instruction religieuse et morale“ und der „Formation morale et sociale“ (statt „Morale laïque“) besteht, die den Schülern zur Wahl stehen. Seitdem können nur jene Schüler vom Wertunterricht befreit werden, „qui se réclament d’une croyance religieuse dont les adhérants n’assurent pas de cours d’instruction religieuse et morale dans le cadre des horaires scolaires“. Mit dem Gesetz vom 12. Juli 2002 wurde diese Dispensmöglichkeit ganz abgeschafft. Seitdem besitz der Wertunterricht innerhalb des Fächerkanons nun den Promotionsfaktor 1, das heißt, er ist zwar nicht direkt versetzungsrelevant, kann jedoch mit einer schwachen oder ungenügenden Punktzahl zu einer Durchschnittspunktzahl auf dem Jahreszeugnis beitragen, die nicht zu einer Versetzung gereicht. Um im Sekundarunterricht die „Formation morale et sociale“ zu unterrichten braucht der Lehrer keine fachspezifische Ausbildung.234 Bei Mangel an Lehrern und bei Bedarf wird das Fach auch von Lehrkräften anderer Fachdisziplinen erteilt. Seit einiger Zeit werden fachspezifische Weiterbildungsmaßnahmen angeboten sowie eine fachliche Qualifikation innerhalb des „Stage pédagogique“ der Philosophielehrer. Seit 2007 besteht die Möglichkeit eines eigenen „Stage pédagogique“ an der Universität Luxemburg mit anschließender Nomination.235 Neben der katholischen Kirche als Mit-Träger des RUs an der Seite des Luxemburger Staates können prinzipiell alle vom Staat anerkannten Religionen Religionsunterricht anbieten; sie machten bisher von ihrem Recht keinen Gebrauch.236 234 Ebd. Ebd. 236 Conférence des professeurs (…) (2008), S. 36. 235 108 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Im Laufe der Zeit hat sich im RU ein Paradigmenwechsel vollzogen, der bereits in der Grundschule einsetzt, wie Jean-Louis Zeien, verantwortlich für die Organisation des RUs an Luxemburger Primärschulen, beschreibt: „weg von einem rein katechetisch ausgerichteten Religionsunterricht hin zu einem Fach, das sich als Hilfe zu einer Lebensorientierung aus christlicher Verantwortung heraus versteht. Im Dienst steht der Religionsunterricht aus dieser Sichtweise heraus dann, wenn es ihm selbstlos darum geht, jungen Menschen aufzuzeigen, dass der christliche Glaube ihnen helfen kann, Orientierung und Perspektiven für ihr Leben zu finden. Dabei soll sowohl Konzeption als auch Methodik im Religionsunterricht die befreiende Botschaft Jesu Christi widerspiegeln. Religionsunterricht ist somit ein dialogisches Geschehen, das existenzielle Fragen aufgreift und dem Schüler zugleich hilft auch, die spirituelle Dimension des Lebens zu entdecken. Die Verlautbarungen der Diözesanversammlung 'Kirche 2005' zum Religionsunterricht spiegeln diesen Standortwechsel wider.“237 Die Programmkommission für den RU im Sekundarbereich beschreibt den Anspruch an ihr Fach folgendermaßen: „Angesichts der Komplexität des Lebens, der Gesellschaft und der Geschichte muss die Schule den Jugendlichen und jungen Erwachsenen helfen, eine eigenständige Identität und einen Sinn für Selbst- und Mitverantwortung zu entwickeln. Dazu reicht reine Wissensvermittlung nicht aus. Es bedarf, worauf die OECD-Bildungsexperten letztlich auch mit ihrer PISAStudie hinweisen, der Förderung von Kompetenzen. Von daher möchte das Fach „Instruction religieuse et morale“ Schülerinnen und Schüler unterstützen, sowohl kognitive als auch emotionale Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, damit sie ihr persönliches Lebensprojekt entdecken, entfalten und verwirklichen können. Dabei geht es dem Fach entsprechend vor allem darum, soziale, ethische und spirituelle Kompetenzen so zu entwickeln, dass die Jugendlichen und späteren Erwachsenen in den alltäglichen Lebenssituationen wissen, welche Fähigkeiten sie mobilisieren können, um Lebensfragen, ethische Probleme und Sinnfragen konstruktiv anzugehen. Ziel ist es, die Jugendlichen in ihrem Selbstfindungsprozess dahin gehend zu unterstützen, dass sie ihr jetziges und zukünftiges Leben als sinnvoll erfahren und gestalten.238 (...) Zu den fächerübergreifenden Kompetenzen zählen u.a.: Analysieren, Synthetisieren, Integrieren, Argumentieren, Kommunizieren, Beurteilen, Zuhören, Kooperieren....Die zu fördernden fachspezifischen Kompetenzen lassen sich in folgende Bereiche aufteilen: 237 238 Subjektwerdung (...) Selber Denken (...) Soziales Leben (...) Ethik (...) Spiritualität (...) Kultur und Geschichte (...) Das Phänomen des Religiösen (...) Zeien (2003). Hervorhebung von mir, S. D. 109 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Das christliche Erbe (...)“239 Der heutige RU versteht sich also im Dialog mit den Anforderungen der modernen Gesellschaft. Er möchte das Kind beziehungsweise den Jugendlichen in seiner emotionalen sowie Bildungsentwicklung ernst nehmen und fördern. Dass die Gegner des traditionellen RUs ihm diese Kompetenz absprechen, soll an späterer Stelle dargestellt werden. Die Wahrnehmung des RUs ist zwischen den Schulträgern etwas unterschiedlich, was die nachfolgende Statistik zeigt. Sie stellt die Teilnahme der Schüler am Wertunterricht dar, getrennt nach enseignement secondaire classique, enseignement secondaire technique und enseignement secondaire technique préparatoire (s. folgende Seite). 239 Siehe www.men.lu, programmes 2010/2011. 110 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 111 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Die Zahlen belegen für das Schuljahr 2009/2010 zunächst einmal, dass sich immer noch die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in Luxemburg für den schulischen RU (MORCH) entscheiden,240 wenn auch der Anteil am Moralunterricht (FOMOS) weiter gestiegen ist. Im klassischen und technischen Sekundarunterricht unterscheiden sich die Statistiken nicht besonders; beide weisen eine Teilnahme am RU von etwa 64-65 Prozent nach, die Teilnahme am Moralunterricht liegt bei 34 bis 36 Prozent. Im Vergleich zu vorangegangenen Jahren ist der Anteil der Schüler, die am konfessionellen RU teilnehmen wollen, stetig gestiegen: am Enseignement secondaire technique von 60, 54% im Schuljahr 2006/2007 auf 65, 87% im Schuljahr 2009/2010; am Enseignement secondaire classique von 63,98% im Schuljahr 2006/2007 auf 64, 06% im Schuljahr 2009/2010. Anders sieht das Verhältnis freilich bei den (konfessionellen) Privatschulen aus, bei denen nahezu alle Schüler am RU teilnehmen. Das Besondere dort ist, dass das Fach Religion zum Fächerkanon obligatorisch auf allen Klassen dazugehört und nicht durch den Moralunterricht ersetzt werden kann. Zudem bieten diese Schulen ein besonderes pastorales Angebot innerhalb einer Aumônerie an. Zwar haben aus personellen Gründen nicht mehr alle Schulen einen Pfarrer als Schulaumônier, jedoch bemühen sie sich, die seelsorgerischen Aufgaben durch die Religionslehrer aufzufangen. 241 2007 betrug der Anteil der Schüler, die in Luxemburg eine katholische Privatschule besuchen etwa elf Prozent.242 Die katholischen Privatschulen versuchen in besonderem Maße, die religiöse Dimension bei der Erziehung junger Menschen zu berücksichtigen und im Sinne eines christlich-ethischen Menschenbildes zu verwirklichen. Die Legitimation hierfür finden sie zum einen in den Glaubensvorbildern oder auch Gründern ihrer Schule, wie etwa Pierre Fourier und Alix le Clerc bei der Ecole Privée Notre-Dame (Sainte-Sophie), zum anderen auch durch die Definition seitens der IV. Luxemburger Diözesansynode von 1984. Diese stellt fest: „Die Eigenart der katholischen Schule ergibt sich aus ihren besonderen Zielen: Sie soll den jungen Menschen befähigen, aus der Kraft des Glaubens und in der Bildung an die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen sich voll zu entfalten, persönlich-individuell und im Einsatz für andere“.243 Dabei muss jedoch angemerkt werden, dass es sich bei Ste. Anne, Marie Consolatrice und Ecole Privée Fieldgen um reine Mädchenschulen handelt, bei dem 240 Quelle: www.religionslehrer.lu. Bei den öffentlichen Schulen setzte die Schulreform von 1968 dem bis dahin gesetzlich vorgesehenen Schulaumônier ein Ende. Gindt erklärt hierzu: „Wenn also weiter von einem Aumônier oder einer Aumônerie gesprochen wurde, geschah dies ohne gesetzliche Grundlage.“ Gindt (1991), S. 122. 242 Siehe die entsprechende Tabelle im Anhang dieser Arbeit. 241 112 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Internat Pensionat in Echternach um eine Einrichtung für Jungen. Die meisten anderen – nichtkonfessionellen - Schulen Luxemburgs bieten eine Schulpastoral an, die vom Engagement und den Möglichkeiten der dort wirkenden Religionslehrer sowie der regionalen Verwurzelung der einzelnen Schule (etwa in Echternach oder der Hauptstadt) abhängt. Sie orientiert sich meist an den traditionellen luxemburgischen Festen wie etwa der Pélé des Jeunes innerhalb der Frühlings-Oktav, die Oktav selbst, die Springprozession zu Pfingsten in Echternach oder die Hl.-Willibrord-Oktav im November. Als Alternative steht, wie zuvor bereits erwähnt, den Schülern, Vertreten durch ihre Eltern, das Fach Formation morale et sociale, kurz FOMOS, zur Wahl. Dieses orientiert sich inhaltlich an den Leitlinien für die Praktische Philosophie: 244 „Der Unterricht im Fach Praktische Philosophie hat (...) die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern wichtige weltanschauliche und religiöse Entwicklungen sowie ideengeschichtliche Zusammenhänge nahe zu bringen. Dabei haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, die religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen, die unsere eigene und fremde Kulturen geprägt haben, aus ihren Ursprüngen und Traditionen heraus zu verstehen. Sie sollen sich mit den darin erkennbaren Wertvorstellungen im Sinne interkultureller Toleranz auseinandersetzen und dazu Stellung nehmen. (…) Ziel des Unterrichts im Fach Praktische Philosophie ist es, den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu erschließen, die Wirklichkeit in ihren vielfältigen Dimensionen effizienter wahrzunehmen und zu beurteilen sowie Empathiefähigkeit, Wert- und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Dies soll ihnen eine sinnvolle Lebensführung und verantwortliches Handeln in einer demokratisch verfassten Gesellschaft ermöglichen. (…) Die Inhalte des Unterrichts werden unter drei Aspekten behandelt (der personalen, der gesellschaftlichen und der ideengeschichtlichen Perspektive) und zu Fragenkreisen gebündelt: Die Frage nach dem Selbst, die Frage nach dem Anderen, die Frage nach dem guten Handeln, die Frage nach Recht, Staat und Wirtschaft, die Frage nach Natur und Technik, die Frage nach Wahrheit, Wirklichkeit und Medien, die Frage nach Ursprung, Zukunft und Sinn. Unterrichtsmethodische Prinzipien sind Ganzheitlichkeit, individuelle Lernwege, Reflexion statt Kanon, Sachwissen, methodische Kompetenz und dialogische Verständigung. Arbeitsformen: Das philosophische Gespräch, der philosophierende Umgang mit Texten, die Produktion eigener Texte, Dilemmageschichten, Simulation und Rollenspiel, Konfliktschlichtung, Kreatives Gestalten, Umgang mit audiovisuellen Medien, Projektlernen, Realbegegnungen.“ 243 IV. Luxemburger Diözesansynode (1984), Leitsatz 1, Nr. 178. 113 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Ob RU in Luxemburg aus kirchlicher Sicht ein Erfolg ist, lässt sich anhand verschiedener Kriterien beurteilen. Nimmt man dazu die Kirchenbesucherzahlen, ist man schnell mit einem Negativurteil bei der Hand, so wie es Jupp Wagner bereits 1990 war, als er die Ergebnisse der „Rappsonndeg“245-Umfragen auswertete und kommentierte: Angesichts abnehmender Zahlen sprach er von einer „Erfolglosigkeit des schulischen Religionsunterrichts“246. Dem sind jedoch zwei entscheidende Argumente entgegenzuhalten, die die vorangegangenen Kapitel hergeleitet haben: 1. Religiosität ist mehr als der äußere Ausdruck in Form einer Kirchganggeste. 2. Religiosität, auch Kirchgang, ist nicht primär motivierbar durch den RU, sondern durch religiöse Prägung, die zu großen Teilen im Elternhaus stattfindet. Religionslehrer müssen sich also heute bewusst sein, dass ihr Unterricht häufig die letzte kontinuierliche Beziehung zu einer institutionalisierten Religiosität darstellt. Unabhängig aber von Kirchenbesuchszahlen wird die Berechtigung des Unterrichtsfaches Religion in jüngerer Vergangenheit laut hinterfragt, was das folgende Teilkapitel näher beleuchten soll. 3. 2. 2 Der Streit um den Werteunterricht in Luxemburg Darüber, ob der RU in seiner bisherigen Form als Wahlfach neben dem Moralunterricht bestehen bleiben soll, wird auf allen medialen Ebenen gestritten: in der Presse, im Radio, in 244 Quelle und vollständiger Lehrplan unter www.learn-line.nrw.de/angebote/praktphilo, Hervorhebung von mir, S. D. 245 Der Ausdruck „Rappsonndegen“ stammt von dem Luxemburger Radiomoderator Nic Weber, der seinerseits die Umfragen kommentierte, und gründet auf dem luxemburgischen Verb „rappen“ = reißen, weil die Zählkarten an den entsprechenden Stellen eingerissen werden musste. Vgl. Gindt (1991), S. 65. Im Gegensatz zu der ILReS-Studie sollten bei der Synodenumfrage alle Bewohner Luxemburgs ab 16 Jahren die Möglichkeit bekommen, sich zu äußern. Insgesamt wurden 225521 Fragebogen verteilt, 91510 wurden zurückgeschickt, 79799 konnten ausgewertet werden. Vgl. Heiderscheidt (1971), S. 3. 246 Wagner (1990), S. 6. 114 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Fernsehdiskussionsrunden. Es soll im Rahmen dieser Arbeit nicht darum gehen, hierüber einen umfassenden Überblick zu geben, sondern die Positionen in g r o b e n Zügen zu erklären. Im Gegensatz zum laïzistischen Frankreich, wo Kirche und Staat im Unterrichtswesen getrennt sind, hat die katholische Kirche Luxemburgs immer noch einen Bildungsanspruch innerhalb der öffentlichen Schule. Dieser wird jedoch in aktueller Zeit zunehmend umstritten. Es bildete sich ein „Bündnis fir d’Trennung vu Kirch a Stat“247 (Bündnis tvkas). Dieses tritt für eine rigorose Trennung von Kirche und Staat in jedwedem Bereich ein und kritisiert die aus ihrer Sicht überdominante weltanschauliche Vormachtstellung und Privilegien der Kirche innerhalb der Gesellschaft. Im „Interesse einer aufgeklärten Gesellschaft“ verbitte man sich jegliche religiöse Einmischung. Das Bündnis tvks meint, dass „vom Privileg abgesehen, dass die katholische Kirche praktisch als einzige Glaubensgemeinschaft über das Recht verfügt, in öffentlichen Schulen ihren Glauben zu verbreiten, (der) RU insgesamt in einer öffentlichen Schule, die Wissen und Werte vermitteln soll, nichts verloren“ habe. Zudem stelle die aktuelle Regelung eine Art Zweiklassen-Werteunterricht dar: der katholische RU und das „morale laïqueSammelbecken“ für die Nicht-Gläubigen und Anhänger anderer Glaubensrichtungen.248 Angeprangert wird auch, dass der Luxemburger Steuerzahler die Kirchen, Gehälter kirchlicher Angestellter oder auch kirchliche Privatschulen finanziell unterhalte, „unabhängig davon, ob er gläubig ist, Mitglied dieser Kirche ist, und/oder die Werte dieser Religion teilt oder nicht“. Vertreter der „Liberté de conscience“ monieren, der RU dürfe die Infrastruktur der Schule benutzen, um den Schülern ihre Weltanschauung nahe zu bringen, womit andere Gruppen diskriminiert würden. Betreffend des Schulunterrichts hält das Bündnis tvkas das Nebeneinander von katholischem RU und Morale laïque als „Sammelbecken für die Nicht-Gläubigen und Anhänger anderer Glaubensrichtungen“ für einen „Zwei-Klassen-Werteunterricht“, den es aus ihrer Sicht schleunigst abzuschaffen und durch eine aus Bündnis-Sicht „zeitgemäßere Lösung“ zu ersetzen gilt. Den Religionslehrern auf der anderen Seite geht es möglichst um eine Erhaltung ihres Faches. Ihre Kernargumentation:249 Schule sei seit jeher auch schon eine „Erziehungsanstalt“ gewesen. Gerade in unserer heutigen Zeit beklagten sich die Lehrer 247 Vgl. die zugehörige Homepage www.trennung.lu, der nachfolgende Inhalte zu entnehmen sind (Stand: Juni 2010). 248 Ebd. 249 Entnommen Siebenaller (2009). 115 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen darüber, dass ihr Beruf zusehends vom Wissensvermittler zum Erzieherberuf mutieren würde, da die Anzahl der Schüler mit (...) Verhaltensstörungen von Jahr zu Jahr steigen würde. In der Schule würden ganze Menschen herangebildet und in ihrem Entwicklungsprozess des Erwachsenwerdens intensiv begleitet. Dieser ganze Mensch bestehe nicht nur aus einem Kopf mit einem Gehirn drin, das mit bloßem „Wissen“ vollgestopft werden möchte, sondern auch aus einem Körper, dessen Muskulatur durch Bewegung und Sport starkgemacht und gesund gehalten werden wolle, und eben nicht zuletzt auch aus einer Seele (oder auch „Geist“ oder „Psyche“ für die NichtGläubigen), die durch die konkreten zwischenmenschlichen Begegnungen und Erfahrungen geformt wird.250 Nach Meinung der Religionslehrer sollten junge Menschen, die auf der Suche nach Antworten auf religiöse Fragen sind, sollten daher gerade in der Schule die Möglichkeit bekommen, die notwendigen Kompetenzen zu erlangen, um zwischen den ursprünglich guten Ideen der Religionsgründer – die Lebensorientierung bieten können – und den sich später zugetragenen Fehlentwicklungen unterscheiden zu können. Insofern halten die Befürworter das Argument ihrer Gegner, beim RU handle es sich vornehmlich um „Glaubensgeschichten“, in der Schule gehe es aber ausschließlich um Wissen und Wissensvermittlung, für widerlegt. Zweitens argumentieren die Befürworter, dass Religion definitiv keine reine Privatsache sei. Religionen hätten mitunter auch heute noch großen Einfluss auf die Weltpolitik. Es werde möglicherweise keinen dauerhaften Weltfrieden geben ohne einen authentischen Frieden unter den Weltreligionen. Religiös gebildete Menschen, die ein fundiertes Wissen über die eigene Religion so wie über die ihrer Mitmenschen haben, könnten einen konstruktiven Beitrag zum interreligiösen Dialog leisten, sowie die Menschen, die gelernt haben, sich kritisch mit den eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln auseinanderzusetzen und in einer Grundhaltung des Respekts anderen Weltanschauungen und Religionen zu begegnen, Fundamentalisten – ganz gleich aus welchem „Lager“ sie stammen – nicht so schnell „auf den Leim gehen“ würden. Unterstützt werde sie vom Bistum und Vertretern der Nachbarkirchen. So meint beispielsweise Gabriele Krohmer, bis 2009 Pfarrerin in der evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Luxemburg im Luxemburger Wort251 unter der Teilüberschrift „Lieber 250 251 Siebenaller (2009), Hervorhebungen von mir, S. D. Siehe die Ausgabe des Luxemburger Worts vom 10. 11. 2007. 116 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Kommerz als Kirche“, es mache sich auch in den Schulen eine „antikirchliche Stimmung breit“: „Es dürfen Werbeplakate und Einladungszettel für sportliche, musikalische, selbst halbkommerzielle Veranstaltungen aufgehängt werden. Nur bei religiösen oder kirchlichen Veranstaltungen kommen plötzlich Bedenken. Religion wird zur Privatsache erklärt.“ Gabriele Krohmer wünscht sich eine „ganzheitliche Pädagogik“: „Es stellt sich die Frage, wie Staat oder Schule den Erziehungsauftrag verstehen. Geht es nur darum, Wissen zu vermitteln oder auch darum, daß ein Kind sich entfaltet, Kompetenzen erwirbt, sein Leben meistern kann. Wenn Sport zur Privatsache deklariert würde, wäre sofort klar, daß noch mehr Kinder in Bewegungsarmut versinken mit den entsprechenden gesundheitlichen, wohl auch volkswirtschaftlichen Folgen. Musik und Kunst tun gut, sind Ausgleich und werden gerade in Lebenskrisen als Kraftquelle wieder entdeckt. Zu diesem Fächerkanon zähle ich auch Religionsunterricht. Eine religiöse Bildung liefert wichtige Ressourcen zur Bewältigung des Lebens. Diese zur Privatsache zu erklären würde bedeuten, daß man vielen Kindern diese „Ressource“ entzieht.“252 In puncto Bildung im Zusammenhang mit verschiedenen Fächeroptionen gilt sicher das Prinzip von Angebot und Nachfrage, so auch im RU. Hier spricht das Votum der Eltern (noch) eine eindeutige Sprache: Mehr als 80% der Eltern eines Grundschulkindes sowie 65% der Eltern eines Jugendlichen am Sekundärschulbereich melden ihr Kind für den RU an. Diese Tatsache wird vonseiten der Religionslehrer auch als ein Argument angeführt, ihr Fach beizubehalten: Erstens besteht eine demokratische Wahlmöglichkeit und zweitens entscheidet sich dann eine deutliche Mehrheit für diesen Unterricht.253 Dennoch wurden in jüngster Vergangenheit die Stimmen lauter, die eine Abschaffung des RUs nicht nur andenken, sondern – je nach Blickwinkel – progressiv oder aggressiv fordern. Die Selbstverständlichkeit des RUs als Teil des luxemburgischen Fächerkanons hat sich mit der Eröffnung des „Néien Lycée“, der 2005 eröffneten pädagogischen Projektschule, aufgelöst. Begrüßt wurden die steigenden Zahlen der Schüler, die sich vom RU zum Fach Morallehre ummelden. So kommentierte etwa der Journalist Romain Durlet in Luxemburgs Tageblatt254, die neuen Schülerzahlen im Religions- beziehungsweise Moralunterricht als 252 Ebd., Hervorhebung von mir, S. D. Vgl. die Stellungnahme des Vorstands der Religionslehrer im postprimären Unterricht, s. www.religionslehrer.lu 254 Luxemburger Tageszeitung, die sich dem sozialistischen Lager zuordnet. 253 117 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen „vollen Erfolg“ zugunsten der Morallehre.255 Zudem würden, laut Durlet, die Schüler am „Neien Lycée“ vom Moralunterricht „nicht mit dogmatischen Ideen belästigt“.256 Dass hier kein RU mehr erteilt wird, zeugt von eben jenen angeklungenen antireligiösen Strömungen bei (auch schul-) politischen Entscheidungsträgern. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Wahrnehmung und Beurteilung fällt außerdem auf, dass auch das Erzbistum selbst kein einheitliches Bild bezüglich der bedingungslosen Unterstützung des RUs an den Schulen abgibt. So verschickte das Erzbistum im Spätsommer 2006 an viele Haushalte das Heft „Einladung zu einem Sozialwort der katholischen Kirche Luxemburg“. In diesem Heft wird im Kapitel „Erziehung und Bildung“ der Frage nach religiösen Werten innerhalb der Schulbildung nachgegangen. Dort heißt es: „Was hast du gelernt? Auch diese Frage trifft etwas Bedeutsames, das Menschen bestimmt und ausmacht. Formelle und informelle Bildung prägen den Menschen und verschafft ihm über seine ursprünglichen Fähigkeiten und Begabungen hinaus Handlungs-, Denk- und Reaktionsmuster, die ihn von anderen unterscheiden, aber auch mit anderen verbinden. Erziehung und Bildung als Investition in die Zukunft verstehen und fördern, gehört zu den vordringlichen Aufgaben von heute und morgen.“257 Soweit so gut: Schule wird also als wichtige Prägungsstätte des Jugendlichen anerkannt und geschätzt. Jedoch heißt es dann weiter: „Die Schule von heute hat als Institution große Mühe, sich auf die neuen Bedingungen der Ausbildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen umzustellen“. Am Ende der anschließenden Auflistung kritischer Bereiche wie etwa die „Auflösung und Infragestellung eines einheitlichen Fächerkanons“ oder der „neuen Aufgaben einer ganzheitlichen Betreuung der Kinder und Jugendlichen durch die 255 „Der Versuch (gemeint ist die Einführung des Faches Moral in der Primärschule, Anm. der V.) sollte sich lohnen. Heute besuchen im Durchschnitt 30% der Primärschüler der Hauptstadt besagten Unterricht. Während der ersten drei Jahre ist die Zahl allerdings gering, weil viele Eltern das Familienfest der Erstkommunion abwarten und erst nachher ihre Kinder nicht mehr in den Religionsunterricht schicken.“ Durlet (2006), S. 24. 256 Durlet (2006), S. 24. 257 Erzdiözese Luxemburg (2006), S. 11. 118 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Schule“ moniert der (anonyme) Autor: „Ein expliziter Werteunterricht muss die zufälligen Wertepräferenzen einzelner Lehrer ausgleichen und ergänzen.“258 Was ist damit gemeint? Handelt es sich hierbei um eine unglückliche Umformulierung des klassischen RUs als „Expliziter Werteunterricht“ oder wird etwa der RU dem Fach „Morallehre“ gleichgestellt? Letzteres würde heißen, dass selbst die Vertreter der katholischen Kirche Luxemburg die Legitimation eines konfessionellen Unterrichtsfachs nicht mehr bedingungslos unterschreiben. Dabei werden einige Absätze weiter wichtige Gründe für eine klare Fachdefinition beziehungsweise ein Festhalten am Fach „Instruction Religieuse“ aus Sicht der Kirche genannt: „Mit Sorge verfolgt die Katholische Kirche in Luxemburg die Entwicklung im Bereich Schulund Bildungspolitik. Angesichts vielfach wechselnder Lehrpläne und der Einführung neuer Schulmodelle stellt sich die Frage, ob das Schulsystem als Ganzes nicht aus dem Lot geraten ist. Werden hier nicht Kinder und Lehrer immer wieder neuen Experimenten ausgesetzt, ohne dass die Lehren aus den vorherigen Ansätzen bereits genügend gezogen worden wären?“259 Eben dies würde ja bedeuten, das Fach Religionslehre stärken und neben kein anderes Konkurrenzfach wie Morallehre stellen zu wollen. Stattdessen stellt der Autor aber folgende überraschende Überlegung an: „Religionsunterricht ebenso wie Morallehre allein können die Gewähr für eine gesunde Wertevermittlung nicht bieten. Alle Fächer und alle Lehrer setzen die Schüler und Studenten unweigerlich bestimmten Wertpräferenzen und –entscheidungen aus. Es fehlt ein systematischer Wertunterricht, der dazu beitragen könnte, verschiedene Wertsysteme kennenzulernen und in ihren Konsequenzen zu verstehen. Gerade in einer pluralistischen Zeit sind junge Menschen darauf angewiesen, selber Werte zu erkennen, sie experimentell auszuprobieren und ihre Konsequenzen zu bedenken. Ein solches übergreifendes Fach wäre so auszulegen, dass es Inhalte aus allen anderen Fächern aufgreifen und interdisziplinär die vermittelten Werte transparent machen würde.“260 258 Erzdiözese Luxemburg (2006), S. 11. Hervorhebungen von mir, S. D. Erzdiözese Luxemburg (2006), S. 11. 260 Erzdiözese Luxemburg (2006), S. 11. Hervorhebungen von mir, S. D. 259 119 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Die vom „Sozialwort“ geforderte Gleichsetzung verschiedener Wertsysteme dient nicht dem Pluralismus, sondern ist aus Sicht der Religionslehrer ein vollkommen unverständlich, kontraproduktiv und der Sache nicht würdiges Zugeständnis an die zuvor kritisierten Verhältnisse von „vielfach wechselnden Lehrplänen“ und „fehlender Systematik“. Es ist weder aus kirchen- noch bildungspolitischer Attitüde etwas dagegen einzuwenden, die christliche Wertevermittlung stärker an die Umwelt Jugendlicher anzupassen. Das könnte leicht durch Korrekturen im Programm der einzelnen Klassen seitens der nationalen Programmkommission geschehen. Der Vorschlag des Autors öffnete jedoch allen Gegnern des RUs Tür und Tor, indem er selbst von seinem Absolutheitsanspruch bezüglich seiner Inhalte abrückt und seine eigene Qualität als mangelhaft hinstellt. Es ist verwunderlich, dass zu jenem Zeitpunkt seitens der Katholischen Kirche Luxemburgs selbst der Ruf nach einer Alternative zum Fach Religion in der Schule laut wurde. Die „Einladung zu einem Sozialwort“ sagte es doch selbst: „Jede Erziehung vermittelt Werte. Dort, wo diese Vermittlung untergeordnet und willkürlich entsprechend der Wertvorstellung einzelner Lehrer geschieht, werden Kinder und junge Menschen in ihrem Urteilsvermögen überfordert. War auch eine Periode weltanschauungsneutralen Unterrichtens nach einer Zeitspanne autoritärer Wertevermittlung, auch unter der Vorherrschaft der Kirche, von Nöten, so ist es nun an der Zeit, sich den Wertfragen zwischen Glauben und Vernunft zu stellen.“261 Der RU in seiner bisherigen Konzeption ist per se Wertunterricht in reiner Form. Er beinhaltet nicht nur die Vermittlung eindeutiger, christlicher Werte, sondern respektiert und realisiert auch die Wahrnehmung alternativer Wertsysteme, etwa durch die durchgängig auf den Lehrplänen verpflichtenden Themen aller großen Weltreligionen, Sekten sowie der Philosophie und der Religionskritik. Das Erziehungsministerium mit seinem Gremium der Programmkommission für das Fach „Instruction religieuse et morale“ setzt sich ausdrücklich für zeitgemäße und dennoch christlich geprägte Werte innerhalb der geforderten Inhalte und Kompetenzen ein. So heißt es aus dem aktuellen Programm: „Die Konzeption des Religionsunterrichts hat sich im Verlauf der letzten Jahre gründlich verändert, sodass man von einem Paradigmenwechsel sprechen kann. Impulse hierfür aus den Bereichen der Theologie und der Religionspädagogik, der Humanwissenschaften, der 261 Erzdiözese Luxemburg (2006), S. 11. 120 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Akzentsetzung auf Kompetenzförderung innerhalb der reformierten Lehrerausbildung am Cunlux wie auch der Reform des ‚cycle supérieur’ durch das MENFP. Dementsprechend versteht sich heutiger Religions- und Moralunterricht vorwiegend als Ort, an dem Schüler sich Lebenskompetenzen erwerben können, insbesondere Wissen und Kompetenzen im Umgang mit spirituellen und ethischen Fragen. Dabei wird besonderer Wert auf die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit der christlichen Botschaft gelegt. (…) Ein zeitgenössischer und umfassender Bildungsbegriff beschränkt sich nicht nur auf solides Faktenwissen und wissenschaftliche Kompetenzen. Er setzt sich selbst mit den Fragen des ethischen Umgangs mit Wissen und Wissenschaft auseinander. Bildung muss darüber hinaus das Individuum in Zeiten der ‚reflexiven Moderne’ und der ‚Risikogesellschaft’ zur schwierigen Aufgabe der Gestaltung seiner selbst und zur eigenen Lebensgestaltung befähigen. (…).“262 Dass die Wertevermittlung nicht nur aus rein katholisch-christlicher Sicht geschieht, dazu tragen Fächer wie die Fremdsprachen, Geschichte und Philosophie bei, die die Welt in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität von verschiedenen Sichtweisen, Fragestellungen und durchaus zuweilen nicht deckungsgleichen Antworten präsentieren. Das Erziehungsministerium Luxemburgs, das sich ja schließlich allen bildungsbeteiligten Denkrichtungen verpflichtet sehen muss, versteht sich insgesamt auf jeden Fall immer noch in der christlich-abendländischen Wertetradition: „Wesentlich für das europäische Denken ist neben anderen Wurzeln auch das Christentum in seiner ihm eigenen Differenzierung. Die geistigen Strömungen, die unser Denken und unsere Lebensweise bis in die Gegenwart maßgeblich bestimmen, sollten nicht unbewusst bleiben. Zur Subjektwerdung eines Menschen ist es deshalb notwendig, sich auch mit kollektiven Wurzeln auseinanderzusetzen. Für Gesellschaft und Staat ist es nicht irrelevant, dass das religiöskulturelle Gedächtnis erhalten bleibt und die verschiedenen geistigen Strömungen zur Diskussion um die gesellschaftlichen Grundwerte beitragen. Schule sollte sicherstellen, dass die spirituellen Wurzeln und der ethische Pluralismus als Reichtum unserer Gesellschaft bewahrt bleiben und nicht ein nivellierendes Einheitsdenken gefördert wird.“263 Mit ihrem Sozialwort sorgte die Katholische Kirche Luxemburgs selbst für Irritation, als sie die Programme, die sie selbst für den RU erarbeitet und jahrelang proklamiert und durchgeführt hatte, so missverständlich infrage stellte. Mittlerweile ist buchstäblich etwas Gras über dieses Papier gewachsen, und Vertreter der Religionslehrer und der Kirche nahmen jede Gelegenheit wahr, ihren Pro-RU-Standpunkt deutlich zu machen. 262 Siehe hierzu das fachspezifische Programm für den RUs auf der Internetseite des luxemburgischen Erziehungsministeriums, www.men.lu Stand Oktober 2006. 263 Entnommen dem fachspezifischen Programm für den RU auf der Internetseite des luxemburgischen Erziehungsministeriums, www.men.lu Stand Oktober 2006. 121 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Die Gegenüberstellung der Standpunkte zwischen Kirche und Erziehungsministerium veranschaulicht, dass schulische Bildung tatsächlich das leisten möchte, was das kirchliche Sozialwort einfordert. Dass der Religionsunterricht sich gegenüber den Zeiten von Glaubensunterweisung gewandelt hat, ist unter anderem an den Worten der Präsidentin der Religionslehrerinnen und Religionslehrer Luxemburgs, Danielle Schmidt, während eines Unterrichtsbesuchs von dem Fernsehsendung RTL am Lycée Michel-Rodange Luxembourg abzulesen (nachfolgend Auszüge aus ihren Aussagen): „Der Religionsunterricht ist kein exklusiver Kirchenunterricht.. (...) Wenn natürlich aber in der Gesellschaft ein Thema zur Debatte steht, ist das ein Weltthema und dann nehmen wir uns ihm an. (...) Wenn in der Kirche Sachen geschehen, die man nicht mehr nachvollziehen kann, wird das thematisiert. Aber (...) Religion ist eher etwas Offenes als eine Reihe von Fehlentscheidungen, die in einer Institution geschehen. (…) Wir sind heute in einer Situation, wo Religion (...) nichts Unilaterales ist; sie ist kein fester (...) monolithischer Block; sie ist auch kein Amboss, der auf die Leute herabgefallen kommt „Das habt Ihr zu glauben und so ist es und nicht mehr anders“ – die Zeiten sind tot. Wenn ich natürlich davon ausgehe, dass das noch immer ein festes Konstrukt ist, an das ich mich halten muss, weil ich sonst komplett „danebenliege“, dann leide ich. Und dann kann ich verstehen, dass verschiedene Leute sagen „Tschüs – das wollen wir nicht mehr.“ 264 3. 2. 3 Religiöse Events Nicht erst zu Beginn des neuen Jahrtausends, sondern bereits Anfang der 1990er Jahre wurde das Verhältnis Jugendlicher in Luxemburg gegenüber der Kirche als kritisch gesehen. Bereits damals schrieb Jean-Louis Gindt: „Christsein und Kirche sind auch in Luxemburg nicht mehr die ausschlaggebenden Grundpfeiler unserer Gesellschaft, (…) und das religiöse Bewußtsein hat sich losgelöst von der katholisch-christlichen Interpretation der Religiosität und seiner typischen Gottesbeziehung.“265 In diesem Kapitel soll das religiöse Angebot, das Kirche und Staat den Jugendlichen machen, genauer untersucht werden. 264 Das vollständige Video mit dem Interview ist zu verfolgen unter http://tele.rtl.lu /magazin/kloertext/l1_6301.html. 265 Gindt (1991), S. 11. 122 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich oder Deutschland ist im flächenmäßig betrachtet kleinen Land Luxemburg die öffentliche wie institutionelle Wahrnehmung religiöser Feiertage überdurchschnittlich hoch. So darf jeder Arbeitnehmer wie auch die Schüler neun religiöse Feiertage neben drei weiteren arbeitsfreien Tagen pro Jahr nutzen. Für die Arbeitnehmer ist es zudem so, dass sie pro Feiertag, der auf ein Wochenende fällt, einen Werktag als arbeitsfrei angerechnet bekommen. Das bedeutet, dass die christlichreligiöse Kultur zumindest formell den Alltag jedes Bürgers betrifft, denn Büros, Schulen, Industrie und die meisten Geschäfte bekommen eine Auszeit. Ob er sie im Sinne des jeweiligen katholischen Festes nutzt, ist eine andere Sache, jedoch wird doch zumindest der Alltag für diesen Tag angehalten, und die Routine geht einen anderen Gang. Auch Jugendliche nehmen dies wahr, auch wenn die Kirchen beispielsweise am Himmelfahrtstag nicht mehr Jugendliche als sonst anzuziehen scheinen. Eine nationale Besonderheit Luxemburgs sind die Feiertage, die sich um den Nationalheiligen Sankt Willibrord und um die Muttergottes drehen: der Pélé des Jeunes anlässlich der Marienoktav, die Willibrord-Oktav sowie die Springprozession zu Pfingsten in Echternach. Alle drei Feste genießen eine relativ hohe öffentliche Aufmerksamkeit im Großherzogtum, da Geschäftsöffnungszeiten, Straßenverkehrsregelungen und in manchen Fällen auch Schulveranstaltungen, insbesondere bei den katholischen Privatschulen - (wie etwa bei der Marienoktav) darauf abgestimmt werden. Bei dem alljährlichen „Pélé des Jeunes“ handelt es sich um eine Jugendbegegnung, die seit 1974 besteht, als die Notwendigkeit gesehen wurde, den Jugendlichen ab fünfzehn Jahren eine größere Bedeutung während der Muttergottes-Oktave einzuräumen. Das Konzept gilt bis heute, dass am ersten Sonntagmorgen der Oktave die Kathedrale kurz nach sieben Uhr den Jugendlichen des ganzen Landes offen steht, und die Jugendlichen, teils organisiert in Pfarrgruppen, Schülergruppen oder anderen Verbänden oder auch nicht organisiert, sich abends zuvor zusammenfinden, um die Nacht hindurch in die hauptstädtische Kathedrale zu pilgern. Der Gottesdienst beginnt bereits um sechs Uhr fünfundvierzig mit der Einübung der Lieder – für Jugendliche normalerweise eine nachtschlafende Zeit. Die Messe ist als Jugendgottesdienst thematisch wie gestalterisch auf den Geschmack Jugendlicher 123 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen ausgerichtet.266 Anschließend stehen traditionell ein gemeinsames Frühstück sowie der Besuch des „Märktchens“ einer Kirmes am Rathausplatz in der Nähe der Kathedrale auf dem Programm. Innerhalb Luxemburgs genießt der „Pélé des Jeunes“ großen Respekt und wird jedes Jahr rege wahrgenommen, seine Besucherzahl liegt bei ungefähr 1500 Teilnehmern. Gründe für den erstaunlichen Zulauf in unserer säkularisierten Zeit lassen sich bisher nur vermuten, so etwa, dass Jugendliche neben der immer noch landesspezifischen starken Traditionsbindung etwa an die Oktav das Event an sich schätzen: Gemeinschaft erleben, sich zu Fuß aufmachen, nachts unterwegs sein.267 Dieser Eventcharakter bedingt sich zum einen durch den Marsch, zum zweiten durch die Tatsache, dass sich in der Kathedrale – anders als im Sonntagsgottesdienst - fast ausschließlich Jugendliche aufhalten, von denen sich viele (wieder-) erkennen und ein umso stärkeres Gemeinschaftsgefühl erzeugen. Die Jugendlichen dürfen sich in der Kirche auch anders benehmen als gewöhnlich: auf dem Boden sitzen, liegen, stehen … und doch anders als zuhause, denn es gilt immer noch der „Kirchen-Code“: Man spricht anders, singt andere Lieder – kurz: Es findet Begegnung statt, die für die Jugendlichen etwas ganz Besonderes ist. Es wird etwas gemeinsam gefeiert, mit entsprechendem Verhaltenscode, der auf Jugendliche eingestellt ist, mit musikalischer Umrahmung, gemeinsamem (Abend-) Mahl und einer (Predigt-) Botschaft, die Mut machen möchte und sich direkt an sie richtet. Ähnlich wie bei einem Fußballspiel oder einem Rockkonzert fühlen Jugendliche sich hier gut aufgehoben, auch wenn sie im Alltag mit Kirche nicht viel zu tun haben mögen. Religiosität beziehungsweise religiöse Erfahrung müssen eben nicht direkt etwas mit klassischer Kirchlichkeit zu tun haben. Der Nationalheilige Willibrord spielt beim religiösen Brauchtum der Jungen und Mädchen ebenfalls eine besondere Rolle. So wie sich etwa in vielen Teilen Deutschlands Geschichten und Traditionen um den Sankt Martin ranken, beschäftigen sich die luxemburgischen 266 Siehe hierzu die Messhefte der vergangenen Jahre zum Pélé des Jeunes, die mir freundlicherweise vom Jugendpfarrer Luxemburgs, Herr Edmond Ries, zur Verfügung gestellt wurden. 267 Ähnlich beurteilt dieses Phänomen auch Jean-Louis Gindt: Neben der „Verwurzelung der Marienverehrung im Herzen vieler Luxemburger“ sieht auch er den „Außergewöhnlichen Charakter“ der Veranstaltung, bei der „alles ganz anders als sonst“ ist. „Für viele ist dies der längste Fußmarsch des Jahres. Sie spüren die körperliche Leistungsfähigkeit und stoßen an die Grenzen ihrer physischen Kraft. In dieser physischen Grenzerfahrung öffnet sich der metaphysische Horizont: die Urerfahrung des menschlichen Pilgerns, des Bußetuns und des sich Kasteiens für das sakrale Erwachen bewußt oder unbewußt. … Der Jugendliche kann seine Leistungsfähigkeit dem Sakralen opfern.“ Gindt (1991), S. 161 f. 124 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Kinder gern mit dem heiligen Willibrord, der in der Nacht zum 7. November 739 in der Abteistadt Echternach starb und dessen besonders neben der Springprozession268 zu Pfingsten auch in der ersten Novemberwoche eines jeden Jahres gedacht wird. Für viele Kinder steht Willibrords Vita als Beispiel und Vorbild. So gestalteten etwa beim nationalen Messdiener-Tag 2006 die Jungen und Mädchen ein Bild über das Leben des Heiligen, buken Brot und schrieben Gebete an den Schutzpatron. Dechant Théophile Walin wies die Heranwachsenden darauf hin, so zu handeln wie der Heilige Willibrord, denn er habe, genau wie die Jungen und Mädchen, bereits sehr früh Gott gedient und dies anschließend über sein ganzes Leben fortgesetzt.269 Die Willibrordus-Oktav war zunächst allerdings, wie die Muttergottes-Oktav auch, kein ausschließliches Jugendfest, auch wenn sich viele Jungen und Mädchen daran beteiligen; sie ist für alle Generationen gedacht, und daher in unserem Zusammenhang eher unter dem Gesichtspunkt ihrer Präsens im Alltag Jugendlicher von Interesse. Damit aber auch Jugendliche zur Willibrordus-Oktav einen Bezug haben oder aufbauen können, etablierte das Pastoralteam für Jugendliche in Luxemburg seit dem Jahr 1999 eine eigene Veranstaltung für Kinder und Jugendliche. Das Angebot der Aktivitäten wie etwa „Freestyle-Dance“, Fußball, Gesang oder „New Games Kreativ“, Spontantheater oder Gesprächsrunden wie „’Ech gleewen dee Quatsch net’ – kritesch Ufroen un d’Kierch“ orientiert sich am Geschmack der Jugendlichen. Die Anmeldung kann per SMS oder Email stattfinden, also kommunikativ so, wie Jugendliche es mögen. Die Bemühungen seitens des Pastoralteams um die Jugendlichen sind also groß. Um ein Feedback zu erhalten, gab man beim Pélé des Jeunes 2006 den jungen Teilnehmer die Gelegenheit (ähnlich wie bei den „Rappsonndegen“), einen Zettel mit Verbesserungsvorschlägen zu „rappen“ (einzureißen).270 Auch bemüht sich die Sprache um Nähe, wie die Präsentation des Echternacher Jugendtages über den Heiligen Willibrord 2006 zeigt.271 Sie berücksichtigt das Medieninteresse der Jugendlichen, und entsprechend lautet 2006 das Tagesmotto www.WorldWideWilli. Der Nationalheilige wird mit diesem Spitznamen zum Kumpel oder Freund, nicht zuletzt auch dann, wenn im Programmheft 268 Bei der Springprozession handelt es sich wie die Marienoktav nicht um eine spezielle Jugendveranstaltung, sie wird aber von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. So zählte man im Jahr 2001 ca. elftausend Prozessionsteilnehmer neben mehreren zehntausend Zuschauern. Vgl. Seiler (o. J.). 269 Als Quelle dient der Zeitungsartikel im Luxemburger Wort von Schartz (2006a), S. 28. 270 Das Papier findet sich im Anhang dieser Arbeit. 271 Das Werbeblatt der Jugendpastoral hierzu findet sich im Anhang dieser Arbeit. 125 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen über die Visite des Heiligengrabes steht: „Besuch beim Willi“.272 Der Jugendtag wurde von den Jugendlichen selbst vorbereitet mit der Intention, den Heiligen in seinem Wirken in der damaligen Welt sowie seine Bedeutung für uns heute als eine wichtige heimatliche Tradition in Luxemburg wieder zu entdecken und mit ihrem Leben in Zusammenhang zu bringen. Im Jahr 2006 nahmen etwa vierzig Jugendliche an der Veranstaltung teil, was die Pastoralleitung als vollen Erfolg wertete.273 Wenn man diese Zahl jedoch absolut setzt zur Anzahl der Jugendlichen, die im Einzugsgebiet dieser Aktivitäten wohnen, muss man dies relativieren: Diese Art Aktivitäten erreicht nur einen kleinen Bruchteil Luxemburger Jugendlicher. Der Weltjugendtag in Köln 2005 war eine Veranstaltung, die auch in Luxemburg großes Interesse genoss. Offiziell nahmen dreihundertdreiundfünfzig Jugendliche aus Luxemburg teil. Weitere dreihundertfünfzig ehrenamtliche Helfer waren während der Tage der Begegnung in Luxemburg im Einsatz, sechshundert Betten stellten luxemburgische Gastfamilien für Besucher zur Verfügung, siebenhundertfünfundachtzig ausländische Jugendliche beteiligten sich während der Tage der Begegnung am Programm „Magis“ der ignatianischen Familie, an den Aktivitäten des „Centre pastoral des jeunes“ und am Scoutscamp der „Lëtzebuerger Guiden an Scouten“ in Weicherdingen. Die verschiedenen Ateliers, bei denen nach eigenen Angaben Spiritualität, Kultur, Kunst und soziale Aktivitäten im Mittelpunkt standen, fanden regen Zulauf. So trafen beispielsweise in der Kölner Diskothek E-Werk aus der Euregio zweitausend Jugendliche zu Gottesdienst und Katechese zusammen.274 Drei Jahre später, im Juli 2008, begeisterten sich immerhin 50 Jugendliche, den weiten Weg nach Sydney, Australien, anzutreten, um am dort stattfindenden Weltjugendtag teilzunehmen.275 Die Zahlen belegen, dass für die Jugendlichen religiöse Begegnungen in einem Rahmen, der ihnen zusagt, durchaus eine Rolle spielen – viel mehr als der Kirchgang. Dafür nehmen sie sogar Anstrengungen, Kosten und weite Wege auf sich. Es stellt sich allerdings die 272 Entsprechend betitelte auch die Berichterstattung des Luxemburger Worts den Jugendtag in Echternach: „’Willi’ im Kreis der Jugendlichen“. Schartz (2006b), S. 17. Die Pastoralassistentin Daniela Steil, die zum Organisationsteam des Echternacher Jugendtages gehört, erklärt zu dieser Namenswahl, sie sei in der Öffentlichkeit teilweise kritisch aufgenommen worden, bringe die Figur jedoch näher an die Jugendlichen heran. Ebd. 273 Vgl. Schartz (2006b), S. 17. 274 Saint-Paul Luxemburg (2005), S. 9 bzw. S. 16 bzw. S. 36. 275 Vgl. die Angaben bei www.cathol.lu. 126 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Frage, inwiefern solche Großkundgebungen Auskunft geben über das religiöse Interesse der Jugendlichen. In diesem Gestus fragt auch Pierre Kauthen als Vertreter des WillibrordusBauvereins: „der Weltjugendtag in Köln oder der Katholikentag in Saarbrücken sowie die mediale Resonanz des Ablebens Johannes Pauls II. und die anschließende Papstwahl könnten vermuten lassen, dass der Katholizismus wieder an Stellenwert gewonnen hat, besonders auch bei der Jugend. Es ist aber nicht so sicher, dass der Glaube und die Kirche in ihrer ureigenen Wesensfunktion dabei gewonnen haben. Man kommt nicht umhin, sich Fragen zu stellen: Wie steht es um den Glauben des einzelnen Christen und seine Verbundenheit mit Gott? Gehen die geplanten Impulse bei den Großveranstaltungen in die gewünschte Tiefe? (…) Man muss sich (…) fragen, inwiefern (sie) sich von der Eventkultur unterscheiden, die in profanen Bereichen die Massen anzieht.“276 Kauthens Zweifel an der religiösen Tiefe sind nicht unberechtigt, denn in der Tat muss man sich fragen, ob die Freude der zu Hunderttausenden zusammengekommen Jugendlichen an „einer gewissen Inszenierung, an Fahnen, Transparenten, T-Shirts, Benedetto-Rufen usw.“277 tatsächlich das Wesentliche der Veranstaltungsintention erfasst: die Wahrnehmung Gottes und seiner Botschaft. Solche Veranstaltungen sind Events mit einem moralischen Element und ein probates Mittel, um eine „Message“ hinauszutragen. Diese Message kann im dogmatischen Sinne bei den Jugendlichen zumindest teilweise sogar unpopulär sein - die Tatsache allein, dass in Zeiten von Materialismus und Konsumverhalten, Säkularisierung und wachsenden gesellschaftlichen KostenNutzen-Rechnungen sich so viele junge Menschen zum Christentum bekennen, ist zwar bemerkenswert, aber nicht wirklich verbindlich, weder konfessionell noch in sonst einer Weise. Der Weltjugendtag zieht die Leute in seiner Eventkultur an, die mit Glaubensfragen verknüpft ist, wobei die religiös Motivierten in der Minderheit sind. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch der Soziologe Waldemar Vogelgesang, der im Rahmen eines Forschungsverbundes verschiedener deutscher Universitäten den XX. Katholischen Weltjugendtag in Köln mit dem Ziel untersuchte, ihn „als religiöses Event (u. a. ...) im konkreten Erleben der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu erfassen“.278 Dabei ging es ihm und seinen Forschungskollegen insbesondere um die Frage, „wie sich Religion unter Individualisierungs- und Globalisierungsbedingungen gewandelt hat (und) was 276 Als Beispiel nennt Kauthen die Love Parade in Berlin, deren Botschaft er anzweifelt. Kauthen (2006), S. 1. Hervorhebung vom mir, S. D. 277 Kauthen (2006), S. 1. 278 Vogelgesang (2006), S. 28. 127 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Religiös-Sein und religiöse Gemeinschaften heute bedeuten“279 – das, was auch die vorliegende Arbeit beschäftigt. Vogelgesang stellte bei den Befragungen der Teilnehmer des Kölner Weltjugendtags fest, dass Papst Benedikt nicht wirklich „als religiöser Superstar angesehen, aber von ihnen als ein solcher g e f e i e r t “ worden sei: „In kaum einer Begegnung mit dem Papst – weder am Tage seiner Ankunft bei der Fahrt mit dem Schiff, der zentralen Begrüßungsveranstaltung auf dem Domplatz und der anschließenden Fahrt mit dem Papamobil durch die Kölner Innenstadt, noch auf der Vigilfeier und dem Abschlussgottesdienst auf dem Marienfeld – waren jene Verhaltensformen zu entdecken, ,,mit der katholische Laien über Jahrhunderte ihren ‚Hirten’ Verehrung und Gehorsam bezeugten. Kein Kniefall, kein Kopfsenken, keine Gebetsgeste waren außerhalb der Gottesdienste zu sehen und wenn, dann waren es ausschließlich ältere ‚Zaungäste’, die dies taten. Nicht Demut und Devotion waren angesagt, sondern Begeisterung und Ekstase.(...) Allein deshalb unterscheiden sich viele Szenen bei den Auftritten des Papstes kaum von den Auftritten eines Robbie Williams.“280 Vogelgesang identifiziert den publikumswirksamen Slogan einer großen deutschen Boulevardzeitung „Wir sind Papst“ für Kölner Weltjugendtag als „punktgenaue Diagnose gegenwärtiger Jugendreligiosität: Autonomie und Selbstbestimmung sind angesagt – auch in Glaubensfragen. (...) Religion ist zu etwas geworden, was man sich aussuchen kann. (...) Die Pluralisierung der gesamtgesellschaftlichen Lebensverhältnisse findet sich spiegelbildlich auch in der religiösen Sphäre wieder und zwar als Vielfalt und Konkurrenz von unterschiedlichen sakralen Formen, Weltanschauungen und Glaubenssystemen. Auf diese Herausforderung reagiert die katholische Kirche mit spezifischen, zunehmend mediatisierten Veranstaltungen, die zum Ziel haben, die ‚Einheit der Kirche’ im öffentlichen Bewusstsein wie im subjektiven Erleben der Teilnehmer zu verankern. “281 Laut Vogelgesang nimmt so nicht nur die Zahl kirchenreligiöser Events282 ständig zu, sondern auch die Zahl jugendlicher Teilnehmer – nach Köln kamen immerhin eine Million (mehr oder weniger) junger Teilnehmer. Diese populären Ereignisse, zu denen Jugendliche sich auf den Weg machen, lassen also doch auch den Eindruck gewinnen, dass es neue Pilgerbewegungen gibt, und dass sich Menschen buchstäblich doch religiös bewegen lassen. Sie zeigen so, dass sie (immer noch!) auf der Suche nach spiritueller Erfahrung sind, 279 Ebd. Vogelgesang (2006), S. 30. 281 Ebd. Hervorhebung von mir, S. D. 282 Vogelgesang nennt sie auch „religiöse Hybridevents“, zu denen er u. a. Feuergottesdienste und Rafting-Wallfahrten aufzählt. Jugendliche würden von ihnen geradezu „magnetisch angezogen.“ Ebd. 280 128 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Wege zu nicht alltäglichen Erlebnissen wählen und nach Sinn fragen, und dies – anders als sonst – nicht medial per Fernsehen, Computerwelt, sondern hautnah. Auch scheinen Jugendliche an ihre Grenzen gelangen und testen zu wollen, wie weit sie mit sich selbst gehen können; und schließlich bedeutet Pilgern auch immer Aufbruch, sich selbst eine Richtung geben, weg aus einer Fremdbestimmung, hin zu einem anvisierbaren Ziel – eine Erfahrung, die gerade Jugendliche in ihrem Alltag oft vermissen.283 Natürlich sind es auch die direkten, und nicht medial „vermittelten“ Erfahrungen, die reizen, und selbstverständlich auch die Abenteuerlust, unterwegs Menschen (auch vom anderen Geschlecht) zu begegnen, die ich zuhause nicht treffen würde.284 Schließlich aber mag es m. E. auch bei so manchem jugendlichen Pilger eine Rolle spielen, das Religiöse habe einen coolen Anstrich. In die Kirche gehen? Zu konventionell. Aber zum alten Papst reisen, sich Jesus-Sticker ankleben, „Benedetto“ johlen – das ist für viele Jugendliche so abwegig, dass es auf den zweiten Blick gleich „abgefahren-attraktiv“ erscheint! In diesem Sinne bedienen der Pélé des Jeunes und die anderen religiösen Veranstaltungen wie der Weltjugendtag, die Sankt-Willibrord-Oktav oder die Echternacher Springprozession jene Eventkultur, von der in dieser Arbeit die Rede ist: die Suche nach der außergewöhnlichen Begegnung, dem „Heiligen“, mit dem Gefühl als Mittelpunkt und nicht nur als Begleiterscheinung. Die Jugendlichen schließen sich einer Tradition an, die sie als Ritual begreifen und so emotional positiv verorten können, die gleichzeitig aber auch „aufgepeppt“ ist mit Dingen, an denen Jugendliche im allgemeinen Spaß haben (nachts unterwegs sein, Leute treffen, Musik, „Märktchen“). Sie werden zu nichts verpflichtet und wahren ihre Individualität. Doch sie werden kurzfristig durch eine Gruppe zusammengehalten, die sich einig fühlt und in keiner Konkurrenz steht. Dieses Erleben von Gemeinschaft erkannte auch Vogelgesang bezüglich des Weltjugendtags als zentrale Erfahrung der Teilnehmer: „miteinander sein, Gemeinschaft erleben, Teil einer Menge sein“ seien die „echten Highlights“ der Veranstaltung für die 283 Ähnliches beschreibt Helga Kohler-Spiegel: „Er-fahren“ erinnert uns daran, dass wir erwandern, was uns prägen, was uns als Person ausmachen soll. Wandern, Wallfahren eröffnet ein solches auf-dem-Weg-Sein. In den verschiedenen Religionen auf der Welt sind diese großen und kleinen Wege wichtig.“ Kohler-Spiegel (2005), S. 83. 284 Vgl. Kohler-Spiegel (2005), S. 83. 129 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Jugendlichen gewesen, vor allem, weil die Jugendlichen als Gläubige im Alltag „massiven Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt sind“285. Vor diesem Hintergrund wird die in der Einleitung gestellte Frage nach dem Warum der regen Teilnahme etwa an der Beerdigung Papst Johannes Pauls II. oder bei den Weltjugendtagen in Köln und Sydney 2005 bzw. 2008 plötzlich verständlicher. Die Jugendlichen suchen hier das, was sie anderswo, zuhause, vermissen. Der „‚Wanderer’ mit seiner Leitidee, ‚der Weg sei das Ziel’ könnte, um es mit Waldemar Vogelgesang zu formulieren, der „Prototyp spätmoderner Religiosität“ sein.286 3. 2. 4 „Pimp my church“ Die Phrase bezeichnet keineswegs eine Fortsetzung oder Weiterführung der ähnlich lautenden Serie des Musiksenders MTV („Pimp my bike“), sondern ein pastorales Angebot der Jugendseelsorge in Esch / Alzette, das auf die Erfolgssendung bei MTV anspielt.287 Was im Zusammenhang mit motorisierten Fahrzeugen als „tunen“ bezeichnet wird, meint hier „Motz meine Kirche auf“, in dem Sinne von „Mach meine Kirche interessant“. Es handelt sich hierbei um ein Jugendkirche-Projekt, das während der Fastenzeit 2006 in der St. Joseph-Kirche in Esch begonnen und im Herbst 2006 mit einem Ergänzungsprogramm zur Allerheiligenwoche sowie in der Vorweihnachtszeit als „Pimp my church reloaded“ fortgeführt wurde. Veranstaltet wird ein Programm, das Jugendlichen ermöglicht, der Kirche zumindest räumlich näher zu kommen. Unkonventionelle, kirchenuntypische Unternehmungen wie Kino und Mahlzeiten in der Kirche, aber auch in der Jugendarbeit länger etablierte Module wie Frühschichten, Mittagsgebete („Pimp my Mëttesstonn“) Gebets- und Filmabende, Taizégebete („Have a break, have a prayer“, angelehnt an eine 285 Vogelgesang (2006), S. 30. Vogelgesang (2006), S. 31. 287 Mittlerweile fügt sich dieser Anglizismus mehr und mehr auch in die deutsche Sprache ein, wenn auch eher im umgangssprachlichen oder gar vulgärsprachlichen Jargon. So berichtete etwa die deutsche Bild-Zeitung am 07. 12. 2006, dass ein Schönheitschirurg vorschlug, Britney Spears zu „pimpen“, was bedeutete, dass er ihr Aussehen zu verbessern wolle. Das englische Pseudowörterbuch erklärt das Verb „to pimp“ übersetzt mit „abspielen“ oder „aufmotzen“, siehe www.pseudodictionary.com. 286 130 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen bekannte Schokoladenriegelwerbung der Marke Kitkat) und spezielle Jugendgottesdienste werden angeboten.288 Idee und Ziel des Projektes ist es, Kirche einladender zu gestalten und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, in einem religiösen Raum zu – um es ebenfalls in Jugendsprache auszudrücken - „chillen“ (= sich zu entspannen). Das Pastoralteam aus Esch-Alzette, dem der Gedanke kam, möchte damit verstärkt Jugendliche ansprechen, denen bisher religiöse Räume oder überhaupt kirchlicher Kontakt fremd waren und vielleicht auch Vorurteile gegenüber kirchlicher Jugendarbeit hatten. Solche Projekte gibt es neuerdings allerorts auch in Deutschland. So dürfen in der ehrwürdigen St. Jacobi-Kirche in Hamburg Jugendliche unter dem Kreuz Christi rappen. Christian Weber schreibt hierzu: „Mit solchen Events versuchen die Amtskirchen, ihre Gotteshäuser wieder zu füllen – mit begrenztem Erfolg: Die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt.“289 Vor dem Hintergrund einer Feststellung Anton A. Buchers über das Unbehagen von Kindern in der Kirche haben Projekte wie „Pimp my church“ in Esch durchaus eine Daseinsberechtigung als Versuch, dieses kirchliche Image zu durchbrechen. Nicht allein wegen des doch recht populistisch anmutenden Titels, sondern vor allem wegen der teils zweckentfremdeten Nutzung sakraler Räume muss jedoch auch die Frage gefallen lassen, ob sie sich nicht damit auf eine Art prostituiert. Mit „Pimp my church“ lässt man die Konsumation in die Kirche und bedient so gesellschaftliche Strömungen, von denen man sich doch eigentlich distanzieren möchte. Es wird geschaut, wie ich Kirche platzieren muss, um sie auf dem „Markt der Möglichkeiten“ für Jugendliche attraktiv zu machen und zu etablieren. Für das Milieu der Jugendlichen wird eigens ein Angebot entwickelt, damit das Wort Gottes überhaupt gehört wird. Andererseits ist die wohlwollende Intention seitens des Jugendpastoralteams anzuerkennen und abzuwägen, ob manchmal nicht doch der Zweck die Mittel heiligen darf. Auf die Idee seitens der institutionell Verantwortlichen, sich vom „hohen kirchlichen Ross“ zu schwingen und auf die Jugendlichen zuzugehen, haben sicherlich viele innerhalb und erst recht außerhalb der Kirchengemeinden gewartet und würden dies gern ausgeweitet sehen. In der gegenwärtigen Form ist die „Pimpmychurch“-Bewegung, die sich 288 Vgl. den Überblick auf der Homepage www.pimpmychurch.lu. 131 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen hauptsächlich im Umkreis der St. Joseph-Kirche in Esch/Alzette und teilweise in der Christ-Roi-Kirche der Jesuiten in Luxemburg-Belair (noch) eine Insel innerhalb des konventionellen liturgischen und katechetischen „Mainstreams“, der – hauptsächlich an Wochenenden – Luxemburger Jugendlichen geboten wird. Festzuhalten ist in jedem Fall, dass sich die Jugendpastoral nicht erst seit Einführung des Spitznamens „Willi“ für Ihren Nationalheiligen Willibrord so stark wie nie für jugendliche Meinungen zu öffnen versucht. 3. 2. 5 Die Arbeit sozialer und religiöser Verbände Luxemburger Jugendliche sind im europäischen Vergleich außergewöhnlich oft in Vereinen organisiert: Mit 78% der 15-24-Jährigen in beliebigen Vereinen hält das Großherzogtum den Spitzenplatz. Hierbei gehen 47% an Sportvereine, 26,4% an Jugendvereine, 10,6% an politische Parteien, jedoch lediglich 5,3% an religiöse Vereinigungen oder Pfarren, was im europäischen Vergleich wiederum im unteren Bereich liegt.290 Außerschulische und außerfamiliäre Bildungsangebote, insbesondere Sportvereine, tragen also in Luxemburg eine große Verantwortung bezüglich der Entwicklung von Jugendlichen, und die Kirchen haben hierbei den geringsten Anteil. Ein in Luxemburg sehr etabliertes religiöses Angebot ist die Verbandsarbeit der „Lëtzebuerger Guiden“ (LG) und „Lëtzebuerger Scouten“ (LS).291 Während die „Lëtzebuerger Scouten“ (LS), zunächst ausschließlich für Jungen, 1916 als erste BoyscoutSektion der katholischen Jugendvereine im Jahr 1916 durch F. Faber gegründet wurde,292 fanden sich 1938 die „Lëtzebuerger Scouten“ für Mädchen unter Mgr. Pierre Posing zusammen.293 Mittlerweile können bei den Scouten auch Mädchen teilnehmen. Mitglied können Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis dreiundzwanzig Jahren werden, ungeachtet ihrer Nationalität, Rasse, Sprache und Religion und auch ihrer körperlichen wie 289 Weber (2006), S. 70. Quelle: „Lage der Jugend in Europa“ s. Bibliographie. 291 Als Verband: Lëtzebuerger Guiden a Scouten (LGS), Centre Convict (Bâtiment B), 5, avenue Marie-Thérèse, B. P. 313, L-2013 Luxembourg. 292 Lëtzebuerger Scouten (1969) o. S. 290 132 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen geistigen Konstitution: Auch körperlich oder geistig Behinderte finden hier ihren Platz. So nehmen sich etwa die „Foulards blancs“, eine Gruppe vorwiegend älterer Jugendlicher ab siebzehn Jahren der Begleitung von Kranken und Behinderten beispielsweise auf Pilgerreisen nach Lourdes an. Neben diesen beiden größten Verbänden gibt es in Luxemburg folgende konfessionelle Jugendverbände bzw. –organisationen / -bewegungen: die Lëtzebuerger Massendénger294 die Action Catholique de l’Enfance Luxembourgeoise / Lëtzebuerger Kanneraktioun L. K. A.)295 die Jeunesse Etudiante Catholique (J. E. C.)296 und die die „Jeunesse Rurale Catholique“ (J. R. C.)297 Außerdem gibt es das Centre de pastoral des jeunes, dessen Veranstaltungen bereits im Zusammenhang mit dem Pélé des Jeunes, der Willibrord-Oktav und dem Weltjugendtag erwähnt wurden, sowie das Centre de pastorale familiale (Familjen-Center CPF).298 Die Luxemburger Messdiener bemühen sich stetig um eine attraktive Präsentation ihres Verbandes.299 Seit 1994 findet alljährlich ein nationaler Messdienertag statt, an dem sich alle Luxemburger Ministranten treffen können. Dabei sind die Schulungen unterteilt für die Jungen und Mädchen vom vierten bis sechsten Schuljahr, in die „Mafrema“ (Mat Freed Massendénger) und für die Jugendlichen ab zwölf Jahren, der Coma-Time (Cool Massendénger). Auch hier fällt bei der Namensgebung das Bemühen auf, von einem hausbackenen Image, das Messdienern eventuell anhaften könnte, wegzukommen. Veranstaltet werden u. a. Wallfahrten, etwa 2010 nach Rom, Gruppentreffen u. ä.300 293 Lëtzeburger Guiden (1989), S. 158. Lëtzebuerger Massendénger, Centre Convict, 5, avenue Marie-Thérèse, L-2132 Luxembourg. 295 L. K. A., Centre Convict, 5, avenue Marie-Thérèse, B. P. 313, L-2013 Luxembourg. 296 J. E. C., 23, avenue Gaston Diderich, L-1420 Luxembourg. 297 J. R. C., Centre Convict, 5, avenue Marie-Thérèse, L-2132 Luxembourg. 298 CPF, 20, rue des Contern, L-5955 Itzig. 299 Auf Mitgliederzahlen bei den Messdienern zu Zeiten der 1990er Jahre kann auf die Studien von Gindt zurückgegriffen werden. So betrug die Zahl der Messdiener 1991 ungefähr 3000. Mädchen stellen rund die Hälfte der Messdiener und sind in Luxemburg zum Ministrantendienst seit Beginn der sechziger Jahre zugelassen. Gindt (1991), S. 72. Aktuelle Zahlen fehlen, wie festgestellt. 300 Vgl. hierzu das Angebot unter www.massenger.cathol.lu. 294 133 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Obwohl die religiösen Verbände in ihren spezifischen Ausrichtungen unterschiedlich sind, sind sie jedoch geeint unter dem gemeinsamen Interesse, den Jugendlichen eine Freizeitgestaltung jenseits narzisstischen Konsums zu bieten.301 Inwiefern sie die Jugendlichen in ihrer Religiosität tatsächlich beeinflussen, bleibt umstritten. So urteilt Gindt, es fehle „den christlichen Jugendvereinen, mit Ausnahme der beiden Pfadfinderverbände der LG und LS, an klaren Konzepten ihrer pastoralen Dimension. Sie haben echte Schwierigkeiten, in der aktuellen Lage der Kirchlichkeit der Jugendlichen, ihre Ansatzpunkte zu finden. Lediglich unterstreichen sie ihr religiöses und christliches Fundament, auf dem die Vereinsaktivitäten aufbauen sollen. Hauptsächlich wird in der Praxis jedoch die pastorale Dimension von der Anwesenheit eines geistlichen Betreuers, eines Verbandsaumôniers, garantiert. Mit der Person des Vereinsgeistlichen steht und fällt aber auch das vereinsinterne Pastoralkonzept.“302 Wird der Jugendliche nicht im Elternhaus, der Kirchengemeinde oder einer kirchlichen Organisation explizit-religiös geprägt, begegnen Kinder und Jugendliche in ihrer Biografie allein in der Schule, sozusagen verbindlich verordnet, einem Glaubensvertreter. Zudem ist bezüglich der kirchlichen Verbände einzuräumen, dass die dort potenziell stattfindende religiöse Prägung auch deshalb mit Vorbehalt zu sehen ist, da die pastoralen Gründungsideen, mit denen viele Vereine damals antraten, „größtenteils theologisch und soziologisch längst überholt“303 sind. Die katholischen Verbände haben insbesondere nach dem 2. Vatikanischen Konzil mit dem veränderten ekklesiologischen Selbstverständnis einen Veränderungsprozess bezeugt, über dessen Erfolg sich streiten lässt und gestritten wird. In unserem Zusammenhang wäre jedenfalls die Frage zu stellen, ob und wie Luxemburger Jugendliche, die Teil einer solchen Organisation sind, sich als religiös sehen. Bezüglich einer empirischen Untersuchung wäre es weiterhin interessant, die Wahrnehmung der Jugendlichen bezüglich dieser Verbände zu erfahren. Da Jean-Louis Gindt eine 301 Vgl. hierzu auch Gindt (1991), S. 143 f. Gindt (1991), S. 146. 303 Gindt (1991), S. 146. Gindt beschreibt für Luxemburg, wie es im beginnenden 20. Jahrhundert darum ging, innerhalb ihrer Lebensmilieus Kinder und Jugendliche „für die katholische Sondergesellschaft’ zu rekrutieren“, um die heranwachsende Generation von klein auf in der Kirche als der vollkommenen und unabhängigen Gesellschaft aufwachsen zu lassen. In den katholischen Jugendgruppen fand „das alltägliche Leben statt, und zwar weitgehend abgeschottet gegenüber anderen Milieus.“ Vgl. Aeberli (1989), S. 752, bzw. Ziebertz (1990), S. 593, zitiert nach Gindt (1991), S. 146. 302 134 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Beschreibung der Entwicklung der Mitgliederzahlen vorgelegt hat,304 könnte hieran angeknüpft werden. 3. 2. 6 Das mediale religiöse Angebot „If kids can’t learn the way we teach we must teach the way they learn.“ Seymour Papert Luxemburg verfügt über verschiedene Angebote, sich religiös fortzubilden. Für jeden zugänglich ist das Centre Chrétien d’Éducation des Adultes (ErwuesseBildung, ehemals „InfoVideo-Center“), ein Medienzentrum für Erwachsene mit vielfältigem nicht nur religiösem Weiterbildungsangebot. Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit ist die Initiative spikids, gemeinsam mit dem Familiencenter (CPF). spikids will Eltern „bei der spirituellen Erziehung ihrer Kinder begleiten und ihnen dabei praktische Hilfen an die Hand geben“305. Die Verantwortlichen, zwölf überwiegend ehrenamtliche Mitarbeiter, erklären ihre Motivation hierfür folgendermaßen: „Trotz der naturwissenschaftlichen Erklärungen für unsere Welt sind viele Menschen in der heutigen Zeit (wieder) auf einer spirituellen Suche. Was versprechen sich diese Menschen dabei für ihr Leben? Was erhoffen sich dabei gerade Eltern für ihre Kinder? Offenkundig spüren viele Zeitgenossen, dass nicht alles im Leben verrechnet werden kann, dass es durchaus Situationen gibt, in denen Halt und Orientierung wichtig sind. Leben braucht Tiefe. Eltern spüren diesen Wunsch in besonderer Weise für ihre Kinder. Diese Grundsorge teilen viele, die im Erziehungsbereich tätig sind. Auf dieses Bedürfnis möchte spikids mit Angeboten antworten, die die Suche im spirituellen Bereich anregen und unterstützen.“306 Unterschieden werden drei Schwerpunkte: 1. Alltags-Spiritualität 2. Spiritualität im religiösen und christlichen Lebensvollzug 3. Gottesvorstellungen der Erwachsenen und der Kinder 304 Siehe hierzu Gindt (1991), S. 126-153. Vgl. die Erläuterungen der Internetseite von www.erwuessebildung.lu 306 Ebd. Hervorhebung von mir, S. D. 305 135 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Erklärt wird dies folgendermaßen: „Es geht (...) zum einen um allgemeine Spiritualität etwa durch Achtsamkeit oder Stille, zum zweiten um eine Auseinandersetzung mit religiösen, auch außerchristlichen Spiritualitätsangeboten und schließlich um die eigene, spezifisch christliche Tradition von spiritueller Lebensgestaltung.“307 spikids macht Veranstaltungsangebote, liefert auf ihrer Homepage Medienrezensionen und gibt Tipps zur spirituellen Erziehung von Kindern. Neben dem Angebot an Weiterbildungen wie Vorträgen und Kursen zu religiösen oder auch gesellschaftspolitischen Themen bietet die ErwuesseBildung religiöse und nicht-religiöse TV- und Printmedien mit Bildungsanspruch zum Verkauf und Verleih an. Sie ist mit einem speziellen Service den Schulen angeschlossen, bei dem Lehrkräfte per Post versandte Filme für den Unterricht ausleihen können. Für die Lehrer sind die Möglichkeiten der Nutzung angenehm. Da die ErwuesseBildung jedoch nur einen einzigen Standort, in der Hauptstadt, hat, sind die Zugangsmöglichkeiten für junge wie ältere Leute außerhalb der Stadt Luxemburg sehr begrenzt. Leichter zugänglich für Jugendliche, zumindest für die, die über einen Internetanschluss verfügen, ist das virtuelle Angebot religiösen Lernens. Bezüglich der medialen Ausstattung mit vernetzten Computern an den Schulen muss sich Luxemburg im europäischen Vergleich nicht verstecken. Sowohl Lehrer als auch Schüler an allen Schulen haben theoretisch Zugang zu einem Computer und somit zu einem Unterrichtsmedium, das auch das religiöse Lernen auf attraktive Weise ergänzen kann. Bei den Lernplattformen gibt es in den verschiedenen Sprachen unterschiedliche Anbieter. Speziell für den Luxemburger Raum gibt es beispielsweise myschool, die nicht nur, aber auch religiöse Lernthemen schülergerecht aufbereitet.308 Neben den Angeboten aus Frankreich werden auch originär deutsche Seiten benutzt, so etwa am hauptstädtischen Athénée. Der dort tätige Religionslehrer Jean-Luis 307 308 Ebd. Siehe www.myschool.lu. 136 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Gindt engagiert sich für die religionspädagogische Lernplattform rpi-virtuell309 und bietet für seine Luxemburger Fachkollegen immer wieder entsprechende Fortbildungen über Einsatzmöglichkeiten an. Vorteil der Nutzung von Lernplattformen ist erstens die simple, zeit- und ortsunabhängige Zugänglichkeit sowie außerdem die lernpsychologisch nicht zu unterschätzende altersspezifische Attraktivität des Mediums Internet für Jugendliche. Der Nutzer kann autonom sowie kreativ arbeiten und in Eigenregie Themen behandeln, die ihn interessieren. Der Markt der virtuellen Möglichkeiten ist groß, und es sollen an dieser Stelle nur einige wenige Beispiele genannt werden. So können Kinder und Jugendliche mittels Google Earth310 religiöse Stätten jedweder Herkunft virtuell besuchen, über rpi-virtuell Wege wie etwa Kreuzzüge realistisch nachempfinden und sich in jeder Hinsicht landeskundlichgeographisch fortbilden. Es besteht bei rpi-virtuell weiterhin die Möglichkeit des Nachbauens sakraler Bauten als virtuelle Räume, etwa als für die Jugendlichen sehr persönliche Aufgabe mit dem Arbeitsauftrag „Baut einen Raum, den ihr selbst als religiös bezeichnen würdet“. Das Beispiel der Raumkonstruktion ist laut Dr. Michael Waltemathe von der Ruhr-Universität Bochum deshalb für das religiöse Lernen so geeignet, weil es sich hier um einen religiösen Gründungsakt handele: „gestaltete Welt ist religiöse Welt, weil sie Bedürfnisse und Werte wiedergibt und auch befriedigt.“311 Sind wir selbst womöglich in einer Generation aufgewachsen, die so eine Aufgabe anhand eines Schuhkartonmodells ausgeführt hätte, muss man heutigen Jugendlichen zugestehen, sich ihr eigenes Medium suchen zu dürfen beziehungsweise mit diesem vertrauter zu sein als wir mit besagtem Schuhkarton, und daher auch motivierter – auch wenn bestimmte affektive Aspekte des Schuhkarton-Gestaltens dabei außenvor bleiben. Ein von der Intention ähnliches Projekt stellt Basis B dar, die erste Bibelübersetzung, die speziell für die Nutzung in den neuen Medien entwickelt wurde und deren Werbekampagne sich konkret an junge Nutzer richtet. Es handelt sich hierbei um ein Kommunikationskonzept, das Jugendlichen zwischen sechzehn und fünfundzwanzig Jahren 309 Siehe www.rpi-virtuell.net. Rpi-virtuell ist ein Angebot der Evangelischen Kirche in Deutschland und gehört zum Comenius-Institut. Die Nutzung für Schulen und Gemeinden ErwuesseBildung ist kostenlos. 310 Hierbei handelt es sich um ein im Internet kostenlos herunter zu ladendes Programm, das mittels aktueller Satellitenbilder die ganze Welt sichtbar und durch eine dreidimensionale Ansicht buchstäblich zugänglich macht. 311 Waltemathe (2006). 137 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen neue Zugänge zur Bibel öffnen will und als Zusammenspiel von drei Medien funktioniert: der Multimedia-CD-ROM, ein Taschenbuch sowie einem Online-Portal. Basis B ist nach eigenen Angaben „wortgetreu übersetzt, für alle verständlich und interaktiv erlebbar““. Darüber hinaus verspricht es allen Usern die Chance „zur virtuellen Gemeinschaft“ sowie „Infos zur Bibel, Chats / Foren zu Lebensfragen, FAQs zu den Themen ‚Glaube’ und ‚Bibel’ und eine Werkstatt für Jugendgruppenarbeit“. 312 Neben der Aufmachung der Werbebroschüre, die wie das Cover eines Rap-Band-Albums erscheint, sind die einerseits die Anspielungen auf Gemeinschaft innerhalb des neuen medialen Umfelds sowie auch die Nutzung der Jugendsprache (FAQs) interessant. Einerseits möchte man um die Bedürfnisse der jungen Leute – Gemeinschaft eben – wissen, und sie Ernst nehmen,313 andererseits deren Kommunikationsformen anerkennen und bedienen, und zwar in einer intendiert „coolen“ Form, so wie wir dies bereits bei anderen Beispielen in dieser Arbeit wie Pimpmychurch oder Mafrema vorgefunden haben. Das Material ist also vorhanden. Allerdings fehlen bisher genauere Informationen darüber, wie, das heißt, ob, wie häufig, wie intensiv und auf welche Art, die Nutzung seitens der Schüler wie auch Lehrer stattfindet. Eine empirische Untersuchung der Religiosität hat ein Interesse daran, dieser Frage bezüglich des religiösen Angebots und seiner Nutzung auf den Grund zu gehen und so Bildungsmöglichkeiten für die Zukunft zu erkennen und auszubauen. 3. 2. 7 Die Ausstellung „Glaubenssache“ Als kulturelle Aufnahme des gesellschaftspolitisch hochaktuellen Themas „Religiosität“ beziehungsweise „Glaube“ diente die Ausstellung „Glaubenssache“, die von November 2008 bis zum Juni 2009 im Musée d’Histoire der Stadt Luxemburg gastierte. Die ursprüngliche Ausstellung des Stapferhauses Lenzburg entstand vor dem Hintergrund der 312 Basis B Werbebroschüre 2006, siehe Anhang. Hervorhebung von mir, S. D. 138 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Religionsvielfalt in der Schweiz. Nach ihrem Schweizer Debut wurde sie für Luxemburg adaptiert, mit folgender Ankündigung beziehungsweise Beschreibung: „Luxemburg ist ein katholisches Land, sagt die Statistik. 81 Prozent der Bevölkerung sind katholisch. Aber 34 Prozent geben an, „nicht religiös“ zu sein. Ein Widerspruch? Welchen Glauben teilen katholische Luxemburgerinnen und Luxemburger tatsächlich? Welche Glaubensvielfalt versteckt sich hinter der größten Glaubensgemeinschaft des Landes? Wie multireligiös ist Luxemburg bereits heute? Die Ausstellung „Glaubenssache“ lädt zur Entdeckungsreise durch die aktuelle Glaubenslandschaft Luxemburgs. Die Ausstellung zeigt, wie und warum wir glauben und weshalb wir über unseren Glauben streiten. Und sie stellt die Gretchenfrage: Wie halten Sie es mit dem Glauben?“314 Die Luxemburger Variante suchte nach eigenen Angaben nach „Spuren der hiesigen unterschiedlichen Überzeugungen beziehungsweise der Entstehung neuer Glaubensformen in einer Welt, in der die etablierten Religionen immer weniger Anhänger zu finden scheinen.“315 Der Besucher sah sich in der Ausstellung einer Wand aus hundert persönlichen "Glaubens"-Objekten gegenüber, die dem Museum von Einwohnern Luxemburgs zur Verfügung gestellt wurden. Die Schau stellte zudem Vergleiche zwischen den Kulturen an und integrierte - anders als in der Lenzburger Ausstellung luxemburgspezifisch einen ganzen Teil über Muttergotteskult. „Glaubenssache“ will dem einzelnen Besucher zu entscheiden überlassen, wie er Glauben oder Unglauben definiert. Am Eingang gibt es zwei Türen, durch die man die Ausstellung betreten soll: die für Gläubige und die für Ungläubige, auf eine dritte Tür à la „Ich weiß nicht“ hat man laut Marie-Paule Jungblut, Kuratorin am Geschichtsmuseum in Luxemburg, bewusst verzichtet.316 Die Besucher erhalten als Ticket einen USB-Datenstick, mit dem sie sich während des Rundgangs mehrmals an Computerstationen einloggen und Fragen zu ihrem Gottesbild, ihrer Glaubenspraxis oder auch ihrer Wahrnehmung einer zunehmend säkularen und interreligiösen Glaubenslandschaft Luxemburg beantworten sollen. Beat Hächler, Ausstellungsmacher und Co-Leiter des Stapferhauses Lenzburg, in dem die Ausstellung startete, erklärt: „Der Datenstick ist zugleich sichtbares Glaubenszeichen. Er wird wie ein Amulett um den Hals getragen und macht die Besucherinnen und Besucher für alle als ‚Gläubige’ oder ‚Ungläubige’ erkennbar. Die Privatsache Glauben wird so zur öffentlichen 313 In diesem Sinne ist auch der Untertitel von Basis B zu verstehen: „Grund genug, um zu leben“. Die Sinnstiftung einer Sache bei Jugendlichen spielt hier anerkanntermaßen eine entscheidende Rolle. Vgl. auch eine Kopie im Anhang dieser Arbeit. 314 http://www.stapferhaus.ch/ausstellungen/glaubenssache-luxemburg.html. 315 http://www.musee-hist.lu/Glaubenssache.html. 316 Ebd. 139 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Glaubenssache. Das Museum wird zum Ort der Selbstwahrnehmung und – hoffentlich – zur Plattform für private Gespräche und öffentliche Diskussionen.“317 Erklärtes Ziel der Ausstellung war es, das Publikum „mit den diversen religiösen Kulturen und Weltanschauungen vertraut zu machen, ohne einer bestimmten Glaubensrichtung den Vorzug zu geben“.318 Gleichzeitig wurden die Besucher der Ausstellung nicht nur mit Glaubensbekenntnissen konfrontiert, sondern auch selbst nach ihrem persönlichen Verhältnis zur Religion und zu Sinnfragen, die sich dahinter verbergen, gefragt. Denn auch wenn die Mitgliederzahlen der einzelnen in Luxemburg ansässigen Religionsgemeinschaften trotz Datenschutzes mehr oder weniger bekannt sind, gehe aus ihnen nicht hervor, welche Glaubensprofile sich hinter ihnen verbergen. Dabei gehe es, so Hächler, nicht um Religionen, sondern um „Glaubenspositionen im Alltag“319. Den Schluss, den man nach der Lenzburger Ausstellung habe ziehen können, sei „banal wie einfach“ gewesen: Es gebe ebenso wenig ‚die Christen’ wie es ‚die Juden’ oder ‚die Muslime’ gebe; ein gläubiger praktizierender Christ habe mit einem gläubigen praktizierenden Muslim mehr gemeinsam als mit einem ungläubigen Christen.320 Dass die Ausstellung insbesondere im Kontext der vorliegenden Arbeit interessant ist, liegt nicht zuletzt daran, dass sie sich an dem Modell des bereits in Kapitel 2. 3 erwähnten amerikanischen Soziologen Charles Glock orientiert – das Modell, das sich auch Stefan Huber zur Messung von Religiosität vornahm: Religion wird hier als Bezug zu einer transzendenten, einer jenseitigen Wirklichkeit definiert, die in bestimmten Erlebens- und Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt und in der es sechs "Kerndimensionen" von Religiosität auszuloten gilt: „Intellekt äußert sich in der Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten und religiöses Wissen: "Wie oft denken Sie über religiöse Fragen nach?" Ideologie wird daran gemessen, wie stark die Zustimmung oder die Gewissheit gegenüber bestimmten Glaubensinhalten ist: "Wie wahrscheinlich ist ein Leben nach dem Tod?" 317 Hächler (2008), S. 32. http://www.musee-hist.lu/Glaubenssache.html. 319 Hächler (2008), S. 32. 320 Ebd. 318 140 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Erfahrung wird als Wahrnehmung von Kontakten mit der Transzendenz verstanden: "Wie oft erlebe ich, dass Gott konkret in mein Leben eingreift?" Private Praxis meint das Ausführen von Ritualen: "Wie oft bete ich?" Öffentliche Praxis zielt auf die Zuwendung zu einer religiösen Gemeinschaft ab: "Wie oft nehme ich an Gottesdiensten teil?" Konsequenzen im Alltag fragen nach der Berücksichtigung bei der Lebensführung: "Wie stark lasse ich mich – in Partnerschaft, Familie, Beruf und Politik – von religiösen Vorstellungen leiten?"“ 321 Hubers Modell der Erfassung zur Messung von Religiosität bei monotheistischen Religionen wurde für die Ausstellung auf pantheistische Konzepte (Buddhismus und Hinduismus) erweitert und die Glaubenstypologie auf fünf Profile reduziert. Die Befragten werden in fünf "Religionstypen" einteilt:322 areligiös traditionsreligiös kulturreligiös alternativreligiös patchworkreligiös Laut Marie-Paule Jungblut fragt die Ausstellung weniger nach Religiosität, sondern nach verschiedenen Formen von Glauben: 323 Wo stehe ich? Stehe ich noch im institutionalisierten kirchlichen Kontext? Die Testumfrage unter den Ausstellungsbesuchern habe ergeben, dass „enorm viele Leute kulturreligiös“ seien und nur noch wenige institutionalisiert religiös. Hinter dem Block von 80% Katholiken, von dem man bei der Vorbereitung der 321 Siehe die Ausführungen bei http://www.lernprojekt-religion.ch/Aktuell/glaubenssache.htm. Die genaue Beschreibung der jeweiligen Typen findet sich im Anhang dieser Arbeit. 323 Dies sagte sie in der Radiosendung: "Background am Gespréich" auf RTL Radio Lëtzbuerg vom 10. 01. 2009, nachzuhören auf http://www.museeist.lu/Glaubenssache_+ Eine+Ausstellung+für+Gläubige+und+ Ungläubige +.html. 322 141 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Expo ausgegangen sei, verberge sich eine große Vielfalt.324 Diese Multiperspektivität verbunden mit der Idee der Toleranz, dass man miteinander lebt, auch wenn man ganz unterschiedlich glaubt, sei der Ausstellung besonders wichtig. Insgesamt besuchten rund 20.000 Besucher die Luxemburger Ausstellung.325 Ihre Rezeption fiel in der Öffentlichkeit, unter Vertretern der Kirche wie Kirchenkritikern unterschiedlich aus: Umstritten war u. a. die Kategorisierung der möglicherweise sehr vereinfacht konzipierten unterschiedlichen Religionstypen, die komplexe Beziehungen zu Religion übergehe. Auch bastele sich nicht jeder, der Rituale und Feiern anderer Religionsgemeinschaften besucht, eine eigene Religion, und nicht jeder "Kulturreligiöse" sei aus der Kirche ausgetreten. Positiv hervorgehoben wurde jedoch auch, etwa von Théo Péporté, Leiter des "Service Communication et Presse", verantwortlich also für die Medienund Öffentlichkeitsarbeit der katholischen Kirche in Luxemburg,326 „Glaubenssache“ funktioniere mit Zeitzeugen, mit authentischen Leuten. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist es zu bedauern, dass die Datenerhebung der fünf Religionstypen der Luxemburger Öffentlichkeit nicht transparent gemacht worden ist.327 Die Resultate der Typologie-Zuordnung wurden nach Abschluss der Ausstellung nicht weiter veröffentlicht.328 Für Luxemburg fehlt bisher ein entsprechendes, normalen Recherchemethoden zugängliches Datenarchiv in Form einer Schlussdokumentation, das nachhaltig darüber Auskunft gibt, wie sich die Besucher auf die Typologie aufteilen. Dies war bei der Lenzburger Erhebung anders. Wenn das dortige Resultat auch kritisch rezipiert wurde, ist die Feststellung, dass sich die religiöse Landschaft verändert habe, 324 Ebd. Angabe s. Jahresbericht 2009 des Stapferhauses unter http://www.stapferhaus.ch/uploads/ media/ Jahres-bericht_2009.pdf. 326 Vgl. Péportés Aussagen in der Radiosendung: "Background am Gespréich" auf RTL Radio Lëtzbuerg vom 10. 01. 2009, nachzuhören auf http://www.museehist.lu/Glaubenssache_+Eine+Ausstellung+für+ Gläubige+und+ Ungläubige +.html. 327 Die Schweizer Schlussdokumentation ist unter http://www.stapferhaus.ch/uploads/media/Schluss dokumentation_kurz_02.pdf zu finden. 328 Auf Nachfrage am 18. 08. 2010 verwies Marie-Paule Jungblut darauf, dass die Publikation nicht Aufgabe eines Museum sei. Möglich sei höchstens eine interne Anfrage nach einzelnen „Doneen“ wie Besucherzahlen. 325 142 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen unübersichtlich wie noch nie sei und sich weiter verändern werde329 immerhin ein belegter Anfang eines pragmatischen Umgangs mit tatsächlich gelebter gesellschaftlicher Religiosität. Ein Aspekt der Ausstellung – so spannend ihr Frageansatz hinsichtlich Religiosität auch sein mag – muss bei einer Übertragung des Resultats auf eine empirische Umfrage bei Jugendlichen mit Vorsicht umgegangen werden: Es handelt sich hier um eine Befragung, die buchstäblich unter dem Dach eines Museums stattgefunden hat, das heißt, bei der Zielgruppe handelt es sich um ein bestimmtes Publikum sowohl hinsichtlich des Alters, der Bildung und des thematischen Interesses. Diese Tatsache führt dazu, dass ein Resultat weder aus Lenzburg noch aus Luxemburg - keineswegs auf die Verhältnisse der Gesamtbevölkerung geschweige denn Jugendlicher übertragen werden kann. Auch wenn das Instrumentarium als Basis funktionieren mag, kann das E r g e b n i s des Geschichtsmuseums allenfalls als vage Orientierung dienen – wenn überhaupt das... 3. 3 Erkenntniszusammenschau „Religion ist Privatsache“ – wie häufig fällt dieser Satz innerhalb der kirchenkritischen Diskussion nicht nur in Luxemburg und alsdann auch als Zitat mehrfach im Kontext der vorliegenden Arbeit. Man muss sich nach der Verhältnismäßigkeit und auch Priorität dessen fragen, was heute in Luxemburg als privat und auch datentechnisch schützenswert gehalten wird und was nicht: Einerseits dürfen im Namen des Datenschutzes Informationen etwa über die religiöse Zugehörigkeit nur auf Umwegen gesammelt werden, andererseits ist es 329 Vgl. etwa die Bewertung von Peter Schmid. Er schreibt: „Was Religiositätstests wie der in Lenzburg eingesetzte mit ihrer Typisierung hergeben, darüber kann man streiten. (...) Beim Gottesbild findet die Vorstellung von einer Energie, die alles durchströmt, bereits mehr Zuspruch als das traditionelle Bild einer Person, zu der man sprechen kann. Der mit Hubers Kriterien erstellte Glaubenstypen-Test nivelliert die (letzthin wieder stärker wahrgenommenen) Unterschiede zwischen den Religionen, indem er durchwegs von „Glauben“ spricht und individuelle, praktizierte Religiosität vergleicht. Eine Patchwork-Gläubige, eine Muslima und eine aktive Christin meinen nicht dasselbe, wenn sie von ‚Gebet‘ reden. Eines wird deutlich: Die meisten Besucher sind nicht mehr gläubig in dem Sinn, dass sie Christus nachfolgen und ihre Mitgliedschaft in der Kirche mit einem biblisch verankerten, herzhaften, tätigen Glauben verbinden. Wenn man der Ausstellung glauben will, ist das Gegenteil der Fall: dass Millionen von Schweizern, das Segment der Kulturreligiösen, „weitgehend glaubensabstinent“ leben (so die zugespitzte Formulierung auf dem abgegebenen Blatt). Schmid (2007). 143 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen scheinbar legal, beispielsweise die Resultate der Schulabschlüsse mit Namen der Absolventen im Luxemburger Wort abzudrucken. Es maßt schon bizarr an, dass die hundert repräsentativ ausgewählten Luxemburger, die der Ausstellung „Glaubenssache“ ein persönliches Glaubensobjekt zur Verfügung stellten, anonym bleiben mussten. So kommentiert auch der Schweizer Ausstellungsmacher Hächler: „Es scheint fast, dass die Glaubenssache in Luxemburg nicht nur Privatsache, sondern Intimsache geworden ist und besser gehütet wird als das Bankgeheimnis in der Schweiz.“330 Ob man Hächler nun zustimmt oder nicht - eine Tatsache kann nicht verleugnet werden, nämlich die, dass man sich mit seiner (privaten) Glaubensmeinung in der Gesellschaft positioniert - vielleicht auch gerade dort, wo ich (nicht) will.331 Um es mit Théo Peporté zu formulieren: Mein Glaube gehört mir, aber er verändert mein Handeln und meine Einstellung zur Welt. Es gebe ein Comeback von Fragen nach Religiosität und Glauben – das sei religionsunabhängig. Man müsse jedoch unterscheiden zwischen persönlichem und institutionalisiertem Glauben; und selbst innerhalb von der Kirche werde auch nicht mehr stur an fixen Glaubenssachen festgehalten. Es handle sich Religion à la carte, PatchworkReligion.332 Die gesellschaftliche Wirklichkeit Luxemburgs gegenüber Religiosität ist in der Tat nicht kohärent. Die nominale Präsenz des katholischen Glaubens ist wie gezeigt nach wie vor vorhanden. Die Ergebnisse der luxemburgischen Wertestudie oder auch Grundaussagen der Ausstellung „Glaubenssache“ von 2009 sind jedoch widersprüchlich: Die Studie wies das Interesse an Religion als Wert gesellschaftlich eher untergeordnet bis gering aus, die Ausstellung sowie die mediale Wahrnehmung des Themas Religion / Religiosität / Glauben / Rolle der Kirche in der Öffentlichkeit hat in jüngster Vergangenheit eine ganz andere, sehr lebendige Sprache gesprochen. Uns liegt bis heute keine verbindliche Auskunft darüber, wie es in Luxemburg wahrhaftig um die gelebte Religiosität bestellt ist und welche moralischen Werte mit dieser Aussage verknüpft sind, vor. Genau hier 330 Hächler (2008), S. 33. Vgl. hierzu auch die Meinung von Laurent Moyse ebd. 332 Vgl. seine Aussage in der Radiosendung: "Background am Gespréich" auf RTL Radio Lëtzbuerg vom 10. 01. 2009, nachzuhören auf http://www.musee-hist.lu/Glaubenssache_+Eine+Ausstellung+für+ Gläubige+und+ Ungläubige +.html. 331 144 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen müssten weitergehende Studien insbesondere für die heranwachsende Generation ansetzen. Zweitens kann man festhalten, dass die ökonomisch außergewöhnlich positive Situation Luxemburgs zwar äußerlich den sozialen Frieden sichern mag, deswegen jedoch noch längst kein Garant für Zufriedenheit und Glück ist und in diesem Sinne auch spirituelle Befriedigung garantiert. Das Risiko der Übersteigerung, der Sinnentleerung, des Überdrusses durch Konsum ist hoch, diese Erkenntnis wird von der steigenden Anzahl psychischer Erkrankungen und Lebensmüdigkeit mit Hintergründen wie Drogenmissbrauch, einer gestörten Wahrnehmung des eigenen Körpers oder auch Medienmissbrauch ebenso gestützt wie durch die Schüleräußerungen aus der Hausaufgabe zum Exodus-Text „Der Tanz um das goldene Kalb“. In Letzterer bestätigten die Jugendlichen diesen Eindruck, dass Geld und Konsum als eine Ersatzbefriedigung fungieren oder auch als spirituell leere Götzendienste angesehen werden können, weil die Fähigkeit der Erkenntnis eines biblisch-religiösen Gottesbildes fehlt. Ein entsprechendes Bild zeichnen auch die Zahlen über Familienstrukturen in Luxemburg, die sich in den vergangenen Jahrzehnten von dem klassischen Muster der Eltern, die gemeinsam die Kinder betreuen hin zu zahlreichen Alternativmodellen bewegt haben. Was hier verlorengegangen ist, ist die Übersichtlichkeit und Sicherheit, die einst die Institution Familie den Jugendlichen bot. Die Heranwachsenden leben in zunehmend pluralen Kindschaftsverhältnissen, die das Vertrauen auf ein einheitliches Konzept von Familie erschweren. Familie als Kommunikations- und Interaktionsraum ist flexibel und damit aber auch nicht mehr ein verlässlicher Partner religiöser Bildung. Wenn glauben „vertrauen“ bedeutet (siehe Kapitel 2. 5), sind die Räume, in denen sich dieses Vertrauen entwickeln kann, wesentlich unberechenbarer geworden. Die Scheidungsrate von etwa fünfzig Prozent der geschlossenen Ehen hat für die religiöse Prägung wahrscheinlich tief greifendere Konsequenzen, als auf den ersten Blick angenommen. Kinder erleben das Zerbrechen eines Schutzraumes. Angesichts der Variabilität in der kindlichen Biografie sei in einer Welt, in der Erwachsene „aus der Erziehung aussteigen“333, der „pädagogische Ernstfall“334 eingetreten. Autonomie und Mündigkeit würden für Kinder und Jugendliche zu 333 334 Schmälzle (1995), S. 373. Ebd. 145 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen existenziellen Kompetenzen.335 Schmälzle befürchtet, dass damit bereits im Kindergartenalter „der Nährboden für unsere ausufernde Kultur der Gewinner gelegt“ werde, da die einzige Alternative zur Autonomie für das Kind Lebensuntüchtigkeit oder Unterwerfung bedeutete.336 Die Heranwachsenden „stricken“ sich ihre eigenen Werteraster und suchen sich Ersatzrituale in ihrer Umgebung. Da religiöse Schulen im Vorschulalter fehlen, mangelt es auch hier an einer ausgleichenden christlichen Werteinstanz. Hinzu kommt, dass der Einfluss der Kirche die Moral der Rechtsprechung ebenso wenig beeinflussen kann wie Entscheidungen im Bildungssystem: Das tatsächlich verabschiedete Euthanasie-Gesetz, die Einführung eines „religiös neutralen“ Wertunterrichts mit Modellcharakter unter dem Titel „Education aux valeurs“, die am „Neie Lycée“ seit 2005 jeder Lehrer ohne fachspezifische Ausbildung unterrichten darf 337 und nicht zuletzt der Streit um den Wertunterricht und den Einfluss der Kirche im Staat sind den Interessen der religiösen Vertreter ein scharfer Gegenwind. Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Fehlen jeglichen religiösen Angebots für Kleinund Vorschulkinder. Eine Reihe Kirchengemeinden wie etwa Luxembourg-Belair haben die Nachfrage erkannt und bieten sogenannte „Butzegottesdengschter“ / „Krabbelgottesdienste“ an. Diese erreichen jedoch die Familien nur punktuell, und wahrscheinlich auch nur diejenigen, bei denen sowieso schon eine positive Grundhaltung gegenüber Glaubensfragen vorhanden ist. Der öffentliche Bildungssektor hat sich aus dieser Verantwortung komplett ausgeklinkt. Auf der anderen Seite schafft die Kirche Luxemburgs den älteren Kindern und Jugendlichen ein Angebot, das sich darum bemüht, die Jungen und Mädchen ins Boot zu holen. Insgesamt kann die pastorale Palette als traditionell bis modern, auf jeden Fall aber als den Bedürfnissen der Jugendlichen nachspürend beschrieben werden. Aktionen wie „Pimp my church“ oder auch der Aufbau des Messdienerverbandes suchen die Nähe der jungen Generation auf zunehmend unkonventionellen Wegen. Dennoch liegt der Anteil der 335 Ebd. Schmälzle (1995), S. 372. 337 Vgl. Conférence des professeurs (...) (2008), S. 36. 336 146 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Jugendlichen, die sich für eine religiöse Freizeitgestaltung entscheiden, bei niedrigen fünf Prozent (s. o.). Anders sieht es bei der Reaktion der Jugendlichen auf zeitbegrenzte Angebote wie der Willibrordus-Oktav, dem Pélé des Jeunes oder dem Weltjugendtag aus, die kurzfristig immer wieder guten Zulauf verzeichnen. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass Jugendliche bei der Nutzung religiöser Angebote eher auf die Erlebnis- und Eventgestaltung ansprechen als auf dauerhafte Verpflichtungen. Insgesamt kann man sagen, dass die Jugendlichen buchstäblich auf einer Art „Kurztrip“ zu ihrem Glauben unterwegs sind. Die Teilnahme an Prozessionen und religiösen Events zeigen dies ebenfalls. Es wäre positiv, würde man dies als neue Äußerung von Religiosität anerkennen und entsprechend bei einer empirischen Studie als eine Ausdrucksform von Religiosität ernst nehmen. Die Möglichkeit des modernen Medienzugriffs insbesondere durch die Lernplattform myschool auf religiöse Themen ist bisher noch nicht auf sein religiöses Bildungspotenzial tiefer gehend untersucht worden. Auch hierin läge ein empirisches Arbeitsfeld als Chance. Entsprechend dieser Erkenntniszusammenschau lautet die Antwort also: Religiosität und gesellschaftliche Wirklichkeit schließen sich in Luxemburg nicht aus, bilden aber auch kein harmonisches Miteinander. Vielmehr bewegt sich Religiosität in einer eigenen Parallelwelt, und zwar dort, wo sie den Alltag verlässt: nicht in der Familie oder Schule, selten im Verein, sondern hauptsächlich im Event und im Fest. 147 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 148 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 4 Forschungsgrundlage zur Erkundung jugendlicher Religiosität in postmodernen Kontexten Frage an die Schülerin: „Bist du religiös?“ Antwort: „Nö, ich bin eigentlich ganz normal.“ Anekdote nach Stefan Orth (2009) 4. 1 Wie frage ich Egotaktiker nach Religiosität?“ – Überlegungen zu dem Beziehungskonstrukt „jugendlicher Mensch - Religiosität“ und zu der Eruierung möglicher Problemfelder Wenn die vorliegende Arbeit von Jugendlichen spricht und sie als Zielgruppe empirischer Fragestellungen nimmt, empfiehlt es sich, den Personenkreis analytisch darzustellen. In diesem Teilkapitel geht es um spezifische entwicklungspsychologische Aspekte, die mit der Herausbildung von religiösen Mustern zu tun haben (können). Der Grundlagenforschung von Religiosität bei Jugendlichen sei eine Prämisse vorangestellt: Die Antworten nach Religiosität können und müssen bei den Jugendlichen selbst liegen und dort auch gesucht werden, also nicht zuerst bei Befragungen von Lehrern, Eltern, Geistlichen usw. Die Jugendlichen kennen ihre Einstellungen, Meinungen und Motivationen am besten, mögen andere sie auch noch so gut und gern beschreiben, interpretieren oder begründen, und selbst dann, wenn manch ein Erwachsener ihnen die Tragweite ihrer Urteilsfähigkeit als eingeschränkt bescheinigen möchte - dies sieht die vorliegende Arbeit anders. Sie erkennt die alleinige Tragfähigkeit und Autonomie jugendlicher Aussagen bezüglich ihrer Spiritualität und Religiosität an. Wenn wir von Jugendlichen sprechen, sind Heranwachsende zwischen vierzehn und achtzehn Jahren gemeint (spätes Jugendalter beziehungsweise die Phase der Adoleszenz).338 Jugendliche befinden sich in einer Phase des Umbruchs; abgesehen vom ersten Lebensjahr eines Kindes vollziehen sich in keiner Lebensphase sonst so viele innere und äußere Veränderungen wie zu dem Zeitpunkt des Jugendalters. Die Jugend im heutigen 338 Vgl. Höring (2000), S. 26. 149 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Westeuropa zieht sich zunehmend in die Länge und der Eintritt ins Erwachsenenalter erfolgt zu einem immer späteren Zeitpunk. Im Bezug auf Luxemburg passt zur Beschreibung sicher das skandinavische Modell339 am besten, das auch in Frankreich vorherrscht: eine relativ frühe Lösung vom Elternhaus durch das Angebot an Kinderbetreuung, gleichzeitig aber eine relativ späte Eheschließung und Zeugung von Nachkommen, nicht zuletzt auch während der relativ langen schulischen Ausbildungsdauer.340 Die Begegnung mit Menschen in dieser Lebensphase ist so eigen wie zu jedem anderen biografischen Zeitpunkt und hat seine speziellen Herausforderungen und sicher auch Reize: Der Gegenüber wird – bei allem Respekt gegenüber der kindlichen Persönlichkeit! – für den Erwachsenen zumindest aus intellektueller Hinsichten zu einem ernst zu nehmenden Gesprächspartner. Andererseits werden Jugendliche nicht selten als affektiv labil beschrieben und ihre Unsicherheit im Umgang mit ihren Gefühlen wird als Eigensinn und Trotz gedeutet. Wir sprechen von Jugendlichen am Ende der Pubertät, deren Ende in unserem Kulturkreis traditionell mit der Übernahme der wichtigsten Aufgaben von „Erwachsenen“, Arbeitsleben und Ehe gekennzeichnet wird.341 Dieser Übergang ist jedoch fließend, zumal speziell im Kontext mit luxemburgischen Jugendlichen die persönliche Unabhängigkeit im Konsumbereich342 sowie innerhalb der bereits beschriebenen Familienstrukturen dafür sorgen, dass eben nicht der Eintritt ins Berufsleben und Ehe als Grenzmarke für das Erwachsensein gelten kann, weil bereits vorher wie in Kapitel 3 analysiert ein hohes Maß an Autonomie und Unabhängigkeit vorhanden ist. Die Jugendphase ist eine Zeit des Fragens, vielleicht macht sie gerade dies so empfänglich wie auch kritisch gegenüber Religiosität. Die Wahrnehmung des äußeren und inneren Lebens verändert sich und es stellen sich immer neue Fragen, etwa wonach das eigene Leben ziele (Partnerschaft, Ehe, Familie…) oder welcher Beruf gewählt werden soll. Jugendliche suchen nach einem Platz in der Gesellschaft und müssen sich vermehrt ihrer eigenen Verantwortung bewusst werden und mit der zunehmenden Loslösung von den Erziehungspersonen für ihr eigenes Handeln einstehen. Zwangläufig einher geht die 339 Dies ist beschrieben von Pollo (1998), S. 46. Siehe hierzu u. a. die Statistiken im Anhang dieser Arbeit. 341 Vgl. Hurrelmann u. a. (2002), S. 32. 342 Die Jugendlichen verfügen im europäischen Vergleich über überdurchschnittlich viel Geld, siehe Kapitel 3. 1. 2. 340 150 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Herausbildung eines eigenen Wertsystems. Maßgeblich beteiligt an diesem ist der Einfluss der Familie, wobei auch andere Gruppen wie Verwandte, Freunde oder auch Institutionen wie Schule, Vereine oder auch Kirche als bestätigende oder auch alternative Wertpräger fungieren können: „Das persönliche Wertsystem ist entwicklungsfähig. Gerade in der Kinder- und Jugendzeit gibt es eine erhöhte Sensibilität für Wertfragen. (…) Den Entwicklungsaufgaben liegt (…) eine gemeinsame Thematik zugrunde. In allen Aufgaben geht es um die Herausbildung des Ich, des Selbst, der Identität.“ (Hurrelmann).343 Erlebt der Jugendliche in dieser Phase sein Umfeld nicht als eindeutiges System (Stichwort: Familienkonstellation, Haltung der Gesellschaft zu moralischen Fragen), muss er einen eigenen Weg finden, um sein moralisches Raster aufzubauen und entsprechend seiner Umgebung zu adjustieren. Umgekehrt ist es nach der Theorie des „Lernens am Modells“ nicht unwahrscheinlich, dass der Jugendliche bereits etablierte Wertvorstellungen einfach übernehmen kann, und es obliegt allein dem Grad des kritischen Umgangs mit seiner Umwelt während der Pubertät, ob der Jugendliche es schafft, beispielsweise materielles Denken abzulegen oder fortzuführen. Insofern ist der Lebensabschnitt Jugendlicher relativ offen, was wiederum nach sich zieht, dass das Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdbestimmung auf dem Weg zum Subjekt wächst. Der Jugendliche sieht sich mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert. Eine - wenn nicht die - entscheidende Lebensfrage des Jugendalters kreist nach tiefenpsychologischem Verständnis um die Suche nach Ich-Identität.344 In dieser Lebensphase geht es darum, zum unverwechselbaren Ich zu werden, eine eigene Persönlichkeit zu bilden. Dies bedeutet natürlich auch zu einem Teil das Aufgeben der Kindheit und das Antreten neuer Verantwortungen. Die sich entwickelnden intellektuellen wie emotionalen Kompetenzen verhelfen dem Heranwachsenden zu einer erhöhten Selbsterkenntnis auf dem Weg zu einer sozialen und emotionalen Heimat. Es ist sicherlich eine komplizierte Phase: Während wir uns während unserer Kindheit überwiegend von den Eltern leiten lassen, gewinnt während des Jugendalters die eigene Reflexion an Bedeutung. Höring fasst dies so zusammen: „Der junge Mensch begreift sich als endlich, er wird zunehmend bewusster mit Phänomenen wie Tod und Leid konfrontiert. In zentralen Lebensthemen wie Zukunft, Frieden, Gerechtigkeit, Partnerschaft etc. tritt implizit immer wieder die Sinn-, Transzendenz- und Gottesfrage auf und verlangt nach einer (eigenständigen und selbstreferentiellen) Antwort. 343 344 Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 23. Vgl. Erikson (1988), S. 326. 151 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Gleichzeitig äußert der Jugendliche Kritik und Ablehnung gegenüber den (vormals vielleicht selbstverständlichen) religiösen Formen der Eltern und Erwachsenen.“345 Die Jugendlichen sind auf der Suche nach rituellen Grenzgängen. Ein Beispiel ist das Pilgern, das bereits in Kapitel 3. 2. 3 als religiöse Ausdrucksform verstanden wurde, ein anderes der „Rausch als Ritual“, wie er von Stephan Sting beschrieben wird.346 Sting erklärt, wie der Rausch als Extremerfahrung den Menschen an die Grenzen des Bewusstseins führt und gerade Jugendliche diese Erfahrung häufig in der Gemeinschaft suchen, weil sie dadurch einerseits begrenzende Gruppenidentität und andererseits ekstatisches Bei-sichSein erleben können, etwa in der Techno-Disco.347 Die Verbindung von Religion und Popularmusik scheint keine Erfindung der Neuzeit zu sein. So beschreibt Andreas Büsch, wie seit Jahrhunderten in unterschiedlichen musikalischen Formen und auf verschiedene Weisen eine gegenseitige Beeinflussung von populärer Musik und Religion stattgefunden hat.348 Im religiösen Leben Luxemburgs findet sich dies in abgemilderter Form wieder in der Gestaltung der religiösen Events (siehe Kapitel 2. 4. 4 bzw. 3. 2. 3). In vorgelegten Jugendstudien, allen voran Shell, ist immer wieder von einem hohen Grad an Selbstzentriertheit bei den Jugendlichen die Rede, daher auch die Bezeichnung „Egotaktiker“ im Titel dieses Teilkapitel. So bezeichnet Hurrelmann, einer der maßgeblich an der Durchführung Shell-Studie Verantwortlichen, den “Sozialcharakter der Mehrheit der Jugendlichen heute als ‚Egotaktiker’“. Hurrelmann untermauert dies mit der „starken Konzentration auf die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit und die intensive Suche nach der personalen und sozialen Identität“ und dem „hohen Grad von Selbstzentriertheit (…), der bis zu einem Egoismus in der Durchsetzung eigener Interessen im sozialen Umfeld gesteigert werden kann“ 349. Die beschriebene Ich-Zentriertheit, über die Eltern wie Lehrer immer wieder klagen, ist keineswegs aber nur aus der Entwicklungspsychologie erklärbar, sondern, so beschreibt es Rainer Winkel, Professor für Erziehungswissenschaften in Berlin und seit 1998 Direktor 345 Höring (2000), S. 34. Sting (2005)S. 85-87. 347 Ein weiteres Beispiel für die jugendliche Sehnsucht nach Rausch ist das Testen von Drogen oder auch sogenannte Kampftrinken, die bei manchen Jugendparties veranstaltet werden. 348 Siehe hierzu Büsch (2000), S. 51-55 sowie ebenso Treml (1997). Bei beiden wird die Rolle von Musik als Mittel der Identifikation, der formalen wie inhaltlichen Abgrenzung sowie die Sinnstiftung als Ersatzreligion mit liturgischer Qualität ausführlich beschrieben. 346 152 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen einer evangelischen Gesamtschule in Gelsenkirchen, auch sozialhistorisch bedingt ein Ergebnis der veränderten Erziehung, die in vielen Elternhäusern angelegt wird. So beklagt Winkel den „erzieherischen Nihilismus“, den heutzutage viele Eltern an den Tag legten: „Jetzt sind die Enkel der sogenannten Achtundsechziger in die Schule gekommen und präsentieren sich gleichsam jenseits von Erziehung, sodass viele unserer heutigen Kinder und Schüler zum Beispiel überhaupt kein Unrechtsbewußtsein mitbringen. Nur wenn ihnen selbst Unrecht geschieht, schreien sie auf und schlagen sie zu. Daß sie anderen oft Unrecht zufügen, entzieht sich ihrer narzißtischen Empfindung.“350 Dass eine solche erzieherische Grundlage wenig zur Herausbildung sozialer Werte beiträgt, ist selbstredend. Fehlt es der pädagogischen Zeitgeistideologie der Elternhäuser an entsprechenden Inhalten, ist es für die Bildungsinstitutionen umso schwerer, dies aufzufangen und auszugleichen, auch wenn ihnen meist diese Aufgabe angetragen wird. So kann Schule lediglich versuchen, das „Weltliche“ an der religiösen Bildung zu leisten. Im Gegensatz zu Erfahrungen, die der junge Mensch in der Familie oder der Gemeinde macht, bietet Schule „das unterrichtliche, das didaktisch-methodische Bemühen“351, sich mit Gott auseinanderzusetzen, ersetzt jedoch nur wenig die Erfahrung der Zwischenmenschlichkeit, die in der außerschulischen Lebenswelt, jenseits von Leistungsdruck, viel schneller und leichter erfahrbar wird. Von Interesse in unserem Zusammenhang ist die Verhältnismäßigkeit zwischen diesem angenommenen Egoismus und der Bereitschaft zur beziehungsweise Eigenschaft der Religiosität. Die Wertestrukturen dieser egotaktischen Lebensphase bewegen sich klar auf einer antichristlichen Werteschiene: Hurrelmann schreibt der egotaktischen Grundeinstellung der Jugendlichen folgende Charakteristika zu: 1. Opportunismus 2. Bequemlichkeit 3. eine abwartende und sondierende Haltung 4. die Fähigkeit, im richtigen Moment bei einer sich bietenden Chance zuzugreifen352 349 Hurrelmann u. a. (2002), S. 33. Winkel (2001), S. 200. 351 Ebd. 352 Hurrelmann u. a. (2002), S. 33. 350 153 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Keine dieser Charaktereigenschaften, seien sie denn so, wäre kohärent mit den im zweiten Kapitel hervorgebrachten religiösen Werten. Wie also können Jugendliche überhaupt mit Begrifflichkeiten wie dem „Nächsten“ umgehen? Dies muss in einer Befragung berücksichtigt sein. Zu bedenken ist die Tatsache, dass es sich bei Hurrelmanns Aufzählung um eine doch recht stereotype Darstellung jugendlicher Charaktereigenschaften handelt, die im Einzelfall mehr oder minder ausgeprägt zum Vorschein kommen – es gibt zu viele charakterlich wie von ihrer Mentalität unterschiedliche Menschen! Zu einem großen Teil kreisen Jugendliche sicherlich um sich selbst. Auf der anderen Seite suchen Jugendliche immer auch nach ihrem Platz innerhalb eines großen Gefüges, in der Gemeinschaft, in einer gesellschaftlichen Strömung, sei es in Modefragen, Musikrichtungen, politischen Ansichten und spirituellen Fragen. Die Herausbildung eines Ichs ist also dialektisch auf das Ich und das Wir ausgerichtet. Der Jugendliche erwirbt ein Werteschema nicht für sich allein, sondern bewegt sich damit innerhalb bestimmter pluralistischer Gruppierungen, zu denen er sich zählt. Gleichzeitig hat sich die Komplexität der Gesellschaft ausgewirkt auf die religiöse Erfahrung: Religiosität ist in jedem Fall privater und subjektiver.353 Hier verbindet sich alsdann diese These mit der in Teilkapitel 3. 3: dass man sich mit seiner individuellen Glaubensmeinung in der Gesellschaft positionieren kann, wobei die Zahl der Patchwork-Glaubensbiografien nichtsdestoweniger aber steigt. In diesem Sinne erscheint mir Zulehners Einteilung verschiedener „Weltanschauungstypen“ unter den Jugendlichen etwas eng kategorisierend. Zulehner charakterisiert sie folgendermaßen:354 Es gebe 1. die („Intensiv-) Christen“ 2. die Religionskomponisten, die sich ihre eigene spirituelle Musik komponieren und dabei auf unter schiedliche spirituelle Stile zurückgreifen, 3. die naturalistischen Humanisten, die von der Konzentration auf den Menschen und die Natur geprägt sind 4. 353 354 und die Atheisten, welche ihr Leben ohne Religion bestreiten wollen Vgl. Pollo (1998), S. 54. Zulehner (2005a), S. 95. 154 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Zum einen engt diese Rastereinordnung die vielfältigen Möglichkeiten, in denen sich ein Mensch spirituell entwickeln kann, ein – auch wenn es sicherlich diese einzelnen Typen nach Zulehner geben mag. Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern es sich hier um eine bewusste Entscheidung seitens des einen oder anderen Jugendlichen zugunsten eines bestimmten Typus handelt. Ferner könnte ein genaueres Augenmerk auf die Geschlechterunterschiede von Interesse sein. Sie ist insofern relevant, als bisherige Jugendstudien einen Unterschied bei den Zugängen zur Sozialpolitik bei Jungen und Mädchen belegt haben: Mädchen und junge Frauen wollen in einem „sozial sicheren und harmonischen Gemeinschaftsgefüge leben“ und beteiligen sich überdurchschnittlich an Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen, stimmen jedoch bei spontanen Initiativen weitaus weniger illegalen Beteiligungsformen wie Hausbesetzungen oder wilden Streiks zu als ihre männlichen Altersgenossen.355 Dieses Ergebnis würde gemäß den aufgestellten Parametern von Religiosität (Wahrnehmung christlicher Werte) nahe legen, dass Mädchen religiöser sind. Daher müsste eine empirische Analyse zwischen den Geschlechtern unterscheiden, um dies zu verifizieren. Ein Grund, warum die Kirchlichkeit allein nur in eingeschränktem Maße Auskunft über die Religiosität Jugendlicher gibt, ist die Tatsache, dass Jugendliche sich in ihrem Alter beinahe ausschließlich mit Themen auseinandersetzen, die ihr Leben betreffen: Freundschaft, Liebe, Sexualität, ihr eigener Körper etc. Dies ist meist gepaart mit der Ablehnung der Jugendlichen, in ihr Innerstes, ihre Gefühlswelt, blicken zu lassen; oder, wie Lothar Kuld es ausdrückt: „Die Jugendlichen sind schon irgendwie für Religion, aber nicht für die Kirche.“356 Die Frage nach dem Gottesdienstbesuch ist zwar relevant, weil er nicht nur ein institutionalisiertes religiös-kirchliches Verhaltensmuster ist, das sich von religiös-spiritueller Intention lösen und zur bloßen Routine abgleiten kann.357 Es kann sich dieses Verhaltensmuster mit religiöser Erfahrung sehr wohl insofern verbinden, als in ihr eine religiöse Grundhaltung deutlich wird, weil sie das Vorhandensein religiöser Gefühle voraussetzt.358 Nichtsdestotrotz ist die Gleichsetzung von Religiosität und Kirchlichkeit infrage zu stellen und umzudrehen, indem wir erforschen, inwiefern Religiosität jenseits von Kirchlichkeit stattfinden kann – wie es das ja in der Praxis bereits tut. 355 Hurrelmann u. a. (2002), S. 42 f. Kuld (2001), S. 112, Hervorhebung von mir, S. D. 357 Vgl. Preul (1973) S. 186. 356 155 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 4. 2 Allgemeine Grundlagen der Lebenswirklichkeit heutiger Jugendlicher im Zusammenhang mit Religiosität „Die vorherrschende Kultur versteht sich selbst unabhängig von Transzendenz.“ Heinz Stratmann359 Das folgende Kapitel befasst sich eingehender mit der Frage, wie eigentlich Jugendliche zu ihren religiösen Konstruktsystemen kommen. Begonnen wird mit einer Betrachtung der Einflüsse durch die Umwelt, in der sich Religiosität herausbilden kann, wobei Überschneidung mit der im Anschluss behandelten Frage nach Aspekten der Entwicklungspsychologie und inneren Haltungen Jugendlicher auftreten können. Bezüglich der Einstellung Jugendlicher zur Religion und Spiritualität ist die kognitive, affektive entscheidend.360 Diese und psychosoziale Ganzheitlichkeit Handlungskompetenz bezüglich der Religiosität besonders in der Entwicklungsphase Jugendlicher ist von entscheidender Wichtigkeit für die Erstellung einer Befragung und auch beim Nachdenken über etwaige Konsequenzen aus den Ergebnissen. Wenn der Glaube oder (Nicht-Glaube) ganzheitlich erfahren wird, muss man ihn auch ganzheitlich fördern. Höring beschreibt die Entwicklung des religiösen Urteils Jugendlicher auf Grundlage der Forschung als „Wandel von einem mehr fremdbestimmten zu einem selbstbestimmten Glauben“361. Dabei ist diese Entwicklungsphase nicht als Krise zu verstehen, weil die Jugendlichen die sich ihnen stellenden Aufgaben einerseits strategisch angehen und zum zweiten von Interaktionspartnern wie etwa den Eltern, Schule oder eben kirchlichen Einrichtungen Unterstützung erfahren können.362 358 Vgl. Schmälzle (1979), S. 45 f. Stratmann (2001), S. 11. 360 Vgl. Oerter (1984), S. 293-297. 361 Höring (2000), S. 35. 362 Vgl. Höring (2000), S. 36 f. 359 156 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Dabei wird die Identität der Jugendlichen „in einer dialektischen Interaktion gewonnen, in der persönliche und soziale Identität in größtmöglichen Einklang gebracht werden“. Endogene Veränderungen der Jugendlichen treten in Konflikt mit ihrer Umwelt, und man muss als Konsequenz stets die aktuellen sozialen Gegebenheiten berücksichtigen, mit beziehungsweise in denen Jugendliche leben.363 Außerdem erweist sich laut Höring „Religion als Gabe und Aufgabe zugleich. Einerseits bietet die Religion im Prozeß der Identitätsbildung Orientierung und Sinnstiftung an, andererseits muß auch in religiöser Hinsicht eine eigene Identität ausgebildet werden. So wirkt die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen auf den Prozeß der Identitätsbildung ein wie umgekehrt, wobei sich diese Wechselwirkung als hilfreich wie auch als störend erweisen kann.“364 Nennen wir diese Ergebnisse nun mit Franz-Xaver Kaufmann einen „Cocktailglauben“, in dem „aus verschiedenen kollektiven Sinnstrukturen Elemente für das eigene Leben herausgefischt werden, um sich den eigenen ‚Lebenssinn’ zurechtzuschustern“365? Jugendliche müssen einen Weg finden, um der extremen Komplexität, die sich ihnen im Alltag stellt, zu begegnen und Fragen beantwortet zu bekommen. Sie werden konfrontiert mit ihrer eigenen gewachsenen Verständigkeit, neuen privaten Erfahrungen, die sie der naiven Kindheit entrücken, sowie neuem (schulischem) Wissen, etwa auf naturwissenschaftlichen oder politischen Gebieten. Ihr Interessenspektrum verschiebt sich und sie wollen ihre Autonomie, auch oder gerade gegenüber ihren Erziehern, vergrößern; und schließlich stürmt die sich immer rasanter verändernde soziale Wirklichkeit mit ihren Ansprüchen an Mobilität, Leistungsbereitschaft, kultureller Toleranz und Medienkompetenz auf sie ein. Jugendliche besitzen mehr Wahlmöglichkeiten, aber auch weniger Übersichtlichkeit in ihrem Leben. Höring formuliert es so, dass es letztlich die gesellschaftliche Entwicklung der Modernität sei, die Jugendliche dazu bringe, einen „religiösen Fleckerl-Teppich anzulegen“366. Die Begriffe erinnern freilich an dem Begriff des „Patchwork-Gläubigen“ (s. Kapitel 3). Jugendliche sehen sich außerdem zunehmend konfrontiert mit Vorurteilen über ihre Generation. Bereits die Shell-Studie nennt gängige Klischees gegenüber deutschen 363 Höring (2000), S. 37. Höring (2000), S. 36. 365 Kaufmann (1988), S. 75-90 bzw. S. 77 f. 366 Höring (2000), S, 57. 364 157 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Jugendlichen: Sie seien angeblich unmotiviert, egoistisch und unpolitisch; man nenne sie „Null-Bock-Kids“ oder „Spaßgeneration“367. Patrik Höring hat mit einer Berufung auf die Shell-Studie von 1997 allerdings wahrscheinlich Recht, wenn er die Zielgruppe „Jugendliche“ als pluralistisch beschreibt.368 Ob dies für Jugendliche Orientierungslosigkeit bedeutet, wird unterschiedlich beurteilt. Selbstverständlich sieht die katholische Kirche, allen voran Papst Benedikt XVI., in den sich immer mehr pluralisierenden Denkströmungen eine Gefahr für die Orientierung im Glauben. Als Kardinal sprach er in seiner Rede zur Eröffnung des Konklaves im Petersdom im April 2005 von den „Winden der Meinungen“ und „Denkmoden“, die „das kleine Boot des Denkens vieler Christen“ durchschüttelten: „vom Marxismus in den Liberalismus, bis zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter. Jeden Tag erscheinen neue Sekten“369. Gefährlich hierbei ist aus Ratzingers Sicht die „Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt.“ Weiterhin sieht die katholische Kirche, in Person Papst Benedikt XVI., eine Gefahr für den Glauben durch den Pluralismus, der auf heutige Menschen einwirkt. So predigte Papst Benedikt im September 2005: „Es gibt eine Schwerhörigkeit gegenüber Gott, an der wir gerade in dieser Zeit leiden. Wir können ihn nicht mehr hören, zu viele andere Frequenzen haben wir im Ohr. Was über Gott gesagt wird, scheint nicht mehr in unserer Zeit passend.370“ Zu einer etwas anderen Sicht der Dinge kommt die gegenwärtige Jugendforschung, wenn sie sich mit dem viel zitierten Pluralismus der Jugend befasst. Glaubt man ihr, sollte man vorsichtig sein mit der Annahme, Jugendliche fänden sich innerhalb dieses Pluralismus nicht zurecht. So befinden etwa Ziebertz, Kalbheim und Riegel: „Es scheint, dass diese Sorge (dass Jugendliche orientierungslos im Strom der Pluralität herumirren) durch die Realität nicht gedeckt wird. (…) Auf der einen Seite treffen wir auf eine Vielfalt jugendlicher Einstellungen, Moden, Musikvorlieben und Verhaltensweisen, auf der anderen Seite sind diese Stile durch ein nicht geringes Maß an Konformität und Standardisierung geprägt. (…) Wir haben es mit Pluralität zu tun, und es ist eine Frage der 367 Jugend 2002 / 14. Shell-Jugendstudie (2002), S. 11. Vgl. Höring (2000), S. 25. Siehe hierzu auch Münchmeier (1997), S. 379-389 (Shell-Studie). 369 Ratzinger (2005), S. 122. 370 Quelle: Predigt Papst Benedikts XVI. im Gottesdienst in München / Deutschland, am 10. 09. 2005, TV-Übertragung ARD. 368 158 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Sichtweise, ob man Pluralität bereits an sich als Indiz für einen ‚Verfallsprozess’ verstehen will. Pluralität ermöglicht Unterscheidung. Gerade Unterscheidung ist eine zentrale Aktivität der Jugendphase. Jugendliche setzen sich vor allem ab (…), um sich als ein ‚individuelles Selbst’ zu erleben. Individualität wird gerade dann erfahren, wenn man sich unterscheidet. Aber es gibt auch die andere Seite. Durch die Unterscheidung entstehen neue Zugehörigkeiten, etwa mit denen, die sich ähnlich unterscheiden wollen. So ist erklärbar, dass wir es nicht mit einer völlig heterogenen Jugendkultur zu tun haben, sondern auf Trends treffen, die zeigen, wie Jugendliche ihre Individualität in der Pluralität entwickeln, und zwar in nicht unerheblichem Maße in Referenz zu gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen – und nicht etwa nur gegen sie.“371 Vor diesem Hintergrund sei also nicht mit einer alleinigen Ablehnung Jugendlicher gegenüber bestimmten institutionellen – und dann auch religiösen - Angeboten – zu rechnen. Ist die klerikale Sorge also unbegründet? Die Frage, ob man nun dem Papst oder Jugendforschern glauben möge oder nicht, stellt sich im Kontext dieser Arbeit nur in der Auswertung konkreter Anhaltspunkte, also der tatsächlich stattfindenden oder abwesenden i n d i v i d u e l l e n religiösen Bildung, messbar in empirischen Aussagen innerhalb einer Studie. Im Vorfeld jedoch kann bereits geklärt werden, ob Religion oder auch religiöse Bildung überhaupt in der Öffentlichkeit stattfindet, was im Folgenden geschieht. Jugendliche begegnen heute Religiosität in einem widersprüchlichen Kontext, und zwar in folgendem Sinne: Einerseits ist das Gespräch über Religion enttabuisiert; kaum jemand hat zumindest in Luxemburg mit Repressalien zu rechnen, wenn er sich im Unterricht vom Fach Religion abmeldet oder über seine Konfession oder Konfessionslosigkeit spricht. Andererseits scheint es manchen Jugendlichen zuweilen beinahe peinlich zu sein, sich zu ihrer Religiosität zu bekennen, etwa, bei den Ministranten dabei zu sein. Anders als noch vor vierzig Jahren genieren sich Jugendliche heute eher bezüglich ihrer praktizierten, konfessionalisierten Religiosität als umgekehrt wegen eines etwaigen Agnostizismus oder Atheismus. Religiosität steht in der öffentlichen Meinung, also auch in vielen sogenannten Peer-Gruppen der Jugendlichen, im Abseits – muss man sich also schämen, religiös zu sein? Zu dieser Frage meinen Ziebertz, Kalbheim und Riegel: „Auch in Fragen der Religion haben wir es mit der Ambivalenz zu tun, dass sie einerseits ein öffentliches Thema ist, und dass andererseits in religiösen Fragen bedeutsame Gefühle und Überzeugungen eingelagert sind, die das Innere des Menschen betreffen, und mit dem man sich nicht ohne Weiteres auf dem Marktplatz des öffentlichen Geschwätzes begibt.“372 371 372 Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 24, Hervorhebung von mir, S. D. Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 17. 159 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Die Religionspädagogen sehen hierin durchaus eine Gemeinsamkeit zwischen Religion und Sexualität, denn beide Themen markierten Bereiche, „in denen Menschen besonders verletzlich sind, in denen sie ‚bloßgestellt’ werden könnten: körperlich und geistig beziehungsweise geistlich“373. Entsprechend lässt sich manch barsche Zurückweisung im RU auf die Frage „Woran glaubst du?“ leichter verstehen und akzeptieren, ja, die Lehrkraft muss sich überlegen, ob und in welchem Rahmen sich die Frage innerhalb des Unterrichts überhaupt stellen lässt. Die Herausbildung einer öffentlichen oder auch sozial beziehungsweise gemeinschaftlich angebundenen religiösen Identität wird erschwert oder gar ausgeschlossen durch das Merkmal der Privatheit heutiger Religiosität. Dies stellt neben Flaspöhler, Pfarrer in einer Großstadtgemeinde in Frankfurt am Main, der von einem „stark individualisierten, privatisierten Religionsverständnis“ spricht,374 auch Meike Sophia Baader, Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Hildesheim fest: „Was man glaubt, fragt man heute nicht mehr. Die Frage gilt als peinliches Eindringen in die Intimsphäre und damit als tabu. Das liegt auch an der Vielfalt der Überzeugungen und an ihrer Einordnung als private Angelegenheit.“375 Baader zeigt, mit Bezug auf den Soziologen Luckmann, auf, wie in den westlichen Gesellschaften Religion keineswegs bedeutungslos geworden sein, jedoch ihre Formen gewandelt habe: Sie sei im Gegensatz zu der Zeit vor dem 20. Jahrhundert mit einem relativ geschlossenen Glaubenssystem individuell, privatisiert, synkretistisch und konsumorientiert geworden, sodass man sich „diejenigen Ideen aus dem ‚Warenlager der letzten Bedeutungen’ sucht, die einen ansprechen. Sie sind nicht mehr an die Institution gebunden.“376 Diese Tatsache, so Baader, erschwere es auch, eine allgemeine Sprache über Glauben zu finden. Relevant in diesem Zusammenhang mag auch die Suche danach sein, wo und in welchem Kontext Religion in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit stattfindet. Jugendliche nehmen Religiöses so an, wie es ihnen dargeboten wird, und zwar zunächst wertfrei, denn ihnen 373 Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003) S. 17. Elschenbroich (2001), S. 137. 375 Baader (2005), S. 12. 376 Baader (2005), S. 13. 374 160 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen fehlt ein Referenzsystem, das ihnen sagen würde, dass anders als heute377 noch etwa vor dreißig Jahren der sonntägliche Kirchgang selbstverständlich war. Außerdem bewegen sich religiöse Themen beispielsweise in der Medienwelt in einer bestimmten Nische. In den gängigen Jugendzeitschriften wie Bravo fällt ein solches Ressort unter die Abteilung „Horoskope“ oder ab und zu Berichten über Jugendsekten oder spirituellen Praktiken wie Gläserrücken oder Pendeln. Es scheint, als ob explizit mit Gott verbundene Religiosität oder überhaupt die Frage nach den letzten Dingen nicht thematisierbar ist, auch wenn sie die Jugendlichen interessieren mag. Hingegen haben im Fernsehen sogenannte MysterySerien aus dem amerikanischen Raum Hochkonjunktur: Faktor X oder Charmed sind nur einige Beispiele der in Luxemburg zu empfangenen französischen oder deutschen Sendungen. In den Serien dreht es sich immer wieder um die parapsychologische Phänomene, die nach ihrem potenziellen Wahrheitsgehalt hinterfragt werden, oder auch um den „verhexten“ Alltag. In diesem Kontext erscheint das Übernatürliche als „gesellschaftsfähig“, in Jugendsprache: „cool“, anders als die Frage nach Gott jedenfalls nicht peinlich. Auf dieses Phänomen soll in Kapitel fünf noch einmal näher eingegangen werden. Auch wenn die Kirchlichkeit Jugendlicher insgesamt rückläufig zu sein scheint, sind religiöse Themen gesellschaftlich nicht völlig ausgeblendet, im Gegenteil. Auf dem Medienmarkt finden Bücher wie Filme mit religiösen Themen zum Teil reißenden Absatz – solange sie kritisch genug sind. So erzielten pseudo-historische Romane wie Ein Mensch namens Jesus oder Die Päpstin oder auch Dan Browns Thriller Sakrileg (Originaltitel: The Da Vinci Code) und Illuminati (Originaltitel: Angels and Demons) Höchstauflagen und standen wochenlang auf Bestsellerlisten der Verlage. Ebenso erwiesen sich die folgenden KinoVerfilmungen von The Da Vinci Code im Jahr 2006 sowie Illuminati 2009 als wahre Publikumsmagnete, was sicher nicht zuletzt an seiner Starbesetzung mit HollywoodSchauspieler Tom Hanks und an der Tatsache lag, dass es sich um spannende Kriminalgeschichten handelte. Der Erfolg dieser Romane und Filme beruht vermutlich aber auch darauf, dass sie einen Anlass lieferten, über Kirche, Vatikan und Bibelauslegung kontrovers zu diskutieren und sie (teilweise heftig) zu kritisieren. Die meist oberflächliche öffentliche Meinung, insbesondere bei Schülern, kam rasch zu dem Schluss: „Das haben wir uns ja schon immer gedacht – alles (!) gelogen / Betrug am Werk“. Das Problem liegt darin, 377 So beschreiben Ziebertz, Kalbheim und Riegel: „Sie wachsen unter Bedingungen auf, in denen es eher selbstverständlich ist, dass die Nachbarn am Sonntagmorgen zwar auch ihr Auto an der Kirche parken, dann aber auf die Joggingstrecke gehen.“ Dies. (2003), S. 28. 161 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen dass weder in der (kritischen) Presse noch bei der öffentlichen Meinung insgesamt nach der tieferen religiösen Dimension gesucht wird, die ja durchaus etwa bei The Da Vinci Code vorhanden ist. So geht es dem Schriftsteller Dan Brown in erster Linie nicht darum, Kirche und Glauben zu verunglimpfen. Vielmehr hat er einen Flickenteppich aus teils fiktiven und teils historisch umstrittenen Wahrheiten zu einem Kriminalroman zusammengewebt, dessen Wahrheitsgehalt bedauerlicherweise im Dunkeln bleibt. Immerhin liefert Dan Browns The Da Vinci Code auch Anstöße für eine positive Glaubensauslegung, etwa bezüglich der Menschlichkeit in der Botschaft von Jesus Christus, so zum Beispiel in der Argumentation der Hauptfigur Richard Langdon, wenn er sagt: „I’m a historian and I’m opposed to the destruction of documents. And I would love to see religious scholars have more information to ponder the exceptional life of Jesus Christ. (…) The Bible represents a fundamental guidepost for millions of people on the planet, in much the same way the Koran, Torah and Pali Canon offer guidance to people of other religions. If you and I could dig up documentation that contradicted the holy stories of Islamic belief, Judaic belief, Buddhist belief, pagan belief, should we do that? Should we wave a flag and tell the Buddhists that we have proof the Buddha did not come from a lotus blossom? Or that Jesus was not born of a literal virgin birth? Those who truly understand their faiths understand the stories are metaphorical.“378 Auch wenn katholische Exegeten einer Ausschließlichkeit metaphorischer Bibelauslegung heftig widersprechen würden, muss man Dan Brown jedoch zugestehen, dass die Romanfigur Richard Langdon als Meinungsbilder durchaus nicht religionskritisch im harten Sinne funktioniert. Sie schließt sich lediglich der Ansicht an, die partiell sogar von einigen Theologen wie beispielsweise Eugen Drewermann vertreten wird. Eigentliches Ziel des Romans – wie auch bei Illuminati - ist die Schilderung einer kriminellen Struktur im Setting der katholischen Kirche, was ebenso viel oder auch wenig mit der Realität in Verbindung gebracht werden kann wie das Drehbuch jedes Tatort-Krimis, das sich im Bereich von Schule, Behörden oder Ähnlichem abspielt. Aber auf dies ist bisher wenig bis gar nicht hingewiesen worden, was m. E. damit zu tun hat, dass sich einerseits Vertreter der Kirche zu sehr in der Glaubenswahrheit verletzt fühlten und andererseits die kirchenkritische öffentliche Meinung sich nicht objektiv genug mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Als Konsequenz steht daher die Forderung nach einer angemessenen Wahrnehmung und Behandlung solcher medialer religiöser Angebote als 378 Dan Brown: The Da Vinci Code. London 2003, S. 451f. Hervorhebungen von mir, S. D. 162 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Bildungsgerechtigkeit. Bemüht sich die Jugendpastoral Luxemburgs um ein an den Jugendlichen orientiertes religiöses Programm und überarbeiten der Vorstand der Religionslehrer und die Programmkommission ständig die Richtlinien und Inhalte des RUs mit der Zielsetzung einer umfassenden und tiefgründigen religiösen Bildung, stehen die Jugendlichen doch immer noch insgesamt in einer Welt, in der es an religiöser Bildung im kulturellen Sinne fehlt. Ähnlich äußerte sich bereits 2006 auch der Journalist Léon Zeches in Luxemburgs größter deutschsprachiger Tageszeitung, dem Wort: „Bildung allgemein, besonders aber religiöse Bildung tut not. Der Kulturbeauftragte des Vatikans, Kardinal Paul Poupard, hat in Bezug auf den Da Vinci-Rummel den ‚analphabétisme religieux’ bedauert und die Katholiken dazu aufgefordert, gegen die religiöse Intoleranz anzukämpfen. (…) Die universal sich ausbreitende Desinformation in den Medien besonders in religiösen und kirchlichen Fragen geht zu einem großen Teil auf den religiösen und geschichtlichen Bildungsnotstand zurück. Wenn dieser von der gesamten Gesellschaft ernst zu nehmenden Karenz nach und nach mit Hilfe auch der Kultur und Schulpolitik gegengesteuert wird – denn Religion geht uns alle an, wie aktuelle Auswüchse und Fanatismus zeigen -, dann schwinden nicht nur Vorurteile und Hass, sondern auch bewusste Desorientierung durch Machwerke wie der ‚Da Vinci Code’ (…).“379 Jugendliche müssten demnach an das Bildungsangebot bewusster herangeführt werden. Bisher noch aber konsumieren Jugendliche religiöse Facetten innerhalb ihrer medialen Alltagswelt relativ unkritisch, wenn auch durchaus interessiert. Bezüglich unserer westlichen Forschungswelt sei nochmals auf das Wertsystem aufmerksam gemacht, in dem Jugendliche aufwachsen und das direkt oder auch indirekt im Zusammenhang mit der Herausbildung eines religiösen Konstruktsystems steht, in das religiöse Werte (im Sinne des Huberschen Ansatzes von Religiosität) verankert werden. Das Wertsystem, von dem hier die Rede ist, ist nicht nur abhängig von der finanziellen Ausstattung der Gesellschaft, sondern auch von ihrem Tempo und ihrer Laufrichtung. Neben Konsumismus erscheint eine gesellschaftliche Analyse Zulehners als für unsere Zwecke nützlich: „Verunsichert durch die Beliebigkeit und Vielfalt moderner Kulturen suchen nicht wenige für ihr Leben Strenge und Struktur; und das in Gruppen als auch bei begabten spirituellen Meistern; bedrängt durch die zunehmend ‚Kultur der Hinrichtung’, die angesichts der Verknappung viele Lebensbereiche erfasst hat, suchen manche Gemeinschaften eine Ethik der Liebe; aus dem Verdacht, dass die alte Welt, ihre Art zu wirtschaften und zu leben, nicht von Dauer sein kann, wünschen nicht wenige eine neue Welt herbei und fühlen sich selbst, als Einzelne oder in ihrem Gemeinschaften, als eine Avantgarde einer solchen heraufkommenden 379 Zeches (2006a), S. 3. 163 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Welt; diese wird die alte untergehende Welt ersetzen oder in einem tief greifenden Umwandlungsprozess aus dieser hervorgehen.“380 In der Tradition der antiautoritären Erziehung herrscht in Elternhäusern und Schulen in den seltensten Fällen noch ein Regime von absoluter Autorität und Zwang; „Zucht und Ordnung“ sind vielfach eher verpönte denn erwünschte Tugenden. Gefördert werden beispielsweise eher Teamfähigkeit und eigenständiges, kritisch-reflektiertes Denken. Dies hat aber nicht nur Vorteile. So schränken Ziebertz, Kalbheim und Riegel ein: „Die Kehrseite ist, dass Jugendliche nicht ohne weiteres auf eine feste Tradition zurückgreifen können, von der sie annehmen dürfen, dass diese mittelfristig tragfähig und allgemein gültig ist.“381 Es scheint also einiges dafür zu sprechen, dass die derzeitigen Lebensumstände eine spirituelle Suche nicht unbedingt erschweren, sondern sogar eher zu ihr e r m u t i g e n , weil sich nirgends sonst ein menschliches Refugium anbietet. Ein Schlagwort, dem sich Heranwachsende heute gegenübersehen, und das in den Kapiteln 3. 1. 1, 3. 1. 2 und 3. 1. 3 anklang, ist der Sozialdarwinismus: Nur der Stärkste kommt durch. Bedeutet diese gesellschaftliche Herausforderung jedoch bezüglich des Wertekonstrukts der Jugendlichen ein Hervorbringen von Egoismus? Neuste Ergebnisse der Shell-Jugendstudien von 2000 und 2002 belegen, dass Loyalität und Verlässlichkeit statt Ellenbogenmentalität hoch im Kurs stehen. Auch wenn Werte wie „Individuelle Selbstständigkeit“ und „sich durchsetzen können“ scheinbar eine hohe gesellschaftliche Wertschätzung erfahren, zeigt sich im Blick auf Jugendliche aber, dass sie in menschlichen Tugenden wie Vertrauenswürdigkeit, Authentizität, Solidarität und Glaubwürdigkeit wichtige menschliche Tugenden sehen.382 Last, but not least muss bezüglich der Kirchenferne gesagt werden, dass der Alltag der Kinder sie zu wenig auf das vorbereitet, was im Gottesdienst geschieht. So zumindest beschreibt es auch Reinhold Flaspöhler.383 Da ist zum einen die Schwierigkeit, religiöses Brauchtum am Leben zu erhalten. In Luxemburg werden religiöse Feste mit besonderen Sitten wie etwa das Dreikönig-Singen oder auch das Maria-Lichtmess-Fest am ersten Februar mit selbst gebastelten Laternen und die mit Gesang begleiteten Umzüge der Kindergruppen von Haus zu Haus zumindest von den Grundschulkatechetinnen noch 380 Zulehner (2005) (2), S. 101. Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 23 f. 382 Vgl. Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 24. 383 Elschenbroich (2001), S. 136 f. 381 164 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen unterstützt. Solches Bemühen befürwortet auch Flaspöhler, beschwört er doch den Erhalt seit langer Zeit kulturell verankerter religiöser Festrituale. Diese gehen zumindest innerhalb eines städtischen Umfelds leicht verloren, was bedauerlich ist, da sie Kindern über die affektive Schiene, die bei jeglichem Lernen wichtig ist, einen religiösen Zugang verschaffen: „Kinder haben aber den Wunsch nach Brauchtum, nach Wiederkehrendem, sie sind oft die größten Traditionalisten. (…) Wiederkehrende gemeinsame Gewohnheiten aufzubauen, das ist natürlich in einer Großstadt sehr schwer.“384 Flaspöhler nennt als ein weiteres Beispiel den „Wochenendtourismus“, der auch in Luxemburgs Hauptstadt sehr verbreitet ist. Es ist für nicht wenige Kinder schwer oder gar unmöglich, am Wochenende die Kirche zu besuchen, wenn die Eltern mit ihnen in ein Häuschen fahren oder die Kinder geschiedener Eltern zu den Vätern oder Müttern gehen. So gelingt es kaum, in einen sonntäglichen Rhythmus hineinzukommen, zu dem ein Gottesdienst gehört. Außerdem ist es nicht leicht, sich vom Zuhause loszureißen, wenn bedingt durch die heutigen beruflichen wie auch ökonomischen Anforderungen beide Lebenspartner arbeiten, und sie dann die wenige Zeit des Wochenendes, etwa das gemütliche lange Frühstück am Sonntagmorgen oder selbst den samstäglichen Einkaufsbummel am Nachmittag zugunsten des Gottesdienstes verkürzen sollen. Dies sind Umstände, die sicherlich zumindest auf bestimmte Regionen wie die Hauptstadt Luxemburgs zutreffen und klaren Einfluss auf Religiosität haben. Dieses Beispiel des sonntäglichen Kirchgangs, der durch Freizeitverhalten konterkariert wird, zeigt, dass kirchliche Praxis Jugendlicher vielfach nicht mehr durch Außenfaktoren gestützt wird. Diese Feststellungen begründen für einen empirischen Fragebogen unbedingt die Differenzierung zwischen Religiosität städtischer Kinder und denen aus ländlichen Gebieten. Entsprechend muss die Empirie mit der Beurteilung von Religiosität seitens der Jugendlichen vorsichtig sein. Werden Heranwachsende nach Religiosität befragt, schalten sich sogleich alle möglichen hier beispielhaft beschriebenen Kontexte und Konnotationen in die Antworten. Im Zusammenhang mit einer empirischen Untersuchung von Jugendreligiosität sind solche Gedanken nicht unerheblich, denn sobald man in seiner Befragung jenseits der Oberfläche kratzen und verstehen möchte, was Religiosität genau auszeichnet, kann man dieses Tabu nicht mehr umgehen. Jedes tiefgehendere Interesse an der Frage ist in jedem Fall abhängig von der Einwilligung der Befragten selbst. Die Chancen 384 Elschenbroich (2001), S. 136. 165 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen einer authentischen Aussage stehen bei einer anonymen Befragung sicher höher als bei einem persönlichen Interview. Jedoch kann man bei Letzterem sicherlich mehr in die Tiefe gehen.385 4. 3 Die Rolle der Familie bezüglich religiöser Subjektwerdung „Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben.“ Umberto R. Maturana 4. 3. 1 Die Definition von Familie – Eine Neuorientierung Zunächst soll erläutert werden, was die vorliegende Arbeit unter „Familie“ versteht. Angesichts der steigenden Anzahl von „Patchwork-Familien“ kann der Begriff keineswegs allein aus der Ehe abgeleitet werden, wozu die Theologen gerne neigen.386 Es muss ein offener Familienbegriff verwandt werden, wie ihn die Sozialwissenschaft kennt. Hier gibt es zahlreiche, sehr unterschiedliche Begriffsbestimmungen von Familie, und deshalb empfiehlt es sich, die Definition „an dem Anliegen des jeweiligen Untersuchungsauftrags zu orientieren“387. In diesem Sinne passen Definitionen wie etwa die von Höffner nicht, wenn er definiert „Die Familie ist die aus der Ehe, über die Gott seinen Fruchtbarkeitssegen ausgegossen hat, sich entfaltende natürliche Lebensgemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern und zugleich die Zelle der menschlichen Gemeinschaft.“388 Diese Definition geht konform mit dem Synodenbeschluss zu Ehe und Familie389, ignoriert jedoch die Tatsache, dass eine zunehmende Anzahl von Paaren sich nicht mehr unbedingt für ein oder mehrere Kinder entscheidet, sich aber nicht der Bezeichnung von „familiärer Lebensgemeinschaft“ entziehen wolle. Auch enthält sie nicht diejenigen, die in einer alternativen familienähnlichen Situation leben, wie etwa Familien mit nur einem Elternteil, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften etc. Man benötigt einen sehr reduzierten 385 So meinen Ziebertz, Kalbheim und Riegel, Religiosität lasse sich nicht „in einem Telefoninterview durchführen, so wie man Konsuminteressen erfragt. Religiosität ist ein besonderes Thema.“ Dies. (2003), S. 18. 386 Vgl. diese Feststellung bei Schmälzle (1979), S. 72. 387 Bundesministerium für Familie und Senioren (1994), S. 23. 388 Höffner (1977), S. 102. 389 „Christliche Ehe drängt auf Ausweitung in der Familie“, Synodenbeschluß „Ehe und Familie“ (1991), 2.1.1. 166 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Begriff von Familie mit möglichst wenigen Anforderungen an die „Teilnehmer“. Diese Definition ist den heutigen Lebensverhältnissen also nicht (mehr) angepasst. Geeigneter scheint die Grunddefinition von Udo Schmälzle. Er definiert Familie im Anschluss an R. König als „Gemeinschaft von Eltern und Kindern, deren Zusammenleben und Beziehung durch Intimität, Kooperation und gegenseitige Hilfe gekennzeichnet ist.“390 Auch Martin Schomaker hat setzt ähnliche Grundvoraussetzungen an den Familienbegriff, jedoch mit einer anderen Akzentuierung: „Unter Familie wird verstanden: eine Lebensgemeinschaft, die aus Erwachsenen und Heranwachsenden besteht und dadurch geprägt ist, dass die oder der Erwachsene(n) für den oder die Heranwachsende(n) aufgrund von Abstammung oder aufgrund rechtlicher Regelung Ersterziehungsverantwortung übernimmt bzw. übernehmen.“391 Die Definitionen lassen beide zu, dass Eltern sich nicht mehr immer für die Ehe als Grundlage ihres Zusammenlebens entscheiden, also eine Heirat ablehnen oder auch sich trennen beziehungsweise scheiden lassen. Sie leben nicht immer in räumlicher Gemeinschaft miteinander, kümmern sich aber doch um ihre Kinder. Auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind eingeschlossen. Der Unterschied zu Schmälzles Definition besteht darin, dass bei Schomaker die emotionale Fürsorge der Eltern für ihre Kinder zunächst ausgeklammert oder zumindest nicht ausdrücklich erforderlich ist. Sind diese Qualitäten innerhalb einer Familie in jedem Fall wünschenswert, kann unter den gesellschaftlichen Gegebenheiten jedoch leider nicht immer davon ausgegangen werden, dass sich diese Prinzipien in den Lebensgemeinschaften wiederfinden. Traurigerweise muss von einer sich in den letzten Jahren verdichtenden Realität der sozialen Vernachlässigung von Kindern seitens mancher Eltern ausgegangen werden, die schwer in blanken Zahlen belegbar ist. Bei Schomaker sind die Komponenten „Lebensgemeinschaft zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden“ (Schomaker) sehr offen gehalten erstens in ihrer rechtlichen Beziehung (biologisch usw.) und zweitens in ihrer 390 391 Schmälzle (1979), S. 72. Schomaker (2002), S. 25. 167 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen konkreten lebenswirklichen Gestaltung. Schomaker entwickelt bewusst einen Familienbegriff, der erlaubt, „die Pluralität der Primärbeziehungen, in denen Kinder und Jugendliche leben, umfassend zu beschreiben“ statt einen „von der Ehe her“ konzipierten Familienbegriff“392 zu entwerfen. In unserem Kontext und vor allem angesichts der dargestellten Statistiken zu aktuellen Familienkonstellationen in Luxemburg ist bezüglich der Familien wahrscheinlich mal die eine, mal die andere Definition gültig. 4. 3. 2 Familienreligiosität als zentrale Prägungsstätte für religiöse Sozialisierung Katechetische Blätter 5 (2006), S. 336. Wird das heranwachsende Kind noch stark von der Einstellung und dem Verhalten der Eltern geprägt, geschieht im Jugendalter in unserem Kulturbereich eine starke Ablösung von der ursprünglichen Familie beziehungsweise den Autoritätspersonen. Was jedoch bleibt, sind die entscheidenden frühkindlichen Prägungen, mit denen die Welt wahrgenommen wurde. Genauer gesagt: Ob und wie Religiosität erlernt oder angenommen wurde, hängt von der vorangegangenen frühkindlichen Lebensphase ab. Wovon und wie das Kind bezüglich einer Religiositätsherausbildung insgesamt motiviert wird, ist nicht ganz geklärt. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Fritz Oser, der den Vorstellungen 392 Schomaker (2002), S. 25. 168 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen nachspürt, wie in Kindern religiöse Bilder entstehen, ist der Überzeugung - und macht dies an einigen Beispielen anschaulich -, dass sich das Kind seine Welt und eben auch die Religion auf seiner jeweiligen Stufe konstruiert.393 Jedoch bleibt so immer noch offen, was über das autonome Konstruieren seitens des Kindes weiterer Nährboden für die Religiosität des Kindes ist. Die Bildung religiöser Einstellungen, Normen und Werte kann beeinflusst werden durch Vorbilder, bestätigt werden durch die Peer-Gruppe, zumindest aber noch in der ersten Zeit in und nach der Pubertät auch durch Einflüsse von Elternhaus und Schule. Weiterer Einfluss kann Medien wie dem Fernsehen zugesprochen werden. Welche Bedeutung hat also die Familie in religiösen Lernprozessen? Was leistet die religiöse Lebenswelt der Familie gegenüber anderen Lebenswelten? Bezüglich der Rolle der Eltern in Bezug auf Religiosität hat sich noch keine Forschungsmeinung wirklich durchgesetzt. Die religionssoziologische Forschung einigt sich jedoch vermehrt darauf, dass die e n t s c h e i d e n d e Rolle hierbei weniger der Schule, sondern der Familie zukommt. So beschrieb Vascovics neben weiteren Sozialwissenschaftlern bereits 1974, dass es die Familie sei, die den Zugang der Kinder zur Kirche ermögliche beziehungsweise bestimme.394 Auch die Vermittlung des religiöskirchlichen Wertsystems sei eine Leistung der Eltern.395 Wenn diese jedoch kein Mitglied (weder passiv noch aktiv) der Kirche sind, ist nicht verwunderlich, wenn den Kindern ein Zugang zur Kirche verwehrt bleibt. Die Familie nimmt eine zentrale Stellung bei der Entwicklung einer grundlegenden Wertorientierung und katechetischen Lernprozessen ein. Folglich kann die Schule nur einen Teil der Erziehung zur Religiosität leisten – eine wichtige Verantwortung liegt beim Elternhaus selbst. In ähnliche Richtung forschen unter anderem auch Martin Schomaker, der die Bedeutung von Familie in katechetischen Lernprozessen beschrieben hat, sowie Christoph Morgenthaler, der sich mit der transgenerationalen Entwicklung von Gotteskonstrukten in Abhängigkeit von Familienkonstellationen befasst.396 Letzterer erklärt den Trend der sich auflösenden Familienstrukturen unter anderem mit dem Plausibilitätsverlust kirchlicher Leitvorstellungen wie etwa der „Heiligen Familie“. Das hier implizierte Bild von Ehe wird 393 Siehe hierzu die Darstellung von Osers Ausführungen bei Elschenbroich (2001), S. 131-33. Vascovics: „Die Kirchenzugehörigkeit der Eltern bestimmt weitgehend die Kirchenzugehörigkeit ihrer Kinder.“ Ders. (1974) S. 75. 395 Vgl. Vascovics (1974) S. 77. 394 169 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen von vielen Menschen nur noch als eine Option unter anderen gesehen.397 Dennoch besteht auch Morgenthaler darauf: „Familie ist jener Bereich der Öffentlichkeit, in den religiöse Normen und Religiosität überhaupt eindringen können (im Gegensatz zu Wissenschaft und Wirtschaft), zwar punktuell und situativ, aber doch nicht unwesentlich.“398 Die Tatsache der sinkenden Anzahl der Mehrgenerationen-Haushalte in Luxemburg begründet die Annahme, dass religiöse Lernprozesse innerhalb der Familien in Luxemburg weiter abnehmen. Die Funktion, die die gläubigen Großeltern mit ihrer spezifischen Art der Kommunikation, mit Erzählungen von früheren Zeiten, mit dem Aufrechterhalten von Ritualen und Sitten innerhalb der häuslichen Strukturen bezüglich religiöser Frühbildung erfüllten, kann keine Nanny der Welt ersetzen. Außerdem muss man sich bei der Vielzahl der Möglichkeiten, eine familiäre Gemeinschaft zu bilden beziehungsweise als solche zu gelten, doch fragen: Welche Erziehungsziele können diese pluralen Konstellationen in allgemeiner wie religiöser Hinsicht überhaupt noch verfolgen? Schmälzle beschreibt, dass die Familie trotz aller „Pluralität von Lebensweisen und Handlungsformen, von Denkkonzepten und Orientierungssystemen“399 als Konzept noch nicht untergegangen sei. Die Familie stifte „als Primärgruppe den Kommunikationsraum (…), in dem sich das Kind seiner Gefühle bewusst wird und die von anderen respektieren lernt, Vertrauen in das Leben gewinnt, Begriffe bildet, in dem sich also die elementare Konstruktion von Wirklichkeit abspielt.“400 Schmälzle argumentiert mit Karsten und Otto, dass in Zeiten immer beliebiger werdender Wert- und Erziehungskonzepte die Familie der „zentrale gesellschaftliche Bereich“401 werde und – auch in religiöser Hinsicht - wichtigste Sozialisationsagentur402 gegenüber Schule und Kirchengemeinde sei, weil sich hier entscheide, ob sich die „Entwicklungslinie der Moderne“ mit ihren Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durchsetzen könne. Von der Werbung seien familiäre Leitbilder mit ihrem „erkenntnis- und handlungsleitendem Potential“, so beschreibt es Schmälzle, längst erkannt worden.403 396 Siehe Morgenthaler (2002a) und (2002b). Vgl. Morgenthaler (20002b), S. 48. 398 Morgenthaler (2002b), S. 49. 399 Welsch (1987), S. 5, zitiert nach Schmälzle (1995), S. 370 f. 400 Schmälzle (1995), S. 371. 401 Karsten / Otto (1990), S. 166, zitiert nach Schmälzle (1995), S. 371. 402 Vgl. Schmälzle (1995), S. 371. 403 Vgl. Schmälzle (1995), S. 371. 397 170 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Kinder und Jugendliche entdecken religiösen Sinn nicht in sonntäglichen Lernstunden, sondern im gelebten Alltag innerhalb ihrer Familie. Die scheinbar banalsten, alltäglichsten Dinge können mit entsprechendem Umgang durch Mutter oder Vater einen tieferen Sinn geben. Der familiäre Alltag ist voller religiöser Anlässe: trösten, sich umeinander sorgen, sich ernähren und kleiden, wärmen – sprich: die Grundbedürfnisse stillen, sich vertrauen, sich fallen lassen, auch im Kummer, etwas teilen, sich übereinander freuen, sich versöhnen, sich vermissen… die vielfältigsten Formen des Mit-Menschseins finden, zumindest bei Kindern, in der Familie statt. 404 Im ähnlichen Sinne beschreibt es auch Lothar Kuld: „Der Rahmen, in dem ein Kleinkind Religion erlebt, ist die Familie, eine physisch erfahrbare Gemeinschaft, die einen verlässlichen Rahmen bildet, in dem das Kind alles findet, was es zum Leben braucht.“405 Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Erkenntnisse von Eckart Liebau beziehungsweise Anja Tervooren,406 die herausgestellt haben, wie wichtig im religiösen Bereich das Erlernen körperlicher Praktiken wie das sich Bekreuzigen, Niederknien oder Händefalten ist, denn der Körper zeigt, woran man glaubt. Viele Fertigkeiten und Umgangsformen werden Kindern sehr früh beigebracht. Die Handlungen, die das Kind von seiner Umwelt übernimmt, schreiben sich mit nachhaltiger Wirkung in seinen Körper ein. Anja Tervooren hat am Beispiel der Konfirmation gezeigt, wie zentral die Bedeutung der körperlich-leiblichen Praktiken ist.407 Erleben Kinder dies nicht modellhaft in der Familie, wird eine Annäherung an äußerliche wie innerliche religiöse Haltungen im buchstäblichen Sinne deutlich schwerer. In diesem Sinne sind familiäre Ausdrucksformen etwas tief Heiliges. Die Erfahrung des Heiligen tröstet Menschen über ihre Vereinzelung hinweg. Der Jugendliche fühlt sich geborgen und empfindet sich und sein Leben eingebettet in der Gemeinschaft, und diese Erfahrung ist „umso nachhaltiger, als über den geschichtlichen Charakter der Rituale eine Verbindung zur Transzendenz hergestellt wird und der Einzelne sein Leben in einer von Gott geordneten Generationsfolge erfährt.“408 Wenn Familienfeste wie etwa Weihnachten nicht mehr gemeinsam gefeiert werden, kann sich diese Erfahrung von Heiligkeit auch nicht auf das Familiäre übertragen. So beschreibt Wulf, 404 Ein Kind lernt in und mit der Familie auch emotionale Tiefgründigkeiten des Alltags, etwa wenn man gemeinsam mit dem Kind morgens die Kissen ausschüttelt und dem Kind erklärt, wie dankbar wir für guten Schlaf sein können oder beim Schälen eines Apfels, wenn man die besondere Beschaffenheit des Apfels beschreibt und das Kind lehrt, die Frucht zu genießen. Siehe hierzu auch Merz (2004). 405 Kuld (2001), S. 100. 406 Liebau (2005), S. 38. 407 Tervooren (2004), S. 173-210. 408 Wulf (2005), S. 27. 171 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen dass während solcher Feste das Heilige nicht auf die Liturgie beschränkt ist, sondern auch auf das Geschehen in den Familien übertragen wird: „Mithilfe bestimmter Zeichen zieht das Heilige in die Familie ein. Zu diesen gehören z. B. der geschmückte Weihnachtsbaum und die unter ihm liegenden Geschenke. (…). Das gemeinsame Essen, die Weihnachtslieder, der Geschenkeaustausch fördern die Entstehung der sakralen Atmosphäre des Festes, das als ein Höhepunkt familiären Lebens erfahren wird. Nach dem Modell der „heiligen Familie“ ist die Familie an diesem Tag vereint und erfährt sich als zentralen Ort in der Moderne“409. Sind die familiären Verhältnisse brüchig, und können solche Rituale nicht mehr klassisch stattfinden, kann der materielle Wohlstand Luxemburgs diese Leere allenfalls übertünchen, nicht aber kompensieren. Das heißt, wenn also Jugendliche sich insbesondere angesichts sich auflösender Familienstrukturen zunehmend von ihrem Elternhaus entfernen, werden sie empfänglich für Eventkultur, wie sie im Teilkapitel 2. 4. 3 beschrieben worden ist. Tugenden sollten in der Familie gebildet werden, religiöse Sozialisation in den Familien stattfinden, aber tun sie das auch? Das können nur Forschungen beantworten, die Familie als Ort religiöser Bildung begreifen. In einer solchen Umfrage müssten auch die Eltern mit einbezogen und nach ihrer religiösen Erziehungspraxis befragt werden. So könnte sekundär eine Relation zu Jugendlichen Aussagen beziehungsweise Deutungsmustern über und von Religiosität hergestellt werden. Gerade in der (früh-) kindlichen und damit auch frühreligiösen Entwicklung ist die Rolle der Eltern besonders wichtig: So zeigt Bertram mittels verschiedener Untersuchungen auf, dass Prognosen zur Veränderung des sozialen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen deshalb wenig erfolgreich seien, weil die „Komplexität des sozialen Sozialisationsgeschehens“ dies nicht zuließe.410 Schomaker fasst Bertrams Erkenntnis zusammen, dass es nicht ausreiche, den Eltern Wissen zu vermitteln, „vielmehr ist bei dem Verhalten der Eltern selbst anzusetzen, auch wenn die elterlichen Verhaltensdispositionen Ausdruck einer Sozialisationsgeschichte sind.“411 Außerdem könnte man die Jugendlichen über ihre Zufriedenheit mit der Erziehung seitens der Eltern und Schule befragen, um herauszufinden, ob beispielsweise bestimmte Einstellung als Antihaltung gegenüber den erzieherischen Institutionen zu werten sind.412 409 Wulf (2005), S. 27. Vgl. Bertram (1978), S. 145. 411 Schomaker (2002), S. 69. 412 Siehe hier etwa die Feststellung der Shell-Jugendstudie bezüglich der Bewertung von Demokratie: „Je größer die Distanz zum eigenen Elternhaus, gemessen an einer ablehnenden Haltung gegenüber dem elterlichen Erziehungsstil, desto wahrscheinlicher ist es, zu 410 172 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Man müsste außerdem im Zusammenhang mit nachhaltiger Wertebildung in den Familien unbedingt die Elternbildung stärker in den Vordergrund holen. Diesen Ansatz vertritt auch Schmälzle, der bei der Elternarbeit auf Familienseminare gesetzt hat, was sich positiv auf das Verhalten der Teilnehmer auswirkte.413 Moderne TV-Formate wie „Die Super-Nanny“ – ob nun die deutsche Sendung mit Katharina Saalfrank oder die französische Variante mit Cathy Sarrai - mit ihrem Ansatz des Familiencoachings gehen im Grunde in die gleiche Richtung. Das mediale „Begleitpaket“ indes ist durchaus fragwürdig, da es die Wahrung der Würde bei den einzelnen Teilnehmern nicht mehr sicherstellt und die höchstwahrscheinlich gut gemeinte Arbeit der Sozialarbeiter und Diplompädagogen fragwürdig erscheinen lässt. In unserem landesspezifischen Kontext bleibt schließlich die Tatsache des großen Anteils derjenigen Familien zu beachten, die nicht luxemburgischer Herkunft sind. Insbesondere die portugiesischen und italienischen Gemeinschaften, die die größten ausländischen Fraktionen in Luxemburg stellen, haben im Allgemeinen ein anderes Verhältnis zum Familienbegriff sowie auch zur religiösen Brauchtumspflege. Dies wird deutlich an den sichtlichen Unterschieden der Gestaltung bei Festen wie der Ersten Heiligen Kommunion, Hochzeiten oder auch der Teilnahme an Pilgerfahrten. Es ist m. E. lohnenswert, innerhalb einer empirischen Studie hierauf ein Augenmerk zu richten und die Nationalität so wie das Brauchtum religiöser Anlässe in jedem Fall zu erfassen. Abschließend ist ein Resultat der Lenzburger Schlussauswertung der bereits zitierten Ausstellung „Glaubenssache“ besonders interessant, weil es die Thesen dieses Teilkapitels bestätigt hat: „Den AusstellungsbesucherInnen scheint die Glaubensvermittlung der Eltern an die Kinder wichtig zu sein. So erachten es 81,9% als mittel- bis sehr wichtig, dass die Eltern ihren Kindern Glauben vermitteln“414. denjenigen Jugendlichen zu gehören, die auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zufrieden sind. Die kritische Beurteilung der Demokratie in Deutschland entpuppt sich demnach als Kritik an den Lebensverhältnissen bzw. als Reaktion auf fehlende persönliche Chancen in Beruf und Gesellschaft.“ Schneekloth (2002), S. 101. 413 Vgl. Schmälzle (1985), S. 147. 414 Siehe hierzu http://www.stapferhaus.ch/uploads/media/Schlussdokumentation_kurz_02.pdf. 173 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 4. 4 „Gott ist rund, ein Ufo oder Fastfood“ – Alternative Ausdrucksorte und – formen jugendlicher Religiosität „Das absurde Verbrechen ist wie Religion. Unglaublich, aber faszinierend!“ Alfred Hitchcock415 Dieses Teilkapitel soll ungewöhnliche Ausprägungen der Religiosität Jugendlicher beleuchten, wobei die Beispiele als Ausschnitt und nicht als vollständige Beschreibung aller alternativen Ausdrucksorte von Religiosität zu verstehen sind. Außerdem ist die Zielgruppe Jugend hier nicht als ausschließlich gemeint, jedoch besonders empfänglich für die beschriebenen Phänomene. „Gott ist rund“ war nicht nur zur Zeit der FIFA-Weltmeisterschaft im Jahr 2010 ein geflügelter Begriff, sondern bezeichnet schon länger die Tatsache, dass in bestimmten Vereinskultur-Kreisen - insbesondere beim Sport - Zeichen, Symbole und Rituale ihren Platz gefunden haben, die früher nur im Zusammenhang mit Religion denkbar gewesen wären. Das beginnt bei Vereinsmagazinen wie „Schalke unser“ in Anspielung auf das christliche Gebet, und liest sich in einem kompletten Credo etwa in dem Beitrag von Heinrich Peuckmann „Borusse sein ist eine Religion“,416 in dem er das Fußballspiel als Liturgie beschreibt, das Stadion als Kathedrale, die Fans als Gemeinde und den Fußballgott eben auch als jenen, von den Gesängen und Chorälen ganz zu schweigen, mit dem Schlusssatz: „Oft sind wir geläutert, wenn wir die Kathedrale verlassen. Dann hat das Gute gesiegt.“417 Ähnlich sieht es auch der Journalist Christian Weber: Die Menschen könnten „heute religiöse Bedürfnisse ungestört auch außerhalb der Kirchen befriedigen: im Buddhismus, in neuheidnischen Kulten, Esoterik, selbstgestrickten Patchwork-Religionen und vielleicht sogar im WM-Stadion“. Er zitiert den Theologen Constantin Klein, der von einer neuen religiösen Bewegung in Südkorea berichtet, zu deren Liturgie mehrstündige Fußballspiele gehörten und der Messias der Gemeinschaft über den zugespielten Ball neue Kraft 415 Zitiert nach www.kirche-luxemburg.net. Siehe in der Bibliographie Peuckmann (2005). 417 Peuckmann (2005), S. 58. 416 174 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen übertrage.418 Klein meint hierzu: „Ein Fußballspiel mit seinen Ritualen, Fangesängen, Maskottchen, verehrten Stars kann viele Funktionen von Religion übernehmen.“419 Im Fußball-Kult finden sich verschiedenste Formen, die auch in religiöser Praxis eine Rolle spielen, und bei denen man sich fragen muss, ob ihnen nicht eine Ersatzfunktion bezüglich kultischer Handlungen im religiösen Sinne zukommt. Die Fans „pilgern“ an einem Spieltag in die Stadien wie in eine Kirche; und nicht nur hier ist der Rasen „heilig“, eine abgewandelte Form des Vaterunsers ist auf der Schalke-Fanseite „Königsblau 2002“ zu lesen (Schalke unser im Himmel, die du bist die himmlische Mannschaft, verteidigt werde dein Name…“)420; es fallen „erlösende Tore“ und ein besonders begabter Schütze wird in den Medien zum „Fußballgott“. Auch ist vom „Wunder von Bern“421 oder von der „Hand Gottes“422 die Rede, und enttäuschte Fans bezeichnen einen Spieler, der ihren Verein wegen eines höher dotierten Vertrags bei einem Konkurrenten verlässt, als Judas.423 Was im Besonderen für den Fußballkult gilt, lässt sich für Fankult insgesamt darstellen: Egal ob bei Sport oder Musik - bei den Ritualen gibt es zahlreiche Analogien zu religiösen Mustern, so etwa auch zu der Reliquienverehrung: Fanartikel jedweder Art – und sei es ein von der Bühne gespucktes gekautes Kaugummi eines Popsängers - werden bei Internetauktionshäusern zu Höchstpreisen gehandelt. Sind Fußball oder ein anderer Sport, das Traumauto oder Musik aber deswegen Religion, weil es das ist, was von Paul Tillich her als Religion definiert ist: „das, was mich unbedingt angeht“424? Sicher erzeugt Religion starke Emotionen. Krohmer äußert jedoch, und ich möchte ihm zustimmen, dass dies lediglich „b e d i n g t e “ Gefühle sind, und nicht das, was Tillich meint. Faszination ist eben noch nicht gleichbedeutend mit der Begegnung des 418 Weber (2006), S. 69 Ebd. 420 Krohmer (2006), S. 3. Krohmer nennt weitere Arbeiten zu dem Thema, etwa die Diplomarbeit des Seligenstädter Pfarrers Thorsten Leißner mit dem Titel „Heiligenverehrung im Fußball“ oder auch die Untersuchung des Würzburger Kirchenmusikers Bernhard Leube, die Fußball und religiöse Rituale vergleicht und viele Zusammenhänge aufdeckt. Zudem zeigte das Frankfurter Ikonenmuseum im Sommer 2006 140 Exponate unter dem Titel „Helden-HeiligeHimmelsstürmer“. 421 Gemeint ist der völlig unerwartete Sieg Deutschlands bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 gegen die hochfavorisierte ungarische Nationalmanschaft. 422 Unter anderem sprach Diego Maradona davon, als ihm bei der Fußballweltmeisterschaft 1986 im Viertelfinale gegen England ein irreguläres Tor durch ein nicht-geahndetes Handspiel gelang. 423 Vgl. Krohmer (2006), S. 3. 424 Zitiert nach Krohmer (2006), S. 3. 419 175 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Allmächtigen und Unendlichen – auch wenn es die Beteiligten subjektiv so empfinden mögen. Als zweites alternatives Glaubensphänomen sei die sogenannte Ufo-Religion zitiert. Der Begriff stammt von Christiane Bundschuh-Schramm, die sich um eine „moderne Buchstabierung“ von Religion bemüht.425 Demnach sinkt bei Jugendlichen der Glaube an ein Jenseitiges und wächst der Glaube an ein diesseitiges Jenseits. Beobachtbar ist dies am medialen wie allgemeinöffentlichen Interesse an parapsychologischen Phänomenen, Filmen über das All, Aliens und Ufos. Diese neue Bewegung vermittelt den Eindruck, dass die Welt „größer, geheimnisvoller und interessanter ist als sie scheint“, und der Fernsehsender „greift die Funktion der Ersatzreligion werbewirksam auf, wenn er die neue Akte-X-Staffel mit dem Satz ‚Das Leben macht wieder Sinn’ ankündigt“.426 Bundschuh-Schramm beschreibt, wie die Geschichten und Bilder solcher Serien als Fortführung zur „herkömmlichen“ Religiosität vermitteln, dass selbst wenn die Aliens sich als Feinde erweise, der Mensch sie besiegen könne, so wie David Goliath oder Jesus den Tod.427 In ähnlichem Tenor meint Charles Martig auch, Science-Fiction sei die „populäre Kinoform der Eschatologie“428, und Mario Pollo von der päpstlichen Universität Salesiana in Rom sieht im Erfolg der Fernsehserie „Akte-X“ ein Zeichen dafür, wie weit diese Art des Sakralen verbreitet sei: „Es handelt sich (…) um die Wahrnehmung des menschlichen Raums als geheimnisvollen Raum, wo es neben einer äußeren Alltagswirklichkeit eine verborgene Wirklichkeit gibt, die unter bestimmten Bedingungen bestimmten Personen zugänglich ist.“429 Für Jugendliche ist dieser Zugang zum Mysteriösen nicht nur im abenteuerlichen Sinne reizvoll, sondern auch in ihrem Bedürfnis nach einer vielleicht gefährlichen, aber am Ende immer wieder doch heilen Welt mit glücklichem Ende. Ein drittes interessantes Phänomen ist der Wunsch beziehungsweise die Notwendigkeit der Religion, die „Herausforderung der leichten Handhabbarkeit (…) anzunehmen. Religion 425 Bundschuh-Schramm (2000), S. 71 f. Bundschuh-Schramm (2000), S. 71. 427 Bundschuh-Schramm (2000), S. 72. 428 Zitiert nach Bundschuh-Schramm (2000), S. 72. 429 Pollo (1998), S. 62. 426 176 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen muss im Alltag dazwischen passen“430, schnell, übersichtlich und handlich wie ein Hamburger. In der heutigen Zeit der Multioptionalität, des Multitaskings ist oft zu wenig Zeit für eine ausführlichere Beschäftigung mit dem, was dem Mensch für sich selbst tut – das gilt ja nicht nur für Religion, sondern auch für den Sport und die Musik. Nicht umsonst boomen in Groß- wie auch so manchen kleineren Städten Freizeitangebote für die Mittagspause wie Lunch-Time-Konzerte in der Londoner City, bei der viel beschäftigte Angestellte sich einen Imbiss essend in die Kirche setzen dürfen, um klassischer Musik, gespielt von jungen aufstrebenden Künstlern zu lauschen. Das ist „gleich drei in einem“: Kirche, Mahlzeit und Musik (!). Ähnlich funktionieren Fitness-Angebote im Abonnement an der Coque in Luxemburgs Banker-Viertel Kirchberg, die nur in der Mittagszeit nutzbar sind - für die Bank- und EU-Angestellten, die die Mittagszeit optimal ausfüllen möchten. Entsprechend ist eine Fast Food Religion praktisch und leichter annehmbar. Religion sollte bequem als Häppchen serviert werden. Ein Beispiel hierfür sind auch die sogenannten benno-cards aus der Buchhandlung: „Augenblick mal. Eine Minute Besinnung für dich! Spruchweisheiten und Segenswünsche im Scheckkartenformat für die Brieftasche.“431 Gewünscht ist ein anderes Format, nicht unbedingt ein neuer Inhalt. Vor diesem Hintergrund ist das im dritten Kapitel dieser Arbeit bereits mehrfach zitierte Problem der jugendlichen Vermeidung einer dauerhaften Verpflichtung mit dem Weg hin zur Eventkultur ein weiteres Mal bestätigt und gleichzeitig wenn man so will lösbar. Es geht hier nicht darum, die Berechtigung von Fan-Kult, Mystery-Fieber und „Instant-Religion“ zu hinterfragen. Lediglich soll ihre Nachfrage im modernen Arbeits- und Gesellschaftsleben, das mit ähnlichen oder gleichen Mechanismen funktioniert, festgestellt und ansatzweise erklärt werden. 430 431 Bundschuh-Schramm (2000), S. 32. Zitiert nach Bundschuh-Schramm (2000), S. 32. 177 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 4.5 Zusammenfassung: Verortung von Religion im Leben Jugendlicher und religiöse Sozialisierung auf Grundlage der Frage nach der „Erlernbarkeit des Glaubens“ Wenn man die Erkenntnisse dieses Kapitels zusammenfassen will, heißt die zentrale charakterisierende Vokabel „Pluralität“: Sie bestimmt die Situation von Gesellschaft, von Einzelbiografien, Familienverhältnissen, ethischen Werten, Wahlmöglichkeiten – auch im religiösen Bereich. Um es mit einem Schlagwort zu besetzen: „Alles bleibt anders“. So wenig wie sich Arbeitsverhältnisse, Ehen oder Wohnorte heutzutage als konstant einrichten lassen (wollen oder lassen...), so viel offener ist heute im Vergleich zu früher die Zugehörigkeit zu einer Religion. Wie angesprochen gibt es den klassischen religiös geprägten Lebensweg „Von der Wiege bis zur Bahre“ so nicht mehr oder extrem selten. Die Toleranzbereitschaft der Gesellschaft scheint sich geradezu auf den Kopf zu stellen: Musste man sich vor einigen Jahrzehnten schämen, wenn man sich nicht in der Kirche blicken ließ, das Tischgebet vergaß, nicht kirchlich heiratete, nicht am Religionsunterricht teilnahm, gar aus der Kirche austrat, scheint es heute zuweilen genau umgekehrt, es sei denn, man nutzt den antiklerikalen Trend für sich zur „coolen Selbstabgrenzung“. Die in der Pubertät häufig aufkeimende Rebellion gegen herkömmliche Erziehungs und Wertemuster bzw. –vorgaben wie in Teilkapitel 4.1 analysiert, findet hier in dieser Pluralität möglicherweise einen kleinen Komplizen. Zweitens bringt uns die Feststellung über die zunehmende Privatisierung des Glaubens (siehe Teilkapitel 4. 2) wieder zu der Diskussion, ob innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes Religion Privatsache ist oder nicht. So wie das Interesse oder Engagement für Sport, Musik, Kultur überhaupt sicherlich auch als privat anzusehen ist, bekleiden sie dennoch eine wichtige Rolle innerhalb des staatlichen schulischen Bildungsauftrags. Dennoch sind sie inhaltlich-thematisch weniger emotional aufgeladen, als es die Religion ist. Man beachte hier auch die Feststellung (siehe 4. 2), dass sich das Thema insbesondere bei (den meisten) Jugendlichen in einer bestimmten Nische bewegt. Das Fehlen einer gemeinsamen Glaubenssprache macht das Finden eines Konsens’ in dieser Frage nicht eben einfacher: Die teilnehmenden Seiten bewegen sich – das fällt beim Streit um den Werteunterricht in Luxemburg beziehungsweise über Rolle und Einfluss der Kirche immer wieder auf - nicht selten auf unterschiedlichen kommunikativen Ebenen. Man denke etwa an beleidigende Ausdrücke für Kirchenämter („Paafen“). Gesucht 178 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen werden müsste nach einem gemeinsamen, möglichst sachlichen Register, das es ermöglicht, Entscheidungen über diese Fragen auf der Inhalts- und nicht auf der emotionalen Ebene zu klären. Jugendliche Religiosität birgt so viele Facetten jenseits klassischer Muster, dass der Umfang der vorliegenden Arbeit diese nur streifen kann. Daher gilt es, Orientierungspunkte zu finden, die bei der Beschreibung helfen können. Einig werden können wir uns über Selbstzentriertheit und Autonomie der Zielgruppe. Diese Eigenschaften bestimmen ebenso wesentlich den Zugang zum Gegenstand Religiosität und einer Herausbildung eines Wertsystems wie die Feststellung, dass Jugendliche sich heute auf einer wenig vereinheitlichten, nicht planbaren Wegstrecke innerhalb einer pluralistischen Welt befinden. Die Darstellung zeigte, dass der religiöse Alltag die Jugendlichen nicht selbstredend auf eine religiöse Spur führt. Diese Aspekte müssen uns dazu veranlassen, Individualität, Diversität wie Privatheit von Religiosität als gegeben hinzunehmen und nicht mehr von einem Kollektivbegriff ausgehen zu können. Was wir mit größerer Sicherheit beschreiben können, sind die Orte, an denen Religiosität entstehen kann. Diese Arbeit beantwortet die Frage eindeutig mit „in der Familie, mit weiteren Nebenschauplätzen wie Schule, Vereinen und Peer-Gruppe“, denn Kinder und Jugendliche finden hier die unmittelbarsten Begegnungen mit Ausdrucksformen von Heiligkeit und Transzendenz. Man sollte Familie als Ort der Prägung in Bezug auf Religiosität als Chance und Risiko zugleich begreifen, je nach tatsächlich gelebter Konstellation und auch Auffassung religiöser Erziehung seitens der Eltern. Eine Vielfalt religiöser Ausdrucksformen zeugt heute davon, dass Religiosität kein „EinMann-Weg“ im Sinne des im Vorwort dieser Arbeit zitierten Dichters Günther Kunert ist. Wir sollten versuchen, sie zu erkennen, zu verstehen und zu deuten - und nicht zu verurteilen. 179 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 180 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 5 Erschließung von Religiosität bei Jugendlichen in empirischen Arbeiten: Möglichkeiten und Grenzen 5. 1 „Das Unsagbare suchen“ – Über die Messbarkeit von Religiosität 5. 1. 1 Glaube und Subjektivität „Messung ist Grundlage einer jeden Wissenschaft – wie aber schaffen wir im Bezug zu Religiosität die Zuordnung von empirischer und abstrakter Relation?“ Tobias Kläden, Theologe Wie schön ist dieses Kleid? Wie sehr schmerzt der Zahn? Wie fest glaube ich? Auf einer Skala von Eins bis Zehn wären diese Fragen natürlich platzierbar. Aber was sagen diese Zahlen dann tatsächlich aus? Im Prinzip verraten sie uns lediglich einen einzigen Wert, nämlich den des befragten Individuums. Dieses Ergebnis ist jedoch nicht wirklich vergleichbar mit dem Ergebnis eines zweiten Befragten. Bei den Antworten auf die Frage nach Religiosität ist die Wahrheitsfrage daher zunächst einmal wenig sinnvoll, denn es geht hierbei um die subjektive Seite von Religion; und so betrachtet hat jede Religiosität, wie sie sich im Individuum ausprägt, auf jeden Fall auch eine Dignität.432 Das muss jedoch keinesfalls ein empirisches Aus für die Erforschung von Religiosität an sich bedeuten. Es legt lediglich nahe, das Messinstrumentarium deutlich zu überprüfen – was ein Anliegen dieser Arbeit ist. Zeitgenössische empirische Forschung, konkret hier die Religionssoziologie, die Religiosität messen will, muss sich stets über ihren konstruktivistischen Charakter im Klaren sein. Die Bedeutung der Ergebnisse ergibt sich nicht aus dem Material selbst, sondern durch das zugrunde liegende Bezugssystem, das während der Beobachtung und dann später bei der Interpretation der Ergebnisse relevant ist. So ist immer auch eine Art Selbstreferenz im Spiel, von der sich die Auswertung der 432 Mit dieser Frage befasst sich in einem aktuellen, noch nicht veröffentlichten Forschungsvorhaben auch Dr. Tobias Kläden an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster / Deutschland. Seine in einem Kolloquium im Juni 2006 geäußerten Gedanken fließen in dieses Kapitel mit ein. 181 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Aussagen nie ganz lösen lässt.433 Wenn Daten also im ersten Schritt subjektiv erhoben werden, bedeutet dies noch längst keinen objektiven Aussagegehalt („Der Choleriker findet sich selbst vielleicht ruhig…“). Dem Materialobjekt Religiosität beziehungsweise Glaube kann ich mich formalmethodisch nähern, und es gibt empirische Dimensionen, die ich erfassen kann - aber eben nicht alle. Hier liegt die Grenze jeder Methode. Das bedeutet nicht, dass man sich von dem Vorhaben einer aussagekräftigen Studie zur Religiosität verabschieden muss, jedoch sollte man die Ergebnisse immer vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Denkrichtung aus annehmen und gegebenenfalls auch revidieren können. Dementsprechend müssen aber die Aussagen der Ergebnisse insbesondere bei einem Gebiet wieder Religiosität, das jeden Menschen im Einzelnen direkt oder auch indirekt betrifft, relativiert beziehungsweise im Vorfeld sowie wie möglich von Subjektivität entlastet werden, und zwar bereits durch die Fragetechnik. 5. 1. 2 Orientierungshilfen auf dem Weg zur Messbarkeit von Religiosität Katechetische Blätter 5 (2006), S. 331. 433 Siehe zu dem Problem der Empirie als Konstruktion auch Ziebertz, Kalbheim und Riegel. Sie konstatieren: „Der beobachtete Gegenstand kann niemals in seinem Wesen objektiv ergründet 182 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Auf den ersten Blick scheint Religiosität nicht mit physischen Gradmessern erforschbar; Religiosität, das ist doch etwas „Spürbares“, in der menschlichen Seele Verankertes. Folglich tut sich auch die Religionssoziologie schwer damit, Religiosität als messbare Größe auszudrücken: Wie kann es gelingen, vom Verhalten auf kognitive Prozesse Rückschlüsse zu ziehen und Religiosität als empirische Größe messbar darzustellen? Bezüglich der Messbarkeit ist das eigentliche und sicherlich augenscheinlichste Problem das der fehlenden beziehungsweise vielmehr objektiv nicht messbaren Sinneswahrnehmung Gottes. Lothar Kuld schreibt über die kindliche Sinneswahrnehmung Gottes Folgendes: „Religion hat mit dem Unsichtbaren zu tun. Der Kern der Religion ist unsichtbar. Davon spricht Religion. Ihre Symbole vergegenwärtigen und verbergen zugleich, worauf sie verweisen: das Unsichtbare. Von der Religion und diesem ihrem Geheimnis weiß jedes Kind. Wenn es älter wird, wird es lernen, das Unsichtbare zu benennen. Das Kind wird versuchen, das Unsichtbare zu beeinflussen und in seine Macht zu bekommen. Es wird lernen, dass das nicht geht. Allmählich wird es das Manipulieren oder das Unsichtbare aufgeben.“434 Bei einer empirischen Erfassung muss also darauf geachtet werden, die in den verschiedenen Abstraktionsgrade Entwicklungsphasen im Denk- und des auch Menschen unterschiedlichen Formulierungsvermögen (!) zu berücksichtigen. Außerdem muss die Form der Befragung sehr sorgfältig gewählt werden: Nähere ich mich dem Thema durch die Eigenbeobachtung des Jugendlichen? Wie introspektionsfähig sind junge Menschen, ist der Mensch überhaupt in puncto Religion? Verlasse ich mich auf die Aussagen Anderer, etwa des sozialen Umfelds? Führe ich Interviews und riskiere, dass der Befragte mit seinem Antwortverhalten kalkuliert umgeht; oder entwickele ich einen anonymen Fragebogen? Letztere Möglichkeit erfordert sicherlich eine Itemstruktur, die um die verschiedenen Facetten von Religiosität einerseits und soziologische wie psychologische Faktoren andererseits bemüht ist, und: Die Jugendlichen müssen verstehen, um was es geht. Wenn wir jedoch von unsichtbarer Religion ausgehen (können), müsste man dann nicht nach Religion fragen, ohne explizit zu sein? Dies alles sind Diskussionsansätze innerhalb der empirischen Theologie. 434 werden.“ Dies. (2003), S. 51 f. bzw. S. 52. Kuld (2001), S. 7. 183 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Auch dürfen die Interpretationsspielräume keinesfalls vage, sondern müssen so eindeutig wie möglich sein. Für die empirische Erfassung religiöser Grundhaltungen ist es zudem unerlässlich, sich bei der Erstellung eines Fragebogens an der Vorstellungswelt der Jugendlichen zu orientieren. Dabei ist es von Bedeutung, sich klar zu machen, dass Kinder sich vor allem mit der Unsichtbarkeit Gottes beschäftigen: Zunächst ist das „im Himmel“, jedenfalls weit weg von der Erde, später als Gestalt, als „Geist“ im und am Ende der Kindheit dann „im Herzen“ oder der „Seele“. Bei Paul Tillich heißt der Unsichtbare der auf der Grenze, bei Rahner ist es das „Geheimnis“.435 Solche Gedanken um die Unsichtbarkeit Gottes beschäftigen den Menschen in jeder Phase, auch wenn sie sich inhaltlich verändern. Kuld beschreibt es so, dass die „von außen (‚Himmel’) nach innen (‚Gefühl’) wandern“436. Ähnlich dieser Entwicklung lässt sich nach Kuld dann auch die Sichtbarkeit der Religion beschreiben, wenn Kinder heranreifen. Nicht nur Kinder, die nicht religiös erzogen wurden, sondern auch die meisten Kinder, die sich selbst als religiös bezeichnen würden, verabschieden sich von ihrem (Kinder-) Glauben und die Erwachsenenwelt beobachtet dies als Glaubensverlust: Das Greifbare am Glauben verflüchtigt sich auch aus Sicht der Messbarkeit. Da sich Religiosität, wie im zweiten Kapitel dargestellt, in verschiedenen Dimensionen vollzieht, nämlich kognitiv, emotional und handelnd, muss hier eine genaue Unterscheidung stattfinden. Wir wissen um einen bestimmten Teil unserer Religion, wir empfinden Religion, und wir haben eine theoretische religiöse Haltung, die sich aber von unserem tatsächlichen Handeln durchaus unterscheiden kann. Entsprechende Fragen an Jugendliche wären a) „Wie wichtig findest du Begriffe wie religiöse Toleranz?“ b) „Wie fändest du es, wenn in deiner Stadt ein Glaubenshaus wie etwa eine Moschee gebaut würde?“ Religiöses Verhalten soll identifizierbar gemacht werden, also gilt es, Indikatoren aufzustellen: Sicherlich ist das, was ich messen kann, das konkrete Verhalten. Entsprechend zählten in frühen Studien zu den wichtigsten Indikatoren die nach der Kirchenpraxis (Häufigkeit des Gebetes, des Kirchgangs, der Mitgliedschaft in kirchlichen 435 Zitiert nach Kuld (2001), S. 9. 184 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Gemeinschaften wie den Messdienern, Teilnahme an religiösen Festen usw.). Jedoch spielt diese bezüglich der Beurteilung von Religiosität lediglich eine untergeordnete Rolle, da die Marginalisierung dieser Kirchenpraxis im Leben der Jugendlichen augenscheinlich und belegt ist. So wurde bereits in den Grundthesen dieser Arbeit geäußert, dass die Kirchlichkeit praktisch „weggebrochen“ ist, es aber an Erkenntnissen bezüglich weiterer Religiositätsfaktoren fehlt. Auf Grundlage der in dieser Arbeit in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Wesensart jugendlicher Religiosität kann entsprechend eine Erfassung der Einstellung beziehungsweise Meinung zu moralischen Fragen bedeutungsvoll sein.437 Hierbei sollte Religiosität mit dem klassisch-christlichen Grundwert der Liebes- und Empathiefähigkeit als Dreh- und Angelpunkt der Evangeliumsbotschaft verknüpft sein. Diese Liebes- und Empathiefähigkeit als zentrale Größe ist am besten abfragbar in Fragestrukturen, deren Inhalt sich orientiert an 1. sozialem Denken (etwa die Bereitschaft zu persönlichem sozialen Engagement und der Beurteilung sozialer Fragen, auch im Verhältnis zu Materialismus) 2. entsprechenden Wertemustern (vgl. Werte der Shell-Studie: wie etwa Leistungsgedanke, Macht usw. gegenüber Opferbereitschaft, Hilfsbereitschaft… ) 3. der Idee von Selbstverwirklichung im Verhältnis zur sozialen Gemeinschaft (Stichwort „soziale Verantwortung“, „Umweltbewusstsein“) 4. dem spirituellem Selbstverständnis (wie sehe ich mich innerhalb der transzendenten Frage, welche Bedürfnisse und Fragen habe ich?) sowie 5. der Beurteilung transzendenter Fragen (etwa über die Vorstellungen von Tod, Erlösung und Auferstehung). Der Begriff „Soziales Denken“ beinhaltet mehrere Ideen. Er meint Rücksichtnahme gegenüber der sozialen Gemeinschaft, in der wir uns bewegen: Mein Leben darf sich nicht auf Kosten eines Anderen abspielen; mein Handeln berücksichtigt die Interessen meiner Umwelt, meines „Nächsten“ im neutestamentarischen Sinne. Religiöse Werte wie oben festgelegt müssen nun übersetzt werden in zentrale Begriffe, die diese Gedanken beinhalten und dann bei Jugendlichen abgefragt werden. Solche zentralen 436 437 Kuld (2001), S. 9. Die deutsche Shell-Studie etwa untersucht die gesamtgesellschaftliche Einstellung der Jugendlichen mit Schwerpunkt auf ihre politische Haltung. So beobachtet und klassifiziert sie 185 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Begriffe wären etwa Gleichberechtigung, Demokratie oder auch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dabei geht es nicht um Interesse an zum Beispiel Demokratie, also Abfrage von politischem Engagement, sondern um das Denken darüber. Ein sinnvolles Fragemuster, um die Haltung zur Gleichberechtigung oder auch Zivilcourage abzufragen wäre etwa aus dem Bereich, in der große Jugendstudien die Politikeinstellung bei Jugendlichen allgemein / insgesamt untersucht haben.438 „Jeder sollte das Recht haben, für seine Meinung einzutreten, auch wenn die Mehrheit anderer Meinung ist“ oder „In jeder Gesellschaft gibt es Konflikte, die nur mit Gewalt ausgetragen werden können.“ (stimmt gar nicht … voll und ganz, sechs Skalenstufen) Anschließend müsste man die theoretische Haltung der Jugendlichen zu bestimmten Werten vergleichen mit ihrer tatsächlichen Bereitschaft, sich in bestimmten Situationen entsprechend zu verhalten. Gibt es Diskrepanzen? 5. 2 Zur bisherigen wissenschaftlichen Wahrnehmung des Gegenstands „Religiosität“ in Luxemburg 5. 2. 1 Jean-Louis Gindts Untersuchungen zum Verhältnis Jugend und Kirche in Luxemburg Die Suche nach Religiosität innerhalb der Jugendempirie steht mittlerweile keineswegs mehr im Abseits – ganz im Gegenteil. Mit dem gesellschaftlichen Ruf nach Werten befasst sich auch die Meinungsforschung in jüngster Zeit mit religiösen Inhalten. Waren Religion und Glauben lange Zeit „kein ernst zu nehmendes Thema in der Jugendforschung“439, hat sich dies mittlerweile erheblich geändert, denn „inzwischen gibt es kaum empirische Jugendstudien, die diesen Bereich vernachlässigen.“440 Werte wie Leistungswille, Wunsch nach Sicherheit und Macht, Bereitschaft zu sozialer Aktivität oder umweltbewusstes Denken. Vgl. Deutsche Shell (2002), S. 18 f. 438 Die Fragestruktur bzw. Typologie ist der Shell-Jugendstudie 2002 entnommen; vgl. die Erläuterung bei Schneekloth (2002), S. 109. 439 Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 13. 440 Ebd. 186 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen In der Vergangenheit sind Fragen zur Religiosität Jugendlicher in Luxemburg zwar wahrgenommen worden, jedoch selten systematisch und umfassend. Zwar gibt es eine Reihe punktueller Analysen wie etwa die 1961 von Francis Paul verfasste pädagogische Dissertation über die moralischen und religiösen Interessen der (männlichen) Studenten und die 1963 veröffentlichte Umfrage der Action Catholique de la Jeunesse Luxembourgeoise über die religiöse Lage der männlichen Jugend.441 Aber erst in den 1990er Jahren wurde mit der Arbeit über Jugend und Kirche von Jean-Louis Gindt das Thema in Luxemburg wieder tiefgehender erkundet und seitdem erneut ruhen gelassen. Gindt lieferte seinerzeit wichtige Grundlagen für weitere Analysen nach den 1990er Jahren. An seine Zusammenschau der damaligen pastoralen Situation im Großherzogtum lässt sich von aus heutiger Sicht anknüpfen, um einen weiteren Vorstoß in der Empirie wagen zu können.442 Jedoch besteht der entscheidende Unterschied der Ansätze darin, dass Gindt sich bezüglich jugendlicher Religiosität hauptsächlich auf Kirchlichkeit bezieht. Bei den Untersuchungen Gindts zur Religiosität zitiert Gindt das geltende Kirchenrecht, nach dem „die Teilnahme an der sonntäglichen Eucharistiefeier wegen des verpflichtenden Charakters das wesentlichste äußere Merkmal des katholischen Christen“443 sei. Dabei wehrt er sich ausdrücklich dagegen, „Schlußfolgerungen über die Glaubenssituation“ ziehen zu wollen: „Christliches Handeln erschöpft sich noch längst nicht in einer regelmäßigen kirchlichen Praxis und ist auch nicht unbedingt davon abhängig. Ein Werturteil ist in jedem Fall zu verwerfen“.444 Im letzten Teil seiner Arbeit widmet sich Gindt dann der Frage nach der Glaubenssituation der Jugendlichen in Luxemburg, und kommt seinerzeit zu dem Problem, den diese Arbeit in ihrem Hauptteil aufgreift: zu den Möglichkeiten der Messbarkeit von Religiosität. Gindt konstatiert 1991, dass „jede empirische Analyse des Glaubens sehr schnell an die Grenzen der Empirie stößt, da Glauben, als persönliche und individuelle Gottesbeziehung, sich den Begriffen der Empirie entzieht.“445 Gindt sieht also ebenso die Schwierigkeit 441 Siehe Bibliographie. Vgl. Gindt (1991). 443 Gindt (1991), S. 62. 444 Gindt (1991), S. 64. 445 Gindt (1991), S. 180. Hervorhebung von mir, S. D. Gindt fragt sich weiterhin: „Was will man messen, wenn man Glauben erfassen will? Welche Maßeinheit kann die Glaubenssituation darstellen und einteilen? Gibt es ein Höchstmaß an Glauben, oder muß die Skala nach oben offen bleiben? Wenn die individuelle Gottesbeziehung also an sich nicht Gegenstand 442 187 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen der Messbarkeit, wie sie in dieser Arbeit angesprochen wird, behandelt jedoch dieses Problem nicht weiter. Genau hier setzt die vorliegende Arbeit an und denkt beziehungsweise schreibt sie weiter. Gindt selber sieht bereits den weiteren Forschungsbedarf, wenn er sagt: „Die religiöse Praxis wird allgemein als eine wesentliche Äußerung des Glaubens verstanden. So wird die Hypothese eines symmetrischen Verhältnisses zwischen Glauben und religiöser Praxis axiomisch angenommen. Nimmt die religiöse Praxis ab, so wird ein Glaubensschwund vorausgesetzt und als Ursache bestimmt. Ob dies aber so ist? Des Weiteren wird Glaube in unserem europäischen Denken meistens mit dem christlichen, apostolischen Glaubensbekenntnis identifiziert; als Unglaube gilt demnach jede Abweichung vom institutionalisierten Credo. (…) “446 Gindt problematisiert weiterhin das Verständnis von Glauben: Es werde meistens als ein „für-wahr-Halten“ definiert und entsprechend in empirischen Forschungen als Ja oder Nein aufgestellt, um zu sehen, wie viel Prozent der Bevölkerung sich hinter eine Glaubensaussage stellen oder nicht, jedoch bekräftigt Gindt, dass sich so keinesfalls das für-wahr-Halten des individuellen Lebens messen ließe.447 Gindt unterscheidet hier die Terminologie „Glauben, daß“ im Gegensatz zum (aus seiner Sicht wahrhafteren) „Glauben aus“, welche er mit der folgenden Meditation zu charakterisieren versucht: Glauben, daß oder „Versteht man Glauben als für-wahr-Halten, als Meinen, ohne zu wissen, als Annehmen, ohne beweisen zu können, daß es einen Gott – Vater, Sohn und Hl. Geist gibt, einen Himmel und eine Hölle gibt, ein Leben nach dem Tode gibt, dann heißt Christentum, daß man in die Kirche gehen muß, aus Glauben Wächst mein Glauben aus meiner Erfahrung, aus meinem Vertrauen und Hoffen, aus meiner persönlichen Beziehung mit meinem Gott, der mich leben läßt, meinem Gott, der Liebe schenkt, meinem Gott, der mir als Du und im Du begegnet, dann heißt Christsein, daß ich In der Gemeinschaft von Christen Mitgläubigen begegne, in (den) Zeichen (der Sakramente) Gott erlebe, in den Weisungen Hilfen und Modelle für mein Leben aus dem Glauben finde und mich als den Nächsten dessen die Sakramente empfangen muß, die Gebote achten muß und den Nächsten lieben muß. quantitativer Erhebung sein kann, was wird dann in religionssoziologischen Studien gemessen?“ Ebd. 446 Gindt (1991), S. 180. Hervorhebung von mir, S. D. 447 Gindt (1991), S. 181. 188 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Erweise, der mich braucht. So verstanden ist Religion die Deutung meines Lebens, aus der ich meinen Alltag zu leben und erleben versuche.“448 So verstanden ist Religion eine schwere Last, die sehr wenig mit meinem alltäglichen Leben zu tun hat. Für Gindt ist bezüglich der Herausbildung des Glaubens die Erfahrung am, bei und mit dem Menschen das Zentrale - und nicht etwa das Entscheiden für oder wider etwas. Damit setzt er Transzendenzwahrnehmung des Subjekts als Priorität, und nicht etwa das Kognitive. Dies entspricht vielen Gedankenansätzen, die die vorliegende Arbeit teilt. Gindt zieht seinerzeit jedoch den Schluss, dass man angesichts „dieser Überlegungen (…) auf eine allgemeine empirische Beschreibung der Glaubenssituation, die sowohl über die kirchliche Praxis als auch über die Identifikation mit den theologischen Aussagen des Credos hinausgehen will, verzichtet werden“ muss.449 Genau an diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an und will weiter gehen: Wenn wir an einem Wissen um spirituelle und religiöse Grundhaltungen Luxemburger Jugendlicher interessiert sind und insbesondere jetzt, wo es um die Fragen geht, welchen Stellenwert die Religion in der Schule als Fach sowie in der Gesellschaft bei ethischen Wertediskussionen innehaben soll, ist es hoch an der Zeit, die Suche nach einem entsprechenden Instrumentarium wieder aufzunehmen. 5. 2. 2 Weitere Studien zur „Glaubenssituation Jugendlicher“ Entsprechend haben sich bis zum Ende des letzten Jahrhunderts weitere Untersuchungen auf die Gindt seine Analysen bezieht, im Zusammenhang mit Jugend und Religion fast ausschließlich mit Kirchlichkeitsfaktoren beschäftigt. Zu nennen sind hier als Beispiele die Synodenumfrage von 1971, die an alle Einwohner Luxemburgs ab 16 Jahre die Frage richtete: „Nehmen sie an der Sonntagsmesse teil?“450 die repräsentative Stichprobe der ILReS von 1986, bei der 2.013 in Luxemburg lebende Personen im Alter von 15-74 ausgewählt und nach der Gottesdienstteilnahme befragt wurden451 die „Enquête vum Tageblatt iwwer d’Lëtzebuerger Jonk“ von 1988452 448 Gindt (1989), S. 9. Gindt (1991), S. 182. 450 Institut für Demoskopie Allensbach (1971), Tabelle siehe Anhang. 451 Fehlen / Margue (1989), Tabelle siehe Anhang. 449 189 Frequenz ihrer Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen der „Rappsonndeg“, bei denen 1977 und 1987 die Kirchenbesucherzahlen gezählt und nach Alter erfasst wurden453 Gindt führt als Basis für seine eigene Untersuchung der Beichtpraxis weitere Statistiken auf, die sich allesamt jedoch mit klassischen Kirchlichkeitsindikatoren wie die Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs beziehungsweise der Wahrnehmung des Tauf-, Buß-, Firm- und Ehesakraments beziehen.454 Erfasst wird außerdem die Anzahl der Messdiener.455 In unserem Zusammenhang können diese Daten in aktualisierter Form d. h. ermittelt durch erneute Umfragen, allenfalls einen T e i l zur Beschreibung von k i r c h l i c h v e r o r t e t e r Religiosität liefern. Interessant und als Methode verwertbar sind Gindts Analysen zu seinem Zahlenmaterial, wenn er die Anzahl der sonntäglichen Gottesdienstteilnehmer mit der Anzahl derjenigen, die am Bußsakrament teilnehmen vergleicht. Im konkreten Fall 1991 lag letztere Zahl nämlich höher als die der Messbesucher.456 Innerhalb neuerer Studien, durchgeführt beispielsweise vom Meinungsforschungsinstitut ILReS widmeten sich Einzelfragen auch der Religion, so etwa bei einer Umfrage im April 1999, bei der Eltern nach den Gründen befragt wurden, warum sie ihre Kinder in den RU schickten.457 Diese Umfrage gibt aufschlussreiche Informationen darüber, inwiefern die Familienreligiosität, konkret die Haltung des Elternhauses zur religiösen Förderung und Bildung der Kinder steht. Die Umfrage weist nach, dass 64% der Befragten der Überzeugung sind, dass der RU ein wichtiger Bestandteil einer guten Erziehung ist. Dieser Prozentsatz entspricht der durchschnittlichen Teilnahme am RU in den Sekundarschulen. 78% entscheiden sich für den RU „aus Tradition“. Jean-Louis Gindt kommentiert dies so „Zu jedem Volk, jedem Stamm, jeder Kultur gehört auch das Religiöse. Der Mensch ist fundamental ein „homo religiosus“.458 452 ILReS / Tageblatt (1988) Tabelle siehe Anhang. Wagner (1990), Tabelle siehe Anhang. 454 Vgl. hierzu Gindt (1991), S. 65 f. 455 Gindt (1991), S. 72. 456 Gindt (1991), S. 119. 457 Nachweis siehe Anhang (www.religionslehrer.lu). 458 Gindt (1999a), S. 1. 453 190 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Was die Umfrage nicht verrät, ist der Anteil, den die Kinder und Jugendlichen an der Entscheidungsfindung der Eltern hatten und wie sehr sie die Einstellung ihrer Eltern tatsächlich teilen. So ist hypothetisch zu vermuten, dass eine Aussage wie etwa die, dass der RU aus Tradition besucht werden sollte, deutlich mehr im Interesse der Eltern als der Kinder liegt, welche sich weniger Traditionen verhaftet sehen als die ältere Generation. Es wäre interessant zu erfahren, ob die Stimme der Kinder, welchen Unterricht sie selbst besuchen sollen, eine (entscheidende) Rolle spielt. Immerhin 46% der Befragten äußerten sich, sie entschieden sich für den RU unter anderem aus Angst, „datt hier Kanner ausgeschloss an isoléiert gin“. Diese Aussage ist aufschlussreich bezüglich des religiösen Bildes beziehungsweise des Images, das bei den Erziehenden bezüglich Religion und institutionellen Vertretern in den Köpfen steckt. Religion scheint also aller Vorurteile zum Trotz – immerhin bei der Elterngeneration gesellschaftlich noch von Bedeutung zu sein, wenn man „dazugehören“ will. Ist das aber bei den Jugendlichen genauso und würden sie sich, wenn sie frei entscheiden könnten und es ab einem gewissen Alter auch können, sich ebenso entscheiden? Es geben 62% der Eltern an, sich nicht bewusst mit der Frage des RUs zu beschäftigen. Jean-Louis Gindt fragt sich, ob ihre intuitive Entscheidung in ihrem Grundbedürfnis nach Religion wurzelt. Dies lässt sich nur herausfinden, wenn in einer weiteren Umfrage geklärt wird, welche Wichtigkeit die Befragten dem RU beimessen und was sie inhaltlich mit ihm verbinden. Dies sollte aber in einem komplexer konzipierten Gesamtkontext geschehen als es mehrere Luxemburger Zeitschriften-Redaktionen 2007 beziehungsweise 2008 handhabten. Zum einen befragte Le Quotidien zwei Monate lang seine Leser per Online-Umfrage zwischen November 2007 und Januar 2008 auf seiner Web-Startseite zur Abschaffung des Religionsunterrichts aus der Schule. Immerhin 80 Prozent der 2200 Teilnehmer der Abstimmung waren davon überzeugt, dass es Unsinn sei, den RU abzuschaffen, 10 Prozent bestanden auf seiner Abschaffung. 191 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 192 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen „Der Poll des lequotidien.lu zur Abschaffung des Religionsunterrichts aus der Schule“ 13. 11. 07 - 08:56 3 . 12. 07 - 08:19 31. 12. 07 - 10:18 13. 1. 08 - 22:55 Quelle: http://www.religionslehrer.lu/basics/Religionslehrer_Lu.htm, Link „newsarchiv“ Immerhin jedoch gewinnt man, insbesondere bei der Deutlichkeit des Ergebnisses, ein partielles Meinungsbild einer bestimmten Zielgruppe, in dem Fall die Leserschaft der betreffenden Zeitschrift. Dies trifft auch für die Umfrage der revue zu, die im Oktober 2007 an ihre Klientel richtete, und deren Ergebnis bezüglich der Abschaffung ein umgekehrtes Bild gegenüber dem Quotidien ergab. „Revue.lu veröffentlichte in der 2. Oktoberwoche einen Poll zum Religionsunterricht. Hier drei Screenshots aus drei Tagen.“ 12. 10. 2007 - 08:28 14. 10. 2007 - 22:44 15. 10. 2007 - 08:31 (letzter Tag) Quelle: http://www.religionslehrer.lu/basics/Religionslehrer_Lu.htm 193 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Bei einer weiteren Frage der ILReS-Studie von 1999 nach der Art des RUs, den Erwachsene sich für die junge Generation Luxemburgs wünschen,459 lehnen 21% der Befragten den RU ab; für sie böte sich die Alternative des Faches Moral. Für die große Mehrheit steht eine Legitimation des RUs an sich außer Frage. Jedoch differieren die Ansprüche an seine Inhalte. Lediglich repräsentative 14% der Katholiken in Luxemburg wünschen einen ausschließlich katholischen RU; dem gegenüber sprechen sich 27% für einen Unterricht aus, der die vier staatlich anerkannten Konfessionen berücksichtigt. Immerhin 35% fordern einen RU aller Konfessionen und Religionen - was zeigt, dass sich die Gesellschaft trotz einer äußerlich gesehen relativ einheitlichen Konfessionssituation in ihrem Inneren den (nicht nur religiösen) Pluralismus wahrnimmt und gelebt sehen möchte. Dies spiegelt in der Tat den Pluralismus wider, von dem in der vorangegangenen Kapiteln mehrfach die Rede war. Von einer religiösen Indifferenz scheint also auf den ersten Blick nicht die Rede sein zu können, denn nur 3% sind in der Frage unentschieden. Ein Einzelfall, der in dieser Problematik teilweise eine Abweichung darstellt, ist die ILReS / Tageblatt-Umfrage von 1988, die in vier Fragen den Bereich Religion umfassen sollte: 1. mit einer Frage nach der kirchlichen Praxis (Wie häufig nehmen Sie am Gottesdienst teil? mit der Antwortmöglichkeit regelmäßig, selten, nie, keine Auskunft) 2. mit einer Frage nach der Verbundenheit zur Kirchengemeinschaft (Fühlen Sie sich mit einer Kirchengemeinschaft verbunden? mit der Antwortmöglichkeit stark, verbunden, nicht) 3. mit der Frage Denken sie über den Sinn des Lebens nach? (Antwortmuster oft, manchmal, selten, nie) 4. mit der Frage An was glauben Sie? mit der Antwortmöglichkeiten der folgenden Auflistung, anzukreuzen mit weiß nicht, nein, ja: 1. Jedes Wesen hat Geist und Willen 2. Gott 3. Eine Kraft, die das Leben steuert 4. Ein Leben nach dem Tode 5. Sünde 6. Wunder 7. Die Wirklichkeit hat weder Anfang noch Ende 459 Meinungsumfrage ILReS Liberté de Conscience – relation état-église, Grafik 15: Wéiee Reliounsunterëcht an den öffentleche Schoulen? April 1999. 194 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 8. Die Natur strebt eine endgültige Harmonie an 9. Astrologie 10. Himmel 11. Wiedergeburt 12. Hellseherei 13. Pendeln 14. Teufel 15. Hölle Die Ausschließlichkeit der Fragestruktur sowie Art und Umfang des Fragenkatalogs verdeutlichen jedoch sehr schnell die Begrenztheit der Auswertungsmöglichkeiten dieser empirischen Erfassung bezüglich der Erkenntnisse zur Religiosität: 1. Religiosität wird gleichgesetzt mit Gottesdienstgewohnheiten. Eine Gottesdienstpraxis à la „gelegentlich“ wird den Befragten n i c h t zugestanden. 2. Bei der Frage nach der Verbundenheit zur Kirchengemeinschaft bleiben die (Hinter-) Gründe komplett im Dunkeln, sodass vieles bei einer Interpretation vermischt werden könnte: Liegt ein Gefühl der Verbundenheit mit Glaubensinhalten, an religiösen Erfahrungen oder auch anderen positiven wie negativen Situationen in der zugehörigen Gemeinde vor? 3. Immerhin weist die Frage, ob die Jugendlichen über den Sinn des Lebens nachdenken ein Interesse seitens der Jugendlichen nach, denn nur 8% der Jugendlichen tun dies nach eigenen Angaben nie. Es stellt sich alsdann aber die Frage, inwiefern die Fragesteller – und dann auch die Befragten - einen Zusammenhang erkennen zwischen einer Bejahung und Religiosität! Sicherlich ist das Nachdenken über den Lebenssinn eine Voraussetzung für die Entwicklung beziehungsweise das Vorhandensein religiöser Haltungen, jedoch sagt die hier angegebene Frequenz leider nichts aus über Intensität, Inhalt und Schlussfolgerung am Ende des Nachdenkens. Umgekehrt darf man nicht annehmen, dass diejenigen, die selten oder gar nie darüber nachdenken, ein glaubensloses Leben führten. Letztere machen sich bestimmte Sinngrundlagen für einen eventuell vorhandenen Glauben vielleicht weniger bewusst? 4. Bei den Antwortmöglichkeiten der vierten Frage ist keine klare Linie auszumachen, in welche Richtung die Ergebnisse zu interpretieren sind. Die Studie erklärt nicht die Auswahlkriterien und macht die Interpretation der Ergebnisse fragwürdig oder als Willkür angreifbar. Als Antwortmöglichkeiten werden seinsphilosophische Ideen (Antwortmöglichkeiten 1 und 7), Gottesbilder (Antwortmöglichkeit 3) ebenso angeboten wie (klassisch-) christliche Glaubensinhalte (Antwortmöglichkeiten 5, 6, 10, 14, 15) Fragen 195 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen nach Transzendenz, heidnischer Naturglaube (Antwortmöglichkeit 8), Wiedergeburt und das Leben nach dem Tod bis hin zu Okkultismus: Pendeln und Hellseherei bedienen hier undifferenziert die Vorstellung von „an etwas glauben“ im Sinne einer spirituellen Sinnerfahrung, bei der aber unklar bleibt, ob sie religiös interpretierbar ist (genau hier zeigt sich das in Kapitel zwei dieser Arbeit beschriebene Problem, siehe Kapitel 2. 6). Ähnlich problematisch verhält es sich bei der Vorgabe „Gott“, da hier das Verhältnis des Begriffs zu seiner inhaltlichen Füllung, möglicherweise durch Antwortmöglichkeit 3, „eine Kraft, die das Leben steuert“, nicht geklärt ist. Zudem wird deutlich, dass die Glaubensmöglichkeiten allenfalls einen Ausschnitt menschlichen Glaubens darstellen können und zudem wesentliche Inhalte des christlichen Glaubensbekenntnisses wie etwa den Glauben an Jesus Christus nicht berücksichtigen.460 Auch ist die Verwendung von Begriffen wie „Sünde“ insofern problematisch, als sie kein einheitliches inhaltliches Referenzsystem besitzen: Was bedeutet Sünde; und beinhaltet der Begriff etwa ein Glauben an Versöhnung, und was ist mit „Wesen“ (Antwort 1) gemeint? Sind Pflanzen und Tiere eingeschlossen? Falls es nur der Mensch ist, wäre die Frage redundant! 5. Als Konsequenz müssten solche Fragestellungen zukünftig präzisiert, ergänzt oder ganz vermieden werden, und insofern soll an dieser Stelle auch auf eine intensive Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Studie verzichtet werden, weil Aussagekraft und Sinnhaftigkeit zweifelhaft sind. Bei der Betrachtung der Itemstrukturen vorliegender Studien tritt m. E. ein Hauptproblem zutage, und zwar die Vermischung von Kirchlichkeit und Religiosität. Dass und inwiefern diese Begriffe jedoch zu trennen sind, wurde bereits im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausführlich behandelt. So erforschen beispielsweise Ziebertz u. a.461 jugendliche Aussagen zum Verhältnis von Religion und Moderne, indem sie als Konzept erfragen, ob Kirche beziehungsweise Religion negativ oder positiv gesehen werden. In den entsprechenden Itemstrukturen werden Glaube und Religion konsequent mit Kirche verknüpft und tragen so selbst zu der Feststellung der Studie, dass Jugendliche die Bedeutungsdifferenz von Kirche und Religion nicht in ihren Sprachschatz mit aufnehmen, bei. 460 461 Siehe hierzu auch Gindt (1991), S. 185. Siehe Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 71. 196 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Zwar mögen Ziebertz u. a. mittels dieser Befragung eben gerade bestätigt finden, dass im alltäglichen Sprachgebrauch Kirche und Religion bei Jugendlichen miteinander verknüpft sind, jedoch bezeichnen sie ein entscheidendes Kriterium, nach der die untersuchten Jugendlichen ihre Antwortstrategie ausrichten, ob „Religion / Kirche und Moderne zusammenpassen oder nicht“462 – Religion wird als Automatismus mit Religion seitens der Fragesteller verknüpft, nicht nur seitens der Zielgruppe! Insofern ist die Feststellung von Ziebertz u. a., dass Kirche und Religion im Bewusstsein der Jugendlichen miteinander identifiziert würden, nicht glaubhaft. Auch ist speziell bei dieser Studie zu hinterfragen, inwiefern bei Jugendlichen der Religionsbegriff überhaupt geklärt ist. Wenn Heranwachsende also nach ihrer Zustimmung oder Ablehnung der Aussage „Wer modern denkt, für den sind religiöse Bezüge aller Art überholt“ gefragt werden, muss man doch überdenken, ob Jugendliche nicht genau so an ein Stereotyp Religion herangeführt werden und ob sie sich dessen bewusst sind, was sie da beantworten. Aufschlussreicher sind innerhalb ihres kirchlichen Horizonts die Ergebnisse einer anderen Jugendstudie, in der sich der Stuttgarter Pfarrer Tilman Gerstner mit der Religiosität deutscher Konfirmanden beschäftigt.463 Gerstner befragte neunhundertachtundfünfzig Konfirmanden nach ihrem Gottesglauben. Seine Ergebnisse weisen unter anderem nach, dass fünfzig Prozent der Jugendlichen, die sich (noch) für diesen religiösen Schritt in ihrer Biografie entscheiden, an Gott „oder etwas Ähnliches“ glauben. Dabei haben viele von ihnen einen freundlichen Helfer und Beschützer im Sinn. Aufschlussreich ist dies durchaus bezüglich des Gottesbildes und dessen Aussage, was Jugendliche von ihm erwarten: In dieser Funktion ist Gott durchaus p o s i t i v gesehen, nicht etwa als abstrakt erhöht, sondern durchaus in stützender Verbindung mit dem eigenen Leben. Inwiefern dies mit konfessionsbedingten Gottesbildern, konkret: dem spezifisch protestantischen Glauben zu tun hat, bleibt bisher offen und hinterfragbar. Was man allerdings von dem Gottesbild der anderen fünfzig Prozent der Konfirmanden, die nicht an Gott oder etwas Ähnliches glauben, denken soll, ist in diesem Rahmen nicht zu diskutieren. Die Studie verrät auch, was bei Konfirmanden gut ankommt: Bibelsprüche auswendig lernen ist out, gefragt sind konkrete christliche Vorbilder, Emotionen und Erlebnisse. Dies 462 463 Ziebertz / Kalbheim / Riegel (2003), S. 72. Siehe Gerstner (2006). 197 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen bestätigt die analysierte These der vorliegenden Arbeit, dass Eventisierung des Glaubens eine deutliche Spur zur Religiosität Jugendlicher sein kann. Auch Gerstners Ergebnisse entsprechen der Theorie, dass Kirchlichkeit in immer stärker abnehmendem Maße eine Aussagekraft bezüglich jugendlicher Religiosität besitzt: Er fand heraus, dass die Jungen und Mädchen zwar Gebete sprechen im Gottesdienst „doof“ finden, aber etwa in der Not beten und so durchaus eine spirituelle Ausdrucksform verwenden. Gerstners Befunde liefern also eventuell Vergleichsparameter zukünftigen Studien in Luxemburg, wenn man die Konfessionalität und die Tatsache der bewussten Entscheidung zu einem Sakrament wie der Firmung (im Vergleich zur Entscheidung für die Konfirmation) berücksichtigen will. Für eine größer angelegte empirische Befragung ist sie jedoch leider weniger geeignet aufgrund ihrer von vorneherein zu einem Mindestmaß kirchlich sozialisierten Zielgruppe. Davon ist für die Zwecke der vorliegenden Arbeit, die nach spirituellen und religiösen Grundlagen einer Gesamtgeneration sucht, nicht auszugehen. 5. 2. 3 „Religiosität aus Briefen er-lesen“ – Zum kommunikativen Austausch zwischen Mgr. Jean Hengen (†) und Luxemburger Jugendlichen „Ich habe mich wirklich darüber gefreut, Ihren Brief zusammen mit meiner Klasse durchzudiskutieren. (…) Ich fand es sehr nett, daß Sie die Jugend nicht vergessen haben, was meiner Meinung nach auch sehr wichtig ist“ Danielle, Schülerin, 15 Jahre, in ihrem Brief an Erzbischof Jean Hengen (†)464 Ein m. E. ausgesprochen positives Beispiel bezüglich der Auseinandersetzung mit jugendlicher Religiosität, seitens der katholische Kirche selbst ist, die Idee des Erzbischofs Jean Hengen († 2005), der 1988 einen Hirtenbrief verfasste, welcher sich eigens an die Jugend richtete, und zwar mit dem (provokativen) Titel „Wollt auch ihr weggehen?“ 464 Zitiert nach Gindt (1991), S. 189. 198 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Das Zitat ist angelehnt an Johannes 6, 67 und thematisiert die Glaubenskrise der Jugendlichen, die ihn selbst beunruhige.465 Die Jugendlichen quittierten dieses Signal des Erzbischofs mit regem Interesse und Dankbarkeit, aber auch kritischen Diskussionen, woraufhin Erzbischof Hengen die Jugendlichen Luxemburgs aufforderte, ihm ihre Vorstellungen von Religiosität in Briefen mitzuteilen. Zweihundertsechs Briefe gingen damals ein. Das Gelungene an der Aktion ist erstens, dass die Jugendlichen in ihren Äußerungen keinerlei Vorgaben bekommen, sondern aus ihrer ureigenen Sicht Glaubensthemen angehen. Sie dürfen das beschreiben, was sie bezüglich, Glaube Kirche aber vor allem in Bezug auf sie selbst bewegt. Selbstverständlich muss das Lob mit der Einschränkung leben, dass dies eine freiwillige Sache seitens der Jugendlichen war, und wahrscheinlich überdurchschnittlich viele Jugendliche geantwortet haben, die sich von Kirche in irgendeiner Form sowieso angesprochen fühlen, während die Desinteressierten schweigen. Doch ist es ebenso möglich, dass durch die Tatsache, dass der Erzbischof persönliches Interesse an der Meinung Jugendlicher bekundet und sich selbst kümmert, sicher auf so manchen eine Motivation ausgeübt, aus dem eigenen Schneckenhaus herauszukommen und sich zu äußern. Da sich in Glaubensaussagen die Individualität des Einzelnen ausdrückt, ist das Medium Brief sicherlich eine geeignete Form, etwas über Jugendreligiosität in Erfahrung zu bringen. Jedoch ist einzuräumen, dass die Auswertung mühsam ist und entsprechend nur mit einer übersichtlichen Zahl an Befragten gearbeitet werden kann. Dies macht das Zeichnen einer religiösen Gesamtsituation auf Grundlage des Mediums Brief schwieriger. Entscheidend ist die G e s t e , mit der den Jugendlichen begegnet wird: Was sie sagen, ist relevant und wird ernst genommen, und zwar kirchenpolitisch an oberster Stelle, und es veranlasste immerhin über zweihundert Schüler sich Zeit zu nehmen, um sich intensiv mit Glauben auseinanderzusetzen. Die eingegangenen Briefe wurden im Arbeitskreis des 465 Hengen schreibt den Jugendlichen, sie täten sich sicher schwer mit den Formen und Normen der Kirche und hätten oft das Gefühl, „daß niemand ihnen richtig zuhört, daß sie Antwort auf Fragen bekommen, die sie nicht gestellt haben, und daß ihre Fragen und Ängste nicht ernst genommen werden“. Hengen (1988), S. 1-4. Der Bischof lässt so die Verantwortung für die Krise nicht bei den Jugendlichen allein, sondern nimmt sich und die kirchlichen Vertreter selbst mit in die Pflicht. Er bezeichnet es „als gemeinsame Aufgabe aller, in der Kirche zu einem neuen Dialog zu kommen.“ Ebd. 199 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Zweiten Pastoralrates der Erzdiözese Luxemburg ausgiebig rezipiert und ausgewertet. Viele Briefe äußerten eine Distanzierung zur Kirche, doch bot und bietet eine solche Art der Befragung die Chance, die Beweggründe genau zu analysieren und weitere Impulse für die kirchliche Jugendarbeit zu gewinnen.466 Die Qualität der Aussagen spricht dafür, eine Wiederholung dieser Aktion in Erwägung zu ziehen. 5. 2. 4 „Les valeurs au Luxembourg“ – Aussagen einer Wertestudie bezüglich Religiosität Die luxemburgische Wertestudie, die 2002 unter der Leitung von Michel Legrand im Rahmen der europäischen Wertestudie durchgeführt und bereits im dritten Kapitel dieser Arbeit in Ausschnitten analysiert wurde, widmet einen beachtlichen Teil, nämlich mehr als ein Fünftel der knapp tausendseitigen Studie der Religiosität, und zwar unter dem Titel „Une religion »à la carte«?“467 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit können anhand dieses Umfangs nur wesentliche Züge der Daten sekundär ausgewertet und dargestellt werden. Eine der wichtigsten Aussagen hierbei sind Erkenntnisse über die Itemstruktur der Befragung. So wurden 23 Items ausgewählt, die als religiöse Indikatoren benannt und den Befragten zur persönlichen Zustimmung oder Ablehnung vorgelegt wurden.468 Auf den ersten Blick gibt die Tabelle einen aufschlussreichen Überblick auf die Prioritäten der Luxemburger bezüglich ihres Gottesglaubens: Vertrauen in die Kirche und die „Homogamie religieuse“ ist den Befragten wenig wichtig; die allgemeine Teilnahme an einer Religion und der Gottesglaube waren die wichtigsten Indikatoren. Jedoch muss sich die Tabelle fragen lassen, wie aussagekräftig diese Items sind. Was bedeutet die „Teilnahme“ - eine Gebets- oder Gottesdienstpraxis, ein bestimmtes Interesse 466 Der vorliegenden Arbeit zugänglich waren Zitate, die Jean-Louis Gindt, der die Briefe seinerzeit noch einmal persönlich durcharbeitete, zusammengestellt hat. Ein Auszug aus dem Protokoll der 13. Sitzung des Arbeitskreises „Jugend“ wurde veröffentlicht als Die Stimme der Jugend in d’Wissbei 6 (1989), s. Bibliographie. Es handelt sich hierbei um eine Sammlung aussagekräftiger Zitate zu den Problembereichen und Beweggründe für die Distanzierung zur Kirche. Gindts Analyse weist wichtige Ergebnisse dieser Brief-Aktion nach. 467 Vgl. das 7. Kapitel in Legrand (2002), S. 535-754. 468 Legrand (2002), S. 540 f. Die Tabelle findet sich im Anhang dieser Arbeit. 200 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen an religiösen Fragen oder lediglich das getauft Sein? Was ist mit dem Glauben an Gott gemeint, wo hier außerdem noch unterschieden wird mit einer zweiten Antwortmöglichkeit mit dem Glauben an einen personalen Gott? Auffallend sind auch Widersprüchlichkeiten im Antwortverhalten, wie etwa die wichtige Rolle des Glaubens an Gott neben der Tatsache, dass nur 19% Gott sehr wichtig finden! Wie ist das zu erklären? Wie auch die zuvor besprochenen Studien erfasst die luxemburgische Wertestudie die Gottesdienstfrequenz der Befragten.469 Wenn man sich daran erinnere, dass der Gottesdienstbesuch als Pflicht gilt, bleibt festzustellen, dass nur einer von fünf Einwohnern Luxemburgs einmal pro Woche den Gottesdienst besucht. Weiterhin liefert die Studie eine Fülle von Daten zur Kirchenbesuchspraxis, gestaffelt nach Alter, politischer Gesinnung, Familienstand, Nationalität, Bildungsstand, internationale Vergleichsdaten und vieles mehr. Aber auch hier taucht zum wiederholten Male die Frage auf: Welche Erkenntnis ziehe ich daraus außer, dass die Kirche leerer oder voller ist, wie alt die Kirchenbesucher sind oder gebildet usw. Aus religionswissenschaftlicher Sicht zunächst keine! Ähnlich wenig aussagekräftig ist die Studie bezüglich der Gebetspraxis, die ausführlich untersucht wird. Dort, wo sich die Studie mit religiösen Inhalten befasst, etwa ob die Befragten ans Paradies, an die Sünde oder ein Leben nach dem Tod glauben470 oder nach welchen Werten der Religion sie sich richten (etwa Moral, Wahrheit der Dogmen, Werte der Bibel, des Korans usw.),471 werden immerhin weiter verwertbare Grundlagen für eine Aufbauarbeit geschaffen. Diese könnte weiterhin fragen, welche konkreten Konsequenzen diese Aussagen bezüglich des konkreten Verhaltens der Befragten oder auch der Einstellung zu verschiedenen Religionen und der Amtskirche haben. Ist also der Titel des Kapitels der Wertestudie über Religion berechtigt? Leben die Luxemburger eine „religion à la carte“? Die Wertestudie selbst kann darauf bedauerlicherweise nur ansatzweise eine Antwort geben. Denn es entsteht ein Zusammenschnitt verschiedener Aspekte von Religiosität, dem jedoch der Anspruch eines Gesamtbildes versagt bleibt, weil ein Entscheidendes fehlt: die 469 Quelle: Legrand (2002), S. 573. Die Tabelle findet sich im Anhang dieser Arbeit. Siehe etwa Legrand (2002), S. 634. Die Tabelle findet sich im Anhang dieser Arbeit. 471 Legrand (2002), S. 638. 470 201 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Grundlegung und Definition, was mit Religiosität gemeint ist. Entsprechend endet das Kapitel über den Wert „Religion“ der Studie mit der Schlussfolgerung, dass Religion und Institution an Wichtigkeit verloren hätten472 - man beachte die Gleichsetzung! Dass diese Parallelisierung so nicht berechtigt ist, ist in unseren Kontext ausführlich dargelegt worden: Selbstverständlich ist Religion nicht gleich Institution; und: ja: Nach den bisherigen Analysen der vorliegenden Arbeit (siehe Teilkapitel 3. 2. 7!) könnten wir heute die Frage der Studie zumindest mit einem „Ja, sehr wahrscheinlich“ beantworten. Wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl Luxemburger, die, würden sie befragt, unter die Kategorie der sogenannten „Kulturreligiösen“ oder auch „Patchwork-Religiösen“ fallen würden. Die Diskussionen in den Medien über Religiosität, Rolle der Kirche in Öffentlichkeit und schulischem Raum, die Ansätze der Ausstellung „Glaubenssache“ mit den verschiedenen Glaubenstypologien, bei denen immer wieder von der Pluralität, dem Patchworkmustern heutiger Biografien und Charaktere hingewiesen wurde, gleichzeitig das Ringen um Ethik und Werte im Staat, bei Gesetzesfindung und der öffentlichen Meinung – das alles spricht ganz und ganz nicht für eine Müdigkeit bezüglich des Themas – ganz im Gegenteil. 5. 2. 5 Die Deutsche Shell-Jugendstudie Es liegt im europäischen Raum bereits eine Reihe von Jugendstudien vor, die sich mit Religiosität bei Jugendlichen auseinandersetzen. Bei manchen (Ziebertz, Kalbheim und Riegel) steht die Religiosität im Vordergrund der Befragung, bei anderen (Europäische Wertestudie, Shell) ist sie Teil innerhalb eines allgemeinen Themenkomplexes. Beispielhaft aus dem außerluxemburgischen Kontext sei in diesem Rahmen die Shell-Studie 2000 beziehungsweise 2002 vorgestellt.473 In der Studie der deutschen Shell-AG „Jugend 2000“ wurden Daten zur Religiosität Jugendlicher in Westdeutschland ermittelt, indem sie Jugendliche befragte, ob sie an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, nach ihrer Gebets- und Gottesdienstpraxis. Im Vergleich zu der ILReS-Umfrage von 1988 haben sich die Fragestrukturen nicht wesentlich verändert. Die Schlüsse, die die Shell-Studie daraus zieht, sind dementsprechend 472 Vgl. „la religion et les institutions qui y sont liées ont perdu de leur importance“, Legrand (2002), S. 734. 473 Deutsche Shell (2000), S. 162, S. 540 (Graphik siehe Anhang). 202 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen problematisch hinsichtlich ihrer Aussagekraft über Religiosität. Dort heißt es, es gebe „einen Rückgang von Glaubensvorstellungen ebenso wie eine abnehmende religiöse oder kirchliche Praxis“474. Die 13. Shell-Jugendstudie 2000 stellt fest, dass „83% der befragten Jugendlichen nicht mehr zum Gottesdienst gegangen“ waren,475 jedoch immerhin nur etwa die Hälfte aller Jugendlichen der These „Ich bin nicht religiös“ zustimmten.476 Dies immerhin bringt uns auf die Spur der Unabhängigkeit der beiden Faktoren in Bezug auf die tatsächliche Religiosität Jugendlicher. Kulds Aussage, Religion werde im Jugendalter „unsichtbar“477, ist von jeder Seite zuzustimmen, von kirchlicher Seite uneingeschränkt, vonseiten dieses Ergebnisses bei Shell nur mit einem Zusatz – für die „konventionelle Weise“ unsichtbar. Die Existenz kirchlich-christlich geprägter jugendlicher Religion sowie die inhaltliche Zustimmung dogmatischer Aussagen der Amtskirche verschwinden zweifellos. Dass und warum dies nicht als alleiniges Kriterium für Religiosität gelten kann, ist an verschiedenen Stellen dieser Arbeit bereits dargelegt worden. Wenn Jugendliche nicht sensibilisiert worden sind, religiöse Wirklichkeit wahrzunehmen, wenn sie religiöse Kommunikationsfähigkeit nicht erwerben konnten, weil schulische wie familiäre Bildungsorte dies nicht zuließen, und wenn Religiosität nicht als vom Subjekt ausgehend multiperspektivisch definiert wird, werden quantitative empirische Studien entsprechend ausfallen. Ein weiteres Problem, das die Shell-Jugendstudien bezüglich der Auskunft über Religiosität in jedem Fall darstellen, ist ihre Fragetechnik. So rangiert bei der Shell-Studie aus dem Jahre 2002 bei der Frage nach wichtigen Werten für die eigene Lebensgestaltung bei Jugendlichen im Alter von 12-25 Jahren „Gottesglaube“ auf einer Skala von 1-7 etwa im mittleren Bereich.478 Hierbei kann man jedoch nicht davon ausgehen, dass ein christlicher Gott gemeint ist. Stellt man die Frage nämlich anders – so geschehen in anderen Jugendstudien, ergibt sich sogleich ein verändertes Bild. Wenige Jahre zuvor nämlich stimmten 46% aller westdeutschen Jugendlichen dem Bild von Gott als Weltschöpfer, aber auch 43% einem pantheistischen Gottesbild zu.479 Hier vermischen sich unterschiedlichste Gottesbilder und lösen sich von den Lehren der Kirche. Diese Vieldeutigkeit der Begriffe erschwert der Forschung einen Zugriff. 474 Deutsche Shell (2000), S. 162. Ebd. 476 Deutsche Shell (2000), S. 173. 477 Kuld (2001), S. 111. 478 Vgl. Deutsche Shell (2002), S. 148 f. 479 Helsper (2000), S. 292. 475 203 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Die methodologische Erfassung jugendlicher Religiosität mithilfe von multiple-choice Antworten auf vorgegebenen Fragen ist streitbar, denn es bleibt ungeklärt, ob Frager und Befragte dasselbe meinen und verstehen. In freien Antworten wie Interviews und eben auch Briefen haben die Jugendlichen eher die Möglichkeit, ihr Konstrukt von Religiosität zu entwickeln und zu einem komplexeren Religiositätsverständnis seitens der Frage beizutragen. Insofern ist die Ergänzung einer quantitativen Studie durch eine qualitative in Fragen der Religiosität auf jeden Fall sinnvoll und wünschenswert. Wie sonst könnte man etwa das Gottesbild eines Jugendlichen in seinem Ursprung, seiner Ausgestaltung und seiner Facetten bezüglich ethischer beziehungsweise lebensgestalterischer Fragen tatsächlich erfassen? Kuld bilanziert anhand der Shell-Ergebnisse, dass der „Abwärtstrend nun auch die religiöse Praxis erreicht“ habe und die „euphorischen Interpretationen von einer Religion jenseits von Kirchen (…) fraglich sein“ dürften.480 Ich pflichte Lothar Kuld in dem Punkt bei, dass eine Gottesdienst- und Gebetspraxis den Jugendlichen in der Entwicklung allgemeiner religiöser Haltungen unterstützt und dies einfacher ist innerhalb eines intakten Gemeindelebens beziehungsweise einer familiären Kirchenpraxis. Allerdings sei zu Bedenken gegeben, dass wir noch zu wenig wissen über alternative Orte und Praktiken, die eine ä h n l i c h e Funktion wie Gebet und Gottesdienstbesuch erfüllen. Die Erkenntnisse über die Eventisierung von Religiosität im Teilkapitel 3. 2 sowie die Darstellung alternativer Ausdrucksorte im Teilkapitel 4. 4 dieser Arbeit möchten einen Denkansatz hierzu liefern. 5. 2. 6 Im Die TNS-ILReS-Studie 2008 Jahr 2008 beauftrage der Erzbischof Luxemburgs das SESOPI-Centre Intercommunautaire mit dem Meinungsforschungsinstitut ILReS, unter der Luxemburger Bevölkerung beziehungsweise bei Eltern und schulpflichtigen Kindern eine Umfrage bezüglich des Religionsunterrichts durchzuführen. Die Motivation für dieses Vorhaben lag darin begründet, dass seitens des nationalen Erziehungsministeriums zwar Zahlen bezüglich der Einschreibung für das Fach „Instruction Religieuse et Morale“ und „Formation Morale 480 Kuld (2001), S. 11. 204 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen et Sociale“ vorlagen, diese jedoch wenig über die Zufriedenheit der Wahlmöglichkeiten seitens der Kinder und Eltern aussagten.481 ILReS führte die Erhebung per Internet-Fragebogen und über persönliche Telefonbefragung durch. Das vorliegende Teilkapitel möchte einige zentrale Ergebnisse darstellen: 1. 68% der Gesamtbevölkerung bzw. 73% der Eltern halten die Vermittlung von Werten an die Jugend für wichtig bis sehr wichtig.482 2. 93% der Gesamtbevölkerung bzw. 92% der Eltern halten es für wichtig, sehr wichtig oder gar fundamental, dass in der Schule ein Ort existiert, an dem moralische, religiöse und philosophische Fragen behandelt werden.483 3. 87% der Gesamtbevölkerung bzw. 85% der Eltern begrüßen eine auch zukünftig bestehen bleibende Wahlfreiheit zwischen den beiden bereits existierenden Fächern MORCH und FOMOS. Lediglich 5% wünschen stattdessen einen Werteunterricht.484 4. Die Gesamtbevölkerung bzw. die Eltern vermuten, dass folgende Prozentsätze der Eltern ihre Kinder aus voranstehenden Gründen für den RU anmelden:485 aus Tradition: 85% / 86% aus Gewohnheit: 75% / 76% weil die Religion Teil einer guten Ausbildung ist: 50% / 47% weil ein gutes Verständnis von Religion in einer globalisierten Welt wichtig ist: 46% / 45% weil sie nicht von der Qualität des FOMOS-Unterrichts überzeugt sind: 44% / 34% 481 Vgl. Besch / Estgen / Legrand (2008), S. 3 f. Besch / Estgen / Legrand (2008), S. 12. 483 Besch / Estgen / Legrand (2008), S. 13. 484 Besch / Estgen / Legrand (2008), S. 14 f. 485 Besch / Estgen / Legrand (2008), S. 20. 482 205 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 5. Die Gesamtbevölkerung bzw. Eltern halten die Behandlung nachstehender aufgeführter Themen für einen zukünftigen RU für wichtig, sehr wichtig oder fundamental: 486 die Persönlichkeitsentwicklung der Jugend: 78% / 69% Kenntnisse über unsere Kultur und Zivilisation: 85% / 87% Wie man in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zusammenleben kann: 86% / 88% Förderung von Ökologie, Umwelt und internationaler Solidarität: 77% / 76% vertraut werden mit Glaubensvermittlung und –leben: 68% 64% Die Befragung erlaubt interessante Einblicke, was eine laut ILReS repräsentative Mehrheit unter der Bevölkerung beziehungsweise der Eltern über den Religionsunterricht und seine Alternativen denken. Sie ist m. E. innerhalb der Diskussion über die Einführung eines Einheitskurses als hochwertig einzuordnen, weil sie Meinungen in tatsächliche Zahlen übersetzt, statt sich lediglich auf subjektive Eindrücke, populistische Stimmungen und via Medien laut herausgerufene Minderheitsansichten zurückzuziehen. Die vorliegende Arbeit möchte es bei dieser Nutzung belassen, da die ILReS-Studie von 2008 sich abgesehen von der Einheitskursdiskussion, auf die im folgenden, 6. Kapitel der vorliegenden Arbeit noch präziser eingegangen werden wird, nicht weiter auf das kontextuale Forschungsinteresse anwenden lässt. 486 Besch / Estgen / Legrand (2008), S. 21. 206 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 5. 3 Zusammenfassung: Gelingen und Ertrag bisheriger Studien mit dem Thema „Religiosität“ in Luxemburg und weiterer Forschungsbedarf Die analytische Zusammenschau bisheriger Studien hat nachgewiesen, dass man sich dem Thema jugendlicher Religiosität immer wieder genähert hat und es bis heute tut. Gleichzeitig ist klar geworden, dass es an der Vergleichbarkeit mangelt: Bisher ist der Begriff der Religiosität ist nur vereinzelt im Vorfeld reflektiert und entsprechend auf die Itemstrukturen der Fragebögen angewandt worden. Auch wurden die Begrifflichkeiten von Religiosität und Kirchlichkeit nicht überall sauber getrennt, und es tauchen die üblichen Stereotypen gegenüber Religion auf. Man hat sich vielfach zu wenige Gedanken gemacht, welche Voraussetzungen die heutige Jugendgeneration mitbringt, um nach Religiosität befragt zu werden; und schließlich ist bei bestimmten Befragungen das Resultat – wenn es denn veröffentlicht wurde - nicht repräsentativ, weil es sich um eine bestimmte Klientel handelte, die keinen repräsentativen Überblick einer Gesamtbevölkerung bieten kann. Die vorliegende Arbeit hat diese Aspekte zu problematisieren, aufzuarbeiten und Grundlagen für eine zukünftige Empirie zu schaffen versucht. Wenn wir mit Jugendlichen über Religiosität reden wollen, müssen wir uns sehr genau überlegen, wie wir die Befragten ansprechen und wie wir formulieren.487 Das Messinstrumentarium vieler Studien ist problematisch in der Hinsicht, dass bei keinem der Beispiele Religiosität definiert wird, und so durchaus interessante Teilergebnisse nicht zu einem Gesamtbild vernetzt werden. Die in dieser Arbeit versuchte Darstellung des Religiositätsbegriffs in seiner Vielschichtigkeit möchte hierzu einen Neuansatz liefern. Außerdem ist zu problematisieren, dass abgefragte Begrifflichkeiten wie Gottesbilder usw. nicht grundlegend definiert wurden. Hier müsste eine erneute Umfrage wesentlich konkreter arbeiten. Zudem müssten die Auswahlkriterien für vorgeschlagene Glaubensinhalte vorher durchdacht und transparent sein: Wie frage ich Jugendliche, ob sie an die Erbsünde glauben, wenn ich möglicherweise gar nicht davon ausgehen kann, dass die Jugendlichen diesen Begriff verstehen? Gute Chancen auf aufschlussreiche Ergebnisse hätte eine empirische Annäherung an die Jugendlichen in Form von oder zumindest in Kombination mit Tiefeninterviews. Dies könnte die Möglichkeiten verbessern, insbesondere etwas über die subjektive Seite jugendlicher Religiosität zu erfahren. 487 Siehe hierzu auch Baader (2005): „Die Antwort auf die Frage, wie wichtig Religion heute für Jugendliche ist, ist in hohem Maße abhängig davon, wie sie gestellt wird.“ S. 14. 207 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Ein weiteres Defizit bisheriger Studien liegt in den Möglichkeiten, die Stärke von Religiosität zu veranschaulichen. Vielfach wird immer noch auf Kirchgang und Gebetspraxis allein verwiesen. Mit dem Huberschen Ansatz der Zentralitätsskala liegt hingegen ein Schema vor, das die klassischen Faktoren mit weiteren Aspekten zu einem Gesamtkonzept verbindet, das insbesondere jugendlicher Religiosität eher gerecht wird. Mit ihm können bestimmte religiöse Typen in einem Wertekreis verortet werden; die Zentralitätsskala ermöglicht es, Religiosität zu messen. Mit der Ausstellung „Glaubenssache“ wurde immerhin an einem Punkt der Mut gefunden, sich der religiösen Gretchenfrage erneut, und zwar auf aparte Art zu stellen. Wie bereits in Teilkapitel 3. 2. 7 dargestellt, werden hier neue Maßstäbe zur Beurteilung von Religiosität angesetzt. Ihre Konzeption, die bedauerlicherweise erstens ihre Auswertung nicht konsequent und durchdringlich in der Öffentlichkeit seinerzeit zu Gehör brachte und zweitens sich auf die Erwachsenenwelt konzentrierte, böte dennoch immerhin eine innovative Ideengrundlage. Wie in dieser Arbeit dargestellt, besitzen die Ideen Hubers zur Messung von Religiosität nützliches Potenzial für eine Befragung spiritueller und religiöser Grundhaltungen Luxemburger Jugendlicher. Der im 4. Kapitel dieser Arbeit errichtete Wertekatalog könnte die Konzeption des Huberschen Katalogs ergänzen. Es fehlen in Luxemburg umfassende sozialwissenschaftliche Untersuchungen, die das Phänomen der schwindenden Religion als Ganzes, auch etwa unter Berücksichtigung der familiären Verhältnisse, unter die Lupe nehmen. So beschreibt etwa die Gindt-Untersuchung die Ausbildung der Jugendlichen als überwiegend außerfamiliär stattfindend, womit er hinsichtlich der Berufsausbildung sicherlich Recht hat488. Jedoch berücksichtigt die Analyse nicht die bezüglich der religiösen Biografie entscheidende Rolle des Elternhauses. Familienreligiosität muss in zukünftigen Studien eine stärkere Bedeutung erhalten, als sie es bisher hatte. Mit Sicherheit ist die konkrete Durchführung einer solchen Studie mit einem hohen Aufwand verbunden. Auch wenn uns mit dem Huberschen Konzept eine gute Grundlage für die Messung zur Religiosität vorliegt, muss diese auf jeden Fall landesspezifisch 488 Gindt (1991), S. 23 f.: „Das Erlernen von Fähigkeiten für spätere Anforderungen geschieht zum größten Teil außerhalb der Familien.“ Gemeint ist damit die Arbeitswelt, jedoch muss man hier einschränken, dass auch diese profitiert von der bewussten Ausprägung bestimmter Werte, die der Gesellschaft als Ganzes zugute kommen und die eben anderen Theorien zufolge sehr wohl in großer Verantwortung bei den Eltern liegen. 208 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen modifiziert werden. Worauf dabei im Besonderen zu achten ist, das haben die beiden vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit mit der Analyse relevanter gesellschaftlicher Merkmale in Luxemburg darzulegen versucht. Warum die Ernstnahme einer Kulturtheologie so wichtig ist, damit möchte sich das folgende Kapitel noch eingehender befassen. 209 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 6 Resümee: Die Lebenswirklichkeit Jugendlicher in Luxemburg als Basis für christlich-religiöse Wertebildung und Konsequenzen für die Zukunft des Unterrichtsfachs MORCH 6. 1 Über die Notwendigkeit einer Kulturtheologie „So glaube ich nicht, daß wir als Europäer Begriffe wie Moralität und Sittlichkeit, Person und Individualität, Freiheit und Emanzipation … ernstlich verstehen heilsgeschichtlichen können, Denkens ohne uns die Substanz jüdisch-christlicher des Herkunft anzueignen.“ Jürgen Habermas, Philosoph489 Der Begriff der religiösen Inkulturation ist von verschiedenen Seiten aufgegriffen worden, so etwa von der Befreiungstheologie, beispielsweise um Leonardo Boff, die das Wort des Evangeliums in die heutige Zeit, konkret in die vielerorts sozial ungerechte Wirklichkeit Lateinamerikas holt und eine politische Umsetzung des Wortes Christi fordert, die sich in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten thematisieren lassen muss. Auch europäische Theologen wie etwa Luckmann oder Kaufmann bestimmen Religion als „eingebettet in den jeweiligen historischen Kontext der Gegenwart“ 490. Judith Könemann vergleicht Thomas Luckmanns Theorie mit der Franz-Xaver Kaufmanns, der zwar die These der Verlagerung der Religion in den Privatbereich unterstützt, jedoch betont wissen möchte, dass der Mensch zur Religion nur durch kulturelle und soziale Vermittlung gelangen kann.491 Heiligkeit hängt grundsätzlich von jeder Gesellschaft ab. In einer Industriegesellschaft sind andere Dinge heilig als bei Naturvölkern. Dass theologisches Denken schwer von konkreten historischen wie sozialen gesellschaftlichen Gegebenheiten vorstellbar ist, sieht auch der Theologe Albrecht Grözinger, der analysiert, was sich angesichts leerer Gotteshäuser und sterbender Gemeinden geändert hat. Er stellt fest, dass die Veränderungen der Gesellschaft 489 Habermas (1988), S. 23. Das Zitat ist bezogen auf die Theorie Luckmanns von 1996. Die Ansätze Luckmanns und Kaufmanns stellt Judith Könemann dar. Dies. (2002), S. 33-35. 491 Könemann (2002), S. 35. 490 210 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen nicht allein Bedrohung seien, sondern Chance. Grözinger betont das besondere Profil der Kirche gerade in dieser Zeit und bekennt freimütig: „Gewiß wird es ‚Theologie’ nur geben, wenn sie auf ‚Kultur’ bezogen und so immer auch in Kultur verwoben ist.“492 Er zitiert dabei unter anderem Henning Luthers Mahnrede,493 die die Wandlung der traditionellen Ansprache und Predigt angesichts postmoderner Bedingungen fordert. Bibel müsse sich im entsprechenden Gewand präsentieren. Mit Sicherheit sprechen einige Gründe für die kulturtheologische Idee. Sie ist ja eine der Grundlagen der vorliegenden Arbeit insofern, als Religiosität nicht nur in einem landespezifischen, sondern auch jugendsoziologischen Kontext beleuchtet worden ist und weiterer Forschungsbedarf in dieser Richtung als notwendig ausgewiesen wurde. Die Sinus-Milieustudie U27 (siehe Teilkapitel 3. 1. 6) hat hierzu in Sachen Datenerhebung interessante Ansätze geliefert, weil sie die Jugendlichen buchstäblich da abholt, wo sie stehen. Jedoch kommt man nicht umhin, auch Grenzen der Kulturtheologie aufzuzeigen, nämlich genau dann, wenn der Gegenstand selbst, die Religion, Opfer kultureller Willkür wird. Ein Querschnitt durch die moderne Bibelliteratur für Kinder lässt teilweise schon erschauern, denn der Markt bietet Altes und Neues Testament nicht selten so an, als handele es sich um eine in Wort und Schrift beliebig präsentierbare Geschichte. So werden biblische Figuren in dem Sinn „inkulturiert“ indem man, um nur ein Beispiel zu nennen, die Arche Noah mit einer Wäscheleine zeichnet, an der Unterwäschestücke hängen, die erst im 20. Jahrhundert auf den Modemarkt kamen.494 Auch die Sprache wird häufig heutigen Umgangsformen angepasst. Auch wenn es uneingeschränkt begrüßenswert ist, die Bibel Kindern verständlich zu übersetzen, sollte man doch nicht dem Reiz der Anbiederung durch Jugendjargon erliegen. Denn man sollte nicht vergessen, dass es sich hier doch um eine h e i l i g e Schrift handelt, die sich nicht mit anderen Gattungen ohne Weiteres vergleichen lässt und entsprechend besondere Umgangsformen erfordert. Bei aller Befürwortung, dass Kirche und Religion mit der Zeit und den Menschen gehen sollten, müssen bestimmte Fixpunkte ihre Gültigkeit behalten, um nicht den Ursprung und wahrhaften Charakter des Glaubens einzubüßen. Vor diesem Hintergrund müssen sich 492 Grözinger (1998), S. 58. Siehe hierzu Luther (1991). 494 Coplestone (2004) o. S. 493 211 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen dann auch Jugendbibel-Projekte wie etwa das der protestantischen Kirchen, Basis B,495 das sich in „cooler“ Aufmachung präsentiert, daraufhin prüfen lassen, ob sie der Maxime wahrhaftiger Wiedergabe der Schrift gerecht werden. Dass die Beurteilungsmarken nicht leicht zu stecken und Übergänge und Grenzen fließend sind, zeigt das folgende Beispiel von Hermann Timms, das Grözinger als gelungen beurteilt: „Denkbar wäre Folgendes: Von einer funktionslos gewordenen Altstadtkirche werden die Türen entfernt, damit sie Tag und Nacht öffentlich begehbar ist. Man räumt Sitzgelegenheiten aus, die an einen Hörsaal denken lassen, beseitigt die Orgel, die zum Musentempel prädestiniert, und kommt überein, in ihr keine Predigt und keinen Gottesdienst mehr zu halten. Nur historische Sakralarchitektur mit dem Kruzifix als Blickfang in der Apsis, über einer geschlossenen Bibel thronend, den ungelesenen Memoiren des Hausherrn von einst. Im übrigen Stille, Totenstille. Ruhe. Grabesruhe, wie auf dem Friedhof, dem Gottesacker. Menschenleere, Gottes-Leere. Metropolis, Nekropolis, wie ein protestantisches Mausoleum, von öffentlicher Hand und kirchlicher Lehre gemeinsam in dieser Bedeutung eingesetzt, um den vergessenen, verleugneten, verdrängten Kulturort der Urbanität zu erinnern – schweigend. (…)“496 Ich persönlich stelle mir mit diesem künstlerisch arrangierten Zugeständnis an Säkularisierung die Frage, ob man damit Kirche nicht früher für tot erklärt und damit ad acta legt als sie es tatsächlich ist beziehungsweise verdient. Religiöse Inkulturation bedeutet durchaus die Anerkennung realer Verhältnisse in Bezug auf transzendente Inhalte, nicht jedoch das Überlassen sakraler Orte denen, die vergessen haben – falls sie es überhaupt haben! Dies geht drei Schritte weiter als das immerhin schon auch umstrittene luxemburgische Projekt „Pimp my church“. Dann nämlich muss man Grözingers Frage seines Buchtitels, ob Kirche „noch zu retten“ sei, sicher mit Nein beantworten. Wie in Teilkapitel 3. 2. 5 aufgezeigt, gibt es in Luxemburg keine einheitliche Konzeption zur Förderung spiritueller Nachfrage. Angebotsversuche gibt es viele, sei es durch pimpmychurch, die Messdiener oder Pfadfinderverbände, jedoch bleibt dies Stückwerk. Schule als Ort der Bildung des ganzen Menschen muss ohnehin einen anderen Ansatz verfolgen als die Freizeitangebote: Hier geht es nicht um die inhaltlichen Interessen von Privatpersonen, die sich bei Vereinen oder auch der Kirche an- und wieder abmelden können. Schule darf selbstverständlich nicht der lange Arm der Kirche oder jener 495 496 Eine Kopie der Werbebroschüre findet sich im Anhang dieser Arbeit. Timm (1990), S. 132. 212 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Vereine sein. Dennoch muss hinsichtlich der Erfassung, wie Jugendliche spirituell und religiös erstens zu verstehen und zweitens öffentlich-schulisch zu fördern sind, Schluss sein mit der Stigmatisierung der unterschiedlichen Meinungsgruppen. Die Diskussion, ob das Land Luxemburg einen Einheitskurs statt des bisherigen zweigliedrigen Systems braucht, kann nur fair geführt werden, wenn man sich argumentativ von den Geistern der Vergangenheit – sei es aus der Kirche wie aus der praktischen Philosophie - trennt und den Diskurs auf der modernen Sachebene führt, die sich an den tatsächlichen heutigen Bedürfnissen der Jungen und Mädchen, die unsere Schulen besuchen, orientiert. 6. 2 Luxemburg als Ort für Religiosität Die Untersuchungen dieser Arbeit haben gezeigt, dass trotz einer relativ homogenen katholischen Religionslandschaft sich kein eindeutiges Bild bezüglich der Religiosität Luxemburger Jugendlicher ergibt. Bisherige Studien vermochten es nicht, überzeugende und gesamtgültige Beschreibungen zu liefern. Dass wir Jugendlichen die Frage nach Religiosität durchdachter antragen müssen, ist eines der wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Arbeit. Im luxemburgischen Alltagsleben finden wir eine Menge Spuren gelebter Religiosität bei Jugendlichen, die sich nicht etwa allein in der Teilnahme an religiösem Brauchtum äußert, sondern der wir uns mit der Neudefinition von Religiosität und Spiritualität sowie dem Aufspüren der Eventkultur angenähert haben. Insofern hat Religiosität für Jugendliche in Luxemburg innerhalb einer weitgehend säkularisierten Alltagswelt eine lebensweltliche Bedeutung. Doch ist ebenfalls klar geworden, dass es eine Menge Anzeichen für eine Schwächung der Religion im gesamtsozialen luxemburgischen Konzept gibt, was sich unter anderem in der öffentlichen Haltung zum RU äußert. Es ist zudem auch klar geworden, dass jenseits von Brauchtum und Kirchlichkeit eine Religiosität herrscht, die nach bisherigen gängigen Mustern nicht erfasst worden ist. Dem Engagement der Jugendpastoral in Luxemburg ist es zuzuschreiben, dass der schrittweisen Marginalisierung der Religion in den Schulen seitens der Kirche entgegengesteuert wird. Ob dies angesichts sich auflösender familiärer Strukturen langfristig 213 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen erfolgreich sein kann bleibt abzuwarten. Weiterhin müssen wir die Prägungsorte jugendlicher Religiosität, und hier insbesondere die Familie, stärker miteinbeziehen. Bevor eine empirische Studie angelegt ist empfehlen die bisherigen Erkenntnisse ein Überdenken der religionspädagogischen Konzeptentwicklung für Luxemburgische Jugendliche. Bereits im Vorfeld lässt sich vermuten, dass die „Ich-Einsamkeit der Neuzeit“ (Buber) es den Jugendlichen schwer macht, Religiosität in einem Du zu finden. Dieses Du jedoch ist Ausgangspunkt für die religiöse Identitätsfindung. So konstatiert auch Schmälzle: „Bildung der Persönlichkeit ist kein machbarer Prozeß. Er beinhaltet Erleben und Erfahren, Brücke und Trennungen. Identitätsfindung und Selbsterfahrung setzen existenzielle Begegnungen und Konfrontationen voraus.“497 Wenn wir Religiosität in Luxemburg erwarten oder vermissen, müssen wir weiterhin nach dem Umfeld fragen, in dem sich Religiosität entwickeln kann. Udo Schmälzle stellt vier Prinzipien auf, nach denen eine interpersonale Du-Begegnung bei der Entwicklung von religiöser Identität stattfindet: 1. Die Identitätsfindung des Menschen lebt von personaler Begegnung von Mensch zu Mensch. Diese Begegnungen bilden den Wurzelgrund (positiv wie negativ) für den Beziehungsaufbau zwischen Mensch und Gott. 2. Menschliche Grunderfahrungen wie „lieben“, „glauben“ und „hoffen“ sind Du-vermittelt. 3. Begegnungsgeschehen ist nur begrenzt begrifflich zu fassen und zu objektivieren. Die betrifft den Geheimnischarakter von Ich- und Du-Erfahrungen. 4. Begegnung ist nicht machbar. Dieses Prinzip berührt den Freiheitscharakter zwischenmenschlicher Beziehung und der Begegnung zwischen Mensch und Gott.498 Wenn diese Thesen auf den ersten Blick auch plausibel erscheinen mögen, sprechen doch gewichtige Argumente dagegen, sie inhaltlich im schulischen Rahmen auf die heutige junge Generation Eins-zu-Eins anzuwenden: Der Schüler müsste, bevor er in einen Dialog mit anderen Glaubensweisen und Weltanschauungen eintreten könne, zunächst selber religiös beheimatet und sich seiner konfessionellen Identität sicher sein. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass das Christentum selbst in vielen Familien zur „Fremdreligion“ geworden ist. Wir können heute kaum noch von einer religiösen Beheimatung der Schüler 497 498 Schmälzle (1999/2000), S. 38. Ebd. 214 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen sprechen, die im Unterricht gestärkt und gefestigt werden könnte. Zweitens widerlegt die Praxis die These, dass der RU zur konfessionellen Identitätsbildung beiträgt und dadurch Voraussetzung für interreligiöse Dialogfähigkeit schafft. Auch wenn dies aus Sicht des Religionslehrers und der Kirche sicher ein anzuerkennendes Herzensanliegen sein mag und es auch sein soll (!), ist dies in der Praxis weder umsetzbar noch gewünscht, da es mit zunehmend mit dem Anspruch, der RU solle nicht (mehr) missionarisch tätig sein, zusammenprallt. Aus meiner Erfahrung sehen sich die allerwenigsten Fachkollegen der „Instruction Religieuse et Morale“ in dieser veralteten Rolle, freilich sehr wohl aber als jemand, der als selbst Glaubender dem Schüler eine Begegnung mit dem Glauben ermöglicht. Insofern wäre die erste These zumindest potenziell im Unterricht erfahrbar, wenn es einen RU gäbe, nicht jedoch bei einem Einheitskurs, der von einem Nicht-Theologen gehalten würde. Als inhaltlich sehr aufschlussreich erweisen sich die Daten, die die Konferenz der Religionslehrer Luxemburgs als Überblick über den Religionsunterricht in Europa sammelte. Sie stellte mittels einer genauen Betrachtung der thematischen Materie für jedes einzelne EU-Land fest, dass von siebenundzwanzig EU-Ländern lediglich vier keinen RU anbieten.499 Es wurde erhoben, dass dreiundzwanzig EU-Mitgliedsstaaten die „Idee einer sogenannten ‚wertneutralen’ und konfessionsunabhängigen Religionskunde als beste Lösung für eine demokratische, interkulturelle Erziehung“ nicht teilen und der Meinung sind, dass die „gesellschaftstragende Werte wie Toleranz und Respekt in einem frei wählbaren Modell des Wertunterrichts verwirklicht werden“ könnten.500 Die Konferenz der Religionslehrer argumentiert daher, dass die „demokratische Entscheidung zwischen RU und alternativem Werteunterricht (...) somit eine erprobte und bewährte Praxis (sei), die auch von den in der EU direkt verantworteten Europaschulen angeboten“ werde.501 Aus ihrer Sicht sollte dies zum Überdenken einiger „festgefahrener ideologischer Positionen“ auffordern.502 Um einen weiteren inhaltlichen Diskussionsbeitrag jenseits beider vorgetragenen Argumente für oder gegen einen schulischen Einheitskurs zu leisten, wäre ein 499 Conférence des professeurs (...) (2008), S. 61. Hierzu wird weiter erklärt : „Dazu gehören mit Ungarn und Slowenien 2 ehemalige ‚Ostblock-Staaten’, in denen während über 50 Jahren kommunistischen Regimes jegliche Ausdrucksform von Religion verboten war.“ Frankreich hat keinen eigenen Wertunterricht, und Schweden hat das nicht-konfessionell konzipierte Pflichtfach „Religionskunde“. Ebd. 500 Ebd. 501 Ebd. 502 Ebd. 215 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen aktives Nachfragen mittels einer neu angelegten empirischen Studie besser als Warten. Es gibt zu wenig Forschung in diesem Bereich. Das Zusammenbringen von Jugend und Religiosität wird in der Öffentlichkeit immer wieder als schwierig und erfolglos, gar als nicht notwendig beklagt, gleichzeitig gibt es angesichts der wachsenden menschlichen Aufgaben in Europa und auf der gesamten Welt sowie in der aktuellen luxemburgischen Bildungsdebatte durchaus Stimmen, die die Wertediskussion jenseits abgedroschener Floskeln ergebnisorientierter führen wollen. Auf diesen Aspekt möchte ich im nachfolgenden Teilkapitel 6. 3 noch einmal zurückkommen. 6. 3 Brauchen Luxemburgs Kinder und Jugendliche einen Einheitskurs? Eine resümierende Bewertung. Die Beantwortung dieser Frage am Ende dieser Arbeit hat keinen Absolutheitsanspruch. Vielmehr fasst sie die Resultate der Teilkapitel aus ihrer jeweiligen, unterschiedlichen Perspektive zusammen. Es ist klar geworden, dass Jugendliche in Luxemburg sich einer ganz spezifischen Realität zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit gegenübersehen. Zweitens habe ich neben der Feststellung eines weiteren Forschungsbedarfs mittels wissenschaftlicher Studien eine Definition von Religiosität erarbeitet, die sich von den gängigen Mustern unterscheidet. Ein Kernpunkt hierbei war der Aspekt menschlicher Spiritualität. Wenn schulische Bildung dieses Bedürfnis bei Schülern bedienen will, muss es entsprechende Programme beziehungsweise Lehrpläne gestalten. Die Programmkommission des Fachs „Instruction Religieuse et Morale“ stellt sich dem folgendermaßen: „Spiritualität: Die Bedeutung und die Herausforderung von Spiritualität als bewussten, ganzheitlichen Bezug zu Gott, zum Ganz Anderen“ und zum Sein für sich entdecken und sie gegebenenfalls im Alltag nachvollziehen lernen Die eigenen Bedürfnisse und Widerstände gegenüber Spiritualität wahrnehmen und verstehen Eine persönliche Spiritualität weiterentwickeln Sich spirituellen Ansätzen und Überzeugungen anderer Menschen und Kulturen öffnen, sich 216 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen kritisch damit befassen und sie respektieren lernen.“503 Das Programm des Fachs FOMOS – unter dem Titel „Kerncurriculum der ‚Praktische Philosophie’“ - ist bereits in Teilkapitel 3. 2. 1 betrachtet worden. Insgesamt ist festzustellen, dass es sich nicht zur Spiritualität äußert. Bei der theoretischen Konzeption eines Einheitskurses müsste darauf verwiesen werden, dass bisher allein das Fach „Instruction religieuse et Morale“ diesen besonderen, partikulären Bildungsinhalt Ernst nimmt und explizit in sein Curriculum integriert. Zudem muss man sich zweitens fragen, wer diesen s p i r i t u e l l e n Bildungsinhalt am besten zu vermitteln vermag. Wenn Schüler etwas über religiösen Glauben lernen sollen, gelingt dies am authentischsten mit Lehrkräften, die selber einen Glauben haben. Dabei geht es explizit nicht (mehr) darum, den Schülern diesen Glauben auch b e i z u b r i n g e n – wie eben der Mathematiklehrer das Rechnen oder der Sportlehrer das Turnen am Reck usw. -, sondern um die Erfahrung für die Schüler, jemandem zu begegnen, der eine „Innensicht“ auf eine Religion hat. Dies ist dem Vorwurf der Jonk Greng entgegenzusetzen, wenn sie behaupten, die katholische Kirche nutze ihre Vormachtstellung geschickt aus, um auch in der Schule ihre Weltanschauung durchzusetzen, und einen „einheitlichen weltanschaulich-neutralen Ethik- und Sozialkundeunterricht“ anstelle des religiösen Werteunterrichtes fordert. Auf dem Lehrplan steht selbstverständlich nicht nur das Christentum, sondern alle großen Weltreligionen sowie Sekten und vieles Weitere. Jedoch stellen sich bei allen Religionen allen immer wieder dieselben grundsätzlichen Fragen, etwa nach dem Wie und Warum des Glaubens, nach Zugehörigkeitsgefühl, nach Ängsten und vielem mehr, und diese Antworten können nur beantwortet werden, wenn die betreffende Person entsprechende Erfahrungen in einem Glauben (gemacht) hat. Darüber hinaus vermittelt der RU inhaltlich ein in Nuancen entscheidend anderes Menschenbild als seine Mitstreiter FOMOS und der theoretisch angedachte „Einheitskurs“, wie der Religionslehrer André Siebenaller m. E. pointiert beschreibt: „Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Alternativfächer (konfessionsgebundener RU und konfessionsunabhängiger Ethikunterricht) nur wenig. Oft wird das Gleiche behandelt. Zumindest zwischen Ethik im RU und philosophischem Ethikunterricht gibt es thematisch und inhaltlich kaum Unterschiede. Es geht um Liebe und Freundschaft, um Freiheit und Verantwortung, um Glück und Leid, um Solidarität und Gerechtigkeit, um die Grenzen des Lebens, um das Woher und Wozu, und um die eigene Identität. Die Fragen Was kann ich 503 Quelle: http://www.religionslehrer.lu/dokumente/erklaerungen_RL/Objectifs%20generaux_CN2002.pdf. 217 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen? bestimmen beide Fächer. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass für den Religionsunterricht ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen moralischem Verhalten und tradiertem christlichen Glauben, während für den Ethikunterricht versucht wird, allein aufgrund der Vernunft einen ethischen Minimalkonsens für alle Menschen, gleich welcher Weltanschauung, zu formulieren.504 Auch Rita Jeanty, Sekundarschullehrerin für Philosophie und „Formation morale et sociale“ sowie Vertreterin der Menschenrechtskommission in Luxemburg, äußerte sich gegenüber dem Radiosender 100,7 während eines Interviews505 zum Thema „Werteunterricht überzeugt, der Mensch sei ein metaphysisches Wesen, und Kinder stellten dem Lehrpersonal Fragen, auf die es vorbereitet sein müsse, um diesen Fragen nicht aus dem Weg zu gehen. (An diesem Punkt ergibt sich m. E. erneut die Anfrage an die Ausbildung des Lehrpersonals!) Weiterhin, so Jeanty, wünsche sie sich bei einem Einheitskurs keinen reinen Wertekatalog, sondern die Förderung insbesondere der folgenden drei Kompetenzen: 1. Sozialkompetenz, 2. interkulturelle Dialogfähigkeit und 3. ethische Urteilsfähigkeit. In solch einem Unterricht solle es um die Vermittlung „universeller Werte für die persönliche Lebensorientierung sowie um fundamentale Verfassungswerte“506 gehen. In beiden bereits bestehenden Fächern, RU wie FOMOS, geht es um Wertevermittlung allgemein anerkannter Werte. Der fundamentale Unterschied ist jedoch der, dass der RU diese Werte auf einer religiösen Grundlage, also auf Transzendenz und Gottesglauben begründet sieht, während der Werteunterricht sie auf einer nichtreligiösen Grundlage aufbaut.507 So erläutert Religionslehrer André Siebenaller: „Es ist also in ihren je eigenen Ansätzen, in denen sich RU und Werteunterricht grundsätzlich voneinander unterscheiden: einerseits ein Weltbild und eine Weltanschauung mit Bezug auf Transzendenz und Gottesglauben und andererseits ein Weltbild und eine Weltanschauung ohne diesen Bezug. Jedoch ist der Lehrer-Ansatz hier ( = im WU) (...) derjenige des „aufgeklärten“ Religionssoziologen, der aus der Perspektive des nicht-gläubigen Wissenschaftlers das „Phänomen Religion“ zu erklären versucht.“508 Die Frage stellt sich erneut, welche Fachausbildung die Lehrperson mitbringen muss, um dies zu leisten, und ob 504 Siebenaller (2007), S. 18, Hervorhebung von mir, S. D. Das komplette Interview ist zu hören auf http://1007.valain.com/files/oldmp3/63398_150_invitevirum-Dag.mp3. 506 Unter dem Begriff „Wert“ versteht Rita Jeanty „alles, was schützenswert ist“. Ebd. 507 Vgl.Siebenaller (2007), S. 18. 505 218 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen es bei einem lediglich nicht gläubigen, religionssoziologischen Hintergrund nicht beim Erklärungsv e r s u c h bleibt. Im Unterschied zu Kollegen anderer Disziplinen sind Religionslehrer nicht „willkürlich“ gegenüber Wertvorstellungen und sind daher in jeder Hinsicht befugt und berechtigt, die Wertevermittlung innerhalb der Ausbildung Jugendlicher zu verantworten. Im Allgemeinen kann der RU in Luxemburg auf fundiert ausgebildete Religionslehrerinnen und -lehrer zurückgreifen: Im Primärunterricht benötigen die Lehrkräfte ein „Diplôme de fin d’études secondaires classiques/techniques“ und eine dreijährige Ausbildung am „Institut cathéchétique“; im Sekundarbereich braucht der Religionslehrer ein „Diplôme de fin d’études secondaires classiques/techniques“ und mindestens ein vierjähriges Studium der Religionswissenschaften und/oder Theologie an einer staatlich anerkannten Universität. Wie bei Lehrern anderer Fachdisziplinen auch müssen die Religionslehrer ihren „Stage pédagogique“ an der Universität Luxemburg absolvieren.509 Bereits im Oktober 1985 verabschiedeten die Religionslehrer ihre „Principes de Base“ und 1986 zwei Resolutionen zum schulischen Wertunterricht, unterstützt und weitergeführt durch die allgemeine Einführung nationaler Lehrplankommissionen für alle Fächer (règlement grand-ducal vom 8. August 1985).510 Außerdem sind nach der Reform des Sekundarunterrichts durch das Gesetz vom 22. Juni 1989 die Religionslehrer mit allen anderen Lehrern gleichgestellt, da an sie die gleichen Anforderungen bezüglich Ausbildung und Einstellung gestellt werden. Außerdem garantiert der „conseil national de formation morale et sociale“ die Förderung philosophischer wie ideologischer Objektivität sowie Weiterbildungsmöglichkeiten.511 An den öffentlichen wie privaten Schulen Luxemburgs sind es gerade und a l l e i n die Religionslehrer, die sich per Definition ihrer Fachdisziplin für die Seelsorge der Jugendlichen einsetzen und so mithelfen, den Jugendlichen ein Aufwachsen mit christlich-sozialen Werten zu ermöglichen, die sie heutzutage nicht mehr beliebig und überall finden. Neben dem Anspruch eines affektiven, ganzheitlichen Bildungsanspruchs (vgl. Erkenntnisse aus dem 4. Kapitel) an das Luxemburger Schulsystem ist als Nächstes auch der kulturelle Bildungs(mehr?)wert eines Einheitskurses zu hinterfragen. Dass es 508 Ebd. Vgl. Conférence des professeurs (...) (2008), S. 36. 510 Vgl. Gindt (2002), S. 3. 511 Ebd. 509 219 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen jenseits über Debatten über Religiosität eine Notwendigkeit zu religiöser Bildung auf der reinen Sachebene gibt, ist unbestritten und bereits in Teilkapitel 4. 2 angeklungen (Stichwort „religiöser Bildungsnotstand“). Dies wird auch von Gegnern des klassischen RUs wie Rita Jeanty gewünscht. Auch sie ist der Meinung, Religion gehöre in die Schule und zur Bildung gehöre unbedingt Wissen über Religionen. Die Schüler müssten auch die GenesisTheorie kennen und auch ins Museum gehen und einen Altar identifizieren können.512 Sie vertritt jedoch die Ansicht, dies könne rein religionswissenschaftlich vermittelt werden. Die Erkenntnis der Notwendigkeit religionskundlicher Wissensvermittlung teilt auch der Theologe Stefan Orth, der sich mit der Einführung des Ethikkurses als Ersatz für den RU in Berlin und Brandenburg befasst hat: Auch er hält es für wichtig, dass „alle Schüler ein Minimum an religionskundlichem Wissen besitzen, um die Welt, angefangen von ihrem unmittelbarem Umfeld bis hin zum kulturellen Leben und zur großen Politik, besser zu verstehen. Dass selbst in Frankreich, dem Paradebeispiel des Laizismus, heute allgemein anerkannt wird, dem ‚fait religieux’ auch an den staatlichen Schulen mehr Beachtung zu schenken, bestätigt diesen Trend eindrucksvoll.“513 Wahrscheinlich finden wir bei dieser Einzelfrage innerhalb der Einheitskurs-Debatte eine Übereinstimmung der Positionen: Beide Seiten wünschen inhaltliche religiöse Kulturbildung, und diese kann theoretisch auch von Nicht-Theologen vermittelt werden. Ein Mindestmaß ist jedoch immerhin ein religionswissenschaftliches Studium; ein rein philosophischer Hintergrund reicht hier m. E. nicht aus, denn fachlich inkompetente Glaubenstypen Bildung vergrößert (Nicht-Gläubige die mit Gräben zwischen eingeschlossen). Man den unterschiedlichen könnte in diesem Zusammenhang möglicherweise allerdings die absolute Notwendigkeit einer Mission canonica hinterfragen – ein Vorschlag, der der Amtskirche vielleicht missfallen mag, aus pragmatischen Gründen als Zugeständnis gegenüber den erklärten Gegnern des bisherigen RUs gesehen werden könnte. Diese zwei Kompromisse machen jedoch keinesfalls die zuvor angeführten Argumente für die Berechtigung des Faches „Instruction Religieuse et Morale“ zunichte. So kann man dem Religionspädagogen Gerd Laudert-Ruhm, der 2009 mit seinem Buch „Religion gemeinsam lernen“ einen Beitrag zur Diskussion über den RU leisten wollte, in 512 Siehe ihre Aussagen im o. g. Interview: http://1007.valain.com/files/oldmp3/63398_150_invitevirum Dag.mp3. 220 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen einigen Fragen, zustimmen, etwa wenn er meint, Ziel eines schulischen Unterrichts in Religion seien religiöse Bildung, religiöse Orientierung, religiöse Urteilsfähigkeit, religiöse Mündigkeit, kurz die Vermittlung religiöser Kompetenz, während Glaubens-Unterweisung Sache der Religionsgemeinschaften ist und nicht in der öffentlichen Schule durchgeführt werden solle.514 Liest man das Programm des Fachs „Instruction Religieuse et Morale“ am Luxemburger Sekundarbereich, kommt man zu dem Ergebnis, das Laudert-Ruhms Vorstellungen hier umgesetzt werden. Auf die Frage, wieso überhaupt Religion in der Schule (bzw. im gemeinsamen Ethik- und RU) unterrichtet werden soll, antwortet Gerd Laudert-Ruhm, dass religiöse Bildung in der öffentlichen Schule unabdingbar ist – aus folgenden Gründen:515 1. Der Mensch ist offensichtlich ein metaphysisches Wesen. Auch diejenigen Schüler, die keine religiöse Erziehung erfahren haben, stellen religiöse Fragen. 2. Religiöse Bildung ermutigt die Schüler zu einer kritischen Selbstaufklärung in Bezug auf ihre eigene und andere Religionen und kann insofern ein wirksamer Schutz gegenüber den Gefahren des religiösen Fundamentalismus bieten. 3. Religiöse Bildung trägt zur interkulturellen und interreligiösen Verständigung bei. 4. Die Schüler des 21. Jahrhunderts sollen die Möglichkeit erhalten, sich selber mit religiösen Fragen aus-einander zu setzen, sodass ihnen als religiöse Identität nicht einfach die Religion der Eltern zugeschrieben wird. 5. Religiöse Bildung ist auch für konfessionslose Schüler wichtig, damit ihnen nicht weite Bereiche unserer kulturellen Tradition gänzlich verschlossen bleiben. Auch diese vier Aspekte sind aus meiner Sicht vollständig zu unterschreiben. Jedoch kommt Laudert-Ruhm für Deutschland zu einem anderen Ergebnis, nämlich dass der konfessions-gebunde RU an den (Grund-)Schulen keine Zukunft habe. Laudert-Ruhm fordert ein Fach, das „integrativ und interreligiös ausgerichtet sein, keine Glaubensvermittlung intendieren, sondern eine grundlegende religiös-ethische Bildung aller Schüler im Sinne des Erwerbs einer religiösen Kompetenz (neben anderen) vermitteln“ 516 soll. Dem ist zu entgegnen, dass dies der RU in Luxemburg – zumindest am Sekundärbildungsbereich wie gezeigt -inhaltlich wie organisatorisch voll erfüllt. Die 513 Orth (2009), S. 57 f. Vgl. Laudert-Ruhm (2009), zitiert nach der Rezension von Origer http://www.thierryoriger.lu/ReligionGemeinsamLernen.pdf. 515 Ebd. 516 Vgl. ebd. 514 221 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Diskussion über den Religionsunterricht an Luxemburger Grundschule soll an dieser Stelle nicht eröffnet werden. Das Votum der Luxemburger Bevölkerung sowie auch der Eltern schulpflichtiger Kinder ist mit der ILReS-Studie 2008 in Kapitel 5. 2. 6 behandelt, zum Religionsunterricht noch einmal deutlich geworden: Sie wünschen sich ausdrücklich die Wahlfreiheit zwischen den beiden bestehenden Fächern MORCH und FOMOS. Als Gründe hierfür werden prioritär gleichwohl nicht die religiöse oder spirituelle Bildung per se genannt – die platziert sich auf den dritten beziehungsweise vierten Rang mit der Zustimmung von rund 50% der Befragten, die meinten, Religion sei Teil einer guten Ausbildung, so wie 46% denken, ein gutes Verständnis von Religion sei in einer globalisierten Welt wichtig. In diesem Zusammenhang sei auch Stefan Orths These über den Beibehalt eines RUs in Deutschland herangezogen: Selbst wenn der RU sich nicht auf die ethische Reflexion beschränkt, so spielt sie hier doch eine wichtige Rolle und „selbstkritisch müssen sich die Verfechter (eines Ethikkurses im Sinner eines Einheitskurses) vielmehr auch fragen, ob nicht viele Eltern, die persönlich nur wenig Glaubenseifer zeigen, für ihre Kinder aber das Fach Religionslehre wünschen, vor allem an einer Werteerziehung interessiert sind, mit der sie sich selbst schwer tun“517. Bleibt der Vorwurf, der (christlich-katholische) RU diskriminiere Gruppen anderer Glaubensrichtungen, weil er die Infrastruktur der Schule benutzen dürfe, um den Schülern seine Weltanschauung nahe zu bringen (siehe Teilkapitel 3. 2. 2)? Dann muss sich ein potenziell anstehender Einheitskurs die Anfrage gefallen lassen, ob er wirklich weltanschaulich so neutral ist, wie er vorgibt, oder ob er, mit Wolfgang Thierses (deutscher Bundestagspräsident a. D.) Worten nicht eine „absichtsvolle Relativierung von religiösen Überzeugungen“ betreiben würde.518 Dass der Staat einen Einheitskurs organisiert, der betont religionsskeptisch ausfällt, wäre eben auch k e i n e s f a l l s h i n n e h m b a r !519 In einer pluralistischen Gesellschaft, die ihre Religionsfreiheit Ernst nimmt, dürften alsdann weder der RU noch ein Einheitskurs die alleinige Werteerziehung für alle Schüler beanspruchen. 517 Orth (2009), S. 56, Hervorhebung von mir, S. D. Zitat und Überlegung vgl. auch bei Orth (2009), S. 56. 519 Vgl. hierzu auch Orths Haltung gegenüber einem Ethikkurs in Berlin / Brandenburg. Ebd. 518 222 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Ob es den Gegnern des RUs gefällt oder nicht; ob es zukünftig auch auf Drängen der Luxemburger Politik einen Einheitskurs geben wird oder nicht: Religion ist Teil unserer Gesellschaft. Unser Bildungssystem muss darauf professionell eingehen, und zwar mit Lehrkräften, die fundiert ausgebildet, wenn freilich auch von frömmelnden Lehrplänen distanziert sind. Es ist ein Irrglaube zu meinen, dass eine weltanschauliche und religiöse Neutralität die Schüler orientieren würde. Wertvorstellungen sind immer auch in der Lehrerpersönlichkeit mit ihrer Biografie, ihren Erfahrungen und Überzeugungen verankert. Die im zweiten Kapitel dieser Arbeit vorgenommene Neudefinition des Religiositätsbegriffs legt Zugeständnisse an die Inkulturation der Religiosität nahe. Jedoch hat sie nie den Horizont für beliebig aufsuchbare religiöse Bildungsorte eröffnet und will schon gar nicht das Abtreten ureigener Inhalte fordern. Jede Disziplin hat ihre spezifische Zugangsweise, und die Rose bleibt eine Rose, wenn auch von jedem Fach anders betrachtet: literarisch als Symbol der (zuweilen gefährlichen, hochmütigen) Schönheit, biologisch als „Strauchgewächs mit unpaarig gefiederten Blättern“ aus der Gattung der Rosengewächse, historisch als Zeichen für ein Herrscherhaus Englands, chemisch zerlegbar in Teilchen, religiös als Bild für Maria und so weiter. Die Religionslehrer sollten nicht der Idee verfallen, sich ihren Anteil an der Rose sozusagen „fachentfremden“ zu lassen. 223 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen 7 Ausblick: Über den Beitrag religiöser Subjektwerdung – Ein Plädoyer Brauchen Kinder Religion? Zunächst wehre ich mich gegen diese Frage. Es gibt Dinge, die sich nicht durch ihre Zwecke rechtfertigen lassen: die Lieder, die Gedichte, die Küsse, die Muße, das Gebet. Wer diese Dinge von ihren Zwecken her beschreibt, verdirbt sie. Ich kann niemanden mit Zweckabsichten küssen; ich kann nicht Gedichte lesen und Lieder singen mit anderen Absichten, als sie zu lesen und zu singen. Die köstlichsten Dinge sind nicht von ihren Zwecken her zu beschreiben.“ Fulbert Steffensky, Religionspädagoge520 Wurde im vorletzten Kapitel dieser Arbeit die Berechtigung des Faches „Instruction Religieuse et Morale“ diskutiert und schließlich argumentativ begründet, beschäftigt sich diese Arbeit abschließend mit der Frage, welchen Wert Religiosität in unserer heutigen Gesellschaft hat. Zum einen ist mir dies nach einer möglichst sachlichen analytischen Bearbeitung des Themas dieser Arbeit ein persönliches Anliegen. Zum zweiten wird die katechetische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen innerhalb der Pfarrgemeinden und auch in den Schulen mit großem finanziellen und personellen Engagement betrieben. Schule, Staat und Kirche lassen sich den RU eine Menge Geld kosten. Aber brauchen Jugendliche Religiosität jenseits ihres oben erörterten Bildungsmehrwerts? Diese Frage scheint auf den ersten Blick gleichbedeutend zu sein mit „Brauchen Jugendliche Religion?“ oder „Brauchen Jugendliche Religionsunterricht?“. Wenn Schüler sich von religiösen Familienritualen verabschieden, vom RU abmelden oder sich überhaupt nicht mit dem Thema auseinandersetzen wollen mit dem Satz „Ich bin nicht religiös“, scheinen wir dies hinnehmen zu müssen – oder nicht? Der Journalist Christian Weber stellt fest: „Der kirchliche Gott (...) mag kränkeln, die Religion lebt auch hier. Vor allem aber ist die Gretchenfrage intellektuell wieder salonfähig geworden. (...) Das macht vor allem Wissenschaftler nachdenklich, die meinen, dass man heute auf die Hypothese Gott nicht mehr angewiesen sei. Sie fragen: Mal abgesehen von der Wahrheitsfrage, macht der Glaube glücklicher und gesünder? Dienst er der Gesellschaft? Oder gibt es noch andere gute 520 Steffensky (2006), S. 11. 224 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Gründe, wieso Menschen zu Beginn des dritten Jahrtausends Religion noch brauchen könnten? Was also nützt Religion?“521 Religionssoziologen wie Harvey Cox hatten in den 1970er Jahren uneingeschränkt vorhergesagt, dass moderne Gesellschaften auch säkulare Gesellschaften sein würden: Die Stadt ohne Gott (Cox) galt als das Modell der Moderne. Je moderner, desto säkularer würden die Strukturen des Bewusstseins sein. Diese Auffassung hat sich – glücklicherweise – bisher nicht bestätigt, und es gibt eine Reihe Gründe, warum sie es auch nicht sollte. Dem Religionspädagogen Stefan Meyer-Ahlen, dessen Forschungen sich mit ethischem Lernen beschäftigen, betont die Bedeutung der Religion in den »Dimensionen« Verantwortlichkeit, Relation, Freiheit, Akzeptanz, Versöhnung und Orientierung. Aus deren Bedeutung erwächst für Staat und Gesellschaft die Verpflichtung, eine freiheitliche Wertentwicklung und Werterziehung in der Schule zu ermöglichen.522 Ein Werteunterricht erzieht, nimmt man religionspädagogische und –soziologische Erkenntnisse Ernst, nicht durch bloße Information. Religiöse Bildung leistet einen gesellschaftlich wichtigen Beitrag, denn sie besitzt einen Mehrwert, den ich anhand folgender Thesen herleiten möchte. 1. Religiosität fordert nicht nur moralisches Handeln, sondern begründet es auch. Griffig formuliert es Hans Küng „Auch der Mensch ohne Religion kann ein echt menschliches, also humanes und in diesem Sinn moralisches Leben führen; eben dies ist der Ausdruck der innerweltlichen Autonomie des Menschen. Doch eines kann der Mensch ohne Religion nicht, selbst wenn er faktisch für sich unbedingte Normen annehmen sollte: die Unbedingtheit und Universalität ethischer Verpflichtung begründen.“523 Ich möchte Küng in vollem Maße zustimmen, denn es gibt keine wirkliche Dringlichkeit oder Notwendigkeit, die den Menschen zu veranlassen könnte, ethisch am Nächsten zu handeln, außer einer für alle gültigen „transzendenten Autorität“, die ein unbedingtes Absolut darstellt. Diese Gedanken Küngs seien im Zusammenhang mit jugendlicher Religiosität lediglich in folgendem Sinne relativiert: Jugendliche sind in dieser pluralistischen Welt des Wohlstands und Multioptionalität in einer unerbittlichen Art von Zwängen 521 Weber (2006), S. 70 f. Vgl. Meyer-Ahlens Ausführungen in seinem Aufsatz im Werk von Hans Joas “Braucht Werteerziehung Religion?“, nachgewiesen als Meyer-Ahlen (2007). 523 Küng (1990), S. 75. Hervorhebung von mir, s. o. 522 225 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen umgeben, die eine Hinterfragung, wie Küng sie erwartet, nicht immer zulässt. Echte Religion, die sich auf das Absolute bezieht, hat dann eine Chance, wenn sie ganz bewusst gewollt und gefördert wird. Dies bedeutet ein Um- beziehungsweise Weiterdenken und auch Weiterführen bereits angetretener Wege des Aufbruchs: Die Religiosität Jugendlicher kann nur gelingen durch eine Kooperation der Bildungs- und Erziehungswelten Schule und Familie. Letztere erscheint mir auch deswegen entscheidend, weil durch die Entkopplung von Religiosität und kirchlicher Konfessionalität institutionelle Bemühungen – mögen sie noch so professionell und gut gemeint sein - nur eine untergeordnete Rolle spielen. Sie betreffen meist nur die Jugendlichen, die in irgendeiner Form noch einen Kontakt zu kirchlichen Einrichtungen pflegen oder ihn gar nur tolerieren. Es ist aber zu vermuten, dass dies nur bei den wenigsten Kindern und Jugendlichen der Fall sein wird. So obliegt es der Politik, dafür zu sorgen, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen Kindern den Weg zur Religiosität erleichtern, dies etwa durch weitere Unterstützung der Familien, einer Partnerschaft von Kirche und Staat sowie eine Unterstützung des konfessionellen RUs. Aber dies lohnt, denn – wie es Hans Küng ausdrückt - „nur Unbedingtes kann unbedingt verpflichten“524. 2. Religiosität befreit. Diese These möchte ich mit dem Ansatz Henning Luthers begründen. Luther geht es um die Darstellung der Fragilität menschlichen Daseins. Diese erlebt die Dinge, mit denen sie das Leben konfrontiert, durch Religiosität neu. Ein Beispiel hierfür ist die Begegnung mit dem Tod, der seine Endgültigkeit verliert und über den sich dann auch Leben und Lebensweise neu definieren: Leben im Diesseits mit all seinen Problemen und Reizen ist dann eben nicht mehr das Maß aller Dinge und der Weisheit letzter Schluss. Einen Lebensstil, der alle Energie auf die „vermeintlich allein verfügbaren neunzig Lebensjahre“525 konzentriert und in dem die Frage nach Religion eher lästig erscheint, nennt die Soziologin und Pädagogin Marianne Gronemeier „Leben als letzte Gelegenheit“526. Ein solcher Lebensstil trägt Merkmale wie Lebenshast, Überforderung und Angst, zu kurz zu kommen, und steuert zur Entsolidarisierung der Gesellschaft bei. Christliche Identität kommt erst mit dem Tod zur Vollendung und trägt im Leben stets den Wert des Nicht-ganz-Seins, des 524 Küng (1990), S. 70. Zulehner (2005a), S. 94. 526 Gronemeier (1993), S. 56. 525 226 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen Unvollständig-Bleibens, des abgebrochenen Seins… - des Fragments.527 Dieser Mehrwert der Religiosität lässt den Menschen entgrenzen, weil der Tod nicht mehr das Letzte aller Dinge ist, sondern lediglich Tor zum Weitergehen. Dies ist komplett gegenläufig zum gegenwärtigen Trend des „alles noch einmal Mitnehmens“ im „Diesseits“. Gott bedeutet laut Küng für den Menschen keineswegs eine Fremdbestimmung, sondern macht ihn in Wirklichkeit frei und bringt ihn zur Autonomie, die allein in der Ethik ihre Grenzen findet. Diese „Bindung an ein Unendliches schenkt Freiheit gegenüber allem Endlichen“. 3. Religiosität bildet den ganzen Menschen. Es braucht nicht Theologen, um die religiöse Bildung in und vor der Gesellschaft zu verteidigen. Die Journalistin Donata Elschenbroich befragte einhundertfünfzig Gesprächspartner aus unterschiedlichsten Berufssparten zu Fähigkeiten, die ein Kind im Alter von sieben Jahren erworben haben sollte. Elschenbroich stellte diese in einem Katalog zusammen, zu dem auch Kenntnisse der Religion gehören, die über „WissensAnforderungen“ wie ein Gebet zu kennen und schon einmal in einer Kirche und auf einem Friedhof gewesen zu sein, lautet: „Jedes Kind sollte ein Konzept von innerer Stimme, von Geheimnis haben.“528 Genau dieses Konzept aber bedeutet Begegnung mit dem Du – etwas Tiefreligiösem. Die „Ich-Einsamkeit der Neuzeit“ (Buber) macht es Kindern und Jugendlichen schwer, Religiosität in einem Du zu finden. Dieses Du jedoch ist nach Udo Schmälzle Ausgangspunkt für die religiöse Identitätsfindung. So konstatiert er: „Bildung der Persönlichkeit ist kein machbarer Prozeß. Er beinhaltet Erleben und Erfahren, Brücke und Trennungen. Identitätsfindung und Selbsterfahrung setzen existentielle Begegnungen und Konfrontationen voraus.“529 Religiosität nimmt den Menschen in seiner Ganzheit wahr, mit seinen Fähigkeiten und Defiziten und mit all seinen Bedürfnissen. Genau das sollte religiöse Bildung bedeuten. 4. Religiosität fördert ein einiges Europa In diesem Kontext sei eine aktuell in Luxemburg kontrovers geführte Debatte über die Rechtmäßigkeit der Benennung der europäischen Wurzeln als jüdisch-christlich aufgegriffen. In der Einleitung wurde bereits von Luxemburg als Teil eines geeinten Europas gesprochen, das sich auf seine Zukunftsaufgaben vorbereiten muss. Jetzt mehr 527 Vgl. Luther (1985), S. 322. Elschenbroich (2001), S. 129. Interessanterweise widersprach niemand der hundertfünfzig Gesprächspartner dem Vorschlag. 529 Schmälzle (1999/2000), S. 38. 528 227 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen noch: Luxemburg tritt als starker Kämpfer für ein Vorankommen der Europäischen Gemeinschaft auf, und Premierminister Jean-Claude Juncker hat immer für die Ratifizierung einer gemeinsamen EU-Verfassung gestritten. Dennoch wurde die Äußerung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die das Christentum als europäische Identität verteidigt und die Meinung vertritt, dass ein Bezug auf Gott und auf das Christentum als Teil der europäischen Identität in einen Verfassungsvertrag gehört, vom Luxemburger Tageblatt heftig kritisiert: Es gelte die Freiheit, auch die Religionsfreiheit, und ein Gottesbezug in einer europäischen Verfassung sei „fehl am Platz“.530 Es liegt im Interesse eines jeden Europäers, vorn voran der Luxemburger, sich der Inhalte einer solchen Verfassung bewusst zu sein und hinter ihnen zu stehen. Wenn Jugendliche ihre religiösen Wurzeln nicht kennen, man sie nicht nach ihnen fragt und sie nicht entsprechend durch Elternhaus, Schulen und Gemeinden erzieht und bildet, ist es um Luxemburg, nicht nur aus nationaler, sondern auch aus europäischer Sicht schlecht bestellt. Denn, um mit Léon Zeches zu sprechen: „Freiheit ist ein großes Gut in Europa, aber leider nur eine Errungenschaft der Neuzeit. Zur Identität, die nicht von heute ist, sondern während zwei Jahrtausenden in Europa heranwuchs, gehört nicht der weltweit auswechselbare Begriff der Freiheit, sondern Religion, geistiges Denken, das in der europäischen Geschichte in der Regel auf Gott fokussiert war.“531 Wenn junge Luxemburger in einem freien Europa leben wollen, müssen wir sie fragen, müssen sie sich fragen (lassen), wie es um ihre Religiosität bestellt ist. Bestätigend sind auch Erkenntnisse des Staatsrechtlers Wolfgang Böckenförde, der nachweist, welche Funktion Religion und Religiosität für den funktionierenden Staat besitzt: Der Staat sei auf Ressourcen angewiesen, die er bei anderen gesellschaftlichen Kräften aufsuchen müsse, und bei denen Kirche eine zentrale Rolle spiele, weil auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungen leben müsse, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittle.532 Aktuelle gesellschaftliche Probleme, nicht nur die ungelösten Friedensfragen, sondern auch Debatten um Lebensschutz und Bioethik, Abtreibung, Todesstrafe, Euthanasie und Genforschung werden nur dann lösbar, wenn sich die Menschen auf eine gemeinsame Ethik 530 Tageblatt vom 09. 09. 2006, zitiert nach Zeches (2006b), S. 3. Zeches (2006b), S. 3. 532 Böckenförde, zitiert nach Wenzel (2006) S. 25. 531 228 Analytische Grundlagen einer empirischen Erfassung spiritueller und religiöser Grundhaltungen bei Jugendlichen auf Grundlage einer bestimmten Wertegrundlage einigen. Dieses u. a. von Hans Küng beschworene Weltethos wird immer drängender, je länger Kriege dauern, je weiter die Erderwärmung fortschreitet, je mehr Menschen an Aids sterben. Insofern ist die religiöse Frage keineswegs individuell. Wie bereits in der Eingangsthese erklärt, stellt sie sich jedem Bürger, der ein individuelles Gewissen und (hoffentlich) eine demokratische Stimme besitzt. Schließen möchte ich mit einem Wort aus der Predigt in der Eröffnungsfeier der Echternacher Springprozession am 5. Juni 2006 von Bischof Dr. Josef Homeyer:533 „Wir haben in Europa derzeit kein Werteproblem, wir haben vor allem ein Verbindlichkeitsproblem! Alle halten ja Werte wie Wahrhaftigkeit, Treue, Mitmenschlichkeit usw. für gut. Wer ist eigentlich dagegen? Aber sehr viele hinterziehen Steuern, viele schachern um persönliche und nationale Vorteile usw. Wir brauchen also im Verbindlichkeitsverfall Menschen, die ihre Wertorientierung, ihre Maßstäblichkeit vorleben, die den ethischen Anspruch moralisch beglaubigen. Dies hält die Gesellschaft zusammen, nicht das eher abstrakte Bekenntnis zu Werten. Und dieses gelebte Bekenntnis zu Werten kann nicht nur privat geschehen, sondern es muss öffentlich Gestalt gewinnen: in der Solidarität mit dem Fremden, in der öffentlichen und verfassungsmäßigen Anerkennung des kulturell Anderen, in dem politischen Ringen um gerechte Verteilung der Güter und gerechtere Chancen der Teilhabe am Wohlstand, im politischen Einspruch gegen die Herrschaft des Unrechts. Und insofern glaube ich: Politik und Religion sind untrennbar: Die Bergpredigt hält Europa zusammen.“ 533 Veröffentlicht in Die Warte. Kulturelle Wochenbeilage des Luxemburger Worts vom 15. 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