Schön, dass Du geboren bist

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Schön, dass Du geboren bist
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Nr. 95 | 3. Quartal 2010 | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,– €
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LEBENSFORUM
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Titel
CDU-Parteitag:
Debatte zur PID
Gesellschaft
Marsch für
das Leben
Gesellschaft
Gefährliche
Sprachspiele
Präimplantationsdiagnostik
Schön, dass Du geboren bist ...
1949
1958
1976
In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG)
Probedruck
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I N H A LT
EDITORIAL
Gefahr im Verzug
Dr. med. Claudia Kaminski
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TITEL
»Leute, passt mal auf!«
Stefan Rehder
4
Nico, Chiara und Daniela*
Prof. Dr. Holm Schneider
9
Juristische Glanzleistung
Stefan Rehder
11
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
LEBENSFORUM 95
4 - 11
1949
1958
POLITIK
Gewissen bleiben frei
Stefan Rehder
12
1976
GESELLSCHAFT
Wessen Irrtum?
Dr. Maria Overdick-Gulden
20
Tod ohne Sterben
Matthias Lochner
22
Modell Grevenbroich
Prof. Dr. Axel W. Bauer
25
4-8
Die Präimplantationsdiagnostik
(PID) war das einzige kontrovers
diskutierte Thema auf dem
ansonsten harmonischen
Parteitag der CDU in Karlsruhe.
»LebensForum« war vor Ort.
Eine Reportage.
DOKUMENTATION
Guck mal, wer da schreibt!
18
Offener Brief von Abtreibungsbefürwortern
Gefährliche Sprachspiele
Dr. Maria Overdick-Gulden
27
BÜCHERFORUM
30
KURZ VOR SCHLUSS
32
LESERBRIEFE
34
IMPRESSUM
35
2
Probedruck
LEO MAASBURG
ESSAY
14 - 17
Noch nie haben so viele
Menschen am »Marsch für das
Leben« in Berlin teilgenommen
wie in diesem Jahr.
»LebensForum« hat den Marsch
durch die Bundeshauptstadt
begleitet.
LebensForum 95
MONTAGE TITELBILD: DANIEL RENNEN /REHDER MEDIENAGENTUR · PORTRAITS: WWW.PETER-HINTZE.DE, WWW. URSULA-VON-DER-LEYEN.DE, WWW.KRISTINASCHROEDER.DE
14
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
Zeichen für Humanität und Solidarität
Matthias Lochner
Wir wissen nicht, welche Anlagen für Krankheiten im Genom von Peter Hintze, Ursula
von der Leyen und Kristina Schröder schlummern. Was wir wissen: Die drei fordern laut,
was viele denken: Behindert? Das muss doch nicht mehr sein.
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E D I TO R I A L
Gefahr im
Verzug
27 - 29
ESSAY
Gefährliche Sprachspiele
Für Wilhelm von Humboldt (1767-1835) war die Sprache noch ein Mittel zur Wahrheitsfindung. In den
aktuellen bioethischen Debatten werden mit Hilfe der Sprache Wahrheiten zunehmend
verschleiert oder gar unkenntlich gemacht. So gesehen ist Biopolitik immer auch Sprachpolitik.
Der nachfolgende Essay erhellt einige besonders perfide Sprachspiele und Wort-Brüche.
Von Dr. med. Dr. theol. hc. Maria Overdick-Gulden
»Wer abgetrieben wird,
kommt nicht zur Sprache.«
Beschönigende, verbrämende, verhüllende Ausdrucksweisen lassen sich im
militärischen, noch mehr im ideologiepolitischen Feld ausmachen. Das wurde
anlässlich des Ausdrucks »Kollateralschaden« offensichtlich, als damit die Tötung
von Zivilisten während eines militärischen
Angriffs beschrieben wurde. Ein neues
ARCHIV
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as etwas »schönfärben« oder
»schönreden« meint, wissen
wir alle. Wir neigen dazu,
unangenehme Botschaften, zu Bedauerndes mit Einfühlungsvermögen, eben
sym-pathisch weiterzugeben, wir wollen
»vermitteln«. Das bedeutet zum Beispiel
in einem Sterbefall vom »Scheiden« und
vom »Abschiednehmen« statt vom Tod
und vom Beerdigen zu sprechen. Die
Wortwahl geschieht aus Rücksichtnahme
und bedeutet Milderung, Schonung, Stil
und mitmenschliche Nähe.
Schönreden lässt sich aber auch in
anderer Absicht, nämlich etwas Schlimmes, sogar Böses zu verbrämen, und so
erfolgreich an den Mann zu bringen. Das
ist auf den ersten Seiten der Bibel belegt:
im Bild vom Baum der Erkenntnis. Nach
dessen Früchten sollen wir bekanntermaßen nicht ehrfurchtslos greifen, nicht
räuberisch. Unseren Wunschträumen
wird Disziplin, das heißt Ordnung, auferlegt. Doch immer wieder überreden
wir uns und andere, indem wir allerlei
Früchte entdecken, ausmalen und voll
Eifer und Leidenschaft als unwiderstehlich, zuletzt als überlebensnotwendig
schildern und darstellen. Nach denen wir
in selbstgefälliger Autonomie »unweigerlich« verlangen! Wie hatten uns doch die
Atomkräfte einmal fasziniert – und wir
sollten sie ausprobieren in Hiroshima
und Nagasaki, dachten auch ihre Entdecker.
Seit der Antike gehört die Rhetorik
zum politischen Tagwerk. Sie verfügt seit
jeher auch über wohlklingend eingängige
Floskeln und verführerische Wortfiguren.
Heute werden die Würde des Menschen,
seine Freiheit und Selbstbestimmung oft
zitiert. Immer wieder wird mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und vor allem Solidarität eingefordert. Trotzdem ist es noch
nicht lange her, dass wir uns über das
»sozialverträgliche Frühableben« ausgelassen haben. Zwar wurde der darin enthaltende Zynismus erkannt und das Logo
1998 zum Unwort erklärt, doch es verblieb de facto in unserem »Wortschatz«.
»Der Begriff Bioethik ist
heute mehrdeutig.«
Wilhelm von Humboldt
so genanntes Unwort war geboren! Dennoch hat es sich trotz oder gerade wegen
seines Sarkasmus zwischenzeitlich zur
Alltagsvokabel entwickelt und ist keineswegs »gestorben«. Im politisch totalitären
Regime wurde zuvor das Verb »liquidieren« (= verflüssigen) für das »Umbringen« von Menschen verwandt, und die
ethnische »Säuberung« beschrieb die
Ausgrenzung von Menschen »fremder
Rasse«. Diese »Anderen« wurden »konzentriert« und danach zur »Endlösung«
geschickt.
Inhaltlich geht es um die Debatte, dass
mit Eintritt ins Rentenalter der Mensch
volkswirtschaftlich und kassentechnisch
mehr Kosten als volkswirtschaftlichen
Nutzen bringt; dass daher bestimmte
medizinische Maßnahmen bei Patienten
ab einer bestimmten Altersgrenze »folglich« nicht mehr durchzuführen sind. In
diesem Zusammenhang fielen Begriffe
wie »Generationengerechtigkeit« und
»Allgemeinwohl«. Wie vielschichtig aber
kann wieder das Wort »Generation«
verstanden werden! Von dem Begriff
»Gerechtigkeit« ganz zu schweigen: meine ich wirklich die gleiche Justiz und
Sozialregelung für mich und alle anderen?
Dennoch scheint folgender Definitionsversuch ziemlich einleuchtend: »Generationengerechtigkeit ist erreicht, wenn die
Chancen zukünftiger (nachrückender)
Generationen auf Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse mindestens so groß
sind wie die der heutigen Generation
(ihnen vorangegangenen Generationen).«
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Zunehmend werden mit Hilfe der Sprache
Wahrheiten verschleiert oder sogar unkenntlich
gemacht. Der Essay von Dr. Maria Overdick-Gulden
erhellt einige besonders perfide Sprachspiele.
MONTAGE TITELBILD: DANIEL RENNEN /REHDER MEDIENAGENTUR · PORTRAITS: WWW.PETER-HINTZE.DE, WWW. URSULA-VON-DER-LEYEN.DE, WWW.KRISTINASCHROEDER.DE
25 - 26
GESELLSCHAFT
Modell Grevenbroich
Muss man sich die viel zitierte »Autonomie von Patienten« so vorstellen? Ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Modellprojekt zeigt: Aus dem im Bundestag gegen vielfachen Widerstand
durchgesetzten Recht, mittels einer Patientenverfügung im Voraus verbindlich festlegen zu können, wie
man im Falle schwerer Erkrankungen behandelt werden will, droht offenbar eine Pflicht zu werden.
Von Prof. Dr. med. Axel W. Bauer
D
ie Stadt Grevenbroich am Niederrhein mit ihren 64.000 Einwohnern hat dank des von Hape
Kerkeling verkörperten fiktiven stellvertretenden Chefredakteurs Horst Schlämmer in den letzten Jahren einen er-
zumindest dessen, was als solche firmiert
und seit 2009 mit Steuermitteln aus dem
Topf des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung gefördert wird. Das Modellprojekt mit dem mittlerweile vom
Deutschen Patentamt markenrechtlich
folgt, möglichst viele Altenheimbewohner
zum Ausfüllen einer Patientenverfügung
zu bewegen. Gegenüber dem Förderer
wird das Verbundprojekt weiterhin »RESPEKT« genannt, womit nicht etwa der
Respekt vor den betagten Menschen ge-
Hat Grevenbroich auf sympathische Weise bundesweit bekannt gemacht: Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling.
heblichen Bekanntheitsgrad in Sachen
Satire erreicht. Nun sind Grevenbroichs
Altenheime dabei, überregionale Resonanz zu erzeugen, allerdings nicht auf
dem Gebiet des Humors, sondern im Bereich der medizinischen Forschung oder
geschützten Titel »beizeiten begleiten«
ist eine von Medizinern, Juristen und
Ethikern der Universitäten Düsseldorf,
Augsburg, Hamburg, Tübingen und Kassel erdachte kontrollierte Interventionsstudie, die das scheinbar hehre Ziel ver-
meint ist, sondern »Respekt für vorausverfügte Entscheidungen und Präferenzen
für den Fall von Krankheit und Tod«.
Es geht den Forschern um die prozessund systemorientierte Implementierung
von Patienten-Vorausverfügungen in Al-
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Die »Autonomie des Patienten« ist in aller Munde.
Welch’ gefährliche Formen sie annehmen kann,
zeigt der Medizinethiker Axel W. Bauer in diesem
Beitrag.
LebensForum 95
Probedruck
Die Wurzel allen
Übels aber ist und
bleibt die hunderttausendfache Tötung unschuldiger,
wehrloser Kinder im
Mutterleib. Ohne sie
Liebe Leserin, lieber Leser,
müssten wir uns heute weder Gedanken
auf ihrem diesjährigen Parteitag hat
über die Zukunft des
die CDU auch über ein gesetzliches VerEmbryonenschutzes
bot der Präimplantationsdiagnostik (PID)
noch über eine drodebattiert. »LebensForum« war vor Ort
hende Legalisierung
und hat die Debatte aufmerksam verfolgt.
der Euthanasie machen. Wie gewaltsam
Was in Karlsruhe für die arg ramponierte
Teile unserer Gesellschaft diesen Rückfall
Seele der Partei von Angela Merkel wie
in die Barbarei verteidigen, wie geistlos
Balsam gewirkt haben mag, sollte niemanAbtreibung hierzulande nach wie vor als
den verführen, sich in falscher Sicherheit
»Errungenschaft« gefeiert wird, das konnzu wiegen. Im Gegenteil: Lebensrechtler
ten Lebensrechtler beim diesjährigen
haben allen Grund, alarmiert zu sein.
»Marsch für das Leben« in der BundesDenn wenn sogar in einer Partei, die das
hauptstadt hautnah erleben. Wer nicht
»C« im Namen trägt, ernsthaft die Ledabei sein konnte, dem vermag die Regalisierung von Gentests erwogen wird,
portage in dieser Ausgabe sicher die Auderen Ergebnis über
gen zu öffnen.
Leben und Tod von
Es gibt jedoch –
Menschen im Frühauch das gehört zur
»Lebensschutz
stadium ihrer EntKenntnis gebracht –
wicklung entscheiden,
nicht nur Grund zur
ist unteilbar«
dann ist Gefahr im
Klage. So nahmen am
Verzug. Robert Spae»Marsch für das Lemann, einer der groben« in diesem Jahr
ßen Philosophen unserer Zeit, bringt sie
mehr Menschen teil als jemals zuvor.
auf den Punkt, wenn er im Interview mit
Offensichtlich trägt die mühsame Aufder Online-Ausgabe des Magazins »Ciklärungsarbeit, der sich Lebensschutzorcero« zu Protokoll gibt, mit der PID
ganisationen wie die ALfA verschrieben
»sollen nicht Krankheiten, sondern die
haben – allen Versuchen zum Trotz, sie
Kranken selbst eliminiert werden«.
zu diskreditieren oder gar totzuschweigen
Die Solidarität mit den Kranken und
–, Früchte und treibt Menschen auf die
Schwachen schwindet spürbar. Dass viele
Straße. Im Europarat konnte – mit UnterMenschen darin heute nichts Verwerflistützung von Lebensrechtlern – eine
ches mehr erblicken, belegt auch eine
Entschließung verhindert werden, die
Umfrage, die das Institut für Demoskosich die Abschaffung der Gewissensfreipie Allensbach bereits im vergangenen
heit von Ärzten und Hebammen zum
Jahr im Auftrag der Bundesärztekammer
Ziel gesetzt hatte. Dies und viele andere
durchgeführt hat. Zwar mag man auch
kleine Zeichen zeigen wieder einmal, dass
hier begrüßen, dass die Mehrheit der Ärzes keineswegs vergeblich ist, sich für das
te die Tötung auf Verlangen sowie den
Recht auf Leben jedes Menschen einzuärztlich assistierten Suizid weiterhin absetzen. Und zwar an allen Fronten: denn
lehnt. Und doch muss es eine Gesellschaft
Lebensschutz ist unteilbar.
alarmieren, wenn sich in ihr inzwischen
jeder vierte Arzt vorstellen kann, das LeEine erhellende Lektüre wünscht Ihnen
ben von Patienten aktiv zu beenden. Das
sieht wohl auch die Bundesärztekammer
so, die die Allensbach-Studie lange unter
Verschluss hielt. »LebensForum« hat sie
Claudia Kaminski
in dieser Ausgabe unter die Lupe genomBundesvorsitzende der ALfA
men.
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»Leute, passt mal auf!«
Die Präimplantationsdiagnostik war das einzig wirklich kontrovers diskutierte Thema des diesjährigen
CDU-Parteitags in Karlsruhe. Von Lebensrechtlern wie von den Medien war die Debatte
über Gentests an menschlichen Embryonen mit Spannung erwartet worden, wenn auch aus unterschiedlichen
Gründen. Sieger wie Unterlegene sprachen hinterher von einer »Sternstunde«. Dabei war es
vor allem Angela Merkel, die – aus welchen Gründen auch immer – ihre Partei vor einem weiteren
biopolitischen Fiasko bewahrte. Eine Reportage.
Von Stefan Rehder
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Probedruck
Papst Benedikt XVI. für viele dann der
Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen
brachte. Es hagelte Parteiaustritte. Unter
Merkels Führung habe die CDU im Vergleich zur ersten gesamtdeutschen Wahl
wählten, hätten 2009 Merkel nicht gewählt, schrieb Steingart mit Blick auf den
Parteitag. Mittlerweile seien es 36 Prozent
der damaligen CDU-Wähler, die von der
Merkel-CDU nichts mehr wissen wollten.
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
arlsruhe. Montag, 15. November. Die Uhr zeigt 20.30 Uhr.
Eine halbe Stunde noch, dann
– so sieht es das offizielle Programm vor
– soll in Halle 2 der Karlsruher Messehalle
mit dem »Baden-Württemberg-Abend«
der gesellige Teil des 23. CDU-Parteitags
beginnen. Hoher Besuch hat sich angekündigt. Altkanzler Helmut Kohl, seit einem Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt, hat sich angekündigt. Doch in der
gegenüber gelegenen Halle 1, wo die fast
1.000 Delegierten seit geschlagenen elf
Stunden Reden lauschen und applaudieren, unterbrochen nur von Wahlen zu
den Parteiämtern, deutet noch gar nichts
auf einen baldigen Aufbruch hin.
Die Parteiführung hat dazugelernt.
Ein Skandal wie der, der sich im Jahr
2007 ereignete, soll diesmal unter allen
Umständen vermieden werden. Damals
tagte die CDU in Hannover. Ein Teil
der Delegierten feierte bereits ausgelassen
auf dem »Niedersachsen-Abend«, als die
Parteitagsregie im Plenarsaal zu später
Stunde das strittige Thema der embryonalen Stammzellforschung aufrief und
Bundesforschungsministerin Annette
Schavan, unterstützt von Bundeskanzlerin
Angela Merkel, für eine Verlegung des
Stichtags im Stammzellgesetz warb. Merkels Intervention hatte ebenso wie der
Umstand, dass ein Teil der Delegierten
nicht mehr rechtzeitig zur Abstimmung
erschien, nachhaltige Folgen. Mit hauchdünner Mehrheit folgten die verbliebenen Parteitagsdelegierten damals dem
Wunsch ihrer Parteivorsitzenden. Dies
und das Abstimmungsverhalten vieler
Unionsabgeordneter bei der späteren Abstimmung im deutschen Bundestag hat
die CDU später viele Stammwähler gekostet und andere vehement verärgert.
So sehr, dass Merkels spätere Kritik an
1949
1958
1976
im Jahr 2000 rund 30 Prozent ihrer Wähler verloren, rechnet Chefredakteur Gabor Steingart im »Handelsblatt« vor. 5,2
Millionen Menschen, die damals Kohl
Merkel scheint das verstanden zu haben. In ihrer großen Parteitagsrede streichelt sie die Seele der Partei in einem
bislang nie gekannten Ausmaß. Papst JoLebensForum 95
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um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden, die eine solch komplexe
Frage des Lebensschutzes aufwirft.« Röwekamp erläutert das Verfahren. Erst
wenn dieser Vorschlag keine Mehrheit
findet, soll auch über die beiden anderen
Anträge abgestimmt werden. Die Antragskommission, so viel wird deutlich, fürchtet
die bioethische Debatte und will sie möglichst schnell vom Tisch haben.
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Hälfte des Parteitages sitzen. Ich weiß,
wovon ich rede«, erklärt sie und fügt
hinzu: »Das ist mein Vorschlag, und das
wird jetzt so gemacht.«
Erneutes Raunen im Saal. Hier und
da wird Gegenrede verlangt. Georg Freiherr von Weichs, Delegierter des Hochsauerlandkreises, bekommt den Zuschlag.
Angetan mit Hemd und Wildlederweste
stellt sich der Siegelringträger dem Par-
WWW.BILDER.CDU.DE
hannes Paul II. wird gleich im zweiten
Absatz ihrer Rede positiv hervorgehoben,
Adenauer und Kohl werden zitiert. Gleich
zweimal erwähnt Merkel den Lebensschutz. Da sagt sie dann Sätze wie: »Jeder
Mensch ist einmalig, vom Anfang seines
Lebens bis zum Ende seines Lebens.«
Oder auch: »Das Zusammenleben, der
Zusammenhalt und das Vertrauen in unsere Gesellschaft gründen sich auf die
Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Das gilt für den Schutz des Lebens
an seinem Anfang und an seinem Ende.«
Der »Baden-Württemberg-Abend«
beginnt nicht, bevor das Thema »Präimplantationsdiagnostik« (PID) nicht zu
Ende debattiert wurde, lautet die Losung,
die CDU-Generalsekretär Hermann
Gröhe für den Karlsruher Parteitag ausgegeben hatte. Und dennoch fehlte nicht
viel, und es wäre auch diesmal zu einem
echten Eklat gekommen. Denn als Thomas Röwekamp, Vorsitzender der CDUFraktion der Bremerschen Bürgerschaft
und Mitglied des Karlsruher Parteitagpräsidiums, um 20.33 Uhr verkündet,
ihm lägen zu der noch nicht einmal begonnenen PID-Debatte bereits 21 Wortmeldungen vor, geht ein Raunen durch
den Saal.
Damit nicht genug: Im Laufe Tages
hatte die Antragskommission zusätzlich
zu den den Delegierten längst bekannten
Anträgen – der Parteitag möge seinen im
Grundsatzprogramm der Partei niedergelegten Beschluss von 2007 bestätigen
und erneut für ein gesetzliches Verbot
der PID votieren sowie einem weiteren,
mit dem prominente Christdemokraten
um die Bundesministerinnen Kristina
Schröder und Ursula von der Leyen erreichen wollen, dass sich die CDU erstmals für eine begrenzte Zulassung der
PID ausspricht – noch einen dritten hinzugefügt. Der sieht vor, eine Beschlussfassung auf unbestimmte Zeit zu vertagen.
Zu diesem Zweck hatte die Kommission
eilig ein gesondertes Blatt verfasst und
im Saal verteilen lassen. Es umfasst neun
Punkte. Acht davon sind so allgemein
gehalten, dass sie von Gegnern wie von
Befürwortern der PID gleichermaßen
unterschrieben werden können; jedenfalls
dann, wenn man nicht jedes Wort auf die
Goldwaage legt (siehe Kasten S. 6).
Dazwischen steht ein Text, der drei
Varianten für die eigentliche Beschlussfassung enthält. Neu und den Delegierten
gänzlich unbekannt ist nur die Variante
1. Sie lautet: »Geleitet von den hier festgestellten Grundüberzeugungen sind wir
der Auffassung, dass es vor einer gesetzlichen Regelung der PID einer ausführlichen Analyse und Diskussion bedarf,
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Gut gefüllt: Die Karlsruher Messehalle beim 23. Bundesparteitag der CDU.
Röwekamp schlägt den Delegierten
vor, die Schließung der Rednerliste und
eine Begrenzung der Redezeit auf drei
Minuten pro Beitrag zu beschließen. »Ich
komme aus Bremen. Ich habe nichts zu
verlieren. Ich klingele nach drei Minuten
ab«, umwirbt der protestantische Rechtsanwalt die Stimmberechtigten. Erneut
rumort es im Saal. Doch diesmal kommt
das Raunen aus einer anderen Ecke. An-
»Das ist mein Vorschlag und das
wird jetzt so gemacht.«
gela Merkel, die sich bereits im Vorfeld
des Parteitages für ein gesetzliches Verbot
der PID ausgesprochen hatte, reagiert
am schnellsten, tritt ans Rednerpult und
erklärt resolut: »Ich möchte, dass dieses
Thema umfassend und ausführlich diskutiert wird.« Sie schlägt vor, das Thema
deshalb erst am Dienstagmorgen zu behandeln. »Ich möchte dann aber auch,
dass wir dann nicht morgen hier mit der
teitag als »einfacher Waldarbeiter« vor
und erklärt der »Frau Vorsitzenden«,
dass sie all das zwar wünschen könne.
Wenn sie jedoch wolle, dass der Parteitag
ihrem Wunsch auch nachkomme, müsse
sie einen Antrag stellen. Die über die
Geschäftsordnung Belehrte schreitet erneut zum Mikrofon und ruft: »Leute,
passt mal auf! Das ist ein Thema, das wir
diskutieren wollen, und das geht nicht
auf Zuruf.«
Weil jedoch weder das Hochhalten
der Stimmkarten noch das Sich-Erheben
der Delegierten von ihren Plätzen ein
eindeutiges Stimmungsbild ergibt, beantragt Merkel eine schriftliche Abstimmung. Niemand soll hinterher sagen können, in Karlsruhe sei es nicht mit rechten
Dingen zugegangen. Stimmzettel werden
ausgeteilt. Der Parteitag fährt mit der
normalen Antragsberatung fort. Um kurz
vor 21.00 Uhr verkündet Röwekamp das
Ergebnis der Auszählung: 786 gültige
Stimmen. 580 Delegierte stimmten für
die von Merkel gewünschte Verschiebung
der Debatte, 206 dagegen. Der Skandal
ist gebannt, zumindest für diesen Tag.
In Halle 2 wird man später CDU-Gene5
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ralsekretär Hermann Gröhe, Jürgen Rüttgers, Ex-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, und Philipp Mißfelder,
Vorsitzender der Jungen Union, am Tisch
von Helmut Kohl und dessen zweiter
Frau sitzen sehen.
Dienstag, 16. November, 9.00 Uhr.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe
tritt ans Rednerpult und eröffnet die Debatte zur PID. Obwohl die Karlsruher
Messehalle ihre Tore für die Parteitagsgäste erst um 3.00 Uhr schloss, sind die
Reihen der Delegierten gut gefüllt. Größere Lücken klaffen nur in den Tischreihen, die für die Vertreter der Medien reserviert worden sind. Der Synodale der
Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD) wirbt offensiv für ein PID-Verbot,
da etwas anderes seiner Überzeugung
nach mit der »Heiligkeit des Lebens«
nicht vereinbar sei. Auch das ist eine
kleine Überraschung. Denn obwohl der
CDU-General nie ernsthaft zu den PIDBefürwortern gerechnet werden konnte,
schien er sich doch lange Zeit nicht jenen
in den Weg stellen zu wollen, die das
Urteil des Bundesgerichtshofes zum Anlass nehmen, um den Embryonenschutz
in Deutschland weiter aufzuweichen. Po-
litiker trügen »nicht nur Verantwortung
für stramme Forderungen, sondern auch
für das Ergebnis eines politischen Prozesses«, begründete der 51-jährige Jurist
Ende September gegenüber der katholischen Tageszeitung »Die Tagespost«
Gedankenspiele über eine begrenzte Zulassung der PID.
»Das ist ein Thema, das wir
diskutieren wollen.«
Acht Wochen später liegt er ebenso
wie der Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder und Bundesforschungsministerin Annette Schavan
ganz auf Merkels Linie. Die hatte sich
bereits Wochen vor dem Parteitag für
ein gesetzliches Verbot der PID ausgesprochen. Ihre Begründung: »Ich bin für
ein Verbot der PID, weil ich einfach Sorge habe, dass wir die Grenzen nicht richtig
definieren.« Ein Satz, der reichlich Raum
für Spekulation lässt. Nur, dass Merkel
grundsätzlich gegen die Selektion künst-
lich erzeugter Menschen im Reagenzglas
sei, lässt sich aus ihm mit Sicherheit nicht
herauslesen.
Die Erste, die bei den Delegierten dafür wirbt, der Parteitag möge sich für eine begrenzte Zulassung der PID aussprechen, ist Katharina Reiche. Die 37-jährige
Chemikerin aus Brandenburg, deren
Stern am Himmel der Partei aufging, als
der damalige Kanzlerkandidat Edmund
Stoiber (CSU) noch eine Frau aus dem
Osten für sein Kompetenzteam suchte
und die erklärte Befürworterin der embryonalen Stammzellforschung mit der
Familienpolitik betraute, legt sich gleich
mächtig ins Zeug. »Als dreifache Mutter
kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen als den Tod des eigenen Kindes«, beginnt Reiche ihren Redebeitrag. »Ja«,
räumt sie später ein, »es gibt kein Recht
auf ein gesundes Kind. Aber es gibt den
Wunsch.« Politiker, will Reiche wohl sagen, sollten Wünsche genauso ernst nehmen wie Rechte. Denn schließlich wollen
sie gewählt werden. Ein Wink mit dem
ganzen Gartenzaun statt mit einem einzelnen Pfahl. Ausdrücklich lobt Reiche,
die gegenwärtig als Parlamentarische
Staatssekretärin in dem von Norbert Rött-
Vorschlag der Antragskommission zur Präimplantationsdiagnostik (PID)
1. Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6.
Juli 2010, die Präimplantationsdiagnostik (PID)
zur Entdeckung schwerer genetischer Schäden
straffrei zu lassen, wirft die Frage auf, ob ein
PID-Verbot oder eine PID-Zulassung für die
vom BGH genannten Situationen die angemessene Antwort der Politik ist. Die mit dieser
ethischen Grundsatzfrage verbundenen rechtlichen Regelungen hat die Politik zu entscheiden.
2. Die unantastbare Würde des Menschen als
Geschöpf Gottes ist menschlicher Verfügung
nicht zugänglich. Unsere, von diesem Grundwert geprägte Rechtsordnung muss deshalb
gewissenhaft abwägen, wie dem Schutz des
Lebens am besten entsprochen werden kann.
3. Für uns gilt: Jeder Mensch ist gleich wertvoll.
Es gibt keine Unterscheidung zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben. Wir
stehen dafür, dass Behinderte an unserer Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben. Das Miteinander von Menschen mit Behinderungen
und Nichtbehinderten, Förderung und helfende
Begleitung sind für uns ein zentrales Anliegen.
Wir wissen, dass hier noch viel getan werden
muss.
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4. Für den Schutz des Lebens ungeborener
Kinder nach Feststellung einer Behinderung
haben wir mit der Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes deutliche Verbesserungen erreicht. Das neue Gesetz beinhaltet eine
Beratungspflicht für Ärzte und Hilfe für Schwangere in existentiellen Konfliktsituationen, um
das Ja zum Kind zu erleichtern.
8. Variante 1
Geleitet von den hier festgestellten Grundüberzeugungen sind wir der Auffassung, dass
es vor einer gesetzlichen Regelung der PID
einer ausführlichen Analyse und Diskussion
bedarf, um den vielfältigen Anforderungen
gerecht zu werden, die eine solch komplexe
Frage des Lebensschutzes aufwirft.
5. Zugleich ist uns das menschliche Leid von
Paaren bewusst, die ein hohes Risiko zur Vererbung schwerwiegender Erbkrankheiten tragen. Wir wollen sie nicht alleine lassen, sondern nach besten Kräften unterstützen.
8. Variante 2
Deshalb hält die CDU, wie im Grundsatzprogramm verankert, am Verbot der PID fest.
6. Wir anerkennen den Wunsch jedes Menschen auf ein Kind und wissen um die schwere
seelische und körperliche Belastung der Frauen,
die sich für eine extrakorporale Befruchtung
entscheiden.
7. Wir tragen Verantwortung für den politischen
Prozess, für eine verfassungsfeste mehrheitsfähige
Lösung. Wir fordern daher alle Bundestagsabgeordneten, insbesondere die Angehörigen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf, alle ethischen,
menschlichen und rechtlichen Aspekte sehr
gründlich abzuwägen und sich bei ihrer Entscheidung an den obigen Prinzipien zu orientieren.
8. Variante 3
Deshalb setzt sich die CDU für die Möglichkeit
der PID in engen Grenzen für Paare mit schwerer
genetischer Vorbelastung ein.
9. Die Entscheidung zur Präimplantationsdiagnostik ist eine persönliche Gewissensentscheidung jedes einzelnen Abgeordneten. Uns eint
der Wille, dem Lebensschutz und der Würde
allen menschlichen Lebens bestmöglich gerecht
zu werden. Im persönlichen Ringen kann dies
aber zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Gerade unter Christen dürfen wir uns gegenseitig nicht den Respekt vor einer persönlichen
Gewissensentscheidung absprechen.
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Bundesminister für Wirtschaft und Technologie lässt keine Zweifel daran, dass er
einen Unterschied zwischen einer befruchteten Eizelle in einer Glasschale und
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gen geleiteten Bundesumweltministerium
fungiert, einen Aufsatz von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, den dieser
vor fast zehn Jahren unter dem Titel
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Sorgte in Karlsruhe dafür, dass alles mit rechten Dingen zuging: Angela Merkel.
»Vergesst die Mutter nicht« im Feuilleton
der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«
veröffentlicht hatte. Was Reiche freilich
verschweigt, ist, dass Wolfgang Schäuble
in eben jenem Beitrag vorschlägt, als
Menschen nur noch denjenigen zu definieren, der auch von einer Mutter geboren
wurde. Sie wisse nicht, sagt Reiche, die
sich auf das Spiel mit den Emotionen der
Delegierten bestens versteht, ob ein Verbot der PID »christlich« sei. Um gleich
darauf hinterherzuschicken: »Für mich
ist das unbarmherzig.«
Ähnlich emotional argumentieren im
weiteren Verlauf der Debatte auch Peter
Hintze, Bundesarbeitsministerin Ursula
von der Leyen und Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, die in der Fraktion wegen ihres Rehblicks auch gerne
»Bambi« genannt wird. Geschickt bringen sie immer wieder ins Spiel, dass der
Embryo im Mutterleib weniger gut geschützt ist, als er es bei einem PID-Verbot
im Reagenzglas wäre, verweisen auf die
Spirale, die die Einnistung befruchteter
Eizellen verhindert und hierzulande ebenfalls nicht verboten ist. Das unterschiedliche Schutzniveau und der daraus abgeleitete Wertungswiderspruch zeigt, dem
Applaus nach zu urteilen, Wirkung und
verschleiert, dass viele der PID-Befürworter, die in Karlsruhe das Wort ergreifen, in der befruchteten Eizelle keinen
Menschen, sondern bloß einen Zellhaufen
erblicken.
Ehrlicher ist da schon Peter Hintze.
Der Parlamentarische Staatssekretär beim
LebensForum 95
Probedruck
dem im Mutterleib heranwachsenden
Kind macht. In der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« (Ausgabe vom
21. November) legt Hintze nach. »Die
Auffassung, die Zygote in der Petrischale
sei schon ein Mensch«, halte er, verrät
der ehemalige protestantische Pfarrer,
für einen »biologistischen Fehlschluss«.
Wie aus der Zygote ein Mensch wird, erklärt er freilich nicht.
Die Redner, die für ein PID-Verbot
werben, haben, obwohl sie fast dreimal
so viele sind wie ihre Gegner, Mühe dagegenzuhalten. Der Europaparlamentarier Peter Liese, promovierter Humangenetiker, berichtet von Patienten, die er
als Arzt täglich behandelt habe, darunter
»Es gibt kein Recht auf ein
gesundes Kind, aber den Wunsch.«
eine erfolgreiche Anwältin, die an Mukoviszidose leidet. Liese erklärt, dass sich
weder die Ausprägung einer genetisch
bedingten Krankheit noch das Leid, das
diese bei den Betroffenen verursache,
mittels PID vorhersagen lassen. Und er
kritisiert, dass die Befürworter stets von
»engen Grenzen« sprächen, aber noch
keiner diese bisher definiert habe. »Ich
möchte, dass einer sich hier an das Rednerpult stellt und sagt: Mukoviszidose: ja
oder nein. Down-Syndrom: ja oder nein.
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Dann wissen wir, woran wir sind.« Eine
Forderung, der auch im weiteren Verlauf
der Debatte keiner nachkommt, der für
die Zulassung der PID wirbt.
Hubert Hüppe, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter
Menschen, bringt die »Lebenshilfe« ins
Spiel. Der größte Verband, der sich für
Menschen mit Behinderungen einsetzt,
drängt seit langem auf ein gesetzliches
Verbot der PID: »Das sind doch die Leute, die es wissen«, sagt Hüppe. Als einziger
Redner präsentiert er den Delegierten
Zahlen aktueller Studien, die das Ausmaß
der gewaltigen Selektion verdeutlichen,
die mit der PID in den Ländern verbunden sind, die sie bereits zugelassen haben.
Danach kommen umgerechnet auf jedes
nach Durchführung einer PID geborene
Kind 32 getötete Embryonen. Dem Argument des Wertungswiderspruchs hält
Hüppe entgegen: »Man darf nicht mit
einem Übel, das man selbst geschaffen
hat, werben, um ein weiteres Übel zuzulassen.«
Der Bundestagsabgeordnete Patrick
Sensburg, der ein Verbot der PID im
Gendiagnostikgesetz festschreiben will,
informiert die Delegierten über die so
genannte Polkörperchen-Diagnostik. Mit
ihr ließen sich bereits heute rund 80 Prozent der Krankheiten, die mittels PID
festgestellt werden, diagnostizieren. Und
dies ohne, dass Embryonen verworfen
würden. Der Grund: Bei der Polkörperchen-Diagnostik wird nicht der Embryo,
sondern die Eizelle vor Abschluss der
Befruchtung untersucht. Ein Verbot der
PID würde auch die Fortentwicklung dieser Methode fördern, wirbt Sensburg.
Auch die Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im März
2011, Beck-Herausforderin Julia Klöckner, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Staatsministerin Maria
Böhmer, die Kirchenbeauftragte der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion Maria
Flachsbarth, das geschäftsführende Vorstandsmitglied der IG-Metall Regina
Görner und viele bitten die Delegierten
in leidenschaftlichen Redebeiträgen, für
ein Verbot der PID zu stimmen.
11.39 Uhr: Erstmals verlässt Angela
Merkel an diesem Tag den Plenarsaal,
nur um kurz darauf mit dem Bayerischen
Ministerpräsidenten und CSU-Parteichef
Horst Seehofer zurückzukehren. Parteitagspräside, Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus, begrüßt Seehofer, der nur einen mäßigen Applaus
erhält und verkündet, dass nun noch neun
Redebeiträge ausstünden. Mappus, der
sich gern als Konservativer feiern lässt,
will ein Ende der Debatte herbeiführen
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INFO
CDU-Grundsatzprogramm
Auszug: »Die Würde des Menschen
schützen – Vom Beginn bis zum Ende des Lebens«
Die unantastbare Würde des Menschen
als Geschöpf Gottes ist menschlicher
Verfügung nicht zugänglich und ist zu
schützen. Der Mensch ist immer Subjekt,
er darf niemals Objekt sein. Die Würde
des Menschen ist auch für die Bewertung bioethischer Herausforderungen
Ausgangs- und Orientierungspunkt. Sie
erfordert Achtung und Schutz des
menschlichen Lebens in allen Phasen.
Das noch nicht geborene Leben bedarf
beginnend mit der Verschmelzung von
Samen und Eizelle unseres besonderen
Schutzes und unseres kritischen Umgangs mit den sich weiter entwickelnden
Möglichkeiten der Pränataldiagnostik.
Wir treten für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID) ein. Mit den
hohen Abtreibungszahlen, die sich auch
aus Spätabtreibungen ergeben, finden
wir uns nicht ab. Wir müssen Frauen
und Männern dabei helfen, sich für das
Leben zu entscheiden.
8
Probedruck
schluss fassen, lehnen diese die von der
Antragskommission favorisierte Variante
mit einer überdeutlichen Mehrheit ab.
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
ARCHIV
land ein gesetzliches Verbot der PID geben wird. Das kann nur der Deutsche
Bundestag. Und dessen Abgeordnete sind
ARCHIV
und fragt die Delegierten, ob sie sich nach
der nun fast drei Stunden andauernden
Diskussion in der Lage sähen, gemäß
dem von der Antragskommission entwickelten Verfahren abzustimmen. Volker
Kauder, der noch nicht gesprochen hat,
erhebt Gegenrede. Der Parteitag entscheidet sich für die Fortführung der Debatte. Seehofer muss warten. Eine geschlagene Dreiviertelstunde sollte das
dauern. Denn zunächst zeigt Unionsfraktionschef Volker Kauder in seiner Rede
auf, wie die Zulassung der Abtreibung
die medizinische Praxis verändert hat.
Obwohl eine Behinderung per Gesetz
kein Grund für eine Abtreibung sei, seien
Ärzteverbände nach einigen Jahren an
die Politik herangetreten, mit dem
Wunsch, die Regelung der Spätabtreibung zu überarbeiten. Auch die PID habe
das Potential, die »Praxis radikal zu verändern«. »Wir machen eine Tür auf und
wissen nicht, was danach kommt«, gibt
Kauder zu bedenken und mahnt: »Wenn
wir nicht mit dem Leben experimentieren
wollen, dann dürfen wir die PID heute
nicht zulassen.«
Und obwohl am Schluss sowohl Saarlands Ministerpräsident Peter Müller als
auch Bundestagspräsident Norbert Lammert vehement dafür werben, dass die
Delegierten an diesem Tag keinen Be-
Hubert Hüppe, CDU
Katharina Reiche, CDU
Sowohl Müller als auch Lammert sprechen sich in ihren Redebeiträgen zudem
für einen Verzicht auf Strafe aus. Während sich Müller aber immerhin zu einem
Verbot der PID bekennt, sagt Lammert:
»Ich weiß noch nicht, wie ich am Ende
des Gesetzesvorhabens abstimmen werde,
weil ich noch gar nicht weiß, was zur
Abstimmung stehen wird.« Und fügt dann
an: Je länger er aber darüber nachdenke,
desto eher tendiere er dafür, die PID begrenzt zuzulassen.
Als die Rednerliste »abgearbeitet« ist,
lässt Mappus Stimmzettel verteilen und
anschließend wieder einsammeln. Noch
während der Rede Seehofers sickert das
Ergebnis durch. Mit der Stimmauszählung
betraute Delegierte informieren Journalisten per SMS. Danach entfielen von den
814 abgegebenen Stimmen 408 Stimmen auf ein PID-Verbot. 391 Delegierte
stimmten für eine nicht näher definierte
begrenzte Zulassung der PID. 15 enthielten sich. Weil die Parteitagsregie ungültige
Stimmen und Enthaltungen jedoch stets
herausrechnet, entfallen auf das PIDVerbot am Ende 51,06 Prozent und für
die begrenzte Zulassung 48,94 Prozent.
Als nach Seehofers Rede das Ergebnis der
Abstimmung dann auch dem Saal offiziell
verkündet wird und klar ist, dass sich der
Parteitag mehrheitlich knapp für ein PIDVerbot ausgesprochen hat, sehen die Delegierten eine strahlende und applaudierende Parteichefin. Angela Merkel ist über
das Votum des Parteitags glücklich.
Gewonnen ist damit in der Sache
freilich nicht viel. Denn nicht der CDUParteitag entscheidet, ob es in Deutsch-
nur ihrem Gewissen verpflichtet. Wie
immer, wenn bioethische Fragen zur Entscheidung anstehen, wird dann auch der
Fraktionszwang aufgehoben sein. Was
bleibt, ist die dürre Erkenntnis, dass der
Schutz menschlichen Lebens in einer
sehr speziellen Frage nach vielen Jahren
in der CDU erstmals wieder mehrheitsfähig ist. Warum – ob aus Einsicht in den
Sachverhalt, aus Treue zum eigenen
Grundsatzprogramm oder aber aus purer
Taktik – wird, weil niemand die Gedanken
der Delegierten noch die der Kanzlerin
und CDU-Parteivorsitzenden lesen kann,
wohl ein Geheimnis bleiben.
Hinten, in der letzten Reihe des Saals,
sitzt Pater Stefan und beobachtet das
Treiben. Die komplette Debatte hat das
Mitglied der »Brüder vom gemeinsamen
Leben«, die einen nahe Karlsruhe gelegenen Wallfahrtsort betreuen, Rosenkranz betend begleitet. Haften geblieben
sei ihm vor allem das Bild von der »Offenen Tür«, sagt der Priester, der als solcher auch an seinem römischen Kragen
zu erkennen ist. Was eine Parteitagsdelegierte jedoch nicht davon abhielt, ihn
wegen der Rosenkranzperlen, die durch
seine Finger glitten, mit einem Muslim
zu verwechseln. Dafür, dass sich der
CDU-Parteitag mehrheitlich für ein PIDVerbot ausgesprochen hat, sei er »dankbar«, sagt Pater Stefan, der sich sicher
ist, dass dies »auch ein Stück weit das
Verdienst von Angela Merkel ist«. »Offene Türen«, fährt er fort, müsse man dann
»durchschreiten, wenn der Weg zu Gott
führt«. »Wenn es aber zieht«, dann müsse
man »die Tür bloß schließen«.
LebensForum 95
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DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
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Nico, Chiara und Daniela*
Immer wieder wird in der Debatte über die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) das Leid
von Eltern in den Mittelpunkt gestellt, die Gefahr laufen, schwere Krankheiten auf ihre Kinder
zu vererben. So wenig, wie dieses Leiden verharmlost werden darf, so wenig darf es jedoch pauschalisiert
werden. In seinem Beitrag zeigt der Kinderarzt Holm Schneider, dass auch ein Leben mit schweren
Behinderungen ein glückliches sein kann. Für die Kinder ebenso wie für ihre Eltern.
Von Prof. Dr. med. Holm Schneider
N
ico stürmt in sein Zimmer, holt
die Spielzeugkamera aus dem
Schrank. Begeistert erklärt er,
dass er jetzt Fotos machen wolle, und die
große Wunde am Ellbogen scheint vergessen …
Wäre vor sieben Jahren in Deutschland
die Präimplantationsdiagnostik erlaubt
gewesen, dann gäbe es Nico heute nicht.
Der Sechsjährige hat einen seltenen Gendefekt, der bewirkt, dass seine Haut bei
geringster Belastung Blasen bildet und
reißt. Epidermolysis bullosa junctionalis
heißt diese Erbkrankheit, ein Leiden, das
schon im Säuglingsalter zum Tode führen
kann und meistens ein Leben voller
Schmerzen und Einschränkungen mit
sich bringt. Ob die Anlage zu dieser unheilbaren Krankheit vorliegt, lässt sich
vorgeburtlich feststellen - anhand einer
einzigen Körperzelle. Die Beschreibung
LebensForum 95
Probedruck
als »schwerwiegender genetischer Schaden«, der nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs die selektive Präimplantationsdiagnostik (PID) rechtfertigen soll,
trifft auf Nicos Fall zu.
Wenn ihr ein solcher Test damals angeboten worden wäre, hätte Nicos Mutter
ihn durchführen lassen, denn für ein
Das Testergebnis war korrekt.
Die Prognose nicht.
schwerkrankes Kind zu sorgen, das hätte
sie sich früher nicht zugetraut. Heute
denkt sie anders.
Nicos Eltern haben mit der Krankheit
ihres Jungen leben gelernt und fühlen
sich inzwischen auch extremen Herausforderungen gewachsen. Ein Schicksal, das
sie sich nie ausgesucht hätten, hat die
Eheleute zusammengeschweißt und stark
gemacht. Denn was kann es für Eltern
Schlimmeres geben als die Aussage von
Ärzten, ihr Kind leide an einer tödlichen
Krankheitsvariante und werde wahrscheinlich nicht mehr lange leben? Wer
dann den Alltag aushält und sich die Hoffnung nicht nehmen lässt, den kann nicht
mehr viel erschüttern.
Die Aussage der Ärzte stützte sich auf
einen Gentest. Das Testergebnis war korrekt. Die Prognose nicht. Nico geht seit
September zur Schule, und die Ärzte
*Der Beitrag erschien zuerst am 19. Oktober als
»Fremde Feder« in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung. Die Namen wurden von der Redaktion
nicht geändert.
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betrachten ihn als ganz besonderen Fall.
Chiara schwingt auf der Schaukel, dass
die bunten Kirschbaumblätter auf sie herabregnen, und strahlt übers ganze Ge-
und singt, tanzt zum Mundharmonikaspiel
eines Straßenmusikanten, grüßt jeden,
dem sie begegnet. Einer Fremden, die
ihr eine kleine Freude macht, gibt sie un-
Bereichern unser Leben trotz Handicap: Menschen mit Behinderungen.
sicht. Auch sie hat eine genetische Besonderheit: das Down-Syndrom. Zu leiden
scheint sie darunter nicht. Im Gegenteil:
Sie ist ein fröhliches, quicklebendiges
Mädchen. Chiara weiß nicht, dass Kinder
wie sie »heute gar nicht mehr zur Welt
kommen müssten«, wie man so sagt, weil
Die meisten Behinderungen
entstehen nach der Geburt.
man sie bei pränatalen Ultraschalluntersuchungen bereits an ihrer dicken Nackenfalte erkennen und anhand einer
Fruchtwasserprobe aufspüren kann. Nur
jedes Zwanzigste der so »Entdeckten«
erblickt das Licht der Welt. Alle anderen
werden abgetrieben.
Chiaras Fröhlichkeit steckt an. Auf
dem Weg durch die Stadt plappert sie
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Probedruck
gehemmt einen Kuss. Nein, das ist nicht
peinlich; Chiara versprüht einen Charme,
der andere aus eigener Trübsal reißt. Ihre
Eltern finden klare Worte. Sie seien mit
ihrer Tochter »ganz bestimmt nicht weniger glücklich als mit einem gesunden
Kind«. Chiara sei »die größte Bereicherung in ihrem Leben«.
Daniela ist gehbehindert, weil sie kurz
nach der Geburt eine Gehirnhautentzündung bekam, die nicht folgenlos ausheilte.
Doch Mitleid braucht sie nicht. Die attraktive junge Frau im Rollstuhl ist heute
glücklich verheiratet, als Beraterin im
Zentrum für Selbstbestimmtes Leben Behinderter tätig und bekräftigt, dass sie
ihre Behinderung selbst nie als besonders
schlimm empfunden habe: »Ich kenne
mich ja nicht anders.«
Ihrer Tochter den Weg freikämpfen
zu müssen, waren Danielas Eltern gewohnt. Sie nahmen es gefasst, dass das
Mädchen, um die Erlaubnis zum Besuch
der Regelschule zu erhalten, in einem
speziellen Test seine Intelligenz nachweisen musste. Immer wieder machten sie
die Erfahrung, dass man Daniela aufgrund
ihrer Gehbehinderung nicht viel zutraute.
Die Skepsis der Gesunden reichte über
das Abitur hinaus, bis zum Abschluss des
Studiums. Trotz aller Schwierigkeiten
haben Danielas Eltern ihr einen einprägsamen Satz mit auf den Weg gegeben:
»Du bist das Beste, was wir bekommen
konnten.« Das Gleiche sagt ihr Mann.
Warum denken und sprechen die Eltern von Nico, Chiara und Daniela so
positiv über ihr Leben mit einem behinderten Kind? Weshalb steht ihr Empfinden im Gegensatz zu dem der PIDBefürworter? Ganz einfach: PID sondert
nicht Gendefekte aus, sondern Menschen
– Kinder im frühesten Stadium ihrer
Entwicklung. Und diese Kinder bringen
alles mit, was es zum Leben braucht. Eltern, die ein behindertes Kind lieben gelernt haben, wissen das.
Wenn unsere Gesellschaft irgendwann
einmal eine Entwicklungsstufe erreichen
sollte, in der das Leben mit solchen Kindern keinen grenzwertigen Kraftaufwand
mehr erfordert, dann würden sich Diskussionen um die vorgeburtliche Selektion
erübrigen. Denn zum Verschwinden bringen lassen sich Behinderungen durch
solche Eingriffe nicht; die meisten entstehen nach der Geburt.
Nico, Chiara und Daniela sind behindert, doch lebensfroh wie gesunde junge
Menschen. Ihre Eltern hatten sich das
Leben anders vorgestellt, doch eintauschen würden sie diese Kinder um keinen
Preis.
Wer um jeden Preis ausschließlich gesunden Nachwuchs haben möchte, der
sollte Erwachsene adoptieren, denn
Schwangerschaft, Geburt und Kindheit
werden – allem medizinischen Fortschritt
zum Trotz – immer mit hohen Risiken
verbunden bleiben.
IM PORTRAIT
Prof. Dr. med. Holm Schneider
Der Autor, Jahrgang 1969, ist Mitglied
des Bundesvorstands der »Aktion Lebensrecht für Alle
e. V.« (ALfA) und
arbeitet als Kinderarzt und Leiter
der Abteilung für
Molekulare Pädiatrie am Universitätsklinikum Erlangen.
Er ist verheiratet und Vater von fünf
Kindern.
LebensForum 95
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Juristische Glanzleistung
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Patrick Sensburg hat einen Gesetzesentwurf für ein Verbot der
Präimplantationsdiagnostik vorgelegt. Festgeschrieben werden soll dieses nicht im
Embryonenschutzgesetz, sondern – eine Überraschung – im Gendiagnostikgesetz.
Von Stefan Rehder
LebensForum 95
Probedruck
des Gesetzes bislang auf genetische UnSensburg begründet das Verbot damit,
tersuchungen und Analysen beschränkt,
dass die PID »bei bekannter elterlicher
die »bei geborenen Menschen sowie bei
Veranlagung« an Embryonen durchgeEmbryonen und Föten während der
führt würde, »die eigens zur Ermöglichung
Schwangerschaft« durchgeführt werden,
von PID extrakorporal erzeugt wurden«.
will Sensburg den Anwendungsbereich
Da die Eltern »in der Regel auf natürdes Gesetzes ausdehnen. Künftig soll es
lichem Wege fortpflanzungsfähig« seien,
auch genetische Untersuchungen und
sei auch »nur die Ermöglichung der PID
Analysen regeln, die an
Anlass für eine künstliche
künstlich erzeugten EmBefruchtung«. Da »manbryonen durchgeführt
gels therapeutischer Mögwerden können, bevor
lichkeiten« die »einzige
diese in den Uterus einer
durch PID angestrebte
Frau transferiert werden.
Handlungsoption« im
Um dies zu erreichen,
Falle eines entsprechensieht der Entwurf des Juden Befundes im »Verristen, der nicht nur hier
werfen« beziehungsweise
zeigt, dass er sein Hand»Abtöten« oder »Sterbenwerk meisterlich versteht,
lassen des Embryos« bedie Streichung der Worte
stehe, werden die »Würde
»während der Schwan- Professor Patrick Sensburg, CDU
des Menschen und das
gerschaft« vor. Die durch
Recht auf Leben, welche
die Ausweitung des Anwendungsbereiches
auch dem Embryo in seinen frühesten
notwendig werdende juristische DefiniErscheinungsformen zukommen«, misstion des Embryos in vitro übernimmt der
achtet. Dies stelle »eine Diskriminierung
Entwurf kurzerhand aus dem Stammzellaller Menschen dar, die mit solchen Begesetz. Danach gilt als Embryo »jede
hinderungen und Krankheiten leben«.
bereits menschliche totipotente Zelle, die
Auch taktisch spricht für den Gesetzessich beim Vorliegen der dafür erforderlientwurf einiges. Würde nämlich ein Verbot
chen weiteren Voraussetzungen zu teilen
der PID tatsächlich im GenDG verankert
und zu einem Individuum zu entwickeln
und nicht – wie genauso nahe liegend –
vermag«. Bei der dritten und vorletzten
im Embryonenschutzgesetz (ESchG),
Änderung, die der Gesetzesentwurf vorkönnte nicht nur die PID verboten, sonsieht, geht es um die Aufnahme des exdern auch eine andere Gefahr vermieden
pliziten Verbots der PID. Die entsprewerden. Die besteht darin, dass das ESchG
chende Passage lautet: »Eine vorgeburtvielen Abgeordneten – allen voran denen
liche Untersuchung an einem extrakorder FDP – seit langem ein Dorn im Auge
poralen Embryo, die darauf abzielt, geist. Sie liebäugeln deshalb damit, es durch
netische oder morphologische Eigenein neues Fortpflanzungsmedizingesetz
schaften oder das Geschlecht des Embryos
zu ersetzen und darin dann auch Praktiken
festzustellen (Präimplantationsdiagnoswie die Leihmutterschaft und die Eizelltik), darf nicht vorgenommen werden«
spende anders als durch ein striktes Verbot
und soll in § 15 GenDG eingefügt werzu regeln. Allerdings hätte die Aufnahme
den. Abschließend sieht der Entwurf vor,
eines Verbots der PID im GenDG auch
die Missachtung des PID-Verbots wie
einen Nachteil. Das Gesetz bedarf nämlich
die allermeisten anderen Verstöße gegen
der Zustimmung des Bundesrates. Eine
das GenDG »mit Freiheitsstrafe bis zu
Mehrheit im Bundestag, die derzeit alles
einem Jahr oder mit Geldstrafe« zu ahnandere als sicher, wenn auch nicht ausgeden.
schlossen ist, wäre dann nur die halbe Miete.
ARCHIV
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er CDU-Parteitag in Karlsruhe
– genauer, die Debatte, die sich
dort zur Präimplantationsdiagnostik (PID) entspannte – bildet, so
eindrucksvoll sie war, lediglich die Overtüre zu einem Mehrakter, dessen letzter
Teil im Bundestag aufgeführt werden
wird. Dafür fehlt derzeit noch sowohl das
Drehbuch als auch ein Zeitplan. Wie bei
einer Laienschauspieltruppe entwickelt
sich das Stück »im Prozess«; während
und aus der Arbeit seiner Akteure. Selbst
wann es aufgeführt werden soll, ist strittig.
Unions-Fraktionschef Volker Kauder
(CDU) will, dass der letzte Akt erst im
Frühjahr 2011 gegeben wird. In einer
Fraktionssitzung sagte Kauder, Befürworter wie Gegner eines gesetzlichen Verbots
der PID sollten Gelegenheit bekommen,
Expertenanhörungen durchzuführen.
Dabei sind wesentliche Arbeiten längst
erledigt. Nachdem prominente PIDBefürworter aus den Reihen der CDU
einen Gesetzesentwurf vorgestellt hatten,
der sicherstellen will, dass die PID von
Eltern genutzt werden kann, die Gefahr
laufen, genetisch bedingte Krankheiten
auf ihre Kinder zu vererben, liegt nun
auch ein Entwurf für ein PID-Verbot vor.
Entworfen hat ihn der CDU-Parlamentarier Patrick Sensburg. Der Professor sitzt für den Hochsauerlandkreis im
Deutschen Bundestag. Sensburg will ein
strafbewehrtes PID-Verbot im Gendiagnostikgesetz (GenDG) festschreiben, das
im Februar 2010 in Kraft trat. Das macht
insofern Sinn, als zu den Zielen des Gesetzes nicht nur zählt, »die Voraussetzungen für genetische Untersuchungen« und
»Analysen« zu regeln sowie »die Verwendung genetischer Daten und Proben« zu
bestimmen, sondern auch »eine Benachteiligung auf Grund genetischer Eigenschaften zu verhindern«, um »insbesondere die staatliche Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Würde des
Menschen und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren.«
Weil sich jedoch der Anwendungsbereich
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Gewissen bleiben frei
Es hätte böse ins Auge gehen können. Im Oktober hätte der Europarat um ein Haar einen Bericht der
britischen Parlamentarierin Christine McCafferty durchgewunken. Nicht zuletzt
aufmerksamen Lebensrechtlern, darunter auch der ALfA, ist es zu verdanken, dass der weitreichende
Anschlag auf die Freiheit des Gewissens am Ende erfolgreich abgewehrt werden konnte.
Von Stefan Rehder
D
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Probedruck
und Familie des Europarates. Federführend war dabei die britische Abgeordnete Christine McCafferty.
Nach einer kontrovers geführten Debatte stimmten die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des EuropaARCHIV
er Appell hätte kaum eindringlicher sein können als der, mit
dem sich die Bundesvorsitzende
der »Aktion Lebensrecht für Alle e. V.«
(ALfA), Claudia Kaminski, einen Tag vor
der entscheidenden Abstimmung an die
Mitglieder der deutschen Delegation der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates wandte. »Hier geht es nicht um
die Durchsetzung christlicher Moralvorstellungen, sondern um den Erhalt eines
Grundrechtes«, stellte die Ärztin klar.
Und weiter: »In pluralen Gesellschaften,
die über eine Vielzahl unterschiedlicher
Anbieter medizinischer Leistungen verfügen, gibt es keinerlei Anlass, Einrichtungen zu zwingen, alle gesetzlich erlaubten
Leistungen auch anbieten und durchführen zu müssen.« Wer medizinische Leistungen wünsche, die Christen aus Gewissengründen ablehnen müssten, habe heute
viele Möglichkeiten, diese auch zu erhalten. »Reichen Sie Ihre Hand nicht denen,
die eine uniforme Gesellschaft anstreben
und aus ideologischen Gründen die Freiheit der Gewissen einschränken oder gar
abschaffen wollen. Versagen Sie daher
dem McCafferty-Bericht morgen ihre
Stimme«, appellierte Kaminski an die 18
deutschen Delegierten.
Was war passiert? Anfang Oktober
sollte die Parlamentarische Versammlung
des Europarates über einen Bericht der
britischen Sozialistin Christine McCafferty abstimmen. Erklärtes Ziel des Berichtes, dessen eigentlicher Titel »Der
Zugang von Frauen zu rechtmäßiger medizinischer Versorgung – Das Problem
der nicht geregelten Inanspruchnahme
des Rechts auf Ablehnung bestimmter
Behandlungen aus Gewissengründen«
lautet, war es, »ein Gleichgewicht zwischen dem persönlichen Recht auf Gewissensentscheidungen und dem Recht der
Patienten auf die gesetzlich zulässige Versorgung« zu schaffen. Verfasst wurde er
vom Komitee für Soziales, Gesundheit
Christine McCafferty
rates mehrheitlich für einen Änderungsantrag, der das ursprünglich angestrebte
Ziel nicht nur zunichtemachte, sondern
auch ins Positive wendete. Wo der McCafferty-Bericht Einrichtungen zwingen
wollte, gesetzlich erlaubte Eingriffe wie
Abtreibungen, künstliche Befruchtungen
und Euthanasie auch dann durchzuführen,
wenn diese dem Selbstverständnis der
Einrichtung diametral zuwiderliefen,
heißt es nun: »Kein Arzt oder Krankenhaus, die eine Abtreibung oder Sterbehilfe
ablehnen, sollen dafür zur Verantwortung
gezogen werden.«
Die Sozialistin Christine McCafferty
sprach nach der Abstimmung von einer
»Schande für Europa«. Andere, so etwa
auch die Bundesvorsitzende der ALfA,
sahen dies jedoch ganz anders. »Lebensrechtler in ganz Europa können mit dem
erreichten Ergebnis sehr zufrieden sein«,
strahlte Kaminski. Das Votum der Delegierten sei »ein Sieg der Vernunft über
eine die Freiheit missachtende Ideologie«.
Tatsächlich kann die Wende, welche
die Proteste bewirkten, gar nicht hoch
genug eingeschätzt werden. Obwohl der
Europarat, dem 47 Staaten Europas und
Asiens angehören, anders als das Europäische Parlament über keinerlei gesetzgebende Kompetenz verfügt, finden die von
der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates angenommenen Texte jedoch
nicht selten als so genanntes »soft law«
Beachtung in den nationalen Parlamenten
der Mitgliedsstaaten, die, abhängig von
der Größe ihrer Bevölkerung, Abgeordnete als Delegierte nach Straßburg entsenden. Die Relevanz, die auch das »weiche
Recht« besitzen kann, sollte von niemandem unterschätzt werden. Ein Beispiel:
Obwohl das angebliche »Recht auf reproduktive Gesundheit«, das 1994 auf der
Weltbevölkerungskonferenz in Kairo erfunden wurde und vorgeburtliche Kindstötungen einschließt, bislang in kein ordentliches Gesetz Eingang fand, dominiert es heute auf vielfältige Weise die
Entwicklungspolitik der Industrieländer.
So gesehen wunderte es keineswegs,
dass sich im Vorfeld der Abstimmung in
vielen Ländern zahlreiche Organisationen
schriftlich an die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
wandten und an diese appellierten, einer
Annahme des McCafferty-Berichts ihre
Stimme zu versagen. Denn wäre der McCafferty-Bericht vom Europarat angenommen worden, hätte er die mit gesetzgeberischer Kompetenz ausgestatteten
Parlamente der Mitgliedsstaaten sicherlich zu ähnlichen Initiativen animiert.
Damit aber wäre die Zukunft von
Krankenhäusern und Pflegeheimen in
LebensForum 95
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christlicher Trägerschaft ernsthaft gefährdet gewesen. Der wichtigste Grund: Der
McCafferty-Bericht sah vor, dass medizinische Einrichtungen künftig prinzipiell
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ARCHIV
ARCHIV
katholische Krankenhäuser und Pflegeheime auch die Tötung von Patienten auf
deren Verlangen organisieren. Darüber
hinaus wollte der McCafferty-Bericht er-
Claudia Kaminski
Klaus Küng
sämtliche Leistungen anbieten müssen,
die in einem Land nicht ausdrücklich per
Gesetz verboten sind. Zwar hätten sich
einzelne Angestellte auch dann noch an
der Mitwirkung einer solchen »legalen«
Leistung unter Berufung auf ihr persönliches Gewissen entziehen können. Allerdings hätte der Arbeitgeber in einem solchen Fall sicherzustellen gehabt, dass der
Patient die gewünschte Leistung in dieser
Einrichtung dennoch erhält.
Da der Kostendruck im Gesundheitswesen enorm ist, hätte dies in der Praxis
vermutlich dazu geführt, dass Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in vielen Einrichtungen bereits vor einer Einstellung
darauf hin geprüft worden wären, ob ihr
Gewissen hinreichend flexibel ist. Der
Grund hier: Ist ein Krankenhaus verpflichtet, sämtliche gesetzlich erlaubten
Leistungen auch zu erbringen, muss der
Angestellte, der sich aus Gewissensgründen weigert, an einer bestimmten Leistung mitzuwirken, durch einen anderen
ersetzt werden, was unweigerlich ein höheres Personalaufkommen erforderlich
machen würde und betriebswirtschaftlich
zu erheblichen Probleme führen könnte.
Damit nicht genug: Sofern sich etwa
der Deutsche Bundestag den Inhalt des
McCafferty-Berichts zu eigen machte,
wären etwa katholische Krankenhäuser
verpflichtet, Patientinnen, die das wünschen, eine Abtreibung, Paaren eine
künstliche Befruchtung oder auch eine
Sterilisation in ihrem Haus zu ermöglichen.
In Belgien oder den Niederlanden müssten
reichen, dass alle medizinischen Einrichtungen künftig ein Verzeichnis führen, in
dem alle Mitarbeiter verzeichnet und einer
staatlichen Stelle gemeldet werden, die
sich unter Berufung auf ihr Gewissen
LebensForum 95
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Zu den Organisationen, die sich in
Deutschland schriftlich gegen die Annahme des McCafferty-Berichtes an die 18
Mitglieder der deutschen Delegation gewandt haben, gehörten unter anderem
die Malteser, die in Deutschland zahlreiche Krankenhäuser unterhalten, die Deutsche Evangelische Allianz, die Ärzte für
das Leben und die Christdemokraten für
das Leben (CDL). So heißt es etwa in
dem Schreiben der Malteser: »Den Maltesern, als katholischer Krankenhausträger
in Deutschland, würde die Annahme des
Berichtes erhebliche Schwierigkeiten bereiten, in der Konsequenz wahrscheinlich
die Arbeit in diesem Bereich unmöglich
machen.«
In Österreich hat sich der Bischof von
Sankt Pölten, Klaus Küng, »als ReferatsVerantwortlicher der österreichischen Bischofskonferenz für katholische Krankenanstalten« per SMS an die Delegierten
gewandt. In der Kurznachricht, die alle
Mitglieder der österreichischen Delegation auf ihr Handy erhielten, erinnert
Küng daran, dass die Gewissensfreiheit
»zu den Grundrechten des Menschen«
gehöre. Niemand dürfe gezwungen werden, »etwas zu tun, was seinem Gewissen
– und den in der Schöpfung selbst verankerten Geboten – widerspricht.« Oft werde »in unserer Gesellschaft der Wert der
Die »Softlaw«-Schmiede: Der Europarat in Straßburg.
weigern, an gesetzlich erlaubten medizinischen Leistungen mitzuwirken. Diese
schwarze Liste sollte offenbar genutzt
werden, um es Angestellten mit sensiblen
Gewissen zu erschweren, bei einem Wechsel andernorts angestellt zu werden.
Freiheit als wichtigstes Gut angepriesen.«
»Ich appelliere an Sie, in diesem richtigen
Sinn von Ihrer Freiheit Gebrauch zu machen und es anderen zu ermöglichen, ihre
Gewissensfreiheit auch weiterhin zu wahren«, so Küng weiter.
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GESELLSCHAFT
Zeichen für Humanität
und Solidarität
1.800 Menschen – so viele wie noch nie – nahmen in diesem Jahr am »Marsch für das Leben« durch
die Bundeshauptstadt teil. Schweigend und in Begleitung der Polizei. Doch auch diesmal störten
Abtreibungsbefürworter mit vielfältigen Aktionen die ansonsten friedliche Demonstration. Eine Reportage.
Von Matthias Lochner
N
och ist es trocken. Der Wind
pfeift kalt. Ab und an durchbrechen vereinzelte Sonnenstrahlen
die Wolkendecke. Ein typischer Herbsttag. Es ist Samstag, der 18. September,
13.00 Uhr. Vor dem Neptunbrunnen
nahe des Roten Rathauses in Berlin haben
sich Menschen aus ganz Deutschland vor
einer kleinen Bühne versammelt. Frauen
der deutschen Lebensschutzgruppen, hat
zum »Marsch für das Leben« geladen.
Wie jedes Jahr beginnt die Veranstaltung
mit einer Kundgebung. »Herzlich willkommen, liebe Freunde des Lebens. Wir
sind hier heute zusammengekommen,
um friedlich für das Recht jedes Menschen, ob geboren oder noch nicht, ob
gesund oder krank, ob jung oder alt, zu
gruppen zu Wort. Die stellvertretende
ALfA-Bundesvorsitzende Alexandra Maria Linder etwa berichtet von ihren erschreckenden Recherchen, die sie im
Buch »Geschäft Abtreibung« zusammengetragen hat. Ulrike und Thomas Schührer vom »Durchblick e. V.« stellen ihre
erfolgreiche »Embryonenoffensive« vor,
in der sie Kunststoffmodelle, die eine 1:1Abbildung eines Embryos in der zehnten
Schwangerschaftswoche darstellen, an
tausende Haushalte verteilen und überwiegend auf positive Resonanz stoßen.
Auch Vertreter von Lebensschutzgruppen
aus dem Ausland sind gekommen, darunter der Gründer von »Rock For Life«
und Vorsitzende der christlichen Lebens-
»Jedes Kind hat das Recht
geboren zu werden.«
Ein Heer aus weißen Kreuzen: der diesjährige Marsch für das Leben.
und Männer, Kinder und Jugendliche,
Erwachsene jeden Alters – sie alle sind
in die Hauptstadt gekommen, um hier
für das Leben zu demonstrieren. Der
Bundesverband Lebensrecht (BVL), der
von der »Aktion Lebensrecht für Alle«
(ALfA) e. V. mit gegründete Dachverband
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Probedruck
demonstrieren. Wir setzen ein Zeichen
für Humanität und Solidarität in unserer
Gesellschaft«, begrüßt der Bonner Publizist und BVL-Vorsitzende Martin Lohmann die Menschenmenge.
Während der Kundgebung kommen
Vertreter verschiedener Lebensrechts-
schutzorganisation »Stand True Ministries«, Brian Kemper aus den USA, eine
Gruppe junger Pro-Lifer aus Belgien, die
den Pro-life-Marsch in Brüssel organisiert, sowie das Ehepaar Dorenbos von
der Organisation »Schreeuw om Leven«
aus den Niederlanden. »Möge in jeder
europäischen Hauptstadt ein Marsch für
das Leben als starkes Signal für das Recht
auf Leben in Europa stattfinden«, ruft
Bert Dorenbos von der Bühne.
Dazwischen werden Grußworte verlesen, von denen der BVL dieses Jahr mehr
als je zuvor erhalten hat. Zahlreiche Unionspolitiker haben geschrieben, darunter
die Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und Annette Schavan
(CDU), der Vorsitzende der Unions-BunLebensForum 95
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destagsfraktion, Volker Kauder (CDU),
der saarländische Ministerpräsident Peter
Müller (CDU), der Beauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Behinderung, Hubert Hüppe, der InnenausschussVorsitzende des Deutschen Bundestages,
Wolfgang Bosbach (CDU), die Vorsitzende
des Bundes Katholischer Unternehmer
(BKU) und CDU-Abgeordnete MarieLuise Dött, die stellvertretende UnionsFraktionsvorsitzende Ingrid Fischbach
(CDU), der CSU-Abgeordnete Johannes
Singhammer sowie der Europaparlamentarier Martin Kastler (CSU). Der Vorsitzende der Senioren-Union, Otto Wulff,
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wichtiges Signal an Politik, Gesellschaft
und Forschung senden: »Die Würde des
Menschen ist unantastbar und benötigt
den ihm gebührenden Schutz. Dies gilt
auch für das ungeborene Leben!« Der
EU-Parlamentarier Martin Kastler bezeichnet die Abtreibung in seinem Gruß-
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tionsdiagnostik (PID) gesetzlich zu verbieten, die geltenden Abtreibungsgesetze
und ihre Praxis einer gründlichen und
umfassenden Prüfung und Korrektur zu
unterziehen, dem erneuten Aufkommen
von Sterbehilfe/Euthanasie Einhalt zu
gebieten sowie die Finanzierung der Ab-
»Hätt’ Maria abgetrieben,
wärt ihr uns erspart geblieben.«
und der Vorsitzende der Jungen Union,
Philipp Mißfelder, haben ein gemeinsames
Grußwort gesandt.
»Unsere Pflicht als Christ ist es, allen
gegenüber deutlich zu machen, dass das
Leben ein Geschenk Gottes ist und nicht
zur Disposition Dritter steht. Jedes Kind
hat das Recht, geboren zu werden«, ermutigt etwa Verteidigungsminister KarlTheodor zu Guttenberg die Lebensschützer. Wolfgang Bosbach betont in seinem
Grußwort die Menschenwürdegarantie
jedes Embryos: »Jeder Embryo hat von
Anfang an das im Grundgesetz verankerte
Recht auf Leben und Schutz. Ihm kommt
die gleiche, volle Menschenwürde zu wie
jedem schon geborenen Menschen«, so
der CDU-Politiker. Bildungs- und Forschungsministerin Annette Schavan dankt
in ihrem Grußwort allen, »die sich mit
unermüdlichem Engagement für den
Schutz des Lebens und die Unantastbarkeit der menschlichen Würde einsetzen«.
Otto Wulff und Philipp Mißfelder bekunden in ihrem Brief den Lebensrechtlern
ihre Sympathie und heben hervor, dass
sich die Senioren-Union und die Junge
Union »generationsübergreifend zum
Schutz des Lebens« bekennen. »Das
Recht auf Leben, insbesondere das Recht
ungeborener Kinder, ist ein Grundrecht,
das Menschen nicht in Frage stellen
dürfen«, ermahnt Marie-Luise Dött. Das
Engagement des BVL, »das sich gegen
die immer noch andauernde Praxis des
Tötens ungeborener Kinder wendet, ist
ein wichtiger Beitrag, um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen und ihn zu
bekämpfen«, so die BKU-Vorsitzende.
Ingrid Fischbach schreibt den Lebensrechtlern, dass sie mit dem Marsch ein
LebensForum 95
Probedruck
44 dieser Kreuze fischte die Polizei anschließend aus der Spree.
wort als »Geißel«, die jeden Tag unzähligen ungeborenen Menschen das Leben
koste, und bestärkt die Marschteilnehmer:
»Lasst uns alle gemeinsam, jeder an seinem Ort, immer wieder für echte Menschenwürde und das Ja zum Leben streiten!« Der Bitte nach einem Grußwort
konnte Bundeskanzlerin Angela Merkel
»aus Gründen der Gleichbehandlung«
nicht nachkommen, so Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in einem Schreiben.
Der Schutz des ungeborenen Lebens sei
ihr jedoch wichtig und ihr liege sehr viel
daran, »dass sich jedes Kind in unserem
Land willkommen fühlt und in einer kinderfreundlichen Umgebung aufwachsen
»Gott ist scheiße,
ihr seid die Beweise.«
kann«. Während die anderen Grußworte
mit Applaus bedacht werden, bleibt es an
dieser Stelle merklich leise. Auch die
»Berliner Erklärung zum Schutz des
menschlichen Lebens« wird verlesen. Darin fordert der BVL u. a. die Präimplanta-
treibung durch den Staat zu stoppen und
die damit freiwerdenden jährlich mehr
als 40 Millionen Euro Schwangeren und
Familien zukommen zu lassen.
Es fällt auf, dass viele junge Menschen
zum Marsch gekommen sind. Ein Grund
dafür: Die Jungen Christdemokraten für
das Leben (CDL) und die ALfA-Jugendorganisation Jugend für das Leben (JfdL),
haben ein Rahmenprogramm mit Stadtführung und Party organisiert, an dem
allein 50 junge Erwachsene teilnehmen.
Sophia Kuby spricht als Vertreterin der
jungen Lebensschutz-Generation auf der
Kundgebung: Man wünsche erstens eine
offene und ehrliche Diskussion um alle
Themen des Lebensrechts. Zweitens
müssten die Politiker alles daran setzen,
die Beratung zu verbessern, damit sich
mehr Frauen im Konfliktfall für ein Kind
entscheiden. Drittens solle sich die Bundesregierung klar zum Grundgesetz bekennen; die Legalisierung der PID etwa
sei mit der Menschenwürde unvereinbar.
Auf die Frage, welche Botschaft sie konkret für Bundeskanzlerin Merkel habe,
antwortet Kuby: »Den Worten, dass sich
jedes Kind in Deutschland willkommen
und geschätzt fühlen könne, müssen endlich konkrete politische Taten folgen.«
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GESELLSCHAFT
Immer wieder wird die Kundgebung
durch laute Pfiffe und Zwischenrufe gestört. Wie im vergangenen Jahr haben
sich Gegendemonstranten unter dem
tun, dass ihn die Lebensschützer »ankotzen«.
Der Hass der Gegendemonstranten
richtet sich gegen den Marsch, aber auch
zu tragen«. Der Marsch sei ein ausgezeichnetes Mittel, »die Sensibilität der
Öffentlichkeit für die Fragen des Lebensschutzes zu schärfen«, so der päpstliche
Botschafter Jean-Claude Périsset. Georg
Kardinal Sterzinsky, der später am Gottesdienst teilnimmt, wünscht dem Marsch
Erfolg und öffentliche Beachtung.
Um kurz nach 14.00 Uhr setzen sich
die Lebensrechtler langsam in Bewegung.
Jeder erhält eines der 1.000 weißen Holzkreuze, ein Banner mit lebensbejahenden
Slogans oder ein Plakat mit Fotos von
»Das Anliegen des Lebens
auf die Straßen tragen.«
Die Marschteilnehmer ließen sich trotz militanter Gegendemonstranten nicht aus der Ruhe bringen.
Motto »1.000 Kreuze in die Spree« versammelt. Sie sind eine Mischung aus Feministen, Abtreibungsbefürwortern, Homosexuellen-Gruppen, so genannten Antifaschisten und linksextremen Autonomen. Einer hält ein schwarzes Holzkreuz
»Die Sensibilität der Öffentlichkeit
für den Lebensschutz schärfen.«
in die Höhe, an das eine Babypuppe genagelt ist. Andere winken mit aufgeblasenen Kondomen oder so genannten Sexspielzeugen. Wechselnde Sprechchöre
sind zu vernehmen: »Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt‘ Ihr uns erspart geblieben.«
– »Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat.« – »Gott ist scheiße, Ihr seid die
Beweise.« – »Hölle, Hölle, Hölle, wir
sehen uns in der Hölle.« Auch Papst Benedikt XVI. wird mehrfach beschimpft;
ein Plakat stellt ihn gar als pädophil dar.
Ein Gegendemonstrant hat sich eine
Priestersoutane übergestreift, steht für
alle gut sichtbar auf einer Bank und küsst
wild einen anderen Mann. Später, während des ökumenischen Gottesdienstes,
wird ein als Frau verkleideter Mann halbnackt durch die St. Hedwigs-Kathedrale
laufen; ein anderer am Mikrofon kund16
Probedruck
gegen alles Christliche. Die Pfiffe werden
lauter, als die Berliner Weihbischöfe Wolfgang Weider und Matthias Heinrich
spontan die Bühne betreten. Heinrich ist
nur schwer zu verstehen, als er betont:
»Unsere Gesellschaft kann es sich nicht
leisten, gegen das Leben zu sein.« Weitere
Bischöfe sind nicht anwesend, haben aber
Grußworte geschickt, so etwa der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz
(DBK), Robert Zollitsch, der Apostolische
Nuntius in Deutschland, Jean-Claude
Périsset, die Erzbischöfe Joachim Meisner
aus Köln, Georg Sterzinsky aus Berlin
und Ludwig Schick aus Bamberg sowie
die Bischöfe Heinz-Josef Algermissen
(Fulda) und Gregor Maria Hanke (Eichstätt). Erfolg bei ihrem Einsatz für
das gemeinsame Ziel, »den Schutz des
menschlichen Lebens in unserem Land
zu fördern«, wünscht der DBK-Vorsitzende Erzbischof Robert Zollitsch. Joa-
»Können es uns nicht leisten,
gegen das Leben zu sein.«
chim Kardinal Meisner ist froh und dankbar, dass sich die Lebensschützer entschlossen haben, »das Anliegen des Lebens auf die Straßen unserer Hauptstadt
Frauen und Kindern. Während ein plötzlicher und starker Platzregen einsetzt,
folgen sie schweigend der Polizei an der
Spitze des Zuges. Über die Karl-Liebknecht-Straße, vorbei am Berliner Dom,
dem Lustgarten und dem Deutschen Historischen Museum, geht es zur St. Hedwigs-Kathedrale. Mehrere Gegendemonstranten mischen sich unter und stören
den Schweigemarsch mit Pfiffen und lauten Rufen. Einige werfen Eier und Wasserbomben. Andere bedrängen Lebensrechtler, etwa indem sie ihnen so genannte
Sexspielzeuge ins Gesicht halten. Wieder
anderen gelingt es, Holzkreuze zu entwenden und sie unter großem Jubel der
Gegendemonstranten in die Spree zu
werfen. 44 Kreuze wird die Polizei später
herausfischen. Sie lässt die Marschgegner
weitgehend gewähren, denn sie ist unterbesetzt. Mit so vielen Lebensschützern
hat offenbar keiner gerechnet und weitaus
mehr Einsatzkräfte werden bei der zeitgleich stattfindenden Anti-Atom-Demo
am Brandenburger Tor benötigt. Die
Marschteilnehmer lassen sich durch die
vielen Provokationen jedoch nicht aus
der Ruhe bringen und gehen ruhig weiter.
Eine Frau Mitte 50 verteilt am Straßenrand Flyer an die Demogegner und sagt
ihnen, dass Jesus sie liebe. Ein jüngerer
Mann berichtet später, dass er während
des Marsches für die Gegendemonstranten gebetet habe.
15.20 Uhr vor dem Haupteingang der
St. Hedwigs-Kathedrale: Die Gesichtszüge des Einsatzleiters sind entspannt. Er
ist kaum von den anderen Polizisten zu
unterscheiden. Einzig der vertikale Balken
anstelle von horizontal nebeneinander
angeordneten Punkten auf dem Rücken
der Uniform macht ihn als Leiter des
Einsatzes kenntlich. Der Mittvierziger
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KURZ & BÜNDIG
zum Mikrofon schreitet, sich bei der Berliner Polizei bedankt und die Zahl von
mindestens 1.800 Teilnehmern mit einem
Lächeln verkündet, erschallt lang andau-
Weniger Abtreibungen
Wiesbaden. Die Zahl der vorgeburtlichen
Kindstötungen ist im dritten Quartal dieses
Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum
leicht gesunken. Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte, wurden im
Juli, August und September 2010 rund 26.500
Abtreibungen in Deutschland gemeldet. Das
waren 100 weniger als im dritten Quartal
2009. Knapp drei Viertel (74 Prozent) der
»Nächstes Jahr sollte jeder noch
einen Freund mitbringen.«
ernder starker Applaus. Die Lebensschützer freuen sich über die Rekordteilnehmerzahl, hier und da ist leiser Jubel
zu vernehmen. »Nächstes Jahr«, so der
BVL-Vorsitzende, »sollte jeder noch einen Freund mitbringen. Dann ist unser
Zeichen für den Lebensschutz in Deutschland wirklich nicht mehr zu übersehen.«
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DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
mit kurzen braunen Haaren und rahmenloser Brille beantwortet die Nachfragen
freundlich: 1.800 Marschteilnehmer habe man gezählt; zwischen 200 und 250
Gegendemonstranten, wobei ihre Zahl
schwer zu schätzen sei, da sie häufig den
Standort wechselten. Zwischen 15 und
20 von ihnen mussten zwischenzeitlich
in Gewahrsam genommen werden, weil
sie den Schweigemarsch »massiv« störten.
In der Kirche hat derweil der ökumenische Gottesdienst begonnen. Die Bänke
sind voll besetzt, einige setzen sich auf
den Boden oder Treppenstufen, andere
stehen im hinteren Teil der Kirche. Die
ersten drei Strophen von »Großer Gott
wir loben Dich« tönen durch die Kirche;
alle singen lautstark mit. Den Menschen
ist Erschöpfung und Erleichterung anzusehen. Als Martin Lohmann abschließend
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Schwangerschaftsabbruch mittels Sauger
Frauen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen ließen, waren zwischen 18 und 34
Jahren alt. 97 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche wurden nach der Beratungsregelung
vorgenommen. Danach ist eine Abtreibung in
den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft straffrei, wenn sich die Schwangere
zuvor bei einer anerkannten Stelle beraten
reh
ließ.
Abtreibung ist männlich
Montevideo. Der typische Abtreibungsbefürworter ist männlich, jünger als 40 Jahre alt,
verfügt über einen hohen Bildungsabschluss
und ein vergleichsweise hohes Einkommen.
Das ist das erstaunliche Ergebnis einer Studie,
für die Forscher der Universidad de Montevideo in Uruguay und 17 weiteren Ländern
Lateinamerikas mehr als 20.000 Menschen
befragt haben. Die Forscher baten die Teilnehmer der Studie ihre Zustimmung zur Abtreibung
mittels einer Skala von eins (»niemals«) und
zehn (»immer«) zu dokumentieren. Erstaunlich
ist das Ergebnis, weil Abtreibungslobbyisten
Abtreibung meist als Frauenrecht bewerben.
Ein weiterer überraschender Befund: Mit
einem Durchschnittswert von 2,1 – möglich
waren 10,0 – ist die Zustimmung zur Abtreibung in allen untersuchten Ländern vergleichsweise gering. Am geringsten fiel sie in Guatemala (1,31), am höchsten in Uruguay (4,13)
aus. In Brasilien und Kolumbien, die zusammen
mehr als die Hälfte der lateinamerikanischen
Bevölkerung stellen, lag die gemessene Zustimmung zur Abtreibung bei 2,27 beziehungsreh
weise 1,80.
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D O K U M E N TAT I O N
Guck mal, wer da schreibt!
Auch die Abtreibungslobby zeigt sich beeindruckt von dem »Marsch für das Leben«, mit dem rund
1.800 Bürgerinnen und Bürger Mitte September in Berlin für das Recht ungeborener Kinder
auf Leben demonstrierten. »LebensForum« dokumentiert einen Offenen Brief, mit dem sich
Abtreibungsbefürworter Mitte Oktober an die Bundesgeschäftsstelle der CDU und die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wandten. Darin fordern sie die Partei auf, sich von Organisationen
wie dem Bundesverband Lebensrecht e.V. zu distanzieren.
schaftsabbrüchen – auch bei Schwangerschaften, die durch Vergewaltigung und
Inzest ausgelöst wurden oder die Gesundheit der Frau beeinträchtigen.
Wir sind der Auffassung, dass die Ziele
des »Bundesverbands Lebensrecht« zutiefst undemokratisch sind. Ein Abtreibungsverbot stellt in keiner Weise eine
Lösung für die vielschichtigen Probleme
der Frauen und ihrer Familien dar, sondern ist nur ein angenehmes Werkzeug,
mit dem sich Konservative durch die
Idealisierung des Ungeborenen als »Lebensschützer« inszenieren – ohne tatsächliche Lösungsansätze für soziale Probleme
bieten zu müssen.
Familienorientierung muss man nicht
damit demonstrieren, dass man sich gegen
Abtreibungen ausspricht, die für viele Frauen eine medizinische und soziale Notwendigkeit darstellen. Frauen und Männer
haben trotz vielfältiger Verhütungsmethoden niemals eine 100 %ige Kontrolle
über die Wirksamkeit von Verhütung.
Ungewollte Schwangerschaften sind nie
auszuschließen. Ein »Gebärzwang« würde
fundamentalen Menschenrechten auf se-
An die
Bundesgeschäftsstelle der CDU
Klingelhöferstraße 8
10785 Berlin
und an
Deutscher Bundestag
Fraktion der CDU/CSU
Platz der Republik 1
11011 Berlin
mit der Bitte um Weitergabe an die
Fraktionsmitglieder und Fachreferate
Berlin, 11. Oktober 2010
Am 18. September 2010 fand in Berlin
der »Marsch für das Leben« statt, der
vom »Bundesverband Lebensrecht« organisiert wurde. Bei dieser Demonstration
wurden verschiedene Grußworte von
prominenten Mitgliedern der CDU und
CSU verlesen, unter anderem von Annette Schavan (Bundesministerin für Bildung
und Forschung), Karl-Theodor zu Guttenberg (Bundesverteidigungsminister),
Volker Kauder (Fraktionsvorsitzender
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion),
Wolfgang Bosbach (InnenausschussVorsitzender des Deutschen Bundestages), Peter Müller (Ministerpräsident des
Saarlands), Martin Kastler (CSU-Europaabgeordneter), Johannes Singhammer
(CSU-Abgeordneter), Philipp Mißfelder
(Bundesvorsitzender der Jungen Union).
Die im »Bundesverband Lebensrecht«
organisierten Abtreibungsgegner vertreten ein fundamentalistisch-christliches
Weltbild, das auch vielen Wählern und
Mitgliedern der CDU zu weit gehen dürfte, u. a. verfolgen sie das Ziel des ausnahmslosen Verbots von Schwanger18
Probedruck
ARCHIV
Offener Brief
gegen die Unterstützung fundamentalistischer Abtreibungsgegner durch die
CDU/CSU
xuelle und reproduktive Gesundheit widersprechen. Wir fordern daher die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch,
denn mit einer strafgesetzrechtlichen Bedrohung ist das Menschenrecht auf Selbstbestimmung unmöglich.
Abtreibungsgegner schüchtern Frauen
vor Kliniken, an Schulen und im Internet
mit wissentlich falschen Informationen
über Schwangerschaftsverlauf, Entwicklung des Embryos und gesundheitliche
Risiken ein. Durch ihre Aktionen erhöhen
sie das Stigma des Abbruchs in der Allgemeinheit, so dass zunehmend weniger
Ärzte Abbrüche anbieten und Krankenhaus- und Krankenkassenpersonal den
Frauen feindselig begegnen. Gerade in
katholisch geprägten Regionen ist dadurch der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch erschwert. Eine solche
Vorgehensweise, die religiöse Demagogie
wissenschaftlichen und sozialen Fakten
vorzieht, darf von der Politik nicht unterstützt werden!
Statt tendenziell fundamentalistische
Gruppen zu unterstützen, sollten die Vertreter und Vertreterinnen der CDU/CSU
Nicht jedem gefielen die während der Kundgebung verlesenen Grußworte von C-Politikern.
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mit ihren Äußerungen und Aktivitäten
unmissverständlich für das Grundgesetz
der BRD eintreten, in dem festgeschrieben steht: »Männer und Frauen sind
gleichberechtigt« (Artikel 3), Frauen haben ein Recht auf »freie Entfaltung« ihrer
Persönlichkeit (Artikel 2), ihre »Würde«
ist »unantastbar« (Artikel 1). Sexuelle
Aufklärung in Schulen und Familienberatungsstellen sowie kostenloser Zugang
zu Verhütungsmitteln sind wirkungsvolle
Mittel, um ungewollte Schwangerschaften
zu verhindern. Aus ungewollten Schwangerschaften werden keine gewollten, wenn
man Frauen den Abbruch erschwert. Kriminalisierte (und dadurch selbst durchgeführte) Abtreibungen führen laut WHO
weltweit zu etwa 78.000 Todesfällen und
5 Millionen schwer kranken Frauen jährlich. Dieser Realität verschließen sich die
christlichen »Lebensschützer«.
Die Regelung in Deutschland wurde
nach der deutschen Einigung mühsam
parteiübergreifend errungen. Dahinter
dürfen wir nicht zurückfallen!
Zudem sind wir der Auffassung, dass
sich die CDU/CSU von Organisationen
wie dem »Bundesverband Lebensrecht«
distanzieren sollte, die offenkundig Verbindungen zu rechtsextremen Organen
wie der »Jungen Freiheit« unterhalten.
Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses offenen Briefes:
Institutionen/Organisationen/Vereine
• Pro Choice Berlin
• TERRE DES FEMMES
• Familienplanungszentrum Berlin e.V. – BALANCE
• Verband alleinerziehender Mütter und Väter
• Bundesverband e.V., Berlin
• Frau und Familie e.V. Berlin
• Humanistischer Verband Deutschlands – Bundesverband
• pro familia e.V. – Landesverband Baden-Württemberg
• pro familia e.V. – Landesverband Brandenburg
• pro familia e.V. – Landesverband Berlin
• pro familia e.V. – Landesverband RheinlandPfalz
• pro familia e.V. – Landesverband Saarland
• pro familia e.V. – Landesverband Sachsen
• pro familia e.V. – Landesverband Thüringen
• Frauen helfen Frauen e.V. Rostock
• Wildwasser e.V. Berlin
• Giordano-Bruno-Stiftung
• Gender@Wiki e.V.
• Aufbruch Neukölln e.V.
• Landesarbeitsgemeinschaft der Frauennotrufe
Rheinland-Pfalz
• Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen
und Mädchen e.V.
• Fachstelle zu sexualisierter Gewalt, Mainz
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ARCHIV
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Wem gute Argumente fehlen, der muss Druck erzeugen: mit militanten Demos oder per Offenem Brief.
• LIFE e.V. Bildung Umwelt Chancengleichheit
• Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin,
Psychotherapie und Gesellschaft e.V.
• faq Infoladen
• AStA AlleFrauen-Referat, Uni Mainz
• Frauen*referat des AStA der TU Berlin
• queer Referat des AStA der TU Berlin
• Gleichstellungsreferat des StuRa der Universität Jena
Personen
• Prof. Dr. Ulrike Busch, Professorin an der
Hochschule Merseburg für den Studiengang
Sexuelle und reproduktive Rechte
• Sabine Wienholz, Institut für Arbeits- und
Sozialmedizin, Universität Leipzig
• Dr. Andrea Blumtritt, Zentrale Frauenbeauftragte der TU Berlin
• Jana Schmidt-Frielinghaus, Redakteurin Junge
Welt
• Sibylle Spoo, Rechtsanwältin und Gewerkschaftssekretärin, Berlin
• Dr. Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin, Berlin
• Ricarda Fröhlich, Politologin und Journalistin
• Sarah Diehl, Autorin und Filmemacherin
• Dipl.-Psych. Stefanie Rösch, Trauma-Informations-Zentrum
• Daniela Kühling, Dipl.-Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin und Sexualpädagogin, Berlin
• Elke Bräuer, Mitglied des Verdi-Bezirksfrauenrates, Trier
• Jenny Warnecke, Autorin, Uni Freiburg/Basel
Gender Studies
• Kornelia Dubbel, Betriebsrätin Deutsche Telekom, Gewerkschaftsrat ver.di
• Miriam Wohlfahrt, Philipps-Universität Marburg
• Daniela Hrzán, Universität Konstanz
• Dr. Elisabeth von Duecker, Historikerin, Hamburg
• Christiane Pachalski, Betriebsrätin, Bochum
• Birgit Stock, Betriebsrätin
• Nursen Aktas, Sozialarbeiterin
• Prof. Ulrike Busch, Sozialwissenschaftlerin
• Susanna Ganarin, Psychologin
• Andreas Goosses, Psychologe
• Gisela Gröschl, Ärztin
• Christiane Hoffmann-Kuhn
• Dr. Claudia Iserhot, Neurophysiologin
• Nurdan Klinge, Sozialarbeiterin
• Dr. Regina Lutterbeck, Gynäkologin
• Frauke Petras, Psychologin
• Katja Brandt, Friedrich-Schiller-Universität
Jena
• Anna Lena Schnaars, MA Science Public Health
• Birgit de Wall, Betriebswirtin/Sozialarbeiterin
• Dr. Ulrike Hänsch, Sozialwissenschaftlerin,
Berlin
• Diana Fischer, Universität Giessen
• Jan Wetzel, Universität Marburg
• Bettina Gerhardt, Sozialarbeiterin, Berlin
• Sarah Eckhardt, Diplom-Psychologin
• Anna Böcker, Politikwissenschaftlerin, Universität Wien
• Christina Schneider, Ärztin
• Sybille Siebert, Psychologin
• Yori Gagarim, TROUBLE X, Berlin
• Yvonne Konradi, Hamburg
• Sandra Prophet, Studentin der FSU Jena
• Timm Köhler, Berlin
• Maren Hilse, Berlin
• Saskia Sell, M.A.
• Anne Wieser, Bochum
• S. Bergsiek.
• Heinz Krämer
• Helmut Lembach
• Birgit Marth
• Ilona Mixtacka
• Christine Regitz
• Brigitte Schwarz
• Helga Strässer
• Martina Zilezinski
• Rita Eichelkraut
• Dr. Katrin Berndt
• Helene Könau
• Susann Rumplecker
• Niklas Amani Schäfer
• Leonie Louisa Kapfer
• Stefanie Kosmalski
• Magali Castan
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Wessen Irrtum?
Im »Rheinischen Merkur«, Ausgabe vom 21. Oktober, hat der Jurist und Journalist Friedrich Graf von
Westphalen einen groß angelegten und in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Beitrag
unter der Überschrift »Der Irrtum der Lebensschützer« veröffentlicht. »LebensForum«-Autorin
Dr. Maria Overdick-Gulden hat sich mit diesem Beitrag kritisch auseinandergesetzt.
Von Dr. med. Dr. theol. hc. Maria Overdick-Gulden
V
generalisierte Vorwurf gegen »die Lebensschützer« festzumachen? Galt nicht
grundgesetzlich ein »Lebensrecht für
Alle«: für den menschlichen Embryo im
Reagenzglas, das Kind im Mutterleib,
den Schwerkranken, den Sterbenden, den
man vor assistiertem Suizid und aktiver
Euthanasie schützt, haben wir uns nicht
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
or einigen Tagen wischte man
sich beim Durchblättern des
»Rheinischen Merkur« die
Augen. Da stand in großen Lettern der
Titel »Der Irrtum der Lebensschützer«.
Als jahrelanges Mitglied der ALfA e.V.,
der Ärzte für das Leben e.V., der Juristenvereinigung Lebensrecht e.V. und der
Sollen christliche Lebensrechtler ausschließlich so die Nächstenliebe buchstabieren?
IGSL Bingen e.V. mit Verbindung zur
Lebenshilfe e.V., zur Fraternität, zu den
Foren der Familien von Kindern mit
Down-Syndrom, zum »provokanten«
»Durchblick e. V.« wollte ich schon wissen, ob, wo und welchem Irrtum ich selbst
unterlegen war. Errare humanum est: Irren ist ganz und gar menschlich. Dem
stimme ich aus umfangreicher eigener
Lebenserfahrung zu. Aber wo war dieser
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für die Integration behinderter Kinder
und Erwachsener eingesetzt, überwiegend
ehrenamtlich?
Beim Weiterlesen erfuhr man von
weithin bekannten Abtreibungszahlen.
Schließlich dann das resignierende Resümee: »Alle appellativen Bemühungen,
die Rechte des Lebensschutzes ins Bewusstsein der Bevölkerung zu heben, haben offenbar nichts genutzt.« »Das gilt
für die Vertreter der Kirche wie für die
engagierten Laien.« Nur die »intensive,
feinfühlige und auch kundige Beratung
kann helfen«, nicht der Appell von der
Kanzel oder aus dem Mund »der« Lebensschützer! Für Beraterinnen der »Birke e. V.«, von Esperanza, von Caritas
oder aus den Reihen der ALfA e. V. ist
dies keine Neuigkeit. Sie helfen seit Jahren
ohne »Appell«.
Die verallgemeinernde Überschrift
des Essays lässt Informationslücken bezüglich der Themenbreite des Lebensschutzes vermuten. Persönlich wurde ich
an einen ähnlichen Vorwurf des Sprechers der Giordano-Bruno-Stiftung Dr.
Schmidt-Salomon (Trier 1991) erinnert:
»Allen Lebensschutzorganisationen gemeinsam ist das Eintreten für ein generelles Abtreibungsverbot bei Strafandrohung.« Doch weder gibt es »die Lebensschützer« noch eine Einheitswelt der
Schwangeren. Das Leben zeigt eben Vielfalt, und seine Probleme sind vieldimensional. Ärzte zum Beispiel sehen sich
mittels des Wissens moderner Embryologie vorwiegend zur Darstellung dessen,
was bei einer Abtreibung faktisch geschieht, motiviert. Denn erst allmählich
dringt in die gesellschaftliche Wahrnehmung ein, dass hier nicht »Schwangerschaftsgewebe« entfernt wird, sondern
der ungeborene Mensch, der sich naturgemäß von seiner Zeugung an kontinuierlich als Mensch mit seiner je eigenen
Befähigung entwickeln soll. Man sollte
daher nicht mehr das blasse Wort vom
»ungeborenen Leben« wählen, sondern
den »ungeborenen Menschen« mit seinem durch unser Grundgesetz verbürgten
Recht auf Leben zum Thema seiner Protektion machen.
Ärzte und Psychotherapeuten kennen
die möglichen physischen und psychischen
Abtreibungs-Folgen der Frau und ihrer
Familie, sie sprechen über das Postabortion-Syndrom. Dass Abtreibung »gesetzLebensForum 95
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widrig« ist, sollte der Jurist clare et distincte
– jedenfalls klarer als bislang – darlegen!
Was dies für die Qualität der vorgeschriebenen Beratung bedeuten muss, lässt sich
inhaltlich vertiefen und weiter verdeutlichen, damit die »Gesetzwidrigkeit« der
Kindestötung nicht zur bloßen Floskel
degeneriert, um sich am Ende doch noch
zum »Recht auf Abtreibung« umzudefinieren. Der Theologe spricht vom 5. SinaiGebot und von Vergebung.
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Dass die Gesellschaft vorwiegend in
der Nächstenliebe gefordert ist, um eine
Änderung im Lebensschutz zu erreichen,
ist unbestritten. Geldmittel für Frauen
und Kinder in sozialen Notlagen über
Spenden einzuwerben, steht in den Programmen vieler Organisationen. Wenn
sich konfessionelle Gemeinschaften hier
in verstärktem Maß anschließen, wird
dies eindeutig begrüßt. In Lebensrechtsbewegungen wie ALfA e.V. sind grund-
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sätzlich Frau und Kind im Blick: dort
wird kein »Finger« erhoben, sondern
finanzielle Hilfe vermittelt, individuelle
Lebens-Beratung angeboten, der Mut
zum Leben gestärkt.
Andere Organisationen verweisen auf
Hilfsangebote (unter anderem »Die Birke
e. V.«).Die Abtreibungszahlen sind leider
nicht gesunken. Liegt die Lösung wirklich
allein im Finanzressort, wie der Autor
schreibt?
»Der Irrtum der Lebensschützer« (Auszüge)
(...) Alle appellativen Bemühungen, die Rechte
des Lebensschutzes ins Bewusstsein der Bevölkerung zu heben, haben offenbar – jedenfalls
im tatsächlichen Ergebnis – nichts genutzt und
waren daher trotz unendlich vielseitiger Bemühungen nicht geeignet, eine Wende zum Besseren herbeizuführen. Das gilt für die Vertreter
der Kirche wie für die engagierten Laien. (...)
Das Einfordern des unverzichtbaren Schutzes
des menschlichen Lebens erreicht offensichtlich
nicht diejenigen, die es angeht. Das aber ist
kaum verwunderlich. Denn immer kann der
Schutz des menschlichen Lebens nur mit der
Mutter, nie gegen sie erreicht werden. Lehnt
sie das Kind in ihrem Schoß ab, helfen Appelle
nichts. (...)
Nie oder fast nie kann der Appell etwas bewirken, sondern nur die intensive, feinfühlige und
auch kundige Beratung der Schwangeren kann
helfen. Nur sie kann einen Umschwung erreichen, den Vorsatz der Tötung des Kindes umzukehren in eine Haltung, die das Kind als
willkommenes, geliebtes Geschenk annimmt.
Genau das ist es, was der Gesetzgeber seit der
grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Mai 1993 als
Maßgabe für den Gesetzgeber verbindlich vorgeschlagen hat: die Beratung. Sicherlich, sie
hat ihre je eigenen Schwächen, was nicht zu
verschweigen ist. (...)
Dass der freiheitliche Rechtsstaat keine vornehmere und auch keine wichtigere Aufgabe
zu erfüllen hat, als menschliches Leben zu
schützen, ist sicherlich unverzichtbarer Teil der
verfassungsrechtlichen Grammatik. Doch wenn
dem Staat das Attribut, Rechtsstaat zu sein,
immer wieder wegen der angeblichen Duldung
der Abtreibung abgesprochen wird, wenn gar
gesagt wird, der »Staat tötet«, dann ist dies
nur dann legitim, wenn damit nicht nur eine
Beschreibung eines nicht hinzunehmenden Befundes geliefert wird. Es muss auch die Antwort
bereitgehalten werden, wie denn dieser Schutz
tatsächlich auf der Ebene des Staates verbessert
werden soll. Alle Appelle, alle Attacken gegen
den Staat und gegen seine Funktion als Rechtsstaat sind kaum noch hilfreich, wenn sie nicht
LebensForum 95
Probedruck
sogleich eine klare Aussage darüber bereithalten, was denn effektiv und politisch durchsetzbar
zu geschehen hat, um ebendieses Ziel eines
wesentlich verbesserten Lebensschutzes auch
zu erreichen. Unausgesprochen meinen viele
immer noch, dass es das scharfe Schwert des
Strafrechts sein müsse, um dieses wichtige
Ziel zu erreichen. Weil der Embryo in seiner
Arg- und Wehrlosigkeit angegriffen und mithilfe
medizinischer Techniken getötet werde, sagen
sogar einige, dies sei ein Sachverhalt, der dem
Tatbestand des Mordes zuzuordnen sei. (...)
Es ist im Wesentlichen gleichgültig, ob es sich
um eine – strafbewehrte – Indikationslösung
oder um das Modell handelt, das gegenwärtig
gilt: Rechtswidrigkeit, aber Straffreiheit. Und
es macht auch keinen signifikanten Unterschied,
ob der Staat die Abtreibung mit oder ohne vorherige Beratung sanktioniert oder praktisch
freigibt. Es ist aber auch statistisch nicht nachweisbar, dass die Straffreiheit der Abtreibung
dazu führt, dass das Bewusstsein vom Schutz
des menschlichen Lebens nachlässt und folglich
die Abtreibungsziffern in die Höhe schnellen
ließe. In den letzten zehn Jahren ist dieser
Nachweis nicht zu führen. Andererseits ist
damit aber auch nicht der Nachweis zu führen,
dass – wie das Bundesverfassungsgericht gefordert hat – das »Beratungskonzept« menschliches Leben in der Tat so – also: effektiver –
schützt, wie dies dem grundgesetzlichen Auftrag
entspricht. Nachbesserung hat das Gericht
daher eingefordert und die politischen Parteien
als demokratischen Gesetzgeber in die Pflicht
genommen.
Geschehen ist nichts. Gerade das wird von
zahlreichen Christen, die sich in der Regel auch
konservativ nennen, der CDU und CSU auf das
Nachhaltigste angelastet. Doch auch auf dieser
Ebene wird die Frage nicht beantwortet, wie
dies in der politischen Wirklichkeit geschehen
sollte. Dass gleichwohl – gerade auch aus diesem Grund – der Union vielfach nahegelegt
wird, das C in ihrem Namen ersatzlos zu streichen, sei nicht verschwiegen. Aber die Antwort
wird eben nicht mitgeliefert, was im Einzelnen
konkret und in der laufenden Legislaturperiode
geschehen soll. Aus der Sicht der Politiker, die
sich noch dem C verpflichtet fühlen und die
sich redlich darum mühen, den Dialog mit politisch und auch weltanschaulich Andersdenkenden zu gestalten, ist eine solche Attacke wenig
ermutigend. (...)
Wenn aber – ein letzter Gedanke – erkennbar
ist, dass der Staat nicht in der Lage ist, mit
seinen Mitteln, vor allem nicht mit den Mitteln
des Strafrechts, einen effektiveren Lebensschutz
zu erreichen, dann ist entsprechend der gerade
auf dem Deutschen Juristentag von einem
Bonner Pfarrer – in seiner Funktion als katholischer Gesellschaftswissenschaftler referierend
– vertretenen Grundthese nicht der Staat, sondern allein die Gesellschaft gefordert. Nicht
nur der je Einzelne, sondern vor allem die Kirche
in mannigfachen Aufgabenfeldern. Es geht
nämlich um eine neue, höchst innovative Form
kirchlicher Aktivitäten: von Christen initiiert,
vom Bürger aber, auch dem Nichtchristen, nachhaltig im Sinn der Freiheit und der Nächstenliebe
unterstützt. Sie müssten für den Lebensschutz
mit reichlich Geldmitteln ausgestattet innerhalb
der Gesellschaft – abseits des Staates – umgesetzt werden. (...)
Die Kirche sollte ihr Geld für den Lebensschutz
– wesentlich mehr als bisher – einsetzen. Sie
sollte der Politik ein Beispiel geben, wie Nächstenliebe gegenüber den bedrängten Schwangeren zu buchstabieren ist. Sicherlich, das geschieht schon und soll, auch was private Initiativen angeht, nicht kleingeredet werden.
(...)
Der Finger vieler Katholiken, der gegenwärtig
belehrend auf die Politik und auch auf die
Bundeskanzlerin mit reichlich viel Unmut und
Verdruss zeigt, sollte nicht mehr erhoben werden. Vielmehr sollte wagemutig und unternehmerisch-missionarisch die eigene Sendung von
Kirche – zusammen mit den Laien im „Dialog“
– neu buchstabiert werden, als eine Sendung
für den Menschen in dieser Gesellschaft und
in dieser Welt. Das ungeborene Leben muss
in diese Mission eingeschlossen werden, sie
darf auch die Todesstunde der Sterbenden nicht
vernachlässigen.
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GESELLSCHAFT
Tod ohne Sterben
Lange hielt die Bundesärztekammer eine Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach über
die Einstellung von Ärzten zum ärztlich assistierten Suizid und zur Tötung auf Verlangen unter
Verschluss. Nun wurde sie veröffentlicht. Das Ergebnis: Obwohl die große Mehrheit der Ärzte nach
wie vor beides für falsch erachtet, bröckelt die Ablehnung inzwischen spürbar.
Von Matthias Lochner
E
in ärztlich begleiteter Suizid ist
in Deutschland nicht erlaubt.
Zwar ist Beihilfe zur Selbsttötung
nicht strafbar, doch verbietet das ärztliche
Berufsrecht deutschen Medizinern einen
solchen assistierten Suizid. Immer häufiger wird gefordert, dieses Verbot im Berufsrecht aufzuheben und die ärztliche
Suizidbeihilfe zu legalisieren. Doch wie
stehen eigentlich die Mediziner selbst,
die ja dann den Patientenwunsch erfüllen
sollen, zu einer begleiteten Selbsttötung?
Aufschlüsse darüber gibt die Studie »Ärztlich begleiteter Suizid und aktive Sterbehilfe aus Sicht der deutschen Ärzteschaft«,
die das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bundesärztekammer
(BÄK) durchgeführt und im Juli dieses
Jahres publiziert hat.
Im Zuge der repräsentativen Umfrage
wurden 527 Personen, darunter 266 im
ambulanten und 261 im stationären Bereich tätige Ärzte, zufällig nach verschiedenen Arztgruppen und Bundesländern
ermittelt und im Zeitraum vom 14. August
bis 7. September 2009 telefonisch befragt
– mit zum Teil eindeutigen Ergebnissen.
So lehnt mit 62 Prozent die große Mehrheit der Ärzteschaft eine ärztliche Suizidbeihilfe ab. 30 Prozent befürworten die
Legalisierung einer ärztlich begleiteten
Selbsttötung, acht Prozent sind unentschieden. Die ablehnende Haltung gegenüber einer medizinischen Suizidbeihilfe überwiegt in allen Ärztegruppen:
Die niedergelassenen Mediziner lehnen
den ärztlich assistierten Suizid zu 60 Prozent, die Krankenhausärzte zu 65 Prozent
ab. In der Altersgruppe der unter 45 Jahre
alten Mediziner sprechen sich 68 Prozent,
in der Gruppe der 45- bis 54-Jährigen 56
Prozent sowie in der Gruppe 55 Jahre
und älter 63 Prozent der Befragten gegen
eine ärztliche Suizidbeihilfe aus.
Die Gründe für diese ablehnende Haltung der Ärzteschaft zur begleiteten
Selbsttötung lassen sich aus ihrer Zustim22
Probedruck
mung zu wichtigen »Contra«-Argumenten ablesen, die das Institut Allensbach
in der Befragung in fünf Aussagen verpackt hat. Demnach stimmen 89 Prozent
der befragten Mediziner der Aussage zu,
dass eine Legalisierung der Suizidbeihilfe
leicht dazu führen könne, dass sich Menschen um ärztliche Hilfe beim Suizid bemühen, weil sie sich als Belastung für
Familie und Gesellschaft fühlen. Dass es
fast unmöglich sei, einzuschätzen, ob der
Sterbewunsch eines Patienten endgültig
aus religiösen Gründen verbiete es sich,
einen Suizid zu unterstützen, stimmen
44 Prozent der befragten Ärzte zu.
Doch auch häufig in der Diskussion
vorgetragene »Pro«-Argumente, die
ebenfalls in Aussagen verpackt wurden,
stoßen auf Zustimmung der Ärzteschaft.
Die Auffassung etwa, dass es zum Selbstbestimmungsrecht eines Patienten gehöre, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu
bestimmen, bejahten 64 Prozent der Mediziner. 58 Prozent der Befragten stimmen
ist oder sich doch noch ändert, bejahten
69 Prozent der Befragten. Fast zwei Drittel (65 Prozent) vertreten die Ansicht, es
verstoße gegen den hippokratischen Eid,
wenn Ärzte Patienten beim Suizid unterstützen. Nicht ganz die Hälfte der Ärzteschaft (48 Prozent) ist der Auffassung,
niemand könne genau sagen, wann der
Gesundheitszustand eines Patienten so
hoffnungslos ist, dass ein begleiteter Suizid
gerechtfertigt wäre. Der Aussage, schon
der Aussage zu, dass ein Arzt besonders
gut geeignet sei, Patienten beim Suizid
zu unterstützen, weil er wisse, wie man
Medikamente richtig dosiert. 54 Prozent
meinen, durch den ärztlich begleiteten
Suizid werde verhindert, dass ein Patient
unnötig lange Schmerzen erleiden muss.
Die jeweilige Zustimmung der Ärzte
zu den drei »Pro«- und fünf »Contra«Aussagen macht deutlich, dass die Mehrheit der Ärzteschaft einer Suizidbeihilfe
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GESELLSCHAFT
sehr kritisch gegenübersteht, da sie gegen
den hippokratischen Eid verstoße, Menschen auf Druck den Suizid wünschen
könnten und vor allem eine große Ungewissheit darüber besteht, ob ein Patientenwunsch endgültig sein kann. Gleichzeitig achten die Mediziner aber auch
mehrheitlich das Selbstbestimmungsrecht
der Patienten – bis hin zur Wahl des Todeszeitpunktes – sehr hoch, halten sich
selbst für geeignet, Suizidbeihilfe zu leisten und meinen, dadurch könnte eine unnötig lange Leidenszeit verhindert werden.
Noch deutlicher als in der Frage eines
ärztlich begleiteten Suizids fällt das Votum
der Ärzteschaft bezüglich »aktiver Sterbehilfe« aus, etwa durch Injektion eines
tödlichen Medikamentes: 78 Prozent lehnen eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe
ab, 17 Prozent befürworten eine gesetzliche Regelung, die aktive Sterbehilfe ermöglicht, fünf Prozent sind hier unentschieden. Als meistgenannte Gründe, die
aus Sicht der Mediziner gegen eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe sprechen,
wurden Verstoß gegen das Berufsethos/
den hippokratischen Eid (29 Prozent),
zu große Missbrauchsgefahren (24 Prozent), Verstoß gegen allgemeine ethische
Werte (17 Prozent) und Verstoß gegen
persönliche Werte/das Gewissen (16 Prozent) genannt, wobei Mehrfachnennungen möglich waren.
Auffällig ist, dass diese breite Ablehnung sowohl gegen eine Legalisierung
der ärztlichen Suizidbeihilfe als auch gegen aktive ärztliche Sterbehilfe etwas
schwindet, wenn es um den Einzelfall
geht: So käme für mehr als jeden dritten
Arzt (37 Prozent) ein begleiteter Suizid
Ethos und Missbrauch sprechen
gegen eine Legalisierung
unter bestimmten Bedingungen in Frage.
Deutlich höher liegt dieser Wert mit 45
Prozent bei denjenigen, die schon einmal
um Hilfe bei einer Selbsttötung gebeten
wurden. Die drei am häufigsten genannten Bedingungen, die diejenigen Ärzte
angaben, für die eine Unterstützung unter
bestimmten Umständen in Betracht käme,
sind eine medizinisch eindeutige (hoffnungslose) Prognose (48 Prozent), die
gute Kenntnis des Patienten und seiner
Krankheitsgeschichte (34 Prozent) sowie ein hoher Leidensdruck/extreme
Schmerzbelastung (29 Prozent), wobei
auch hier Mehrfachnennungen möglich
LebensForum 95
Probedruck
waren. Jeder vierte Arzt kann sich sogar
vorstellen, aktive Sterbehilfe zu leisten.
Für 70 Prozent käme dies auf keinen Fall
in Frage, ebenfalls fünf Prozent sind in
dieser Frage unentschieden.
Ein interessantes Detail der Umfrage
ist, dass 21 Prozent derjenigen Ärzte, für
die eine Unterstützung bei einer Selbst-
erfüllen sollen.« Es sei wichtig, so der
BÄK-Präsident, klar darauf hinzuweisen,
dass das Mitwirken des Arztes bei der
Selbsttötung dem ärztlichen Ethos widerspreche. »Kranke Menschen haben einen
Anspruch darauf, dass Ärzte ihnen in ihrer
Not beistehen und ihr Leiden lindern«,
so Hoppe weiter.
tötung in Frage käme, dennoch eine Legalisierung ablehnen. Und 35 Prozent
derjenigen, für die sogar eine aktive Sterbehilfe in Frage käme, lehnen ebenfalls
eine Legalisierung derselben ab. Im Klartext: Die Bereitschaft einiger Mediziner
zur Hilfe beim Suizid oder aktiven Sterbehilfe bedeutet nicht automatisch, dass
sie auch einer generellen Legalisierung
des ärztlich begleiteten Suizids beziehungsweise aktiver ärztlicher Sterbehilfe
zustimmen. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass Mediziner teilweise eine
Unterstützung vom konkreten Einzelfall
abhängig machen würden, generelle gesetzliche Regelungen aber ablehnen;
mithin in der Ärzteschaft eine Unsicherheit in Fragen der Sterbehilfe besteht.
In einem Interview mit dem Deutschen
Ärzteblatt zu den Ergebnissen der Studie
äußerte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) denn auch die Vermutung, »dass der schleichende Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft unter
Ärzten für Verunsicherung sorgt«. Sterben und Tod würden in den Konsumgesellschaften der Moderne zunehmend tabuisiert. Macht und Materialismus würden dagegen glorifiziert, kritisierte Hoppe. »Wir Ärzte sind es dann, die den
Wunsch des Patienten oder seiner Angehörigen nach einem Tod ohne Sterben
Einen wichtigen Beitrag dazu leistet
seit Jahren die Palliativmedizin, die nach
Ansicht der befragten Ärzte in Deutschland allerdings noch unzureichend verbreitet ist. So gab mit 73 Prozent eine
breite Mehrheit an, dass die vorhandenen
Kapazitäten für eine palliativmedizinische
Versorgung in Deutschland ungenügend
sind. Nur 17 Prozent meinen, dass die
Kapazitäten für die palliativmedizinische
Versorgung ausreichen, jeder zehnte Arzt
ist in dieser Frage unentschieden. Nahezu
Konsens herrscht auch in der Frage, ob
ein Ausbau der Palliativmedizin die Wünsche nach Sterbehilfe verringern würde:
Fast vier Fünftel (79 Prozent) der Ärzte
sind der Meinung, dass bei einem Ausbau
der palliativmedizinischen Versorgung
weniger Patienten den Wunsch nach Sterbehilfe äußern würden. Diese Mehrheitsmeinung besteht unabhängig davon, ob
die Ärzte stationär oder ambulant tätig
sind, ob sie schon einmal um Hilfe beim
Suizid gefragt wurden oder nicht und ob
sie die Legalisierung einer ärztlich begleiteten Selbsttötung befürworten oder ablehnen.
Diese Auffassung teilt auch BÄKPräsident Hoppe: »Der flächendeckende
Ausbau palliativmedizinischer Versorgungsstrukturen und eine bessere Information der Menschen über die Möglich23
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GESELLSCHAFT
keiten der Palliativmedizin würden sicher
dazu beitragen, dass der Ruf nach aktiver
Sterbehilfe bald verhallt«, so Hoppe in
dem Interview.
Dafür, dass Hoppe Recht hat, spricht
auch, dass Palliativmediziner, also Fachärzte, die tagtäglich mit unheilbaren,
schwere Schmerzen erleidenden und sterbenden Patienten zu tun haben, im Vergleich zur gesamten Ärzteschaft eine noch
deutlich kritischere Haltung gegenüber
jeder Form von Sterbehilfe einnehmen.
So sind lediglich elf Prozent der Palliativmediziner für die Legalisierung des
ärztlich begleiteten Suizids. Eine Unterstützung bei einer Selbsttötung käme
unter bestimmten Bedingungen nur für
14 Prozent der in der Palliativmedizin
Tätigen in Frage, aktive Sterbehilfe lediglich für drei Prozent. Auch bei der Zustimmung zu den in Aussagen verpackten
»Pro«- und »Contra«-Argumenten weichen die Palliativmediziner jeweils von
der gesamten Ärzteschaft zum Teil erheblich ab, und zwar mit der Tendenz,
den »Contra«-Argumenten gegen einen
ärztlich assistierten Suizid mehr und den
»Pro«-Argumenten deutlich weniger zuzustimmen. Am krassesten fällt dabei die
Abweichung bei der Aussage aus: »Durch
den ärztlich begleiteten Suizid wird verhindert, dass ein Patient unnötig lange
Schmerzen erleiden muss.« Während 54
Prozent der Ärzte insgesamt dieser Aussage zustimmen, sind es unter Palliativmedizinern lediglich acht Prozent. Dies
legt den Schluss nahe, dass Palliativmediziner als Experten im Bereich der
Schmerztherapie offenbar die Erfahrung
machen, dass Patienten keine »unnötig
langen Schmerzen« erleiden müssen,
wenn sie denn richtig behandelt werden.
Konsens herrscht wiederum in der
Ärzteschaft darüber, dass lebensverlängernde Maßnahmen eingestellt werden
sollen, wenn ein Patient das zuvor ausdrücklich erklärt hat. Fast drei Viertel
Jeder vierte Arzt kann sich
vorstellen, Sterbehilfe zu leisten.
der Befragten (74 Prozent) vertreten diese
Ansicht. Lediglich fünf Prozent sind dagegen, für 21 Prozent kommt es auf die
Umstände an. Der Umfrage zufolge sind
Patientenwünsche nach einem begleiteten
Suizid Ausnahmefälle, wie drei Viertel
der Mediziner angeben. Nur 16 Prozent
geben an, dass solche Patientenwünsche
häufiger vorkommen – bei Ärzten, die
24
Probedruck
mit unheilbar Kranken häufiger zu tun
haben, sind es 21 Prozent.
Ein gutes Drittel der Befragten (34
Prozent) gab aber an, schon um Hilfe
beim Suizid gebeten worden zu sein. Bei
niedergelassenen Ärzten lag der Wert
etwas höher (36 Prozent), bei Krankenhausärzten etwas niedriger (31 Prozent).
Unter den niedergelassenen Ärzten wurden jeder zweite Hausarzt und 27 Prozent
der Fachärzte schon um Unterstützung
Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe
bei einer Selbsttötung gebeten. Bemerkenswert ist, dass in beiden Gruppen (A:
Schon um Suizidbeihilfe gebeten worden,
B: Noch nicht gebeten worden) ein Verständnis für den Patientenwunsch bestand
bzw. bestehen würde. So konnten 85 Prozent der Ärzte, die schon Erfahrungen
mit solchen Patientenwünschen hatten,
die Gründe nachvollziehen. Immerhin
62 Prozent der Mediziner ohne eine solche Erfahrung hätten grundsätzlich Verständnis dafür und 32 Prozent machen
ihr Verständnis für den Patientenwunsch
vom Einzelfall abhängig.
Lediglich neun Prozent (Gruppe A)
beziehungsweise zehn Prozent (Gruppe
B) hatten grundsätzlich kein Verständnis
für den Wunsch nach ärztlicher Begleitung bei einer Selbsttötung. Das Urteil
in der Ärzteschaft über die Verbindlichkeit
eines solchen Patientenwunsches nach
Sterbehilfe ist hingegen gespalten. Während 38 Prozent der Ansicht sind, der
Sterbewunsch des Patienten »mit einer
schweren, unheilbaren Krankheit« sollte
verbindlich sein, meinen 47 Prozent, der
Arzt sollte nicht gebunden sein. Interessant ist schließlich, dass sich diese Werte
leicht verschieben, wenn sie nach den
Gruppen A und B differenziert werden.
In der Gruppe der Ärzte, die schon um
Hilfe beim Suizid gebeten wurden, liegen
die Werte bei 34 (pro Verbindlichkeit)
und 53 Prozent (contra Verbindlichkeit).
In der Gruppe der Ärzte, die noch nicht
um Suizidbeihilfe gebeten wurden, liegen
Mehrheit will sich nicht an
den Patientenwunsch binden.
die Werte bei 40 (pro Verbindlichkeit)
und 45 Prozent (contra Verbindlichkeit).
Dies zeigt, dass diejenigen Ärzte, die
Erfahrungen mit Sterbewünschen ihrer
Patienten haben, deutlich reservierter
gegenüber einer Verbindlichkeit des Arztes sind. Sie kennen diese schweren Situationen und sicher auch alle Zweifel und
Fragen, die einem Arzt kommen, wenn
einmal ein Patient einen solchen Wunsch
äußert. Ob ein Mediziner, ja überhaupt
jemand solch eine Entscheidung gewissenhaft treffen kann, bleibt auch in der
Umfrage fraglich.
Ein Ergebnis der Studie ist hingegen
sicher: Sollen die Patientenwünsche nach
einer ärztlich assistierten Selbsttötung
und aktiven Sterbehilfe abnehmen oder
gar »verhallen«, soll also Menschen hierzulande tatsächlich ein menschenwürdiges
Sterben ermöglicht werden, dann ist Folgendes zu tun: Zum einen müssen die
angehenden und bereits tätigen Ärzte
besser über die Möglichkeiten der Palliativmedizin unterrichtet und entsprechend ausgebildet werden; zum anderen
muss der flächen- und bedarfsdeckende
Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung in Deutschland intensiv vorangetrieben werden.
IM PORTRAIT
Matthias Lochner
Der Autor, Jahrgang 1984, studierte
Deutsch, Geschichte und Katholische
Theologie für das
Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Universität zu Köln. Er
ist seit 2001 Mitglied der ALfA und
seit Mai 2007 Vorsitzender der »Jugend
für das Leben« (JfdL), der Jugendorganisation der ALfA. Als freier Journalist
publiziert Matthias Lochner regelmäßig
auch in »LebensForum«.
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GESELLSCHAFT
Modell Grevenbroich
Muss man sich die viel zitierte »Autonomie von Patienten« so vorstellen? Ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Modellprojekt zeigt: Aus dem im Bundestag gegen vielfachen Widerstand
durchgesetzten Recht, mittels einer Patientenverfügung im Voraus verbindlich festlegen zu können, wie
man im Falle schwerer Erkrankungen behandelt werden will, droht offenbar eine Pflicht zu werden.
Von Prof. Dr. med. Axel W. Bauer
D
ie Stadt Grevenbroich am Niederrhein mit ihren 64.000 Einwohnern hat dank des von Hape
Kerkeling verkörperten fiktiven stellvertretenden Chefredakteurs Horst Schlämmer in den letzten Jahren einen er-
zumindest dessen, was als solche firmiert
und seit 2009 mit Steuermitteln aus dem
Topf des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung gefördert wird. Das Modellprojekt mit dem mittlerweile vom
Deutschen Patentamt markenrechtlich
folgt, möglichst viele Altenheimbewohner
zum Ausfüllen einer Patientenverfügung
zu bewegen. Gegenüber dem Förderer
wird das Verbundprojekt weiterhin »RESPEKT« genannt, womit nicht etwa der
Respekt vor den betagten Menschen ge-
Hat Grevenbroich auf sympathische Weise bundesweit bekannt gemacht: Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling.
heblichen Bekanntheitsgrad in Sachen
Satire erreicht. Nun sind Grevenbroichs
Altenheime dabei, überregionale Resonanz zu erzeugen, allerdings nicht auf
dem Gebiet des Humors, sondern im Bereich der medizinischen Forschung oder
LebensForum 95
Probedruck
geschützten Titel »beizeiten begleiten«
ist eine von Medizinern, Juristen und
Ethikern der Universitäten Düsseldorf,
Augsburg, Hamburg, Tübingen und Kassel erdachte kontrollierte Interventionsstudie, die das scheinbar hehre Ziel ver-
meint ist, sondern »Respekt für vorausverfügte Entscheidungen und Präferenzen
für den Fall von Krankheit und Tod«.
Es geht den Forschern um die prozessund systemorientierte Implementierung
von Patienten-Vorausverfügungen in Al25
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GESELLSCHAFT
tenheimen und den relevanten Versorgungsstrukturen der Modellregion.
Zu »Begleitern« geschulte Pflegekräfte
sollen den Interessenten (»die vulnerable
und benachteiligte Gruppe alter Menschen in Altenheimen«) Vorsorgevollmachten und Vorausverfügungen erklären, geschulte Hausärzte den Prozess be-
wählen die Probanden für den Fall »dauerhafter Unfähigkeit, selbst zu entscheiden«, offenbar weit häufiger den Ausschluss jeglicher lebensverlängernden
Klare Botschaft zum
Nichthandeln
gleiten und dadurch das Verstehen der
medizinischen Implikationen und die
Wirksamkeit der Schriftstücke gewährleisten. Gleichzeitig soll eine vielfältige
kommunale Intervention bewirken, dass
Vorausverfügungen gesehen und respektiert werden, auch von der Nachtschwester, im Notdienst und im Krankenhaus.
Das Ziel der ersten Studienphase ist
äußerst bescheiden, ja geradezu trivial:
Es soll untersucht werden, ob durch die
rhetorische Beeinflussung der Altenheimbewohner seitens der professionellen Begleiter die Rate qualifizierter Vorausverfügungen in der Region Grevenbroich
ansteigt. »Qualifiziert« ist eine Vorausverfügung vor allem dann, wenn sie im Fall
der Einwilligungsunfähigkeit des Verfügenden eindeutige Anweisungen für die
INFO
Das Bundesministerium für Bildung und
Forschung finanziert das Modellprojekt
»beizeiten begleiten« mit rund 500.000
Euro. Beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) haben die beteiligten
Universitäten den Namen »beizeiten
begleiten« sowie das entsprechende
Logo unter der Nummer 302009008497
markenrechtlich schützen lassen. Der
Schutz der Marke reicht zunächst bis
März 2019.
dann stellvertretend Handelnden gibt.
Angesichts des massiven Einsatzes von
speziell ausgebildeten »Begleitern« wäre
es wahrlich ein Wunder, wenn dieses
Studienziel verfehlt würde.
Die eingesetzten Musterverfügungen
beschreiben Behandlungsszenarien und
Krankheitsverläufe, sie geben sodann
Antwortalternativen zum Ankreuzen vor.
Zwar können sich die Verfügenden durchaus für eine »uneingeschränkte Notfallund Intensivtherapie mit dem Ziel der
Lebensverlängerung« entscheiden, doch
26
Probedruck
unter Umständen das letzte Wort des
alten Menschen in eigener Sache. Derzeit
plant die Bundesärztekammer (BÄK)
außerdem eine Änderung des Berufsrechts
für Mediziner. Der Präsident der BÄK,
Jörg-Dietrich Hoppe, stellt sich eine Formulierung vor, wonach ein Arzt künftig
Menschen beim Suizid helfen dürfe, wenn
er das »mit seinem Gewissen vereinbaren
könne«. Damit wäre der Hippokratische
Eid endgültig Makulatur, denn schon im
Jahre 2008 hatten 35 Prozent der vom
Institut TNS Healthcare befragten 483
Mediziner eine Regelung befürwortet,
die es Ärzten ermöglichen würde, Patienten mit schwerer, unheilbarer Krankheit beim Suizid zu unterstützen. 16 Prozent der Befragten sprachen sich sogar
für eine Legalisierung der bisher strafbaren Tötung auf Verlangen aus.
Das letzte Wort in
eigener Sache
Annette Schavan, CDU
Behandlung einschließlich künstlicher
Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Ein
weiteres Schriftstück, die »Hausärztliche
Anordnung für den Notfall« (HAnNo)
enthält eine »klare Botschaft« für den
Rettungsdienst, den ärztlichen Bereitschaftsdienst oder die Nachtschwester –
in der Regel zum Nichthandeln.
Ohne Zweifel befinden sich Menschen
im Altenheim in einer vulnerablen und
benachteiligten Lebensphase. Man darf
aber gerade deshalb mit Fug und Recht
bezweifeln, dass es keine wichtigeren und
der Förderung würdigeren Forschungsprojekte im Bereich der Allgemeinmedizin und der Medizinethik gäbe als solche,
die ein für Ärzte, Pflegemitarbeiter oder
Angehörige möglichst bequemes, weil
»selbst bestimmtes« Sterben der beizeiten
Begleiteten modellhaft in die Wege leiten
sollen. Die körperliche und seelische Verletzlichkeit der Heimbewohner müsste
es unter dem Aspekt der Humanität eigentlich als moralisch inakzeptabel erscheinen lassen, dass ihnen rhetorisch
geübte »Experten« subtil die Antizipation
eines Behandlungsverzichts schmackhaft
machen.
Angesichts der seit der Reform des
Betreuungsrechts im Jahre 2009 vorgesehenen Verbindlichkeit einer »qualifizierten« Patientenverfügung ist deren Abgabe
Insofern liegt »beizeiten begleiten«
ganz im Trend der modernen opportunistischen Medizinethik, die ihre Forschungsprojekte exakt dort ansiedelt, wo
sie die unausgesprochenen Wünsche ihrer
Sponsoren zu erahnen glaubt: Im Namen
der angeblichen Liberalität sollen Menschen, die selbst keinen aktiven Beitrag
mehr zum ökonomischen Nutzen der
Volkswirtschaft leisten können, dazu motiviert werden, sich möglichst »sozialverträglich« aus dem irdischen Dasein zu
verabschieden. Wer nicht mehr lebt, spart
Rentenversicherungen, Kranken- und
Pflegekassen viel Geld. Redakteur Horst
Schlämmer vom Grevenbroicher Tagblatt
würde dazu wohl sagen: »Da wisst ihr
Bescheid.«
IM PORTRAIT
Prof. Dr. med. Axel W. Bauer
Der Autor, Jahrgang 1955, studierte
Medizin in Freiburg, 1980 Promotion
und Approbation als
Arzt; 1981-1986
Hochschulassistent
in Heidelberg; 1986
dort Habilitation
und Privatdozent für
Geschichte der
Medizin; seit 2004 Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
an der Universität Heidelberg.
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ESSAY
Gefährliche Sprachspiele
Für Wilhelm von Humboldt (1767-1835) war die Sprache noch ein Mittel zur Wahrheitsfindung. In den
aktuellen bioethischen Debatten werden mit Hilfe der Sprache Wahrheiten zunehmend
verschleiert oder gar unkenntlich gemacht. So gesehen ist Biopolitik immer auch Sprachpolitik.
Der nachfolgende Essay erhellt einige besonders perfide Sprachspiele und Wort-Brüche.
Von Dr. med. Dr. theol. hc. Maria Overdick-Gulden
»Wer abgetrieben wird,
kommt nicht zur Sprache.«
Beschönigende, verbrämende, verhüllende Ausdrucksweisen lassen sich im
militärischen, noch mehr im ideologiepolitischen Feld ausmachen. Das wurde
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anlässlich des Ausdrucks »Kollateralschaden« offensichtlich, als damit die Tötung
von Zivilisten während eines militärischen
Angriffs beschrieben wurde. Ein neues
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as etwas »schönfärben« oder
»schönreden« meint, wissen
wir alle. Wir neigen dazu,
unangenehme Botschaften, zu Bedauerndes mit Einfühlungsvermögen, eben
sym-pathisch weiterzugeben, wir wollen
»vermitteln«. Das bedeutet zum Beispiel
in einem Sterbefall vom »Scheiden« und
vom »Abschiednehmen« statt vom Tod
und vom Beerdigen zu sprechen. Die
Wortwahl geschieht aus Rücksichtnahme
und bedeutet Milderung, Schonung, Stil
und mitmenschliche Nähe.
Schönreden lässt sich aber auch in
anderer Absicht, nämlich etwas Schlimmes, sogar Böses zu verbrämen, und so
erfolgreich an den Mann zu bringen. Das
ist auf den ersten Seiten der Bibel belegt:
im Bild vom Baum der Erkenntnis. Nach
dessen Früchten sollen wir bekanntermaßen nicht ehrfurchtslos greifen, nicht
räuberisch. Unseren Wunschträumen
wird Disziplin, das heißt Ordnung, auferlegt. Doch immer wieder überreden
wir uns und andere, indem wir allerlei
Früchte entdecken, ausmalen und voll
Eifer und Leidenschaft als unwiderstehlich, zuletzt als überlebensnotwendig
schildern und darstellen. Nach denen wir
in selbstgefälliger Autonomie »unweigerlich« verlangen! Wie hatten uns doch die
Atomkräfte einmal fasziniert – und wir
sollten sie ausprobieren in Hiroshima
und Nagasaki, dachten auch ihre Entdecker.
Seit der Antike gehört die Rhetorik
zum politischen Tagwerk. Sie verfügt seit
jeher auch über wohlklingend eingängige
Floskeln und verführerische Wortfiguren.
Heute werden die Würde des Menschen,
seine Freiheit und Selbstbestimmung oft
zitiert. Immer wieder wird mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und vor allem Solidarität eingefordert. Trotzdem ist es noch
nicht lange her, dass wir uns über das
»sozialverträgliche Frühableben« ausgelassen haben. Zwar wurde der darin enthaltende Zynismus erkannt und das Logo
1998 zum Unwort erklärt, doch es verblieb de facto in unserem »Wortschatz«.
»Der Begriff Bioethik ist
heute mehrdeutig.«
Wilhelm von Humboldt
so genanntes Unwort war geboren! Dennoch hat es sich trotz oder gerade wegen
seines Sarkasmus zwischenzeitlich zur
Alltagsvokabel entwickelt und ist keineswegs »gestorben«. Im politisch totalitären
Regime wurde zuvor das Verb »liquidieren« (= verflüssigen) für das »Umbringen« von Menschen verwandt, und die
ethnische »Säuberung« beschrieb die
Ausgrenzung von Menschen »fremder
Rasse«. Diese »Anderen« wurden »konzentriert« und danach zur »Endlösung«
geschickt.
Inhaltlich geht es um die Debatte, dass
mit Eintritt ins Rentenalter der Mensch
volkswirtschaftlich und kassentechnisch
mehr Kosten als volkswirtschaftlichen
Nutzen bringt; dass daher bestimmte
medizinische Maßnahmen bei Patienten
ab einer bestimmten Altersgrenze »folglich« nicht mehr durchzuführen sind. In
diesem Zusammenhang fielen Begriffe
wie »Generationengerechtigkeit« und
»Allgemeinwohl«. Wie vielschichtig aber
kann wieder das Wort »Generation« verstanden werden! Von dem Begriff »Gerechtigkeit« ganz zu schweigen: meine
ich wirklich die gleiche Justiz und Sozialregelung für mich und alle anderen?
Dennoch scheint folgender Definitionsversuch ziemlich einleuchtend: »Generationengerechtigkeit ist erreicht, wenn die
Chancen zukünftiger (nachrückender)
Generationen auf Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse mindestens so groß
sind wie die der heutigen Generation
(ihnen vorangegangenen Generationen).«
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ESSAY
Etikettenschindel: Aus
»Selektion« wird »Elektion«.
tes« verstehen. Doch »Wahrheit wird«
– nicht nur im Alltag, sondern zumal –
»in den Naturwissenschaften abgewertet.
Man ist heutzutage lediglich nur noch
einem technischen Erkenntnisinteresse
verpflichtet«, bemerkte Jürgen Habermas
schon 1968 kritisch. Ähnlich führte die
Zeitschrift »Pflege aktuell« (4/2002) zur
Bioethik aus, dass sie »die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft und Technik
als gegeben« betrachte und sie »also nicht
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grundsätzlich in Frage« stelle, sondern
»häufig nachträglich ethische Begründungen für das technisch bereits Machbare« liefere. Wie läuft das ab?
Der Begriff Bioethik ist heute mehrdeutig. Zum einen umreißt er ein Forschungsgebiet der angewandten Ethik.
Zum andern behandelt er ein höchst
kontroverses Feld der Politik, indem
beispielsweise über die Zulässigkeit von
Präimplantationsdiagnostik (PID), embryonaler Stammzellforschung, Patentierung von Lebewesen oder aktiver SterbeARCHIV
Aber so könnte man nachhaken: was meint
hier »Chancen« und was »Bedürfnisse«?
Sind diese nicht auch wieder unterschieden, weil sich die Zeit verändert und wir
alle mit ihr? Tempora mutantur …
Keineswegs ist unser heutiges Sprechen frei vom »Blendwerk« der Euphemismen, der beschönigenden Umschreibung für ein unangenehmes oder anstößiges Wort. Statt von »dick« spricht man
von »vollschlank« oder von XXXL-Größe. Der »alte Knabe« ist weiter im Umlauf, und die »ältere Dame« auch, selbst
wenn sie über 80 Jahre und also »alt« ist!
Erweist sich eine öffentliche Ausgabe
als teuer, soll sie als »kostenintensiv«
schmackhafter werden. Und was ethisch
eindeutig falsch ist, das Töten von Menschen nämlich, wird unter »ethisch
fragwürdig« neu zur Diskussion gestellt.
Statt von vorgeburtlicher Kindestötung
sprechen wir von Abtreibung; und weit
neutralisierender vom »Schwangerschaftsabbruch«, also von der Beendigung
eines zeitweiligen Zustands der gebärfähigen Frau. Was abgebrochen und vernichtet wird – das Leben des sich entwickelnden Kindes – wird unterschlagen; wer
abgetrieben wird, kommt nicht zur Sprache. Obwohl man ihn, den kleinen Menschen, heute bildhaft vor sich sehen kann!
Es existiert kein Gesetz zur »Kindestötung« aus diesen und jenen Gründen und
mit diesen und jenen Folgen. Es geht
plakativ um »Abtreibungsgesetze« oder
versachlicht um die »gesetzliche Abtreibungsregelung«.
Der Humanist Wilhelm von Humboldt hat im 19. Jahrhundert das Phänomen Sprache und Ausdrucksweise mit
einem lebendigen Organismus verglichen.
Er wollte ihren Zusammenhang mit dem
Erkenntnisprozess aufzeigen und Sprache
als Mittel zur Erlangung von Wahrheit
und »Ausdruck des menschlichen Geis-
durchsetzen. Nach der Definition des
Aktionsprogramms der UN-Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 bedeutet reproduktive Gesundheit, dass »Menschen ein befriedigendes und ungefährliches Sexualleben haben können und dass
sie die Fähigkeit zur Fortpflanzung und
die freie Entscheidung darüber haben,
ob, wann und wie oft sie hiervon Gebrauch machen wollen«. Nach amtlichen
Aussagen geht es darum, Mädchen und
Frauen den Zugang zu Informationen zu
ermöglichen und sie zu befähigen, ihr
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung
ebenso einzufordern wie die Möglichkeit,
über Zeitpunkt und Anzahl von Schwangerschaften selbstbestimmt und informiert zu entscheiden. Was zunächst plausibel und menschenrechtlich angemessen
klingt, bedeutet indessen mehr und anderes. Eine englische Journalistin führt
dazu erläuternd aus, in ihrem Land stehe
bereits jeder Frau ein legaler und sicherer
Schwangerschaftsabbruch offen, wenn
sie ihr Kind nicht bekommen wolle! Sie
berichtet dies in aller »Selbstverständlichkeit«. Und was sagt das »Recht auf sexuelle Selbstbestimmung« im Gender Mainstreaming? Es geht nicht nur um eine
MITMACHEN
Konfuzius
hilfe gestritten wird. Wie geht Bioethik
dabei in der sprachlichen Vermittlung
vor? Wenn das Embryonenschutzgesetz
geändert werden soll, spricht man von
Aktualisierung – wenn PID zugelassen
werden soll, von »Optimierung der artifiziellen Reproduktion«. Die Juristin
Monika Frommel verschönt das Vorhaben der tötenden Embryonenauslese weiter mittels Umschreibung als »elektive
Identifikation entwicklungsfähiger Embryonen«. Doch was heißt das? Elektion
ist Latein und heißt »Auswahl«! Entpuppt
sich da »Jäger-Latein«? Offenbar soll der
Begriff durch das Vermeiden des S an
verbaler Schärfe verlieren und die real
tödliche Selektion phonetisch-diplomatisch verpacken. Der siegreiche Eine in
der Reihe von etwa 35 »unwerten« Embryonen wird »elektiv identifiziert«!
Wenn dies kein Superstart ins Leben ist!?
Man sagt etwas, aber man sagt es bewusst nicht so, wie man es meint, weil
man offensichtlich anders verstanden
werden möchte. So verwirrend können
Sprachspiele sein. In internationalen Beschlüssen schreibt und redet man von
»reproduktiver Gesundheit« und will damit die Freiheit zur Abtreibung weltweit
Einladung
An dieser Stelle lädt »LebensForum«
seine Leserinnen und Leser ein, auch
selbst die Augen offen zu halten und
Begriffentstellung, Sprachspiele und
Wortbrüche im Bereich der Bioethik zu
sammeln und der Redaktion zukommen
zu lassen. Geplant ist, diese dann zu
gegebener Zeit und in geeigneter Form,
zum Beispiel in Form eines Glossars, im
»LebensForum« zu veröffentlichen. Die
Anschrift der Redaktion lautet:
Aktion Lebensrecht für Alle
Redaktion LebensForum
Ottmarsgässchen 8
86152 Augsburg
E-Mail: [email protected].
Verbesserung von Bildungschancen, um
gesellschaftspolitische Gleichstellung von
Mädchen und Frauen, sondern auch um
die Freiheit, die Geschlechterrolle in
Hetero-, Homo- oder Bi-Sexualität zu
»verwirklichen«. Liegt dies aber unter
dem Gesichtspunkt unterschiedener kultureller Traditionen nicht auf anderem
Feld als die eingeforderte Freiheit und
Gleichheit in zwischenmenschlicher »fraternité«? Werden solche »westlichen«
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Forderungen nicht viel mehr weltweit
unüberschaubare psychische, normative
und kulturelle Verletzungen setzen?
Sprachspielerische Tricks, ja WortBrüche ergeben sich bereits aus der täglichen medialen Information. Da wird nicht
unterschieden zwischen natürlichen Eizellen und solchen, die befruchtet sind,
»Wort-Brüche ergeben sich bereits
aus der medialen Information.«
also ein eigenes Menschenleben umschreiben. Klonen wird verharmlost zum
»Zellkerntransfer«, obwohl auf diese
Weise frühes Menschenleben entsteht
und zu Therapiezwecken »verbraucht«
werden soll. Beabsichtigt man, das Embryonenschutzgesetz umzuschreiben, geht
es angeblich um »Reformbedarf«. Die
so genannten Präembryonen im Reagenzglas sollen ihren Dienst tun, indem sie
zu »embryonalen Stammzellen« zerteilt,
»verwendet« und verbraucht werden. Bei
der In-vitro-Fertilisation (IVF) fallen
»überzählige« Embryonen an – wie viele
es in deutschen Praxen sind, bleibt unkontrolliert. Bei der wieder neu angedachten PID wird eine große Anzahl von ihnen
aussortiert; laut Angaben der Europäischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin und Embryologie kommen auf eine
Geburt bis zu 35 verworfene Embryonen.
Trotz ihrer »Reproduktion« durch Medizinerhand redet man sich damit heraus,
man habe »sie doch nicht beabsichtigt«!
Man »legt sie zur Seite«. Man »kultiviert«
sie nicht weiter. »Man lässt sie absterben«.
Ja, was denn?! Man tötet sie! Sie werden
einer »Sonderbehandlung« oder einer
Sonder-Nichtbehandlung zugeführt mit
dem Effekt, wie er einst von Hermann
Göring gegenüber Geborenen, Kindern
und Erwachsenen realisiert wurde: sie
»verschwinden« im tödlichen Ende –
unter irgendeiner erfundenen Diagnose
oder eben in Anonymität! Diese Rede
vom Absterbenlassen möchte sich vor
den Vorwürfen des eigenen Gewissens
schützen. Mag sie auch einen momentanen psychologischen Schutzwall bilden,
wird dieser kaum von Dauer sein.
Wo bliebe nach einer tatsächlichen
gesetzlichen Zulassung der PID der vom
Grundgesetz gewährte Schutz des Lebensrechts und der Menschenwürde beim
reproduzierten Menschen? Sind Menschenwürde und Grundgesetz wirklich
nur »Fiktion«, wie ein Jurist unlängst in
der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«
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formulierte? Eine Utopie von Gerechtigkeit, ein solcher Un-Ort, fern aller Realität
im aufgeklärten 21. Jahrhundert n. Chr.?
»Menschenwürde« – ein täuschendes Etikett für Labore der Forschungsfreiheit,
für die Beliebigkeit einer nutzenoptimierten Bioethik, die sich öffentlich einer
Ethik des Heilens verschreibt, de facto
aber eine Ethik der Interessen betreibt?
Leerformeln, Verallgemeinerungen, bewusste Auslassungen, Verbrämungen und
Umdeutungen lassen normative Grundforderungen zu Sprechblasen werden und
solidarische Pflichten außer Sicht. Das
ist »Wortbruch« par excellence! Hier
werden Sprachspiele allgemeingefährlich!
Solche Torheit lässt sich nicht mehr loben. »Engelmacherin« nannte man bis
in die Neuzeit hinein aufwertend und
vertuschend eine Frau, die außerhalb des
Rechts ungeborene Kinder tötete. Engelmacher finden sich heute unter Medizinern, die vom hippokratischen Eid zumindest irgendwann während ihres Studiums
gehört haben, aber aufgrund gesetzlicher
Regelungen tödlichen Wünschen nachgeben und mancher so genannten Indi-
»Die Würde des Menschen
wird seit Kant personal gedacht.«
kation zu entsprechen bereit sind. Euthanasie, der angeblich »gute Tod« durch
eigene oder fremde Hand, ist keine gereifte Frucht am Baum der Lebens-Erkenntnis, sie ist »Abbruch«. Der »Freitod« ist Selbstmord. All das lehrt die Philosophie der Auf-Klärung. Immanuel
Kant wusste nicht nur dies, für ihn ist
auch der Menschenembryo keine Sache,
kein »Gemächsel«. Er ist Person, ein Jemand.
Auch in kirchlichen Texten ist Präzision gefordert. Sie sollten gemäß aktuellem Wissensstand nicht mehr von »werdendem Leben« reden, wenn sie den ungeborenen Menschen meinen, den Menschen in seinem, unser aller, personalen
Anfang. Biblisch heißt es: »Ich habe dich
bei deinem Namen gerufen!« Der »Tag
des ungeborenen Lebens« ist zu präzisieren als Tag des »ungeborenen Menschen«
und seiner Rechte. Gedenkstätten des
»ungeborenen Lebens« sind Friedensorte
für fehlgeborene Kinder und solche, die
im Mutterleib getötet wurden. Sprechen
sollten wir nicht von der »dignitas connata«, der angeborenen Menschenwürde,
die bereits Cicero in der Antike erwähnt
hatte. Von ihr spricht die UNO auch und
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kann sich doch mit einer »selbstbestimmten Abtreibung« abfinden. Die Würde
des Menschen wird seit Kant personal
gedacht: sie beginnt mit der Zeugung des
Menschen! Sie wird ihm nicht zugesprochen. Er ist ihr Träger – von Natur aus.
Das muss lateinisch und in allen Sprachen
– katholon – verdeutlicht bleiben.
Bioethik erfordert klares Denken und
redliches Sprechen, will sie ihre Verantwortung ernsthaft wahrnehmen. Man
muss ihr nicht von vornherein ablehnend
gegenüberstehen wie etwa der Forscher
Erwin Chargaff, der in ihr den Ausweg
sah, alles zuzulassen, was ethisch nicht
erlaubt sei. Leider äußert sie sich aber
heute immer öfter als zynischer Euphemismus. »Irritierend wirkt, wie weit sich
einige durch öffentliche Mittel finanzierte
Professoren und ›Ethikspezialisten‹ mit
philosophischem Hintergrund von den
Menschenrechten als Grundlage unseres
Miteinanders entfernt haben. Offenkundig geht das Empfinden dafür verloren,
dass jeder Mensch das Recht auf Leben
und körperliche Unversehrtheit hat und
diese eben nicht für das Wohl anderer
zu opfern braucht. Und sie lehren damit
eine ›Ethik‹, die ganz offensichtlich den
Maßstab, aus dem heraus sich Ethik
überhaupt erst entwickeln kann, längst
verloren hat.« (Michael Stoeter, Berlin,
in Bezug auf Transplantationsmedizin).
Verkommt Bio-Ethik zu einer »Fiktion«
und beginnt sie, sich in babylonischem
Sprachgewirr aufzulösen?
Die Sprache verrät uns. Daher sei die
Rede Ja oder Nein: Ja zum Leben und
Nein zur Tötung des Mitmenschen.
IM PORTRAIT
Dr. med. Dr. theol. h.c.
Maria Overdick-Gulden
Jahrgang 1931, ist Ärztin. Sie war im
Fach Innere Medizin als klinische Oberärztin und in freier Praxis tätig. Sie beschäftigt sich eingehend mit der wissenschaftlichen
Thematik der Bioethik, hält Vorträge
und publiziert, unter
anderem im »LebensForum«, zu verschiedenen Lebensrechtsthemen. Für eines ihrer Bücher
erhielt sie die Ehrendoktorwürde der
Theologischen Fakultät der Universität
Trier. Seit dem Jahr 2000 ist sie Mitglied
des Bundesvorstands der »Aktion Lebensrecht für Alle« (ALfA) e.V.
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BÜCHERFORUM
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risch, gelegentlich salopp, weniger systematisch als motivierend führt die in verschiedenen
Bereichen der Bioforschung erfahrene
und derzeit in Madison, der Metropole der Stammzellenforschung tätige
Autorin Edith Breburda den Leser in die
Problematik von Züchten, Klonen, Selektion bis zu geplanten Transgenic Pets
ein. Die ersten Kapitel des Buchs reflektieren Entwicklungen und Fehlsteuerungen im Bereich der genetischen »Aufbesserung« von Mais, Baumwolle und Nutztieren. Hat Genraps letztlich nicht das
Bienensterben verursacht und erhoffte
Mehrerträge vermissen lassen? Müssen
nach dem Auftreten der
durch Tiermehlverfütterung verursachten
BSE-Seuche und der
durch Prionen ausgelösten Parallelerkrankung am Menschen,
der Creutzfeldt-JakobKrankheit, nicht Fragen nach dem definitiven Nutzwert von
Bioexperimenten aufkommen? Ist versprochener Nutzen nicht
rein ökonomisch schon
gegen schädliche Nebenwirkungen, die
Kosten zur Schadensbegrenzung eingeschlossen, abzuwägen?
Nicht selten unterbleiben Toxizitätsstudien vor Einführung genmanipulierter
Organismen im Pflanzen- und Tierbereich. In der öffentlichen Darstellung
und Wahrnehmung von »Kulturrevolutionen« überwiege der »gute Zweck«,
das erlege auch Ver-Schweigegebote auf.
Gilt hier Goethes Faust: »Allein der Vortrag macht des Redners Glück«? Dass
tierische Zuchtmanagements durch Embryotransfer (Klonen) mit Genmanipulation letztlich in Inzucht enden können,
Bt-Toxine des Genmaises und -reises die
Resistenz von Insekten fördern, biotechnische Produkte als Gifte in Böden, Wasser eindringen und beim Menschen unter
anderem Allergien und Sterilität verursachen, sollte doch zur Frage führen: Was
wissen wir eigentlich vom Genom, Epigenom, von Natur, Leben, vom Menschen? Lässt uns freies Forschen und
Kreieren, das auf Ruhm und Gewinn
setzt, nicht oft als Verlierer zurück?
Welche Rolle spielt die Moral bei
»kreativer Forschung«? Dieser Frage
kommt besondere Relevanz am Beispiel
der öffentlich so horrend geförderten
raffiniert-riskanten Forschung an und
mit embryonalen Stammzellen zu. Sind
sie das versprochene
»Gold der Medizin«? Warum aber
wurde mit ihnen
nach 20 Jahren kein einziges Behandlungsverfahren entwickelt, geschweige
denn ein einsatzfähiges? Letztlich will
sich die »Ethik des Heilens« doch zum
rechtfertigenden Argument für tötende
Eingriffe an einer unüberschaubaren Zahl
von Menschenembryonen gerieren! Nach
deren Lebensrecht keiner fragt! Dabei
werden Eizellspenden unter Inkaufnahme belastender Hormonbehandlung von
Frauen, EizellenTauschbörsen, die Erzeugung von MenschTierwesen, die Lagerung von Millionen so
genannter überzähliger
»Nitrogen-Kinder«,
die kostspielige Entwicklung von und Versuche mit iPS-Zellen
(rückprogrammierte
adulte Stammzellen)
gemanagt. Wo verbleibt der Heilerfolg so
verwirklichter Freiheit
im Zeichen der »Verheißung«?
Indes vollbringen
adulte Stammzellen –
in der Praxis bereits
langjährig und vielfältig therapeutisch
bewährt – längst das, was Forscher erst
»herausfinden« möchten (Lord Alton
2008). Wäre es nicht im übergreifenden
Sinn kostengünstiger, Forschung mit
Zellen zu betreiben, die schon die Differenzierungseigenschaft zu 220 Zellarten
besitzen und das von Natur aus mitbringen, was man im ärztlichen Tun braucht?
Oder geht es doch mehr um Anspruchsdenken, Wunschbedienung mit DesignerBabys, um erträumte Ziele, um preiswerten Erfolg? Bestätigt sich gar William
Faulkners Einsicht: »Vieles wäre völlig
uninteressant, wenn es nicht verboten
wäre« – so auch am Baum des Lebens?
Dieser Frage hatte sich das Buch Genesis
bereits gestellt. Lesenswert.
Verheißungen
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Probedruck
Dr. Maria Overdick-Gulden
Edith Breburda, Verheißungen der neuesten
Biotechnologien, Stein am Rhein 2010, 160 Seiten.
39,80 EUR.
Im Schaufenster
Zwischen Mensch
und Maschine
Mittels des Einsatzes
von Technik gestaltet
der Mensch nicht nur
seine Umwelt nach
seinen Wünschen,
sondern längst auch
sich selbst. Neben
der Manipulation des
menschlichen Genoms mit Hilfe der Biotechnologie sind es
zunehmend Neurotechnologien, mit denen
Menschen ihr eigenes Selbst verändern und
neu modellieren wollen. In dem vorliegenden
Essay erläutert der Freiburger Philosoph Oliver
Müller anhand der neuesten Möglichkeiten,
Zugriff auf das Gehirn zu erlangen, den Stand
der Technik und zeigt auf, welche Folgen die
Selbsttechnisierung des Menschen für sein
Selbstverständnis bereits besitzt und welche
sie in Zukunft noch entfalten könnte. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen dabei Formen der Selbstinstrumentalisierung, der
Selbstverdinglichung und der »Selbstcyborgisierung«. Weit entfernt davon, Technik als
solche zu kritisieren, zeigt der Autor die Schattenseiten der Effizienzsteigerung mit Hilfe
der Technik auf, die in zunehmendem Maße
mit Erfahrungsschwund, Beschleunigung und
Kontrollverlustängsten einhergeht.
Fazit: Differenziert, allgemeinverständlich und
reh
daher absolut lesenswert.
Oliver Müller: Zwischen Mensch und Maschine.
Vom Glück und Unglück des Homo faber. Edition
Unseld. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 218 Seiten.
12,00 EUR.
Bioethik in
theologischer
Perspektive
Bioethik meint
nichts anderes als
das Nachdenken
darüber, wie Menschen mit der sie
umgebenden belebten Welt und
mit den Menschen,
die sie bevölkern, umgehen sollen. Bioethische
Fragen sind daher immer zugleich auch gesellschaftliche, soziale und politische Fragen
und zählen somit zu jenen, die alle angehen.
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»Bioethik in theologischer Perspektive« ist
dennoch ein Buch für Experten. In ihm versammelt der Autor, Lehr- und Forschungsrat für
Moraltheologie und Ethik der Universität
Fribourg und Vize-Präsident der Zentralen
Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Beiträge zu den Grundlagen und Methoden theologischer Bioethik sowie zu einzelnen aktuellen Problemfeldern wie etwa der Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, dem
ärztlich assistierten Suizid und der Tötung auf
Verlangen oder dem Umgang mit WachkomaPatienten. Lesenwert ist auch der Ausblick,
in welchem der Autor vor den Gefahren einer
Politisierung der Bioethik warnt.
Fazit: Das Buch enthält eine ganze Menge
Bedenkenswertes, was aber nichts daran ändert, dass es sich bei ihm um teure Fachlitereh
ratur handelt.
Markus Zimmermann-Acklin: Bioethik in theologischer Perspektive. Grundlagen, Methoden, Bereiche. Studien zur Theologischen Ethik, Band 126.
2. erweiterte Auflage. Herder Verlag, Freiburg i. Br.
2010. 352 Seiten. 52,00 EUR.
Der Appell des
Humanen
Der Band basiert auf
Vorträgen, die die
Autoren im Verlauf
eines gleichnamigen
interdisziplinären
Colloquiums des
Kölner LindenthalInstituts gehalten
haben. In ihm beschäftigen sich Juristen, Philosophen, Sozialethiker und Theologen mit den Begründungen
von Naturrecht und der Kritik, die es vor allem
in liberalen Demokratien erfährt.
So unterschiedlich angelegt die überaus lesenswerten und aufschlussreichen Beiträge
auch sind, so verschieden die Aspekte, die
sie erhellen, in einem sind sich alle Autoren einig. Ohne universelle Normen stellt die
Rede von der Menschenwürde eine bloße
Fiktion dar und verbietet es sich, von Menschenrechten zu sprechen. Die Autoren des
Bandes sind (in alphabethischer Reihenfolge):
Christoph Böhr, Johannes Hattler, Josef Isensee, Stefan Mückl, Tilman Repgen, Manfred
Spieker, Martin Rhonheimer und Berthold
Wald.
Fazit: Ein Muss für Lebensrechtler und solche,
reh
die es werden wollen.
Hans Thomas/Johannes Hattler (Hrsg.): Der Appell
des Humanen. Zum Streit um Naturrecht. Ontos
Verlag, Heusenstamm, 2010. 242 Seiten. 24,90 EUR.
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ene prägen nicht nur unsere
äußere Erscheinung, sondern
auch das Innerste des Menschen
bis hin zur vollständigen Determination
von Verhaltensweisen. Dieser Irrtum
findet immer mehr
Anhänger. In den
Medien firmieren
derart vermeintlich
mächtige Erbanlagen nicht selten als »Mathe-«, »Glücks-«,
»Krieger-« oder gar »Schwulen-Gen«.
Alles Mythen, behauptet der Biologe und
»Spiegel“-Redakteur Jörg Blech in seinem
neuesten Buch. Mit empirischen Mitteln
zeigt er darin, warum das so ist. Flott und
für Laien verständlich geschrieben, erklärt
er, warum die Gene das
Leben der Spezies homo
sapiens weit weniger bestimmen, als viele Forscher glauben machen
wollen. Bisweilen geht
das ganz plastisch: So
berichtet Blech etwa von
dem US-Schriftsteller
Richard Powers. Nachdem dieser einen Roman
veröffentlicht hatte, der
auf einem »Glücks-Gen«
basierte, bot ihm eine
Zeitschrift an, für die
Entschlüsselung seines
Erbgutes aufzukommen,
wenn er anschließend
darüber für sie berichte.
Der Schriftsteller willigte
ein. »Doch kaum erhielt Powers erste
Informationen zu seinem Genom, kam
er an Widersprüchen und Ungereimtheiten gar nicht mehr vorbei.« Auf Powers
DNA fanden sich »mehr als ein Dutzend
genetischer Assoziationen, die angeblich
die Wahrscheinlichkeit für Fettleibigkeit
erhöhen«. Powers schrieb daraufhin:
»Mein ganzes Leben lang habe ich einen
Body-Mass-Index von um die 19 gehabt,
gerade an der Grenze zum Untergewicht,
und ich kann essen, so viel ich will, und
werde trotzdem nicht dick. In meiner
Familie haben sie mich immer das Strichmännchen genannt. Offenbar steckt die
Untersuchung der Rolle von Umwelteinflüssen noch ganz in den Anfängen.«
Genauso ist es. Wie Blech darlegt, ist
das, was »in den Genen geschrieben
steht«, zwar nicht völlig bedeutungslos,
wohl aber alles andere als entscheidend.
Ausschlaggebend ist vielmehr, welche
Gene abgelesen werden, und das sei beeinflussbar. So fördere etwa regelmäßiges
Meditieren sogar die physische Gesund-
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heit. Überhaupt prägten Umwelteinflüsse
den Menschen viel stärker als seine Gene.
So könnten »geringfügige genetische
Vorteile« bei entsprechenden Umwelteinflüssen »zu großen Vorsprüngen«
führen. Blech demonstriert das am
Beispiel Basketball: »Ein Kind, das
überdurchschnittlich groß ist, wird wahrscheinlich besonders gerne Basketball spielen, weil es
im Schulsport viele Körbe erzielt und
Erfolg hat. Seine Eltern stellen in der
Garageneinfahrt einen Korb auf. Durch
die Spielpraxis verbessert es sich und fällt
dem Sportlehrer auf, der es einer Vereinsmannschaft empfiehlt. Das Training und
die Spiele am Wochenende führen zu einem
verbesserten Ballgefühl.
Jetzt hat das Kind nicht
nur einen Größenvorteil,
sondern es kann inzwischen viel besser den Ball
fangen und werfen als
seine Klassenkameraden.
Dieses Ballgefühl geht
aber allein auf die Umweltreize zurück und
nicht etwa auf die Gene.«
Ähnlich sei es bei der
Intelligenz: So würden
vergleichsweise neugierige Kinder von Lehrern
und Eltern häufig »besonders gefördert« und »für ihre Geistesanstrengungen gelobt«. Das mache
das Kind schlauer als Kinder, die sich als
weniger neugierig zeigten und weniger
gefördert würden. Viele Genforscher –
kritisiert Blech mit dem US-Psychologen
Richard Nisbett – schlügen derart ausschlaggebende »Verstärker-Effekte«
irrigerweise den Genen zu und unterschätzten so »die Rolle der Umwelt«.
Blech leistet jedoch weit mehr, als das
Zusammenspiel von Genen und Umwelteinflüssen anschaulich darzustellen.
Anhand zahlreicher Studien weist er nach,
wie Korrelationen fälschlicherweise oft
in Kausalitäten umgemünzt werden. Sehr
empfehlenswert.
Gene sind
kein Schicksal
Stefan Rehder
Jörg Blech: Gene sind kein Schicksal. Wie wir unsere
Erbanlagen und unser Leben steuern können.
S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2010. 288 Seiten.
Gebunden. 18,95 EUR.
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K U R Z V O R S C H LU S S
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Gut, die Argumentation der Katholiken ist
absolut in sich stimmig, und da kann ich
auch nichts dagegen sagen, wenn ich von
deren Basis ausgehe. Nur leben wir nicht
in einem Staat, der so eine Art katholische
Scharia zum Fundament hat, sondern in
einem aufgeklärten, säkularen Staat.«
Der Reproduktionsmediziner Matthias Bloechle,
der in seiner Praxis die Präimplantationsdiagnostik
(PID) praktiziert, sich anschließend selbst angezeigt und so das Urteil des Bundesgerichtshofs
zur Strafbarkeit der PID provoziert hat, im Interview
mit dem Online-Portal des Magazins »Cicero«.
Es sollen ja eben im Ernstfall nicht die Krankheiten, sondern die kranken ungeborenen
Kinder eliminiert werden.«
Der Philosoph Robert Spaemann in einem weiteren
Interview zum selben Thema an gleicher Stelle.
»
Was soll ich einer Frau denn sagen: ›Wir
probieren es mal, wir setzen die befruchteten
Eizellen ein, und in der 12. oder 14. Schwangerschaftswoche gucken wir dann mal, was
los ist, wegmachen lassen können Sie das
Kind immer noch.‹ Das halte ich für unbarmherzig. Wir sollten einer Frau diese Prozedur
nicht zumuten.«
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang
Böhmer (CDU) gegenüber der »Leipziger Volksstimme« zur Präimplantationsdiagnostik.
»
bitte schon! seine
heiligkeit, der herr
professor, erwartet sie!
Ich bin für ein Verbot der PID, weil ich einfach Sorge habe, dass wir die Grenzen nicht
richtig definieren.«
Wir wollen Abtreibung undenkbar machen.«
Frank Pavone, Vorsitzender der US-amerikanischen Lebensschutzinitiative »Priests for Life«,
bei einem Vortrag in Wien.
»
Selbst »Bild«, die um reißerische Schlagzeilen nur selten verlegene Zeitung mit
den großen Buchstaben,
ringt nach Worten. Verständlich. Denn
im Internet lässt derzeit das Ehepaar Pete
und Alisha Arnold aus dem US-Bundesstaat Minnesota die Besucher ihrer
Webseite www.birthornot.com darüber
abstimmen, ob Alisha das gemeinsame
Kind zur Welt bringen oder es abtreiben soll. »Ich fürchte den Spagat
zwischen Kind und
Karriere«, zitiert
»Bild« die 30-jährige Frau, die für eine
kleine SoftwareFirma arbeitet und Pete und Alisha Arnold
bereits zwei Kinder
abgetrieben und eine Fehlgeburt erlitten
haben will. Am 9. Dezember endete die
Frist, bis zu der Alisha in Minnesota straffrei abtreiben kann. Und beinah genauso
heftig: Bei Redaktionsschluss hatten bereits
mehr als zwei Millionen Internetnutzer
von der Möglichkeit der Abstimmung
auch tatsächlich Gebrauch gemacht. Demnach votierten 77,63 Prozent für: »Have
an abortion«. Nur 22,37 Prozent für: »Give
birth«. Auf der Webseite hat das Paar sogar
Ultraschallbilder eingestellt, die das ungeborene Kind zeigen sollen.
reh
..
Die Bundeskanzlerin und CDU-Parteivorsitzende
Angela Merkel zum selben Thema.
»
Der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio hat sich
gegen eine Zulassung der
Präimplantationsdiagnostik
(PID) ausgesprochen. In einem Beitrag
für die Zeitung »Das Parlament« fordert
er, dass weite Teile der Gesellschaft die
PID befürworteten, müsse »hellhörig«
machen und die Frage aufwerfen, wie es
sein könne, »dass der moderne Mensch
glaubt, es sei sein
gutes Recht, das
vorgeburtliche Leben erst zu testen,
bevor man sich seiner annimmt«. Die
Antwort liefert er
gleich mit: »Wir leben in einer Zeit,
die für das Unge- Giovanni Maio
plante keinen Sinn
mehr zu haben scheint. Das einfach Gegebene darf nicht mehr sein; alles möchte
der moderne Mensch selbst planen bis
hin zu seinen Nachkommen. Dieses Denken ist am Ende infiltriert durch einen
ökonomisch-rationalistischen Blick. Fast
scheint es, als würde ein Qualitätsmanagementdenken, das ursprünglich aus den
Wirtschaftswissenschaften kommt, auch
auf den innersten Bereich des Menschen
übertragen – nämlich dort, wo zwei Menschen sich für einen neuen Menschen
entscheiden.«
reh
ARCHIV
»
ARCHIV
Tops & Flops
Expressis verbis
• Kloning
• Künstliche
Befruchtung
• Reproduktionsmedizin
• genetische
Beratung
Wir sind alle potentielle Träger von Erbkrankheiten.«
Richard Klein, Vorsitzender der Initiative Hilfe
zum Leben Pforzheim e.V.
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Aus dem Netz gefischt
www.stoppt-pid.de
Passend zur Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist die Webseite www.stoppt-pid.de neu aufgelegt worden. Auf ihr werben jetzt Prominente in
Wort und Bild für ein gesetzliches
Verbot todbringender Gentests an
im Labor erzeugten Menschen. Darüber hinaus bietet die Webseite viel
Wissenswertes rund um die PID. In
einem gut sortierten Download-Bereich stoßen Interessierte auf Gesetzestexte, das BGH-Urteil, das die
neue gesetzliche Regelung erst notwendig gemacht hat, Stellungnahmen
von Gremien und Verbänden und
sogar wissenschaftliche Studien, die
sich mit der Präimplantationsdiagnostik beschäftigen. Lesenswerte Beiträge namhafter Autoren, die offenbar
eigens für die Seite verfasst wurden,
finden sich hier ebenso wie Zusammenfassungen und Links zu andernorts erschienenen Beiträgen. Darüber hinaus besticht
das Portal durch seine Übersichtlichkeit
und ein ansprechendes, zeitgemäßes Layout. Ein weiteres Plus stellen die Möglichkeiten dar, mit denen Nutzer der Seite
selbst für ein gesetzliches Verbot der PID
werben können und die unter dem Button
»Mitmachen« kinderleicht aufbereitet
wurden. Wie andernorts auch, so lassen
sich auch auf dieser Seite noch einige
Dinge finden, die optimiert werden könnten. Das ändert jedoch nichts daran, dass
diese Seite, die ohne eine Kooperation
von Lebensrechtsorganisationen wie der
ALfA mit anderen nicht zustande gekommen wäre, inhaltlich wie optisch neue
Maßstäbe bei der Vermittlung von Informationen im Internet setzt.
san
»Die Welt. Die von morgen« (7)
Es war einmal eine Bundesfamilienministerin. Die war von so zierlicher
Gestalt und hatte einen derart scheuen
Blick, dass sie in ihrer eigenen Partei
kurzerhand »Bambi« genannt wurde.
Eines Tages fand Bambi heraus, dass
in ihrem Land viel zu wenige Kinder
geboren wurden. Da war Bambi gar
fürchterlich erschrocken. Zusammen
mit ihrem Mann, der als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesinnenminister diente, analysierte Bambi die
Lage. Beide stellten fest, dass in ihrem
Land jedes Jahr hunderttausende Kinder im Mutterleib getötet wurden. Kämen diese zur Welt, gäbe es zwar immer
noch zu wenige Kinder im Land, doch
wäre das Problem bereits deutlich geringer. Leider fehlte es der zierlichen
Bambi mit dem scheuen Blick und ihrem Mann an Mut, dagegen etwas zu
unternehmen. Sie fürchteten sich vor
dem Skandal, den die Medien in ihrem
Land herbeischreiben würden. Als sie
LebensForum 95
Probedruck
hörten, dass es Paare gab, die zwar
Kinder wollten, aber genetisch bedingte
Krankheiten besaßen, bei denen die
Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie
diese Krankheiten an ihre Kinder vererbten, hatten sie Mitleid mit diesen
Menschen und beschlossen, ihnen zu
helfen. Gemeinsam setzten sie sich
dafür ein, dass Reproduktionsmediziner
ihnen dabei halfen, Kinder zu bekommen, die keine genetisch bedingten
Krankheiten besaßen. Nun wurden
noch mehr Kinder in dem Land getötet.
Und als die anderen Menschen im Land
forderten, auch ihnen müsse nun dabei
geholfen werden, nur die Kinder zu
bekommen, die sie auch akzeptieren
konnten, da hatten Bambi und ihr
Mann wieder Angst vor dem Skandal,
den die Medien diesmal herbeischreiben würden. Und wenn sie nicht bereits
ausgestorben sind, dann töten die Menschen in diesem Land mehr Kinder als
jemals zuvor.
Stefan Rehder
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KURZ & BÜNDIG
LIS-Patientin erhielt Staatsorden
Paris. Frankreich hat den höchsten Orden der
Republik – die Légion d'honneur – einer 56jährigen Französin verliehen, die seit 26 Jahren
am Locked-in-Syndrom (LIS) leidet. Maryannick
Pavageau erhielt die Auszeichnung für ihre
Verdienste im Kampf gegen Euthanasie. Patienten mit Lockedin-Syndrom sind
genauso aufnahmefähig wie Gesunde, können alles
in ihrer Umgebung
hören und verstehen, sich jedoch
selbst nur schwer
oder gar nicht mitteilen. Als die Französin als 30-Jährige
1984 nach einem
Schlaganfall am LIS
erkrankte, war die
Krankheit noch
kaum erforscht und
wenig bekannt. Erst »Légion d'honneur«
mit dem vom JeanDominique Bauby verfassten Bestseller
»Schmetterling und Taucherglocke« (1997)
gelangte das Schicksal von LIS-Patienten an
eine größere Öffentlichkeit. Pavageau wachte
nach drei Monaten aus dem Koma auf und
war bei vollem Bewusstsein. Dank intensiver
Therapie und fast eineinhalb Jahren Spitalsaufenthalt lernte sie wieder zu sprechen. Sie
ist an den Rollstuhl gefesselt und braucht
eine Rundum-Pflege. Als Mitglied der Association of Locked-in-Syndrome (ALIS) trug sie
wesentlich zum verfassten »Leonetti-Bericht«
bei. Dieser sorgte mit dafür, dass die so genannte aktive Sterbehilfe in Frankreich eine
reh
Straftat blieb.
Streit um Ethikbeirat
Berlin. Der Forschungsausschuss des Deutschen Bundestags hat sich gegen die Wiedererrichtung eines Ethikbeirates ausgesprochen.
Anfang Dezember lehnte der Ausschuss mit
den Stimmen von Union und FDP einen entsprechenden, von 241 Abgeordneten unterzeichneten Gruppenantrag ab. Die Oppositionsparteien votierten für den Antrag. Die Arbeit des
früheren, von Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufenen Nationalen Ethikrats
war von einem parlamentarischen Ethikbeirat
begleitet worden. Nachdem das Expertengremium von der Regierung Merkel in Deutscher
Ethikrat umbenannt und vom Parlament legitimiert worden war, wurde der aus Abgeordneten
bestehende Beirat abgeschafft. Seitdem bemühen sich zahlreiche Parlamentarier um desreh
sen Wiedereinsetzung.
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LESERFORUM
Das LebensForum
2/2010 gefällt mir in der
Qualität der Beiträge
außerordentlich!!!
Ihnen allen mein großes
Lob und vielen Dank.
Martin Hillemeyer, Rietberg
Verschwiegene Fakten
Reden statt Schweigen
Zunächst einmal möchte ich Ihnen
sehr herzlich danken für Ihre in meinen
Augen ausgezeichnete Arbeit in der Herausgabe des »LebensForums«. Es informiert umfassend und gediegen über den
Lebens- und insbesondere den Kinderschutz. Die Artikel sind gründlich recherchiert und bringen auch viele Fakten zur
Sprache, die in den dominierenden Medien verschwiegen werden. Mir selbst
tut es gut, regelmäßig von neuem in so
schnörkelloser und unverbrauchter Weise
das brennend dringliche Anliegen des
Kinderschutzes in Erinnerung gerufen
zu bekommen, wie es »LebensForum«
tut. Ganz besonders erfreulich ist auch
das durchgehend sehr hohe sprachliche
Niveau der Zeitschrift.
Zwar ist die »Aktion Lebensrecht für
Alle« überkonfessionell, ganz so wie es
ja auch ihre Anliegen sind oder zumindest
sein sollten, aber eine deutliche Affinität
zu Lehren der katholischen Kirche ist
dem »LebensForum« natürlich leicht zu
entnehmen. Gewissermaßen liegt das
auch einfach in der Natur der Sache begründet, insofern die katholische Kirche
die im Wesentlichen einzige Institution
ist, die die Unerlaubtheit etwa der Abtreibung klar benennt. Dass etwa der Papst
immer wieder das Wort für die Ungeborenen erhebt, wird vom »LebensForum«
ja auch gut dokumentiert. In der aktuellen
Ausgabe freut mich ganz besonders der
Artikel zu Mutter Teresa, die in klaren
Worten der Weltöffentlichkeit den Skandal der Abtreibung in Erinnerung rief.
Mein besonderer Dank gilt diesmal
dem hervorragenden Beitrag »Alltagsaufgabe Leben« von Dr. Georg Paul Hefty.
Es ist wirklich höchste Zeit, wachsam zu
sein und zu handeln. Reden statt Schweigen und wo nötig, Sünde beim Namen
zu nennen.
Gabriele Sell, Bad Salzuflen
Widerspruch
Ihre Zeitschrift ist nicht nur sehr informativ, sondern für ein Periodika, das
(nur) vier Mal im Jahr erscheint, auch
extrem aktuell, wie gerade auch die letzte
Ausgabe zeigt, in der die beiden Urteile
des Bundesgerichtshofs zur PID und zur
»passiven Sterbehilfe« kritisch gewürdigt
werden. Was Letzteres betrifft, so muss
ich ihrem Autor Rainer Beckmann jedoch
in einem Punkt widersprechen. Ausdrücklich möchte ich Herrn Beckmann
zustimmen, wenn er schreibt, dass die
Unterscheidung zwischen aktiver und
passiver Sterbehilfe irreführend sei. Auch
eine bewusste Unterlassung ist eine Handlung. Anders als Herr Beckmann halte
ich es aber daher durchaus für problematisch, dass ein Arzt eine Behandlung, die
nach seinem professionellen Urteil der
Erhaltung des Lebens des Patienten dient,
nur dann auch durchführen können soll,
wenn der Patient dies wünscht. Ist der
Arzt ein bloßer Gesundheitsdienstleister,
aus dessen Angebot der Patient sich das
aussuchen kann, was ihm zusagt? Oder
ist der Arzt nicht doch neben seinem
Patienten auch noch anderen verpflichtet.
Dem ärztlichen Ethos, dem Leben als
solchem oder gar Gott, als dem Herrn
des Lebens? Ich erwarte sogar von meinem Friseur, dass er sich weigert mir eine
Glatze zu schneiden, wenn ich auf die
Idee käme, danach zu verlangen. Und
wissen Sie, was mein Friseur – ich habe
ihn gefragt – sagen würde, wenn ich diesen
Wunsch an ihn herantrüge: »Gute Frau,
verlassen Sie bitte mein Geschäft! Ich bin
Friseur für’s Haareschneiden, nicht für’s
Haarenehmen geworden.« Wenn ich also
schon meinen Friseur nicht zwingen kann,
mir alle Haare zu nehmen, wieso soll ich
dann von meinem Arzt verlangen dürfen,
mich vor der Zeit durch Unterlassen
sterben zu lassen?
Hildegard Püllen, Stolberg
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Prof. Dr. Elmar Grosse-Klönne, Berlin
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IMPRESSUM
IMPRESSUM
LEBENSFORUM
Ausgabe Nr. 95, 3. Quartal 2010
ISSN 0945-4586
Verlag
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V.
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07
www.alfa-ev.de, Email: [email protected]
Herausgeber
Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminski (V.i.S.d.P.)
Kooperation
Ärzte für das Leben e.V. – Geschäftsstelle
z.H. Frau Dr. Bärbel Dirksen
Ludwig-Schüsselerstr. 29, 64678 Lindenfels
Tel.: 0 62 54 / 4 30, E-Mail: [email protected]
www.aerzte-fuer-das-leben.de
Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen
Stitzenburgstraße 7, 70182 Stuttgart
Tel.: 0711 - 232232, Fax: 0711 - 2364600
E-Mail: [email protected], Internet: www.tclrg.de
Redaktionsleitung
Stefan Rehder, M.A.
Redaktion
Veronika Blasel, M.A., Alexandra Linder, M.A.,
Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Prof. Dr. med. Ingolf SchmidTannwald (Ärzte für das Leben e.V.)
Bankverbindung
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Spenden erwünscht
Anzeigenverwaltung
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V.
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Druck
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Titelbild
Dipl.-Des. Daniel Rennen / Rehder Medienagentur
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Satz / Layout
Rehder Medienagentur, Aachen
www.rehder-agentur.de
Auflage
6.500 Exemplare
Das Lebensforum ist auf umweltfreundlichem chlorfrei gebleichtem
Papier gedruckt.
Anzeigen
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 6 vom 1.06.2005
Mit vollem Namen gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt
die Meinung der Redaktion oder der ALfA wieder und stehen in
der Verantwortung des jeweiligen Autors.
Erscheinungweise
Vierteljährlich, Lebensforum Nr. 96 erscheint am 15.01.2011,
Redaktionsschluss ist der 18.12.2010
Jahresbezugspreis
16,– EUR (für ordentliche Mitglieder der ALfA und der Ärzte für
das Leben im Beitrag enthalten)
Fotomechanische Wiedergabe und Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für
unverlangt eingesandte Beiträge können wir keine Haftung übernehmen. Unverlangt eingesandte Rezensionsexemplare werden
nicht zurückgesandt. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
zu kürzen.
Helfen Sie Leben retten!
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V.
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Telefon (08 21) 51 20 31,Fax (08 21) 156407, http://www.alfa-ev.de
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Ja, ich abonniere die Zeitschrift Lebensforum für 16,– € pro Jahr.
Herzlich laden wir Sie ein, unsere ALfA-Arbeit durch Ihre Mitgliedschaft zu unterstützen.
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des Lebensforums ist im Beitrag schon enthalten. Die Höhe des Beitrages, die ich leisten möchte, habe ich angekreuzt:
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24,– € jährlich Mindestbeitrag
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Mitgliedsbeiträge und Spenden sind steuerlich abzugsfähig!
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Um Verwaltungskosten zu sparen und weil es für mich bequemer ist, bitte ich Sie, meine Beiträge jährlich von meinem Konto
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LETZTE SEITE
Nobelpreis:
Eine Farce
Warum die Verleihung des
Medizinnobelpreises in diesem Jahr
wieder ein echter Skandal ist
Von Stefan Rehder
I
m Jahr 2007 erhielt der Genetiker
bis in die Details beschrieben. Von ExpeMario Capecchi den Nobelpreis für
rimenten mit menschlichen Eizellen in
Medizin für seine Arbeiten mit
Tieren, die Edwards mit seinem eigenen
Knockout-Mäusen, die gezielte Eingriffe
Sperma befruchtete, ist dort ebenso die
in das Genom möglich machten. Der USRede wie von Patientinnen, denen die
Amerikaner befürwortet auch die ManiGebärmutter entnommen werden musste
pulation der menschlichen Keimbahn.
und die Steptoe auf Drängen von Edwards
Einer seiner Träume: Die Schaffung
bat, am Abend vor der Operation noch
künstlicher Chromosomen zwecks gemit ihrem Partner geschlechtlich zu vernetischer Verbesserung von
Menschen. In diesem Jahr ging
der Medizin-Nobelpreis an
den Briten Robert Edwards.
Selbst derjenige, der die Zeugung von Menschen im Labor
nicht bereits aufgrund prinzipieller Erwägungen ablehnt,
darf auch die diesjährige Verleihung des Medizin-Nobelpreises für einen waschechten
Skandal halten. Denn die Forschungen, die Edwards, geboren 1925 in Leeds, ab dem
Jahr 1960 anstellte und die ihn
18 Jahre später, genau am 25.
Juli 1978, zum Schöpfer des
weltweit ersten Retortenbabys
werden ließen, verliefen derart
unethisch und abstoßend, dass
man ernsthaft fragen muss,
welche Medizin sich das Karolinska-Institut in Stockholm eigentlich wünscht.
Ganz sicher keine, in der das
»menschliche Maß«, das, so
Alt-Bundespräsident Johannes
Rau in seiner »Berliner Rede«
2001, auch den medizinischen
Fortschritt bestimmen müsse,
noch irgendeine Rolle spielt.
In dem 1980 erschienenen
Buch: »A Matter of Life. The Robert Edwards
Story of a Medical Breakthrough«, das Edwards zusammen mit seikehren. Die Mutter von Luise Brown –
nem Kollegen, dem 1988 verstorbenen
die als erstes künstlich erzeugtes Kind zu
Gynäkologen Patrick Steptoe, verfasste,
verzichtbarem Ruhm gelangte – litt an
haben beide Forscher den Weg zur ersten
einem Verschluss der Eilleiter. Beide
erfolgreichen Reagenzglasbefruchtung
Forscher ließen sie im Glauben, sie un-
Probedruck
Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt
Deutsche Post AG (DPAG)
Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg
terziehe sich einer etablierten Therapie,
mit der schon hunderte Babys erzeugt
worden seien. Dass Edwards und Steptoe
zuvor nur Fehlversuche produziert hatten
– seriöse Schätzungen sprechen von
»mindestens 60« – erfuhr Lesley Brown
erst später.
Insofern ist es allenfalls ein Teil der
Wahrheit, wenn das Nobel-Komitee in
seiner gestern veröffentlichten
Preisbegründung nun davon
spricht, Edwards »arbeitete
systematisch, um sein Ziel zu
erreichen, entdeckte wichtige
Prinzipien der menschlichen
Befruchtung und brachte es
schließlich fertig, eine menschliche Eizelle im Reagenzglas
zu befruchten«.
Verschwiegen, wohl kaum
übersehen, wird ferner, dass
Edwards, der heute 85-jährig in einem Seniorenheim in
Großbritannien lebt, zusammen mit seiner Frau Ruth
Fowler bereits 1970 einen Beitrag im »Scientific American«
veröffentlichte. Darin empfahl
das Paar, das nun zehn Millionen schwedische Kronen
(1,058 Mio. Euro) erhält, die
künstliche Befruchtung auch
als Methode zur Vermeidung
von Menschen mit Behinderungen sowie zur Geschlechtswahl. Beides wird heute in
vielen Ländern der Welt – vor
allem mittels Präimplantationsdiagnostik (PID) – auch
längst praktiziert; womöglich
demnächst auch in Deutschland. Es mag sein, dass Edwards – wie Komitee-Sprecher
Christer Höög lobte – vor rund 40 Jahren
»den starken Widerstand des Establishments überwinden« musste. Nur ist das
heute nicht anders. Geändert hat sich
lediglich die Richtung.