Spätabtreibung

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Spätabtreibung
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Nr. 88 | 4. Quartal 2008 | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,– €
B 42890
LEBENSFORUM
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Interview
Eine Hebamme
packt aus
Titel
»Du tötest
Babys, Mama?«
Ausland
Großbritannien:
»We can liberal«
Spätabtreibung
Nur perfekt ist recht!
In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG)
Probedruck
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I N H A LT
EDITORIAL
TITEL
Post-Abortion-Syndrom:
Tabu unserer Zeit
3
Befürworter der Abtreibung behaupten immer wieder, vorgeburtliche Kindstötungen brächten keinerlei
nachweisbare Nachteile für die sich einer Abtreibung unterziehenden Frauen mit sich. Mehr noch: Einige
behaupten gar, das Post-Abortion-Syndrom sei eine Erfindung von Lebensrechtlern, um Schwangeren
Angst vor einer Abtreibung zu machen. Wie der folgende Überblick zeigt, beweist die medizinische
Fachliteratur: Richtig ist das Gegenteil.
Von Dr. med. Claudia Kaminski
TITEL
I
ch durfte acht Wochen mit Dir
teilen, acht Wochen hatte ich Dich
in meinem Bauch und letztendlich
habe ich mich gegen Dich entschieden.
Ich habe mehr zerstört, als ich in Worte
fassen kann, Du warst ein vollständiger
kleiner Mensch und ich habe Dir Dein
Recht genommen, geboren zu werden.
Du bist gestorben, bevor Du geboren
warst. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder
richtig glücklich sein kann, ob ich jemals
wieder heil werde.«
Solche Briefe an Kinder, die vor ihrer
Geburt getötet wurden, zeugen unter anderem in Internet-Foren wie beispielsweise www.nachabtreibung.de von dem
Leid, das Frauen nach einer Abtreibung
durchmachen. Sie sind Ausdruck des so
genannten »Post Abortion Syndroms«
(PAS), das die Gesamtheit der Symptome
umfasst, welche bei Frauen, die ihr ungeborenes Kind im Mutterleib töten ließen,
auftreten können. Psychische, psychosomatische und körperliche Folgen bleiben bei
einem solch drastischen Eingriff selten aus.
Das Hin und Her bei der Spätabtreibung 4
Tobias B. Ottmar
Eine Hebamme packt aus
Interview zur Praxis der Spätabtreibung
8
Beraten und bedacht
Der Gesetzentwurf zur Spätabtreibung
10
PSYCHISCHE SYMPTOME
Maria Simon, Würzburger Psychologin und Autorin der einzigen je in
Deutschland durchgeführten Studie zum
PAS, zeigte auf, dass rund 80 Prozent der
Frauen unter psychischen Spätfolgen wie
Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen, Stimmungsschwankungen und Depressionen
sowie Verlust des Selbstwertgefühls leiden
(Post-abortional-syndrom. In: IMABEQuartalsblätter, 2/1993). Bei 63 Prozent
der Frauen treten »Flashbacks« auf, das
Geschehen um die Abtreibung läuft filmartig auch tagsüber vor dem inneren Auge
der Betroffenen ab.
PSYCHOSOMATISCHE SYMPTOME
Frauen erleben ihre Schuld nach einer
Abtreibung häufig nicht bewusst, sondern
zeigen körperliche Symptome, die keine
organische, medizinische Ursache haben.
Das seelische Leid wird umgewandelt in
Unterleibsschmerzen, Menstruationsbeschwerden, Störungen der Verdauungstätigkeit bis hin zu Magersucht oder Bulimie, Kopfschmerzen, Migräne und
anderem.
KÖRPERLICHE SYMPTOME
Frühkomplikationen: Dazu zählen zurückgebliebene Abortreste, die Blutungen
und Infektionen der Gebärmutterschleimhaut, der Gebärmuttermuskelwand oder
Eileiter bis hin zu einer Bauchfellentzündung. Zu den Spätfolgen der Abtreibungen gehören Menstruationsstörungen,
eine mögliche Halteschwäche des Gebärmutterhalses und die damit einhergehende Gefahr späterer Fehl- oder Frühgeburten. Vernarbungen des Muttermundes
durch den instrumentellen Eingriff können zudem zu einer verzögerten Öffnung
des Muttermundes bei späteren Entbindungen führen. Auch ein erhöhtes Brustkrebsrisiko findet sich bei Frauen nach
Abtreibung.
All diese Symptome können unter dem
Begriff Post Abortion Syndrom zusammengefasst werden, zu dem es jedoch nur
wenige Studien gibt. Die Gründe:
• Die Frauen sprechen nur sehr schwer
über ihr Erleben nach der Abtreibung.
Bis zu 60 Prozent der Frauen möchten
keine Auskunft geben über ihr Leben
»danach«. Ein Grund ist der doppelte
14
»Du tötest Babys, Mama?«
Cornelia Kaminski
11
PAS: Tabu unserer Zeit
Dr. med. Claudia Kaminski
14
Voller Lücken
Matthias Lochner
18
Vorsorge versus Autonomie
Rainer Beckmann
21
www.ich-tus-nicht.de
Nathanael Liminski
26
Schmetterling und Taucherglocke
Dr. phil. José García
27
14 - 15
LebensForum 88
15
11 - 13
BÜCHERFORUM
30
KURZ VOR SCHLUSS
32
LESERFORUM
34
IMPRESSUM
35
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
Vatikan-Stellungnahme zu künstlicher 23
Ernährung und Wasserversorgung
Probedruck
Jetzt scheint Bewegung in die Debatte
um das Post Abortion Syndrom zu kommen. Mitte August 2008 hatte die »American Psychological Association« (APA)
den »Report of the APA Task Force on
Mental Health and Abortion« veröffentlicht, wonach es keine wissenschaftlichen
Daten gebe, die den Zusammenhang zwischen Abtreibung und psychischen oder
auch psychosomatischen Erkrankungen
bewiesen. Dem wurde unter anderem im
Lancet, einer der führenden internationalen medizinischen Zeitschriften, widersprochen (Women should be offered postabortion psychological care. In: The Lancet,
372, 2008). Im Editorial fordern die Autoren psychologische Beratung und Hilfe
nach einer Abtreibung, da unter anderem
das »Journal of Youth and Adolescence«
eine Studie veröffentlicht habe, die psychische Probleme nach Abtreibung nachweise (Resolution of unwanted pregnancy
during adolescence through abortion versus
childbirth: Individual and family predictors
and psychological consequences. In: Journal
of Youth and Adolescence, 35, 6/2006).
Angesichts einer Vielzahl von Betroffenen, seien es Frauen, die abgetrieben
haben, Männer, die ihre Partnerinnen zur
Abtreibung gedrängt haben, Geschwister,
Großeltern oder auch direkt an Abtreibung mitwirkende Ärzte, Hebammen und
Krankenschwestern, muss die Schweigespirale um das Leid nach Abtreibung
endlich durchbrochen werden.
Das wahre Ausmaß der Dramatik
der Tötung von Kindern, die außerhalb des Mutterleibes überlebensfähig wären, wird von der
Politik nach wie vor unterschätzt.
Warum, lesen Sie hier.
DOKUMENTATION
2
LebensForum 88
AKTUELL
4-7
16
GESELLSCHAFT
Wohl eher zufällig zu nennen – deswegen aber von der Aussage her nicht
weniger interessant – ist die Studie »Psychosoziale Beratung im Kontext von Pränataldiagnostik. Evaluation der Modellprojekte in Bonn, Düsseldorf und Essen«,
die vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend gefördert
wurde. In der Untersuchung, die unter
der Leitung von Professor Anke Rohde
(Universitätsklinik Bonn, Gynäkologische
Psychosomatik) und Dr. Christiane Woopen (Institut für Geschichte und Ethik
der Medizin, Universität Köln) durchgeführt und 2007 im Deutschen ÄrzteVerlag veröffentlicht wurde, heißt es:
»Die Erfahrung, ein krankes oder behindertes Kind zu bekommen, beziehungsweise eine Schwangerschaft abzubrechen,
kann psychische Störungen verursachen.«
Frauen nach Abtreibung zeigen Symptome, die den Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (engl.: PostTraumatic-Stress-Disorder = PTSD) entsprechen.
Und es finden sich in der medizinischen Literatur immer wieder Hinweise
auf die Folgen von Abtreibung: Gomez
Lavin berichtete 2005 von Albträumen,
Schuld und dem Gefühl »etwas reparieren zu müssen« (Diagnostic categorization
of post-abortion syndrome. In: Actas Españolas de Psiquiatría, 33, 4/2005).
Schon 2004 ergab eine amerikanische
Studie, dass es PAS gibt (Induced abortion
and traumatic stress: A preliminary comparison of American and Russian women. In:
Medical Science Monitor, 10, 10/2004).
Das »Institute for Pregnancy Loss« in
Jacksonville wies nach: 65 Prozent der
untersuchten Amerikanerinnen (N = 217)
hatten multiple Symptome wie gesteigerte
Erregung, Wiedererleben (auch Flashbacks) sowie Verdrängung, die mit Posttraumatischer Belastungsstörung einhergehen (PTSD). Immerhin 14,3 Prozent
der Amerikanerinnen wiesen die gesamten
diagnostischen Kriterien für PTSD auf.
Dass der Verlust eines vermutlich gewollten ungeborenen Kindes Stressreaktionen hervorruft, beweist eine Studie
unter der Leitung von Stephen V. Bowles
aus dem Jahr 2000 (Acute and posttraumatic stress disorder after spontaneous
abortion. In: American Family Physician,
61, 6/2000). Wenn schon Spontanaborte,
also der Verlust des Kindes ohne eigenes
Zutun in der frühen Schwangerschaft,
Stresssymptome hervorrufen, dann sollte
es nicht überraschen, wenn eine freiwillig
oder auf Drängen des Umfeldes herbeigeführte Beendigung der Schwangerschaft, eine Abtreibung, ähnliche oder
sogar gravierendere Symptome mit sich
bringt.
2004 gab es Untersuchungen im direkten Vergleich aus der Psychosomatischen
Medizin: In einer zweijährigen Studie
verglich eine Forschergruppe um Anne
N. Broen das Verhalten von Frauen nach
Spontanabort und nach Abtreibung (Psychological impact on women of miscarriage
versus induced abortion: A 2-year follow-up
study. In: Psychosomatic Medicine, 66,
2/2004). Direkt nach dem „Ereignis“ war
der IES (Impact of Event Scale) für Frauen
der Leitung von Mika Gissler: Eine dreifach erhöhte Suizidrate nach Abtreibung
(Suicides after pregnancy in Finland, 198794: register linkage study. In: British Medical Journal, 313, 1997).
Dieses Jahr wurde eine Langzeitstudie
aus Norwegen von Willy Pedersen veröffentlicht, die zeigt, dass vor allem junge
Frauen, die abtreiben ließen, später stärker
zu Depression neigen als andere (Abortion
and depression: A population-based longitudinal study of young women Scandinavian.
In: Scandinavian Journal of Public Health,
36, 4/2008). Die Ergebnisse der Studie,
für die der Soziologe Pedersen an der
Universität Oslo elf Jahre hindurch 768
Frauen im Alter zwischen 15 und 27 Jahren wissenschaftlich begleitet hat, zeigten
außerdem, dass das Suchtverhalten (Alkohol und Drogen) bei jungen Frauen nach
einer Abtreibung signifikant höher war
als bei jenen, die sich für ihr Kind entschieden (Childbirth, abortion and subsequent
substance use in young women: A populationbased longitudinal study. In: Addiction, 102,
12/2007).
Abtreibungsbefürworter behaupten, das Post-Abortion-Syndrom sei eine Erfindung von
Lebensrechtlern. Richtig ist, wie in diesem Beitrag medizinisch belegt, das Gegenteil.
AUSLAND
»We can liberaler«
Dr. Jutta Graf
Verlust: Zum einen das Kind, zum anderen der Person, die sie ohne Abtreibung hätten sein können.
• Die Symptome nach einer Abtreibung
sind außerordentlich komplex und vielschichtig, was eine Analyse über alle
medizinischen Fachgebiete hinweg stark
erschwert.
• Die Aufarbeitung möglicher Symptome
und Probleme nach einer Abtreibung
lässt sich kaum mittels Fragebogen erheben.
Oft verzweifelt: Frauen nach Abtreibung
nach Spontanabort höher (47,5 Prozent
versus 30 Prozent); nach zwei Jahren hatte
sich das Verhältnis umgekehrt: 2,6 Prozent versus 18,1 Prozent bei den Frauen
nach Abtreibung.
Nun argumentiert mancher, dass die
Gesellschaft Frauen immer noch ein
schlechtes Gewissen nach Abtreibung
einredet. Dabei zeigte Dennis A. Bagarozzi bereits 1994 auf, dass es gerade die
Leugnung des PAS oder PTSD ist, die
wesentlich zum Aufbau der Stressreaktion
beiträgt (Identification, assessment, and
treatment of women suffering from posttraumatic stress after abortion. In: Journal
of Family Psychotherapy, 5, 3/1994). Was
nicht sein kann, das nicht sein darf: Da
es PAS angeblich nicht gibt, darf die Frau
auch nach der Abtreibung nicht leiden,
so die Befürworter der Abtreibung.
Wenn das Post Abortion Syndrom als
eine Variante der PTSD anzusehen ist,
dann gilt auch für das PAS das, was David
D’Souza schon 1995 veröffentlichte: Die
Posttraumatische Belastungsstörung ist
eine Narbe für das Leben (Post-traumatic
stress disorder – a scar for life. In: The British
Journal of Clinical Practice, 49, 6/1995).
Eine aktuellere Studie von David M.
Fergusson weist nach, dass fast jede zweite
Frau nach einer Abtreibung psychisch
erkrankt (Abortion in young women and
subsequent mental health. In: Journal of
Child Psychology and Psychiatry, 47,
1/2006). Der enge Konnex zwischen Depressionen, Angstzuständen, Suizidgefährdung, Suchtverhalten und einer Abtreibung war selbst für die Autoren überraschend. Aus einer Gruppe von 1.265
Mädchen der neuseeländischen Stadt
Christchurch, die seit ihrer Geburt im
Jahre 1977 beobachtet wurden, wurden
41 Prozent der Mädchen bis zum Alter
von 25 Jahren schwanger. 14,6 Prozent
ließen ihr Kind abtreiben. Von jenen 90
Frauen, die eine Abtreibung vornehmen
ließen, entwickelten 42 Prozent innerhalb
der nächsten vier Jahre eine schwere Depression. Auch der Drogen- und Alkoholmissbrauch stieg bei dieser Gruppe von
Frauen signifikant an. Diese Verhaltensweisen und Erkrankungen könnten auf
keine früheren Erlebnisse zurückgeführt
werden, betont Studienleiter Fergusson
von der Universität von Otago (Department Christchurch Health and Development Study). Er bezeichnete es als Skandal, dass die psychischen Folgen eines
Eingriffs, der bei jeder zehnten Frau
durchgeführt wird, kaum studiert oder
evaluiert werden.
Wie dramatisch die Folgen einer Abtreibung für Frauen sein können, zeigt
auch eine finnische Studie von 1997 unter
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
Schwimmzüge im Teer
Dr. med. Claudia Kaminski
DANIEL RENNEN
LEBENSFORUM 88
Sie töten Kinder im Mutterleib.
Aber worüber unterhalten sich
Abtreiber, wenn sie zu einem
Kongress zusammenkommen.
LebensForum weiß es.
LebensForum 88
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Schwimmzüge
im Teer
8-9
TITEL
Spätabtreibung –
Eine Hebamme packt aus
Weil sie sich nicht an Spätabtreibungen beteiligen wollte, hat Miriam Schmidt (Name geändert)
ihre Stelle als Hebamme gekündigt. Was sie bei ihrer Arbeit in einem Stadtkrankenhaus einer
deutschen Großstadt miterlebte, bekommt angesichts der neuen Diskussionen um
Spätabtreibungen wieder Gewicht. Tobias-Benjamin Ottmar sprach mit der Frau, die seit
einiger Zeit nun selbstständig tätig ist.
Eine Hebamme kündigt, weil sie sich nicht an
Spätabtreibungen beteiligen wollte. Im Interview
mit LebensForum berichtet sie über ihre Erlebnisse
in einem Stadtkrankenhaus.
20 - 22
AUSL AND
»We can liberaler«
Großbritannien besitzt die liberalste Abtreibungsgesetzgebung Europas. Dennoch fürchten britische
Politiker inzwischen von anderen Staaten überholt worden zu sein. Obwohl auf der
Insel offiziell pro Jahr 200.000 Kinder im Mutterleib getötet werden, gibt es ständig neue Forderungen
nach einer weiteren Liberalisierung.
Von Dr. Jutta Graf
B
is zur 24. Schwangerschaftswoche
kann in Großbritannien jedes Kind
de facto ohne besondere Gründe
abgetrieben werden. Was gibt es da noch
zu liberalisieren? Könnte man fragen –
und das nicht zu Unrecht. Offiziell handelt
es sich beim britischen Abtreibungsgesetz
um eine Indikationenregelung. Abgetrieben darf unter anderem werden, wenn
»die Fortsetzung der Schwangerschaft
ein größeres Risiko für die körperliche
und geistige Gesundheit der Schwangeren
einschließen würde als der Abbruch.« 97
Prozent der Abtreibungen werden unter
dieser Indikation vorgenommen, die in
der Praxis wie eine soziale Indikation gehandhabt und in jeder beliebigen Situation
geltend gemacht wird: So wäre es z.B. eine Gefahr für die geistige Gesundheit der
Schwangeren, wenn ein Karrieresprung
nicht im geplanten Zeitraum vonstatten
gehen könnte. In keinem anderen Land
Europas kann unter sozialer Indikation
bis zur 24. Woche abgetrieben werden.
Insofern hat Großbritannien eine sehr liberale Gesetzgebung.
Andererseits gibt es – zumindest offiziell – keine Abtreibung auf Verlangen.
Darüber hinaus muss, außer in Notfällen,
von zwei Ärzten bestätigt werden, dass
eine Indikation zutrifft, und – der größte
Dorn im Auge von Pro-Choice-Politikern
– der Paragraf gilt nicht für Nordirland.
Dort ist Abtreibung nur bei Lebensgefahr
der Schwangeren oder ernsthafter Bedrohung ihrer Gesundheit erlaubt.
Seit 1990 wurde das Abtreibungsgesetz
in Großbritannien nicht verändert. Um
es dem aktuellen Stand der Wissenschaft
anzupassen, sollte es im Rahmen der Debatte um den Human Fertilisation and
Embryology Act (HFEA) 2007 bis 2008,
welcher unter anderem die Legalisierung
von Hybriden zum Thema hatte, neu
aufgerollt werden. Im Juni 2007 kündigte
das House of Commons Science and
Technology Committee eine Untersu-
chung zur Abtreibung an, die Ende Oktober desselben Jahres dem Unterhaus
präsentiert wurde. Die Untersuchung positionierte sich eindeutig »pro-Abtreibung« und suchte nach Gründen für die
Aufrechterhaltung der 24-Wochen-Obergrenze sowie für eine weitere Liberalisierung. Eine ethische
Diskussion wollte
sie explizit ausschließen.
Eine Verkürzung der Obergrenze wäre aus zwei
Gründen in Frage gekommen: erstens,
weil Babys
dank der
modernen Medizin auch
schon vor der 24.
Woche überleben
können (die Lebensfähigkeit außerhalb der Gebärmutter ist
in Großbritannien ausschlaggebend für
den Rechtsschutz), und zweitens, weil
eindeutig nachzuweisen ist, dass ein Fötus
Schmerz empfindet. Gegen diese Argumente wandte das Komitee ein: Es gebe
keine wissenschaftliche Grundlage, die
geltende Obergrenze zu verändern. Dass
die Überlebensrate frühgeborener Kinder
in einzelnen Krankenhäusern beachtenswert sei, wurde in der Untersuchung zwar
nicht bestritten. So haben etwa an der
Londoner Uniklinik zwischen 1996 und
2000 50 Prozent der in der 22. Woche
16
geborenen Babys überlebt. Da es sich aber
nur um einzelne Spitäler und um entsprechend kleine Testgruppen handle, seien
diese Daten statistisch nicht relevant, wehrte das Komitee ab. Auch die Frage, ob der
Fötus Schmerz empfinde, sei für das Abtreibungsgesetz bedeutungslos. Es gebe
zwar Beweise, dass ein Fötus auf schädliche
Reize reagiere, dies heiße aber nicht, so
das Komitee weiter, »dass Schmerz bewusst
wahrgenommen würde, insbesondere
nicht unterhalb der 24-Wochen-Obergrenze«.
Die Untersuchung lässt zahlreiche
Fragen offen. Ist das überlebensfähige
ungeborene Kind nur dann von Bedeutung, wenn es in statistisch relevanten
Zahlen auftritt? Wird im Zweifelsfall
gegen das Kind entschieden? Könnte
eine »bewusste« Wahrnehmung
von Schmerz nicht auch bei geborenen Babys in Frage gestellt
werden? Nichtsdestotrotz waren die Empfehlungen
der Untersuchung richtungsweisend, als am 20.
Mai 2008 im Unterhaus
über die AbtreibungsObergrenze abgestimmt
wurde.
Von konservativen Abgeordneten wurden verschiedene Anträge
auf Verkürzung der Obergrenze – auf 12,
16, 20 und 22 Wochen – eingebracht und
heftig diskutiert. Die Abgeordnete und
ehemalige Krankenschwester Nadine
Dorries, welche die Kampagne für eine
Verkürzung auf 20 Wochen initiiert hatte,
berichtete bei der Plenarsitzung aus eigener Erfahrung, wie ein abgetriebener
Junge lebendig geboren wurde, nach Atem
rang und sieben Minuten später starb.
Doch die Gegnerseite ließ sich nicht beeindrucken. Mitglieder der Labour Party
fühlten sich teilweise ihrer Partei verpflichtet. Andere stimmten deshalb gegen
eine Verkürzung, weil sie prinzipiell von
LebensForum 88
Großbritannien besitzt bereits die liberalste
Abtreibungsgesetzgebung Europas. Dennoch gibt
es von politischer Seite die Forderung nach einer
weiteren Liberalisierung.
LebensForum 88
Probedruck
und Embryomodelle
an Abtreibungsärzte,
Krankenschwestern und
Funktionäre der Abtreibungslobby verteilten,
hat sie die Vorträge verfolgt.
Liebe Leserin, lieber Leser,
Jutta Graf, die langjährige Vorsitzende der
»Jeder hat ein Recht auf Leben und
»Jugend für das Leben
körperliche Unversehrtheit« heißt es in
Österreich« hat für LeArtikel 2, Satz 2 des Grundgesetzes. Die
bensForum einmal eiMehrheit der Politiker in unserem Land
nen Blick über den Ärscheint daraus den Schluss zu ziehen, dass
melkanal geworfen. Aus gutem Grund:
Versehrte deshalb auch kein Recht auf
Denn in Großbritannien, das über die liLeben besäßen.
beralste Abtreibungsgesetzgebung EuroAnders lässt sich nicht erklären, dass
pas verfügt, wäre diese kürzlich um ein
sich die im Bundestag vertretenen ParteiHaar erneut liberalisiert worden. Nur
en nicht einmal bei den besonders graudem geschlossenen Widerstand nordirisamen Spätabtreibungen auf Maßnahmen
scher Abgeordneten ist es zu verdanken,
einigen wollen, die das Leben ungeboredass es soweit nicht kam.
ner Kindern, bei denen eine Behinderung
In Deutschland wäre ein solcher Sepadiagnostiziert wurde, besser zu schützen
ratismus unvorstellbar. Wer hier Schlimin der Lage wären.
meres verhüten oder gar eine Besserung
Schlimmer noch: Jeder noch so kleine
der Gesamtlage erreichen will, der muss
Schritt in diese Richtung gleicht einem
sich vom politischen Lagerdenken verabBrustschwimmzug im
schieden. Für LeTeer, wie das peinliche
bensrechtler muss daTheater um den vom
her bei der Bundes»Schnallen Sie sich
familienpolitischen
tagswahl 2009 gelten:
Sprecher der CDU/
»Wir kennen keine
besser schon mal an.«
CSU-BundestagsParteien mehr. Wir
fraktion Johannes
kennen nur noch ProSinghammer (CSU)
Life-Abgeordnete.«
initiierten Gesetzentwurf zeigt. Tobias
Deshalb stellt LebensForum jetzt auch
B. Ottmar hat für LebensForum den
jene Politiker vor, die die Stimmen von
Verlauf der Debatte nachgezeichnet, die
Lebensrechtlern verdienen und sich um
der Wunsch nach minimalen Kurskorrekein Mandat im nächsten Bundestag beturen entfacht hat.
werben. Mögen die Parteien im kommenWer danach noch nicht den Kopf
den Jahr einen Lagerwahlkampf führen.
schüttelt, wird dies spätestens nach der
Wir schauen eher auf die Person. Als
Lektüre des aufschlussreichen Interviews
überparteiliche und überkonfessionelle
tun, das wir mit einer aus Ostdeutschland
Lebensrechtsorganisation lassen wir uns
stammenden Hebamme geführt haben.
weder von der Zugehörigkeit zu einer
In LebensForum erzählt sie, was sie in
Partei noch zu einer Konfession blenden.
einem Stadtkrankenhaus einer deutschen
Und da es üblich ist, dass in LebensschutzGroßstadt alles erlebt hat. Schnallen Sie
fragen der Fraktionszwang aufhoben wird,
sich besser schon mal an!
ist dies auch der beste Weg, um Gesetze
Sicherheitsgurte empfehlen wir auch
zu verhindern oder gar zu kippen, die sofür die Lektüre des Beitrags von Cornelia
wohl die Würde des Menschen, als auch
Kaminski, die sich in Berlin unter die
unsere Verfassung mit Füßen treten.
Teilnehmer eines von der »InternationaEine erhellende Lektüre wünscht
len Vereinigung von Fachkräften und
Ihre
Verbänden für Schwangerschaftsabbruch
und Kontrazeption« (FIAPAC) veranstalClaudia Kaminski
teten Kongresses geschmuggelt hatte.
Bundesvorsitzende der ALfA und
Während andere ALfA-Mitglieder vor
des Bundesverbandes Lebensrecht
dem Kongresseingang demonstrierten
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T I T EL
Das Hin und Her bei der
Spätabtreibung
»Es gibt«, heißt es in den »Minima Moralia« des Philosophen Theodor Ardorno »kein richtiges Leben
im falschen«. Wie recht Adorno damit hatte, wird derzeit kaum irgendwo so deutlich, wie bei der seit
Jahren andauernden Diskussion um die so genannten Spätabtreibungen.
Von Tobias B. Ottmar
F
ür die Eltern, ist es in der Regel
ein Schock: Das Wunschkind ist
behindert. Ob offener Rücken,
Herzfehler oder Wasserkopf – meist entscheiden die Eltern sich schweren Herzens für eine Abtreibung. Etwa 3.000Mal
im Jahr treiben in Deutschland Frauen
wegen einer »medizinischen Indikation«
ab. Laut Gesetz ist dies nur möglich,
wenn andernfalls das Leben der Mutter
bedroht wäre oder der körperliche bzw.
seelische Gesundheitszustand durch ein
Austragen des Kindes schwerwiegend
beeinträchtigt würde. De facto ist diese
im Paragraf 218a festgelegte Regelung
längst zu einem Automatismus geworden:
Wer behindert ist, wird meist abgetrieben.
Jahrelang wurde dieser Skandal – der im
Übrigen gegen Artikel 3, Absatz 3 des
Grundgesetzes verstößt (»Niemand darf
wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden.«) – von der Politik fast stillschweigend hingenommen. Die Große
Koalition versprach zu Beginn der Legislatur in ihrem Koalitionsvertrag, zu prüfen, »ob und gegebenenfalls wie die Situation bei Spätabtreibungen verbessert
werden kann.« Doch ein gemeinsames
Vorgehen von Union und SPD scheint
in weite Ferne gerückt zu sein.
Tagen liegen. Doch kurz bevor die beteiligten Unionsabgeordneten – allen voran
der familienpolitische Sprecher, Johannes
Singhammer (CSU) – auch um die Unterstützung einzelner Abgeordneter in
anderen Fraktionen werben wollten, mel-
Zur jüngsten Chronologie: Bereits im
September schien klar, dass die Union in
Eigenregie einen Gruppenantrag in den
Bundestag einbringen würde. Dieser sieht
eine Beratungspflicht des Arztes vor, wenn
bei einer vorgeburtlichen Untersuchung
eine Behinderung festgestellt wird. Zudem soll zwischen der Diagnose und der
möglichen Abtreibung eine Frist von drei
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Probedruck
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
SEPTEMBER: RÜCKENWIND
FÜR UNION VON DER FDP
LebensForum 88
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OKTOBER: ERNEUTE GESPRÄCHE ZWISCHEN SPD UND CDU/CSU
Möglicherweise regte diese unerwartete Schützenhilfe die Sozialdemokraten
an, doch noch einmal mitzudiskutieren.
Doch auch die erneuten Gespräche scheiterten im Oktober. Stattdessen präsentierte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Christel Humme ein eigenes
Konzept, das allerdings nicht viel Neues
zu bieten hatte: Zum einen wurde in dem
Papier auf die bestehenden Regelungen,
das Standesrecht der Ärzte sowie das
geplante Gendiagnostikgesetz verwiesen.
Letzteres sieht eine umfassende Beratung
bei allen genetisch-vorgeburtlichen Untersuchungen vor. Auch ein »Recht auf
Nichtwissen« ist darin festgeschrieben,
was der Schwangeren den Freiraum einräumen soll, eine Untersuchung auch
abzulehnen. Zum anderen will Humme
aber auch die Mutterschaftsrichtlinien
ändern. So soll sichergestellt werden, dass
die Frau in jedem Fall bereits vor einer
Untersuchung über mögliche Konsequenzen beraten wird. Theoretisch besteht
diese Beratungspflicht bereits heute.
Allerdings kämen nicht alle Ärzte dieser
Aufgabe nach, so die SPD-Politikerin.
»Die Untersuchungen werden den Frauen nahegelegt, oft ohne über die Chancen
und Risiken zu informieren«, heißt es in
Hummes Konzept. Dennoch will sie keine
gesetzliche Neuregelung.
NOVEMBER: SPD VOTIERT
GEGEN UNIONSVORSCHLAG
Trotz dieses politischen Rückschlags
ging Singhammer nicht auf Konfrontationskurs. »Wir halten die Tür offen«, so
seine Reaktion nach dem Bekanntwerden
von Hummes Konzept. Doch ohne Erfolg. Am 11. November stimmte die SPD
geschlossen gegen den Unionsvorschlag
und sprach sich stattdessen für das eigene
Konzept aus. Eine deutliche Mehrheit
der SPD sieht keinen Bedarf, im Rahmen
eines Gesetzgebungsverfahrens beim
Thema Spätabtreibungen tätig zu werden.
LebensForum 88
Probedruck
CY CMY
Anders sieht es jedoch die Vorsitzende
des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend im Bundestag, Kerstin
Griese (SPD): Ergänzend zu dem Humme-Konzept fordert sie ähnlich wie die
Union ein gesetzlich verankertes, verpflichtendes Angebot einer psychosozialen
Beratung. Eine Soll-Vorschrift, wie sie
zurzeit in den Mutterschaftsrichtlinien
K
den eigenen Reihen und darüber hinaus
für ihren Vorschlag gewinnen könne.
EIN VERBOT WIRD NICHT THEMATISIERT
ARCHIV
Alle geäußerten Ideen – ob von Singhammer, Humme oder Griese – haben
eines gemeinsam: Sie alle wollen die Beratung der Frauen verbessern. Allerdings
WWW.KERSTIN-GRIESE.DE
dete sich plötzlich ausgerechnet die FDP
zu Wort: Deren Ethik-Expertin Ulrike
Flach erklärte, man sei bereit, mit der
Union über eine Neuregelung bei der
Spätabtreibung zu diskutieren. Zur Erinnerung: Die Liberalen sprechen schon
seit Längerem von einem »aufsteigenden
Lebensschutz«. Je fortgeschrittener der
Mensch in seiner Entwicklung sei, desto
mehr Schutzwürdigkeit gebühre ihm,
lautet die bei der FDP weitverbreitete
Ansicht.
M
Kerstin Griese, SPD
Johannes Singhammer, CSU
verankert ist, reiche nicht aus, »um eine
qualitative hochwertige und umfassende
Beratung wirklich für jede Patientin zu
gewährleisten.« Wie Griese – die auch
der Synode der Evangelischen Kirche in
Deutschland angehört – in der »Rheinischen Post« sagte, hänge die Betreuung
einer Schwangeren in einer Konfliktsituation bislang »zu sehr von der einzelnen
Handhabung durch den einzelnen Arzt
oder die Ärztin ab.« Sie will – ebenso wie
die Union – das Schwangerschaftskonfliktgesetz ändern. Allerdings solle die
Drei-Tage-Bedenkzeit zwischen einer
Diagnose und eventueller Abtreibung
nicht – wie von der Union gefordert –
für Ärzte, sondern für Frauen gelten. Zudem lehnt sie den Vorschlag einer genaueren statistischen Erfassung der Spätabtreibungen ab. Schließlich könne dies
Rückschlüsse auf den Einzelfall ermöglichen. Ein gemeinsames Vorgehen mit
der Union schloss sie deshalb aus. Bis
Mitte November unterstützten etwa 15
SPD-Abgeordnete den Vorschlag von
Griese, darunter auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und SPDGeneralsekretär Hubertus Heil. Kurz
nach der Fraktionssitzung – bei der das
Thema rund zwei Stunden behandelt
wurde – gab sie sich zuversichtlich, dass
sie noch einige weitere Abgeordnete aus
unterscheiden sie sich in ihren Formulierungen und der Zielgruppenorientierung:
So ist der Unions-Entwurf in erster Linie
als ein Appell an die Ärzte zu verstehen.
Schließlich wurde das Papier auch in
enger Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer entwickelt. Die Sozialdemokraten orientieren sich – nach eigenen Aussagen – mehr an den Belangen der
Frau. Und noch einen Unterschied gibt
es: Der CSU-Politiker Singhammer hat
in seinem Papier auch Strafen angekündigt, sollten die Ärzte ihrer Beratungspflicht nicht nachkommen. Die Möglichkeit, Spätabtreibungen grundsätzlich zu
verbieten, klammern allerdings alle bislang diskutierten Vorschläge aus. Die Ärzteschaft ist in diesem Punkt mutiger:
Bereits im Juli hatte der Präsident der
Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, erklärt: »Wir hätten uns gewünscht,
dass die 22. Schwangerschaftswoche, beziehungsweise der Zeitpunkt, an dem das
Kind alleine überlebensfähig ist, die zeitliche Grenze für eine Abtreibung darstellt.« Nach neusten Erkenntnissen sind
laut dem Statistischen Bundesamt bereits
Kinder ab der 20. Schwangerschaftswoche
auch außerhalb des Mutterleibs lebensfähig. Dieses Kriterium definiert eine
Spätabtreibung. Demzufolge ist die offizielle Gesamtzahl dieser Fälle mit 631
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DRAMATIK WIRD NICHT ERKANNT
Politiker, die den Gruppenantrag ablehnen, weil sie eine Verschärfung des Abtreibungsparagrafen 218 fürchteten.
Auch die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann unterstützt die Unionspläne. In einem Beitrag für die »Bild
am Sonntag« schrieb sie, eine Schwangere
DRUCK VON BEHINDERTENVERBÄNDEN
UND KIRCHEN
Zusätzlicher Druck auf die Politik,
doch endlich zu handeln, kommt auch
von Behindertenverbänden und den Kirchen. Der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete und heutige Vorsitzende der
»Bundesvereinigung Lebenshilfe für
Menschen mit geistiger Behinderung«,
Robert Antretter, sprach sich gegenüber
der Evangelischen Nachrichtenagentur
idea für den Gruppenantrag der Union
© PHILIDOR - FOTOLIA.COM
Angesichts der Dramatik der vorgeburtlichen Kindstötungen nach der 20.
Schwangerschaftswoche ist die ständige
Verzögerungstaktik der Politik ein zusätzlicher Skandal: Während zur Rettung der
Finanzinstitute binnen kürzester Zeit ein
Milliarden-Paket geschnürt werden konnte, war es keiner Regierung seit dem Fall
des »Oldenburger Babys« im Jahr 1997
– einem Kind, das seine eigene Spätabtreibung überlebte – möglich, zur Rettung
von Menschenleben ein gemeinsames
Konzept vorzulegen. Fast scheint es, als
Koalitionsvertrag. Die Sozialdemokraten
erweisen sich gerade bei dieser sensiblen
Thematik als unzuverlässig.« Ginge es
nach der JU, sollten Spätabtreibungen
nur noch bei Vergewaltigungen oder Lebensgefahr der Mutter zulässig sein.
ARCHIV
im vergangenen Jahr drei Mal höher als
bislang angenommen. Wahrscheinlich ist
die tatsächliche Zahl der Spätabtreibungen aber noch viel höher (siehe Interview).
Robert Antretter
in einem derartigen Entscheidungskonflikt brauche Bedenkzeit und Beratung.
»Zum Beispiel durch Eltern behinderter
Kinder, die erleben: mein Kind ist liebenswert.« Zudem sollte sich die Gesellschaft
über jedes Kind freuen – unabhängig davon, ob es den »Normen« entspreche.
Ebenso stellten sich Vertreter der (katholischen) Deutschen Bischofskonferenz –
u. a. der Vorsitzende Erzbischof Robert
Zollitsch – nach einem Spitzengespräch
mit der CDU hinter den Unionsentwurf.
Die Evangelischen Frauen in Deutschland
sehen dagegen in dem von der SPDPolitikerin Humme erarbeiteten Papier
die Belange der Frauen besser berücksichtigt. Eine gesetzliche Regelung halte
man nur für notwendig, wenn das Recht
auf Beratung und Bedenkzeit nicht grundsätzlich gewährleistet wird, so die Leiterin
des Verbandes, Beate Blatz.
Kein Grund zur Spätabtreibung: Behinderte Kinder bringen durchaus viel Freude in ihre Familien.
wäre den Akteuren der Ernst der Lage
nicht bewusst. Ganz anders ist dies bei
den Nachwuchspolitikern der Union.
Angesichts der andauernden Diskussionen
erklärte der stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungen Union (JU), Henrik
Bröckelmann, Ende Oktober: »Die Union
muss auf Einhaltung des Koalitionsvertrages drängen (…). Dass die SPD sich
hier erneut einer konstruktiven Lösung
verweigert, ist ein Verstoß gegen den
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Probedruck
aus. Man solle »nichts unversucht lassen«,
um menschliches Leben zu schützen. Die
Praxis der Spätabtreibungen sei »eine
Barbarei«. Man solle wieder den Wert
eines behinderten Kindes erkennen. Auch
wenn es durchaus sehr schwere Behinderungen gebe, sei es wichtig, den Schwangeren in einer Konfliktsituation zu vermitteln, welche positiven Erfahrungen andere
Familien mit ihrem behinderten Kind
gemacht haben. Antretter kritisierte jene
BEHINDERTENVERBAND:
MEHR KOOPERATION NÖTIG
Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB) hat unterdessen eine
Handreichung zur »Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik« erarbeitet. Ziel ist es, schwangeren Frauen in
Konfliktsituationen eine »kompetente
und ganzheitliche Beratung« anzubieten.
So soll einem »Klima der Verunsicherung
und Angst« entgegen getreten werden.
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Oft sähen sich sowohl die Schwangere
als auch die beteiligten Ärzte einem Entscheidungs-, Zeit- und Gewissensdruck
ausgesetzt, wenn es darum geht, über das
Leben eines Kindes zu entscheiden.
Letztlich stehe man aber auch unter einem
gesellschaftlichen Erwartungsdruck. Zwar
gibt es nach Ansicht des BeB für die
Betroffenen ein breites Angebot diakonischer Dienste und Einrichtungen. Diese
seien aber bislang nicht optimal vernetzt.
Das Papier nimmt daher Gynäkologen,
Hebammen, Kinderärzte oder Schulen
in den Blick. Sie sollen mit den SchwanWWW.ZENTRALSTELLE-KDV.DE
aufzurollen. Der Gesetzesentwurf sei ein »Einfallstor, um das in der
BRD letztmalig 1995 reformierte Gesetz (…) zu
verschärfen«, wird die
Gynäkologin Blanka Kothé in der linken Wochenzeitung »Jungle World«
zitiert. Sie hatte den Kongress der Abtreibungsmediziner in Berlin mitorganisiert.
Margot Käßmann, Landesbischöfin von Hannover
gerschaftskonflikt-Beratungsstellen, Eltern-Selbsthilfegruppen oder Einrichtungen der Behindertenhilfe kooperieren
und sich gegenseitig unterstützen. Der
Bundesverband evangelische Behindertenhilfe ist ein Fachverband im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in
Deutschland. Ihm gehören rund 600 Mitgliedseinrichtungen an, die Angebote für
mehr als 100.000 Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung aller
Altersstufen bereit halten.
SCHON FÜRCHTEN SICH DIE
ABTREIBUNGSÄRZTE …
Doch nicht jeder ist mit dem Kampf
gegen die Spätabtreibungen einverstanden. Ende Oktober diskutierten in Berlin
rund 600 Vertreter der Abtreibungslobby
über die derzeit geplanten Regelungen
in mehreren Ländern der Welt, unter
anderem auch Deutschland. Nach Ansicht
mancher Teilnehmer sind die Unionspläne ein erster Schritt, um die Abtreibungsgesetzgebung grundsätzlich neu
LebensForum 88
Probedruck
IST MEHR LEBENSSCHUTZ
MÖGLICH?
Auch auf Seite der Feministinnen fürchtet man
inzwischen eine Eingrenzung des vermeintlichen
»Rechts auf Abtreibung«.
In der aktuellen Ausgabe der Frauenzeitschrift
»EMMA« heißt es: »Von
Anfang an war klar, dass
dieses Konstrukt (der
Paragraf 218, d. Red.), je
nach Zeitgeist, auf sehr
schwankenden Füßen
steht, und gewisse Konservative bei der ersten guten
Gelegenheit versuchen
würden, zur guten alten Entmündigung
der Frauen zurückzukehren. Diese Gelegenheit scheint jetzt gekommen zu sein.«
Auch wenn es sicher keinem der Politiker
um eine Entmündigung der Frauen geht:
Wenn die derzeitige Diskussion tatsächlich dazu beitragen würde, um bereits
von der Zeugung an einen besseren Lebensschutz zu garantieren, wäre das für
die Lebensrechtsbewegung ein großer
Erfolg. Doch bis dahin wird es noch ein
sehr weiter Weg sein.
WIE ES WEITERGEHEN WIRD…
Derzeit scheint wohl eine der drei
Möglichkeiten politisch durchsetzbar zu
sein:
a) Die Abgeordnete Humme setzt sich
mit ihrem Vorschlag durch, eine Beratungspflicht in den Mutterschaftsrichtlinien zu verankern. Eine Änderung
im Schwangerschaftskonfliktgesetz
gibt es nicht.
b) Humme und Griese einigen sich auf
einen Kompromissvorschlag, der – in
möglicherweise abgeschwächter Form
– ein verpflichtendes Beratungsangebot
im Schwangerschaftskonfliktgesetz
festschreibt.
c) Griese und die Union einigen sich auf
einen neuen Gesetzesentwurf, der im
Wesentlichen eine bessere Beratung
der Frauen regelt. Die Forderung einer
besseren statistischen Erfassung – wie
von der Union erhoben – wird gestrichen.
Die vierte Option ist eher eine Befürchtung: Letztendlich bleibt doch alles
so wie es ist. Damit dies nicht passiert,
muss sich die Lebensschutzbewegung
auch in den kommenden Monaten dafür
engagieren, den Politikern ins Gewissen
zu reden. Denn einst ist klar: Der Skandal
der Spätabtreibungen kann von der Öffentlichkeit nicht länger hingenommen
werden.
IM PORTRAIT
Tobias-Benjamin Ottmar
Der Autor, Jahrgang 1985, arbeitet als
Redakteur für die
Evangelische
Nachrichtenagentur
idea. Ottmar ist verheiratet und lebt
und arbeitet derzeit
in Essen.
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DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
Spätabtreibung –
Eine Hebamme packt aus
Probedruck
Weil sie sich nicht an Spätabtreibungen beteiligen wollte, hat Miriam Schmidt (Name geändert)
ihre Stelle als Hebamme gekündigt. Was sie bei ihrer Arbeit in einem Stadtkrankenhaus einer
deutschen Großstadt miterlebte, bekommt angesichts der neuen Diskussionen um
Spätabtreibungen wieder Gewicht. Tobias-Benjamin Ottmar sprach mit der Frau, die seit
einiger Zeit nun selbstständig tätig ist.
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Schmidt: Ich kann das nicht verstehen,
zumal im Kern doch Einigkeit darüber
besteht, dass Spätabtreibungen etwas
Schlimmes sind. Es geht ja nicht einmal
darum, die Rechte der Frauen – sprich
die Spätabtreibungen – einzugrenzen,
sondern lediglich um die Sicherstellung
einer qualifizierten Beratung.
Wie sieht denn eine Beratung nach dem heutigen Stand aus?
Wenn die Ärzte feststellen, dass ein
Kind beispielsweise behindert ist, schildern
sie die möglichen Folgen, die das für das
Leben der Mutter mit dem Kind haben
kann. Dazu sind sie gesetzlich verpflichtet.
Gleichzeitig erschwert das die Entscheidung für das Kind. Mitunter werden die
Frauen massiv unter Druck gesetzt, die
Abtreibung vorzunehmen. Ein Beispiel:
Eine Schwangere – die in der 30. Woche
war – bekam es so mit der Angst zu tun,
dass sie noch am selben Tag der Diagnose
abgetrieben hat. Statt Alternativen aufzuzeigen, wurde ihr die Abtreibung regelrecht
eingeredet. Hinterher hat sie ihren Schritt
bereut, wie sich in Gesprächen mit einer
Kollegin von mir herausstellte.
Gibt es in diesem Fall ein Nachsorge-Angebot?
Selbstverständlich nicht. Denn offiziell
haben die Frauen ja keine Probleme nach
einer Abtreibung. Wer dennoch darunter
leidet, ist auf sich allein gestellt.
Wie viele Spätabtreibungen wurden an ihrem
früheren Arbeitsplatz vorgenommen?
Ein bis zwei pro Woche.
Deutschlandweit geht man von etwa 600 Abtreibungen nach der 20. Woche aus. Eine realistische Zahl?
Ich denke nicht, schließlich wird die
Klinik, in der ich gearbeitet habe, keine
Hochburg von Spätabtreibungen sein.
Wenn man davon ausgeht, dass es in anderen Großstädten ähnlich viele Spätabtreibungen gibt wie dort, kommt man schnell
auf eine Zahl zwischen 1.500 und 5.000.
Wie läuft eine Spätabtreibung ab?
Die Frauen bekommen ein wehenauslösendes Mittel. Je nach Alter und körLebensForum 88
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perlicher Verfassung der Babys kommen
diese auch lebend zur Welt und werden
dann so lange liegen gelassen, bis sie tot
sind. Sie werden dann bis zur »Entsorgung«
im Kühlschrank aufbewahrt. Eine Kollegin
von mir, hatte einmal ein spätabgetriebenes
Kind, das noch lebte, auf den Arm genommen. Sie ging in einen anderen Raum,
betete für das Baby und wartete dann, bis
es gestorben war. Manche Ärzte setzen je
nach Alter des Kindes bei der Abtreibung
auch Kaliumchlorid ein. Das heißt, dem
Baby wird eine Salzlösung ins Herz injiziert,
damit es vor der Geburt stirbt.
gekündigt habe. Ich denke, dass manche
der anderen Hebammen durchaus wussten, dass es falsch ist, was sie tun. Gegenüber mir sahen sie sich aber wohl einem
Rechtfertigungszwang ausgesetzt.
Wenn das aber nicht der Fall ist, sterben die
Kinder mitunter nicht schon im Mutterleib oder
während der Geburt, sondern erst einige Stunden
danach …
War zum Zeitpunkt Ihrer Kündigung schon klar,
wie es beruflich weitergeht?
Genauso ist es. Immer wieder überleben einige Babys diese Qualen. Dem
Personal bleibt dabei kaum eine Wahl:
Theoretisch müssten sie Erste Hilfe leisten, wenn das Kind noch lebt. Das könnte
aber zur Folge haben, dass beispielsweise
der Arzt verklagt wird, weil die Abtreibung
nicht erfolgreich war. Es ist schon makaber: Während in dem einen Raum spätabgetriebene Kinder in ihrem Überlebenskampf alleine gelassen werden und deshalb
sterben, kann es passieren, dass nebenan
bei einer Frühgeburt um das Leben des
Kindes – das vielleicht im gleichen Alter
ist – gerungen wird.
Die Klinik hätte sie gerne als Hebamme behalten …
konnte aber kein konkretes Angebot
machen, wie mich ich auch künftig von
den Spätabtreibungen hätten fernhalten
können. Sie wollten im Grunde, dass ich
mitmache.
Im Grunde wusste ich nicht, wie es
weitergehen würde. Das war im Grunde
ein Gehorsamsschritt gegenüber Gott,
der viel Vertrauen abverlangte. Aber es
hat sich bewährt: Heute arbeite ich freiDANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
LebensForum: Seit langem diskutieren die Politiker über eine Neuregelung der Spätabtreibung
– zu einer einvernehmlichen Lösung ist man
bislang nicht gekommen. Können Sie das nachvollziehen?
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Wie bewerten Sie die juristischen Hürden für
eine Spätabtreibung?
Im Grunde kann jede Frau auch bis
kurz vor der Geburt abtreiben, wenn sie
einen Arzt glauben lassen kann, dass ihre
körperliche oder seelische Gesundheit
beim Austragen des Kindes gefährdet
wäre. Wenn eine Frau beispielsweise ein
Attest dem Gynäkologen vorlegt, das eine
Suizidgefahr im Falle einer Geburt suggeriert, ist der Arzt verpflichtet abzutreiben. Ansonsten kann dies als unterlassene
Hilfeleistung angesehen werden.
Sie haben sich nicht direkt an den Spätabtreibungen beteiligt – das erlaubt das Gesetz. Wie
kam das bei den anderen Hebammen an?
Ich habe entsprechende negative Rückmeldungen bekommen. Mir wurde vorgeworfen, ich würde die Frauen verurteilen und sei egoistisch. Doch darum ging
es mir nicht. Ich lehne aufgrund meiner
christlichen Überzeugungen Abtreibungen grundsätzlich ab und wollte mich
daher nicht daran beteiligen. Das war
auch der Grund, warum ich dann letztlich
Todesfalle Mutterleib
beruflich in einem Geburtshaus, wo jährlich etwa 20 Kinder zur Welt kommen.
Diese Arbeit bereitet mir mehr Freude
als in der Klinik.
Was würden Sie sich von den Politikern hinsichtlich des Themas wünschen?
Wenn es nach mir ginge, sollten Abtreibungen ganz verboten werden. Zumindest aber sollten Frauen besser aufgeklärt werden. Ich bin mir sicher, dass
jede zweite Frau eine Spätabtreibung ablehnen würde, wenn sie mehr Unterstützung und eine bessere Beratung erhalten
würde. Auch eine Bedenkzeit ist durchaus
sinnvoll. Denn oft wird den Frauen eine
spontane Entscheidung abverlangt. Später bereuen sie dann ihre Entscheidung.
Vielen Dank für das Gespräch!
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Beraten und bedacht
LebensForum dokumentiert hier den Gesetzentwurf, mit dem Abgeordnete um den CSU-Bundestagsabgeordneten Johannes Singhammer
Verbesserungen bei den Spätabtreibungen erzielen wollen.
Deutscher Bundestag Drucksache 16/
16. Wahlperiode
Gesetzentwurf der Abgeordneten Volker
Kauder, Johannes Singhammer, ...
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1
Änderung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes
Das Schwangerschaftskonfliktgesetz vom 27.
Juli 1992 (BGBl. I S. 1398), zuletzt geändert durch
Artikel 1 des Gesetzes vom 21. August 1995
(BGBl. I S. 1050), wird wie folgt geändert:
1. § 1 wird wie folgt geändert:
a) Nach Absatz 1 wird folgender Absatz 1a
eingefügt:
»(1a) Die Bundeszentrale erstellt entsprechend
Absatz 1 Aufklärungsmaterialien zu
1. Schwangerschaftsabbrüchen und hier insbesondere zu Methoden ihrer Durchführung einschließlich der damit verbundenen Risiken sowie
möglicher physischer und psychischer Folgen
sowie zu Alternativen zu einem Schwangerschaftsabbruch, wie etwa einer Adoption;
2. dem Leben mit einem geistig oder körperlich
behinderten Kind und dem Leben von Menschen
mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung.
Die Materialien enthalten Hinweise auf Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen sowie Behindertenverbände und Verbände von Eltern behinderter
Kinder, jeweils mit Kontaktadressen.«
b) In Absatz 3 wird das Wort »Lehrmaterial«
durch die Wörter »Lehr- oder Informationsmaterialien« ersetzt und nach dem Wort »Beratungsstellen« werden die Wörter »an Frauenärzte,
Ärzte und medizinische Einrichtungen, die pränataldiagnostische Maßnahmen durchführen,
Humangenetiker, Hebammen« eingefügt.
2. In § 2 Abs. 2 Nr. 5 Satz 1 werden nach der
Angabe »5.« die Wörter »das Leben mit einem
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Probedruck
geistig oder körperlich behinderten Kind und
das Leben von Menschen mit einer geistigen
oder körperlichen Behinderung sowie Kontaktadressen von Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Behindertenverbänden, Verbänden von Eltern
behinderter Kinder und« eingefügt.
3. Nach § 2 wird folgender § 2a eingefügt:
»§ 2a Aufklärung und Beratung
in besonderen Fällen
(1) Sprechen nach den Ergebnissen von pränataldiagnostischen Maßnahmen dringende Gründe
für die Annahme, dass die körperliche oder geistige Gesundheit des Kindes geschädigt ist, so
hat der Arzt, der die Maßnahmen der Pränataldiagnostik verantwortlich durchgeführt hat, über
die medizinischen und psychosozialen Aspekte,
die sich aus dem Befund ergeben, zu beraten
und auf den Anspruch auf weitere und vertiefende psychosoziale Beratungsmöglichkeiten
durch Beratungsstellen nach § 2 hinzuweisen.
Insbesondere sind der Schwangeren schriftliche
Aufklärungsmaterialien nach § 1 Abs. 1a Satz
1 Nr. 2 in Verbindung mit Satz 2 auszuhändigen.
(2) Sind die Voraussetzungen des § 218a Abs.
2 des Strafgesetzbuches gegeben, so hat der
Arzt, der gemäß § 218b Abs. 1 des Strafgesetzbuches die schriftliche Feststellung trifft, ob die
Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 des Strafgesetzbuches gegeben sind, über die medizinischen und psychischen Aspekte eines Schwangerschaftsabbruchs zu beraten und auf den
Anspruch auf weitere und vertiefende psychosoziale Beratungsmöglichkeiten durch Beratungsstellen nach § 2 hinzuweisen. Insbesondere sind
der Schwangeren schriftliche Aufklärungsmaterialien nach § 1 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 in Verbindung
mit Satz 2 auszuhändigen. Dies ist nicht erforderlich, wenn die Schwangerschaft abgebrochen
werden muss, um eine gegenwärtige erhebliche
Gefahr für Leib oder Leben der Schwangeren
abzuwenden.
(3) Der Arzt hat die Erfüllung seiner Verpflichtungen bezüglich des Inhalts und Umfangs der
Beratung nach Absatz 1 oder 2 in erforderlichem
Umfang und nach allgemein anerkanntem Stand
der medizinischen Wissenschaft zu dokumentie-
ren. Die Dokumentation ist der zuständigen
Behörde auf deren Verlangen zur Einsicht und
Auswertung vorzulegen. Die der Behörde vorgelegte Dokumentation darf keine Rückschlüsse
auf die Identität der Schwangeren und der zu
dem Beratungsgespräch hinzugezogenen weiteren Personen ermöglichen.
(4) Die Schwangere hat die Beratung und die
Aushändigung der Aufklärungsmaterialien nach
Absatz 1 oder 2 schriftlich zu bestätigen. Verzichtet sie auf Beratung oder Aushändigung
nach Absatz 1 oder 2, so hat sie diesen Verzicht
ebenfalls schriftlich zu bestätigen.«
4. Nach § 13 wird folgender § 13a eingefügt:
Ȥ 13a Bedenkzeit
Die schriftliche Feststellung nach § 218b Abs.
1 in Verbindung mit § 218a Abs. 2 des Strafgesetzbuches darf nicht vor Ablauf von drei Tagen
nach der Beratung (§ 2a Abs. 2) vorgenommen
werden, sofern gegenwärtig keine erhebliche
Gefahr für Leib oder Leben der Schwangeren
vorliegt.«
5. § 14 wird wie folgt geändert:
a) Absatz 1 wird wie folgt gefasst:
»(1) Ordnungswidrig handelt, wer
1. entgegen § 2a Abs. 1 oder 2 keine Beratung
der Schwangeren vornimmt;
2. seiner Pflicht zur Dokumentation nach § 2a
Abs. 3 nicht nachkommt;
3. entgegen § 13 Abs. 1 einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt;
4. entgegen § 13a die schriftliche Feststellung
ausstellt;
5. seiner Auskunftspflicht nach § 18 Abs. 1 nicht
nachkommt.«
b) In Absatz 2 werden die Wörter »Deutsche
Mark« durch das Wort »Euro« ersetzt.
6. § 16 Abs. 1 Satz 1 wird wie folgt geändert:
a) In Nummer 4 werden nach dem Wort »Schwangerschaft« die Wörter »in vollendeten einzelnen
Wochen seit der Empfängnis« angefügt.
b) Der Punkt am Ende der Nummer 7 wird durch
ein Komma ersetzt und nach der Nummer 7 werden folgende Nummern 8 bis 10 angefügt:
»8. vorgeburtlich diagnostizierte Fehlbildung des
Embryos oder des Fötus oder Auffälligkeiten im
Genom,
9. Tötung des Embryos oder Fötus im Mutterleib
bei Mehrlingsschwangerschaft,
10. Tötung des Embryos oder Fötus im Mutterleib
in sonstigen Fällen.«
Artikel 2
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am … in Kraft.
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»Du tötest Babys, Mama?«
Einmal jährlich treffen sich Abtreibungsärzte und -lobbyisten zu einem großen internationalen Kongress.
In diesem Jahr fand er in Berlin statt. Unter den rund 600 Teilnehmern – Abtreibungsärzte,
Krankenschwestern und Funktionäre – war auch unsere Autorin. Die Lebensrechtlerin
wollte sich das Stelldichein der Abtreibungslobby nämlich einmal aus nächster Nähe ansehen. Lesen
Sie nun ihren überaus aufschlussreichen Bericht.
Von Cornelia Kaminski
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trag. Staatlich verordnete Bedenkzeiten
seien willkürlich und spiegelten das alte
Denken wider, nachdem eine Frau Kanonenfutter für den Kaiser zu liefern habe.
Überhaupt seien es Diktaturen und die
Kirche gewesen, die stets den freien Zugang zu Abtreibungen verhindert hätten.
Dass es gerade die kommunistischen Diktaturen der Nachkriegszeit waren, welche
der Abtreibung noch Gegenwehr regt.
Allein elf Vorträge befassten sich mit
diesem Thema. Hauptgegner der Abtreibungslobby ist nach wie vor die katholische Kirche, die zum großen Bedauern
von Silvio Viale aus Italien immer noch
keine Ruhe gebe, sowie die »anti-choice
people« – womit die Lebensrechtler gemeint waren. Einige Male wurde auch
CORNELIA KAMINSKI
er vom 24. bis 25. Oktober
2008 als Lebensrechtler am
Kongress der FIAPAC (Internationale Vereinigung von Fachkräften
und Verbänden für Schwangerschaftsabbruch und Kontrazeption) in Berlin teilnahm, brauchte starke Nerven – egal ob
er sich an der Demonstration der ALfA
vor dem Eingang zum Kongress beteiligte
und mit Abtreibungsärzten diskutierte
oder ob er als Zuhörer am Kongress selbst
teilnahm. Eine Fortbildung im medizinischen Sinn war dieser Kongress keinesfalls, wie bereits ein Blick in das Programmheft verriet: der überwiegende Teil der
Veranstaltungen thematisierte im Grunde
die Fragestellung, wie man die Zahl der
Abtreibungen weltweit steigern könnte.
Die Ansätze sind dabei vielfältig: wie
in der Eröffnungssitzung des Kongresses,
die unter dem Titel »Die Verantwortung
der Gesellschaft für die reproduktive
Gesundheit« stand, machten die Redner
klar, warum Frauen aus ihrer Sicht abtreiben können müssen und warum eine klare
rechtliche Regelung notwendig ist. Frauen
könnten heute einfach deshalb nicht mehr
so viele Kinder bekommen, weil die Gesellschaft in punkto Kindererziehung so
hohe Anforderungen an Frauen stelle –
Anforderungen, denen eben nicht jede
Frau gewachsen sei. Hier biete sich die
Abtreibung als Alternative für Frauen an,
die ansonsten Opfer ihrer Fruchtbarkeit
seien. Bereits hier wurde deutlich, dass
Schwangerschaft als eine massive Bedrohung der weiblichen Existenz angesehen
wird. Diese Bedrohung müsse so schnell
wie möglich aus dem Weg geräumt werden, betonte der aus Wien stammende
FIAPAC-Präsident Christian Fiala – in
den eigenen Reihen auf Grund seiner
Aussage, AIDS werde nicht durch den
HI-Virus ausgelöst, sei nicht ansteckend
und schon gar nicht sexuell übertragbar,
keineswegs unumstritten – in seinem Vor-
Austausch der besonderen Art: Experten debattieren die Perfektionierung vorgeburtlicher Kindstötungen.
die Abtreibung in ihren Ländern weitestgehend legalisierten, und nun – befreit –
»das Rad zurückdrehen«, wie ein Vortrag
hierzu überschrieben ist, hat Fiala offensichtlich nicht mitbekommen.
Ein weiterer Schwerpunkt war die
Erarbeitung von Strategien zur Legalisierung von Abtreibungen in den Ländern,
in denen sie noch verboten ist, und zur
verbreiteten Anwendung von Abtreibungen, wo sich gegen die totale Freigabe
auf die Mitglieder der ALfA verwiesen,
die vor der Tür protestierten, Embryomodelle an die Abtreibungsärzte verteilten
und mit ihnen diskutieren. Dabei ist es
offensichtlich tatsächlich so, dass die Zahl
der Demonstranten für die Kongressteilnehmer keine große Rolle spielt. Aus den
Bemerkungen der Redner und aus den
Diskussionsbeiträgen wurde deutlich, dass
schon vier Demonstranten vor einer Abtreibungsklinik reichen, um die dort ihrem
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der Meinungsänderung. Wie das funktioniert, kann man im Workshop »Die
eigene Einstellung zur Abtreibung evaluieren«, den Ipas auf dem Kongress anbietet, erfahren. Die vorgestellte Methode
ist subtil und effizient, da sie sich verschiedener Lerntechniken bedient: ausgehend
von hoch emotionalen Fallstudien (Frau
stirbt qualvoll nach misslungener Abtreibung) werden in gruppendynamischen
und handlungsorientierten Prozessen
Stellungnahmen von den Teilnehmern
erzwungen – wobei dieser Zwang ausdrücklich, wie die ausgeteilten Lehrmaterialen mitteilen, gewollt ist. Wer traut
sich schon, nach einer so mitleiderregenCORNELIA KAMINSKI
Handwerk nachgehenden Mediziner zu
verunsichern, dass allein die Ankündigung
von Lebensrechtlern, ein Auto mit Bildern
von abgetriebenen Kindern zu bekleben
und damit durch England fahren zu wollen, die Medien auf den Plan ruft und
Ängste bei den Abtreibern hervorruft.
»Wie soll ich diese Bilder meiner vierjährigen Tochter erklären?«, fragt ein Teilnehmer, in dessen Nachbarschaft ein
solches Auto parkt.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Auftritt von Ipas, die in der
dem Kongress angeschlossenen Industrieausstellung mit einem eigenen Stand vertreten sind. Stolz erklärt Ipas Mitarbeiter
Durfte nicht fehlen: Der Stand der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf dem FIAPAC-Kongress.
Christian Bross, dass seine Organisation
ein Abtreibungsinstrument erfunden habe
und davon immerhin um die 100.000
Stück pro Jahr weltweit verkaufe – insbesondere an Regierungen und NGOs
wie International Planned Parenthood,
dem Dachverband von Pro Familia. Damit ließen sich besonders gewebeschonende Abtreibungen vornehmen. Auf
Nachfrage wird erläutert, dass man damit
dem Bedarf der Forschung nach möglichst
unzerstörtem fetalen Gewebe nachkommen kann. »Das ist eins der wichtigsten
Vorteile unseres Instruments«, teilt die
den Stand betreuende Dame mit.
Das ist Ipas aber nicht genug. Der
Markt für dieses Instrument müsse erhalten bleiben. Und darum unterstütze Ipas
gleichzeitig Abtreibungsbefürworter in
ihrem Kampf gegen restriktive Gesetze
und schule deren Mitarbeiter in der Kunst
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den Geschichte die Ecke im Raum aufzusuchen, die für strikte Abtreibungsgegner
reserviert worden ist? Ein Schlingel, wer
dabei an Gehirnwäsche denkt. »In Mexiko
waren wir sehr erfolgreich«, erklärt denn
auch Bross. »Da haben wir es geschafft,
Abtreibungen zu legalisieren.« Nur leider,
so fügt er an, zögen die Kliniken nicht
mit: die Hälfte aller Kliniken in Mexico
City weigere sich aus Gewissensgründen,
Abtreibungen durchzuführen. Jammerschade – aber auch hier wissen die Mitglieder der FIAPAC Abhilfe. In einem
Vortrag zur Gewissenshaltung von Gynäkologen beantwortet Mark Bygdeman
die Frage, ob Gynäkologen gezwungen
werden sollten, Abtreibungen durchzuführen, mit einem glatten »Ja«. Das
Recht der Frau auf totale Selbstbestimmung sei höher einzuordnen als die Gewissensentscheidung des Arztes. Ärzte,
die keine Abtreibungen vornehmen wollen, solle man doch gar nicht erst einstellen, erklärt Kevin Oppegaard aus Norwegen. So verfahre man in seiner Klinik.
Ob sich das mit der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie vereinbaren
lässt, wird in der Sitzung nicht näher diskutiert. Es geht schließlich um die Sache.
Ein Interesse an der Verbesserung der
medizinischen Versorgung von Frauen
bei Abtreibung war eindeutig nicht vorhanden. Von allen Vorträgen beschäftigte
sich nur ein Bruchteil überhaupt mit
medizinischen Fragestellungen, und das
auf erschreckend niedrigem wissenschaftlichem Niveau. Wurde tatsächlich mal
eine Studie vorgestellt, entsprach diese
in keiner Weise den üblichen Standards.
Für eine Studie zur Auswirkung von Abtreibungen auf Männer wurden die Fragebögen den Frauen mit nach Hause
gegeben, die diese dann ihren Männern
geben sollten. Aber welche Frau, deren
Mann gegen die Abtreibung war, nimmt
ihm einen Fragebogen mit nach Hause?
Und wer hat ihn dann tatsächlich ausgefüllt? Ann Lalos aus Schweden, die die
Studie vorstellte, konnte das auf Nachfrage nicht mit Bestimmtheit sagen – medizinische Wissenschaft sieht so sicher nicht
aus. In einem ausnahmsweise interessanten Vortrag berichtete Sam Rowlands aus
England über das Risikomanagement bei
Abtreibungen und forderte größtmögliche
Transparenz im Umgang mit ärztlichem
Fehlverhalten. Nur so sei ein Lerneffekt
im Sinne der zukünftigen Fehlervermeidung möglich. Angesichts der stets betonten Hauptintention der Abtreibungsmediziner, etwas gegen die Frauensterblichkeit tun zu wollen, ein durchaus lobenswerter Ansatz, sollte man meinen.
Die Zuhörer sahen das jedoch anders: es
sei politisch ungünstig, offen Fehler bei
»Mein Sohn soll in einer Welt leben, in
der er viel Spaß mit Sex haben kann.«
Abtreibungen zuzugeben, dies könne
schließlich die öffentliche Meinung zur
Abtreibung ändern.
Wenn es also gar nicht um medizinische Fortbildung geht, warum dann jährlich ein FIAPAC Kongress – 2008 immerhin bereits zum achten Mal? Die
Antworten gaben die nahezu 600 Kongressteilnehmer im Verlauf der Veranstaltung selbst. Marijke Alblas, eine in Südafrika praktizierende Medizinerin, beklagte die unfreundliche Atmosphäre, mit der
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sie und ihre Kollegen zu kämpfen hätten:
Auch sie bräuchten schließlich für ihr
Tun eine angenehme Arbeitsatmosphäre.
Gegenseitiges Unterstützen sei notwendig, und dafür brauche man diesen Kongress – ja dafür sei FIAPAC schließlich
gegründet worden. Wer das Geschehen
während des Kongresses beobachtete und
die Diskussionen verfolgte, konnte schnell
feststellen, dass es genau darum ging:
Der Begriff »Baby« wird
vollständig vermieden
Gegenseitiges Ermuntern, Schulterklopfen und immer wieder beteuern, dass man
ja etwas »für die Frauen« tue. Angesichts
der zahlreichen verhärmten Gesichter
wirkte das wie kollektiver Selbstbetrug.
Zudem scheint zu gelten, dass eine Lüge
besonders gut funktioniert, wenn sie
immer wieder wiederholt wird. Zwar gab
Ann Furedi aus England offen zu, dass
»man nicht weiß, wie viele Menschen
überhaupt genau in manchen afrikanischen Ländern leben«, aber dennoch auf
die Statistiken der WHO zur Sterberate
nach Abtreibungen aus diesen Ländern
vertraue. Diese Statistiken sind nämlich
das in nahezu jedem Vortrag wiederholte
Hauptargument. Ein Hinterfragen von
Zahlen ist daher unerwünscht.
Ähnlich wird bei der Diskussion um
die Konfliktberatung verfahren. Haupttenor der vortragenden Referentinnen war,
dass eine solche Beratung überflüssig sei,
da sie mit dem Selbstbestimmungsrecht
der Frau kollidiere. Außerdem, so erklärte
Margot Schaschl aus Wien, dränge die
Zeit: Wenn die Frauen erstmal den Herzschlag (gemeint ist der des Kindes, was
man aber offenbar nicht sagen darf) sehe,
werde es schwierig. Wieso das so ist,
wurde nicht erklärt und stand auch in
krassem Widerspruch zu der mit starkem
Applaus bedachten Aussage, die Beratung
sei ohnehin nur für die Beraterinnen da,
nicht für die Frauen, die hätten nämlich
gar keine Gefühle, wollten lediglich die
Abtreibung und mehr nicht. An dieser
Stelle hebt sich leiser Widerspruch im
Plenum. »Wie stellen Sie denn fest, ob
eine Frau tatsächlich ohne Zwang zur
Abtreibung kommt, wenn Sie auf die Beratung verzichten?«, fragt eine Teilnehmerin. Die Beratung sei auch positiv zu
sehen, meint eine andere, schließlich habe
die Frau hier die Gelegenheit in Ruhe
mit verständnisvollen Gesprächspartnern
zu reden. Und eine Dritte wendet schließLebensForum 88
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lich ein, die Beratung sei in Deutschland
laut Gesetz »ergebnisoffen« zu führen.
Da platzt dem Vorsitzenden der FIAPAC,
Christian Fiala, der Kragen. Mit den
Worten »Das ist kompletter Schwachsinn
– jede Beratung ist eine staatlich verordnete Zwangsinstruktion von Frauen und
gehört komplett abgeschafft« beendet er
– ganz tolerant – die Diskussion.
Da erstaunt es auch nicht – wie im
weiteren Verlauf des Kongresses auffällt
– dass mit größter Konsequenz der Begriff
»Baby« vollständig vermieden wird –
stattdessen ist wahlweise von »Produkt«,
»Gewebe«, »Material« »befruchtetem
Ei« die Rede. Als besonders hilfreich wird
hier offensichtlich die UN-Konvention
über die Rechte von Kindern erachtet,
die jedem Kind »ab der Geburt« zustünden. Ganz unverhohlen äußert Catherine
Bonnet unter Bezugnahme auf diese Konvention, dass im Fall einer Holländerin,
die in Spanien eine Abtreibung in der 29.
Woche vornehmen ließ und daraufhin in
Holland vorläufig verhaftet wurde, die
Anklage fallen gelassen werden müsse.
»Die Anklage kann doch gar nicht auf
Kindstötung lauten. Das ist kein Kind.
Ein Kind ist es erst nach der Geburt!«
Worum es der Abtreibungslobby tatsächlich geht, macht vor allem Ann Furedi
aus England mit ihren Beiträgen deutlich.
»Mein Sohn«, sagt sie, »soll in einer Welt
leben, in der er so viel Spaß mit Sex haben
kann, wie er will. Und wir wissen doch,
dass Verhütung nicht funktioniert. Wir
brauchen Abtreibungen als Sicherungssystem. Es wird mehr Abtreibungen geben, wenn mehr Frauen Spaß beim Sex
haben – und das ist doch nicht schlecht.«
Die Möglichkeit für Irinnen, zur Abtreibung nach England zu fahren, bezeichnet
sie als »Lifeline«. Dass von den zwei über
diese »Lebenslinie« zur Abtreibung angereisten Menschen aber nur einer lebend
zurückkommt (der abgetriebene Fötus
wird laut Aussage einer irischen Teilnehmerin den Frauen häufig mit zurückgegeben) spielt keine Rolle. Konsequent ist
auch der Titel ihres zweiten Vortrags:
»Entwicklung einer Strategie zum Umgang mit der Bedrohung weiblicher Gesundheit«. Jedenfalls dann, wenn Schwangerschaften eine Krankheit und Abtreibungen die einzig richtige Therapie
sind. Den Vortrag leitet sie mit den Worten ein: »Ich könnte Christen dafür verfluchen, dass ich einen solchen Vortrag
überhaupt halten muss«. Toleranz und
Objektivität sehen anders aus. Ins Straucheln war die sehr selbstbewusst auftretende Frau nach eigenen Aussagen nur
einmal gekommen. Und zwar als sie mit
ihrem Sohn gemeinsam eine Sendung
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über die Entwicklung von Kindern im
Mutterleib und über Abtreibung ansah.
»Ist es das, was du machst, Mama? Du
tötest Babys?«, fragt daraufhin der Sohn.
Auf diese Frage wusste selbst Ann Furedi,
die für ihre Vorträge fast mit stehenden
Ovationen bedacht wurde, keine Antwort.
Auch sonst blieben eine Menge Fragen
übrig. Fragen wie diese: Was sagt es eigentlich über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus,
dass diese auf dem Kongress mit einem
Stand vertreten war? Was bedeutet es,
dass deutsche und britische Politiker die
Gäste willkommen hießen? Für den Berliner Senat war Katrin Lompscher, Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz (Die Linke) erschienen,
die Briten hatten mit Christine McCafferty ein Parlamentsmitglied entsandt.
Wir wird wohl das Material aussehen,
das nach dem Willen von Unionsabgeordneten, die einen eigenen Gesetzentwurf zur Vermeidung von Spätabtreibungen in den Bundestag einbringen wollen,
von der BZgA erarbeitet werden soll,
wenn diese einen Kongress unterstützt,
auf dem offen die totale Freigabe der Abtreibung gefordert wird?
»Wir beschäftigen uns mit dem Gesetz,
aber wir machen was wir wollen«
Gelegenheit zur Information über
Spätabtreibungen hatten die Vertreter
der BZgA jedenfalls zur Genüge, da ihr
Stand in unmittelbarer Nachbarschaft zu
zwei holländischen, auf Spätabtreibungen
spezialisierten Kliniken angesiedelt war.
Und wie Spätabtreibungen bei Minderjährigen in Holland funktionieren, führte
Mariet Lecoultre, Krankenschwester an
der ausschließlich Spätabtreibungen anbietenden Bloemhoevekliniek in Heemstede (Niederlande) gerne aus. Demnach
benötigten Mädchen unter 16 Jahren zwar
die schriftliche Einwilligung eines Elternteils. Ob diese aber tatsächlich von einem
Elternteil, einem anderen Erwachsenen
oder dem Mädchen selbst unterschrieben
worden sei, prüfe die Klinik nicht. Und
wenn doch mal eine Unterschrift fehle,
sei auch das kein Problem. Dann stelle
die Klinik einfach einen Anwalt zur
Verfügung, der auch ohne Zustimmung
der Eltern für das Mädchen eine Genehmigung zur Abtreibung einholt. »Wir
beschäftigen uns mit dem Gesetz, aber
wir machen, was wir wollen«, sagt Mariet
Lecoultre mit einem Augenzwinkern.
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DANIEL RENNEN
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T I T EL
Post-Abortion-Syndrom:
Tabu unserer Zeit
Befürworter der Abtreibung behaupten immer wieder, vorgeburtliche Kindstötungen brächten keinerlei
nachweisbare Nachteile für die sich einer Abtreibung unterziehenden Frauen mit sich. Mehr noch: Einige
behaupten gar, das Post-Abortion-Syndrom sei eine Erfindung von Lebensrechtlern, um Schwangeren
Angst vor einer Abtreibung zu machen. Wie der folgende Überblick zeigt, beweist die medizinische
Fachliteratur: Richtig ist das Gegenteil.
Von Dr. med. Claudia Kaminski
I
ch durfte acht Wochen mit Dir
teilen, acht Wochen hatte ich Dich
in meinem Bauch und letztendlich
habe ich mich gegen Dich entschieden.
Ich habe mehr zerstört, als ich in Worte
fassen kann, Du warst ein vollständiger
kleiner Mensch und ich habe Dir Dein
Recht genommen, geboren zu werden.
Du bist gestorben, bevor Du geboren
warst. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder
richtig glücklich sein kann, ob ich jemals
wieder heil werde.«
Solche Briefe an Kinder, die vor ihrer
Geburt getötet wurden, zeugen unter anderem in Internet-Foren wie beispielsweise www.nachabtreibung.de von dem
Leid, das Frauen nach einer Abtreibung
durchmachen. Sie sind Ausdruck des so
genannten »Post Abortion Syndroms«
(PAS), das die Gesamtheit der Symptome
umfasst, welche bei Frauen, die ihr ungeborenes Kind im Mutterleib töten ließen,
auftreten können. Psychische, psychosomatische und körperliche Folgen bleiben bei
einem solch drastischen Eingriff selten aus.
PSYCHISCHE SYMPTOME
Maria Simon, Würzburger Psychologin und Autorin der einzigen je in
Deutschland durchgeführten Studie zum
PAS, zeigte auf, dass rund 80 Prozent der
Frauen unter psychischen Spätfolgen wie
Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen, Stimmungsschwankungen und Depressionen
sowie Verlust des Selbstwertgefühls leiden
(Post-abortional-syndrom. In: IMABEQuartalsblätter, 2/1993). Bei 63 Prozent
der Frauen treten »Flashbacks« auf, das
Geschehen um die Abtreibung läuft filmartig auch tagsüber vor dem inneren Auge
der Betroffenen ab.
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Probedruck
PSYCHOSOMATISCHE SYMPTOME
Frauen erleben ihre Schuld nach einer
Abtreibung häufig nicht bewusst, sondern
zeigen körperliche Symptome, die keine
organische, medizinische Ursache haben.
Das seelische Leid wird umgewandelt in
Unterleibsschmerzen, Menstruationsbeschwerden, Störungen der Verdauungstätigkeit bis hin zu Magersucht oder Bulimie, Kopfschmerzen, Migräne und
anderem.
KÖRPERLICHE SYMPTOME
Frühkomplikationen: Dazu zählen zurückgebliebene Abortreste, die Blutungen
und Infektionen der Gebärmutterschleimhaut, der Gebärmuttermuskelwand oder
Eileiter bis hin zu einer Bauchfellentzündung. Zu den Spätfolgen der Abtreibungen gehören Menstruationsstörungen,
eine mögliche Halteschwäche des Gebärmutterhalses und die damit einhergehende Gefahr späterer Fehl- oder Frühgeburten. Vernarbungen des Muttermundes
durch den instrumentellen Eingriff können zudem zu einer verzögerten Öffnung
des Muttermundes bei späteren Entbindungen führen. Auch ein erhöhtes Brustkrebsrisiko findet sich bei Frauen nach
Abtreibung.
All diese Symptome können unter dem
Begriff Post Abortion Syndrom zusammengefasst werden, zu dem es jedoch nur
wenige Studien gibt. Die Gründe:
• Die Frauen sprechen nur sehr schwer
über ihr Erleben nach der Abtreibung.
Bis zu 60 Prozent der Frauen möchten
keine Auskunft geben über ihr Leben
»danach«. Ein Grund ist der doppelte
Verlust: Zum einen das Kind, zum anderen der Person, die sie ohne Abtreibung hätten sein können.
• Die Symptome nach einer Abtreibung
sind außerordentlich komplex und vielschichtig, was eine Analyse über alle
medizinischen Fachgebiete hinweg stark
erschwert.
• Die Aufarbeitung möglicher Symptome
und Probleme nach einer Abtreibung
lässt sich kaum mittels Fragebogen erheben.
Wohl eher zufällig zu nennen – deswegen aber von der Aussage her nicht
weniger interessant – ist die Studie »Psychosoziale Beratung im Kontext von Pränataldiagnostik. Evaluation der Modellprojekte in Bonn, Düsseldorf und Essen«,
die vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend gefördert
wurde. In der Untersuchung, die unter
der Leitung von Professor Anke Rohde
(Universitätsklinik Bonn, Gynäkologische
Psychosomatik) und Dr. Christiane Woopen (Institut für Geschichte und Ethik
der Medizin, Universität Köln) durchgeführt und 2007 im Deutschen ÄrzteVerlag veröffentlicht wurde, heißt es:
»Die Erfahrung, ein krankes oder behindertes Kind zu bekommen, beziehungsweise eine Schwangerschaft abzubrechen,
kann psychische Störungen verursachen.«
Frauen nach Abtreibung zeigen Symptome, die den Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (engl.: PostTraumatic-Stress-Disorder = PTSD) entsprechen.
Und es finden sich in der medizinischen Literatur immer wieder Hinweise
auf die Folgen von Abtreibung: Gomez
Lavin berichtete 2005 von Albträumen,
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DANIEL RENNEN
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Oft verzweifelt: Frauen nach Abtreibung
Schuld und dem Gefühl »etwas reparieren
zu müssen« (Diagnostic categorization of
post-abortion syndrome. In: Actas Españolas
de Psiquiatría, 33, 4/2005).
Schon 2004 ergab eine amerikanische
Studie, dass es PAS gibt (Induced abortion
and traumatic stress: A preliminary comparison of American and Russian women. In:
Medical Science Monitor, 10, 10/2004).
Das »Institute for Pregnancy Loss« in
Jacksonville wies nach: 65 Prozent der
untersuchten Amerikanerinnen (N = 217)
hatten multiple Symptome wie gesteigerte
Erregung, Wiedererleben (auch Flashbacks) sowie Verdrängung, die mit Posttraumatischer Belastungsstörung einhergehen (PTSD). Immerhin 14,3 Prozent
der Amerikanerinnen wiesen die gesamten
diagnostischen Kriterien für PTSD auf.
Dass der Verlust eines vermutlich gewollten ungeborenen Kindes Stressreaktionen hervorruft, beweist eine Studie
unter der Leitung von Stephen V. Bowles
aus dem Jahr 2000 (Acute and posttraumatic stress disorder after spontaneous
abortion. In: American Family Physician,
61, 6/2000). Wenn schon Spontanaborte,
also der Verlust des Kindes ohne eigenes
Zutun in der frühen Schwangerschaft,
Stresssymptome hervorrufen, dann sollte
es nicht überraschen, wenn eine freiwillig
oder auf Drängen des Umfeldes herbeigeführte Beendigung der Schwangerschaft, eine Abtreibung, ähnliche oder
sogar gravierendere Symptome mit sich
bringt.
2004 gab es Untersuchungen im direkten Vergleich aus der Psychosomatischen
Medizin: In einer zweijährigen Studie
verglich eine Forschergruppe um Anne
N. Broen das Verhalten von Frauen nach
Spontanabort und nach Abtreibung (Psychological impact on women of miscarriage
versus induced abortion: A 2-year follow-up
study. In: Psychosomatic Medicine, 66,
2/2004). Direkt nach dem „Ereignis“ war
der IES (Impact of Event Scale) für Frauen
LebensForum 88
Probedruck
nach Spontanabort höher (47,5 Prozent
versus 30 Prozent); nach zwei Jahren hatte
sich das Verhältnis umgekehrt: 2,6 Prozent versus 18,1 Prozent bei den Frauen
nach Abtreibung.
Nun argumentiert mancher, dass die
Gesellschaft Frauen immer noch ein
schlechtes Gewissen nach Abtreibung
einredet. Dabei zeigte Dennis A. Bagarozzi bereits 1994 auf, dass es gerade die
Leugnung des PAS oder PTSD ist, die
wesentlich zum Aufbau der Stressreaktion
beiträgt (Identification, assessment, and
treatment of women suffering from posttraumatic stress after abortion. In: Journal
of Family Psychotherapy, 5, 3/1994). Was
nicht sein kann, das nicht sein darf: Da
es PAS angeblich nicht gibt, darf die Frau
auch nach der Abtreibung nicht leiden,
so die Befürworter der Abtreibung.
Wenn das Post Abortion Syndrom als
eine Variante der PTSD anzusehen ist,
dann gilt auch für das PAS das, was David
D’Souza schon 1995 veröffentlichte: Die
Posttraumatische Belastungsstörung ist
eine Narbe für das Leben (Post-traumatic
stress disorder – a scar for life. In: The British
Journal of Clinical Practice, 49, 6/1995).
Eine aktuellere Studie von David M.
Fergusson weist nach, dass fast jede zweite
Frau nach einer Abtreibung psychisch
erkrankt (Abortion in young women and
subsequent mental health. In: Journal of
Child Psychology and Psychiatry, 47,
1/2006). Der enge Konnex zwischen Depressionen, Angstzuständen, Suizidgefährdung, Suchtverhalten und einer Abtreibung war selbst für die Autoren überraschend. Aus einer Gruppe von 1.265
Mädchen der neuseeländischen Stadt
Christchurch, die seit ihrer Geburt im
Jahre 1977 beobachtet wurden, wurden
41 Prozent der Mädchen bis zum Alter
von 25 Jahren schwanger. 14,6 Prozent
ließen ihr Kind abtreiben. Von jenen 90
Frauen, die eine Abtreibung vornehmen
ließen, entwickelten 42 Prozent innerhalb
der nächsten vier Jahre eine schwere Depression. Auch der Drogen- und Alkoholmissbrauch stieg bei dieser Gruppe von
Frauen signifikant an. Diese Verhaltensweisen und Erkrankungen könnten auf
keine früheren Erlebnisse zurückgeführt
werden, betont Studienleiter Fergusson
von der Universität von Otago (Department Christchurch Health and Development Study). Er bezeichnete es als Skandal, dass die psychischen Folgen eines
Eingriffs, der bei jeder zehnten Frau
durchgeführt wird, kaum studiert oder
evaluiert werden.
Wie dramatisch die Folgen einer Abtreibung für Frauen sein können, zeigt
auch eine finnische Studie von 1997 unter
der Leitung von Mika Gissler: Eine dreifach erhöhte Suizidrate nach Abtreibung
(Suicides after pregnancy in Finland, 198794: register linkage study. In: British Medical Journal, 313, 1997).
Dieses Jahr wurde eine Langzeitstudie
aus Norwegen von Willy Pedersen veröffentlicht, die zeigt, dass vor allem junge
Frauen, die abtreiben ließen, später stärker
zu Depression neigen als andere (Abortion
and depression: A population-based longitudinal study of young women Scandinavian.
In: Scandinavian Journal of Public Health,
36, 4/2008). Die Ergebnisse der Studie,
für die der Soziologe Pedersen an der
Universität Oslo elf Jahre hindurch 768
Frauen im Alter zwischen 15 und 27 Jahren wissenschaftlich begleitet hat, zeigten
außerdem, dass das Suchtverhalten (Alkohol und Drogen) bei jungen Frauen nach
einer Abtreibung signifikant höher war
als bei jenen, die sich für ihr Kind entschieden (Childbirth, abortion and subsequent
substance use in young women: A populationbased longitudinal study. In: Addiction, 102,
12/2007).
AKTUELL
Jetzt scheint Bewegung in die Debatte
um das Post Abortion Syndrom zu kommen. Mitte August 2008 hatte die »American Psychological Association« (APA)
den »Report of the APA Task Force on
Mental Health and Abortion« veröffentlicht, wonach es keine wissenschaftlichen
Daten gebe, die den Zusammenhang zwischen Abtreibung und psychischen oder
auch psychosomatischen Erkrankungen
bewiesen. Dem wurde unter anderem im
Lancet, einer der führenden internationalen medizinischen Zeitschriften, widersprochen (Women should be offered postabortion psychological care. In: The Lancet,
372, 2008). Im Editorial fordern die Autoren psychologische Beratung und Hilfe
nach einer Abtreibung, da unter anderem
das »Journal of Youth and Adolescence«
eine Studie veröffentlicht habe, die psychische Probleme nach Abtreibung nachweise (Resolution of unwanted pregnancy
during adolescence through abortion versus
childbirth: Individual and family predictors
and psychological consequences. In: Journal
of Youth and Adolescence, 35, 6/2006).
Angesichts einer Vielzahl von Betroffenen, seien es Frauen, die abgetrieben
haben, Männer, die ihre Partnerinnen zur
Abtreibung gedrängt haben, Geschwister,
Großeltern oder auch direkt an Abtreibung mitwirkende Ärzte, Hebammen und
Krankenschwestern, muss die Schweigespirale um das Leid nach Abtreibung
endlich durchbrochen werden.
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AU S L A N D
»We can liberaler«
Großbritannien besitzt die liberalste Abtreibungsgesetzgebung Europas. Dennoch fürchten britische
Politiker inzwischen von anderen Staaten überholt worden zu sein. Obwohl auf der
Insel offiziell pro Jahr 200.000 Kinder im Mutterleib getötet werden, gibt es ständig neue Forderungen
nach einer weiteren Liberalisierung.
Von Dr. Jutta Graf
B
is zur 24. Schwangerschaftswoche
kann in Großbritannien jedes Kind
de facto ohne besondere Gründe
abgetrieben werden. Was gibt es da noch
zu liberalisieren? Könnte man fragen –
und das nicht zu Unrecht. Offiziell handelt
es sich beim britischen Abtreibungsgesetz
um eine Indikationenregelung. Abgetrieben darf unter anderem werden, wenn
»die Fortsetzung der Schwangerschaft
ein größeres Risiko für die körperliche
und geistige Gesundheit der Schwangeren
einschließen würde als der Abbruch.« 97
Prozent der Abtreibungen werden unter
dieser Indikation vorgenommen, die in
der Praxis wie eine soziale Indikation gehandhabt und in jeder beliebigen Situation
geltend gemacht wird: So wäre es z.B. eine Gefahr für die geistige Gesundheit der
Schwangeren, wenn ein Karrieresprung
nicht im geplanten Zeitraum vonstatten
gehen könnte. In keinem anderen Land
Europas kann unter sozialer Indikation
bis zur 24. Woche abgetrieben werden.
Insofern hat Großbritannien eine sehr liberale Gesetzgebung.
Andererseits gibt es – zumindest offiziell – keine Abtreibung auf Verlangen.
Darüber hinaus muss, außer in Notfällen,
von zwei Ärzten bestätigt werden, dass
eine Indikation zutrifft, und – der größte
Dorn im Auge von Pro-Choice-Politikern
– der Paragraf gilt nicht für Nordirland.
Dort ist Abtreibung nur bei Lebensgefahr
der Schwangeren oder ernsthafter Bedrohung ihrer Gesundheit erlaubt.
Seit 1990 wurde das Abtreibungsgesetz
in Großbritannien nicht verändert. Um
es dem aktuellen Stand der Wissenschaft
anzupassen, sollte es im Rahmen der Debatte um den Human Fertilisation and
Embryology Act (HFEA) 2007 bis 2008,
welcher unter anderem die Legalisierung
von Hybriden zum Thema hatte, neu
aufgerollt werden. Im Juni 2007 kündigte
das House of Commons Science and
Technology Committee eine Untersu-
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Probedruck
chung zur Abtreibung an, die Ende Oktober desselben Jahres dem Unterhaus
präsentiert wurde. Die Untersuchung positionierte sich eindeutig »pro-Abtreibung« und suchte nach Gründen für die
Aufrechterhaltung der 24-Wochen-Obergrenze sowie für eine weitere Liberalisierung. Eine ethische
Diskussion wollte
sie explizit ausschließen.
Eine Verkürzung der Obergrenze wäre aus zwei
Gründen in Frage gekommen: erstens,
weil Babys
dank der
modernen Medizin auch
schon vor der 24.
Woche überleben
können (die Lebensfähigkeit außerhalb der Gebärmutter ist
in Großbritannien ausschlaggebend für
den Rechtsschutz), und zweitens, weil
eindeutig nachzuweisen ist, dass ein Fötus
Schmerz empfindet. Gegen diese Argumente wandte das Komitee ein: Es gebe
keine wissenschaftliche Grundlage, die
geltende Obergrenze zu verändern. Dass
die Überlebensrate frühgeborener Kinder
in einzelnen Krankenhäusern beachtenswert sei, wurde in der Untersuchung zwar
nicht bestritten. So haben etwa an der
Londoner Uniklinik zwischen 1996 und
2000 50 Prozent der in der 22. Woche
geborenen Babys überlebt. Da es sich aber
nur um einzelne Spitäler und um entsprechend kleine Testgruppen handle, seien
diese Daten statistisch nicht relevant, wehrte das Komitee ab. Auch die Frage, ob der
Fötus Schmerz empfinde, sei für das Abtreibungsgesetz bedeutungslos. Es gebe
zwar Beweise, dass ein Fötus auf schädliche
Reize reagiere, dies heiße aber nicht, so
das Komitee weiter, »dass Schmerz bewusst
wahrgenommen würde, insbesondere
nicht unterhalb der 24-Wochen-Obergrenze«.
Die Untersuchung lässt zahlreiche
Fragen offen. Ist das überlebensfähige
ungeborene Kind nur dann von Bedeutung, wenn es in statistisch relevanten
Zahlen auftritt? Wird im Zweifelsfall
gegen das Kind entschieden? Könnte
eine »bewusste« Wahrnehmung
von Schmerz nicht auch bei geborenen Babys in Frage gestellt
werden? Nichtsdestotrotz waren die Empfehlungen
der Untersuchung richtungsweisend, als am 20.
Mai 2008 im Unterhaus
über die AbtreibungsObergrenze abgestimmt
wurde.
Von konservativen Abgeordneten wurden verschiedene Anträge
auf Verkürzung der Obergrenze – auf 12,
16, 20 und 22 Wochen – eingebracht und
heftig diskutiert. Die Abgeordnete und
ehemalige Krankenschwester Nadine
Dorries, welche die Kampagne für eine
Verkürzung auf 20 Wochen initiiert hatte,
berichtete bei der Plenarsitzung aus eigener Erfahrung, wie ein abgetriebener
Junge lebendig geboren wurde, nach Atem
rang und sieben Minuten später starb.
Doch die Gegnerseite ließ sich nicht beeindrucken. Mitglieder der Labour Party
fühlten sich teilweise ihrer Partei verpflichtet. Andere stimmten deshalb gegen
eine Verkürzung, weil sie prinzipiell von
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LF_88.fh11 24.11.2008 12:33 Uhr Seite 17
den »mühsam erkämpften Rechten über
den eigenen Körper« keinen Schritt zurückweichen wollten, wie die LabourAbgeordnete Julie Morgan erklärte. Aber
auch unter den Konservativen gab es nicht
nur Zustimmung. So vertrat etwa der Abgeordnete John Bercow die Ansicht, durch
eine Verkürzung um zwei Wochen würden einige »sehr, sehr, sehr verängstigte
und verletzliche Frauen leiden«. Die Anträge wurden schließlich der Reihe nach
abgelehnt, sogar eine Verkürzung auf 22
Wochen erreichte nur eine Minderheit
von 233 gegen 304 Stimmen. Die Bevölkerung sieht dies ganz anders: 2005 sprachen sich laut dem »Daily Telegraph« in
einer Studie dreiviertel der Befragten für
eine niedrigere Abtreibungs-Obergrenze
aus.
Im Juni 2008 wurden von Pro-ChoiceAbgeordneten Änderungsanträge zur Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes
erarbeitet, über die am 22. Oktober in der
dritten und letzten Lesung zum HFEA
abgestimmt werden sollte. Für eine Abtreibung bräuchten demnach keine Indikationen vorliegen, sondern sie müsse
lediglich mit den »Bedingungen und Prinzipien guter medizinischer Praxis« vereinbar sein. Ein so vage formulierter Gesetzestext hieße in der Praxis nichts anderes
als Abtreibung auf Verlangen bis zur 24.
Woche. Zudem sollte nur noch eine einzige
ärztliche Unterschrift erforderlich sein.
Ferner: Abtreibungen sollten künftig
auch von Hebammen und Krankenschwestern durchgeführt werden. Damit
könnte die unter Ärzten unbeliebte
»schmutzige Arbeit« auf das untergeordnete Personal abgewälzt werden, befürchtet die Society for the Protection of Unborn Children (SPUC). Zudem würde
Abtreibung billiger und damit lukrativer.
Weiters sollte ein Schwangerschaftsabbruch örtlich nicht mehr auf Krankenhäuser und Abtreibungskliniken beschränkt sein, sondern auch in gewöhnlichen Arztpraxen, Gesundheitszentren
oder Schulkrankenräumen stattfinden.
Lebensschutzorganisationen warnen vor
einer weiteren Trivialisierung der Abtreibung, sowie vor Gefahren für die Frau
bei Komplikationen.
Das Recht zur Weigerung aus Gewissensgründen sollte zwar nicht grundsätzlich
abgeschafft werden, es sollte jedoch fortan
ausdrücklich nicht für die so genannte
»Notfallverhütung« gelten. Ärzte, Schwestern und Apotheker wären somit gezwungen worden, gegen ihr Gewissen frühabtreibende Mittel auszuhändigen. So
genannte »irreführende Werbung« sollte
laut Änderungsantrag mit bis zu zwei Jahren Haft geahndet werden. Um einer StraLebensForum 88
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fe zu entgehen, müssten Beratungsstellen,
die keine Abtreibungen vermitteln, dies
von Vornherein eindeutig erkennbar machen. Mehrere lebensbejahende Beratungszentren wären davon betroffen, wie
etwa das Brighton Counselling Centre:
Dort wird Abtreibungsberatung beworben,
aber keine Abtreibung vermittelt.
Sechs Abgeordnete (keiner von ihnen
aus einem nordirischen Wahlkreis) stellten
den Antrag das Abtreibungsgesetz auf
Nordirland auszuweiten. Die Initiatorin
Diane Abbott meinte, es gäbe gute Chancen den Antrag durchzubringen. Die
irischen Abgeordneten aller Parteien sprachen sich geschlossen und vehement gegen diesen Angriff aus. Der irische Abgeordnete David Simpson sagte: »Jeder Abgeordnete im Unterhaus weiß sehr gut,
dass dies nicht stattfinden würde, wenn
es die örtlichen Politiker und Einwohner
zu entscheiden hätten.« Die Obmänner
der vier großen Parteien Nordirlands
schrieben an jeden britischen Abgeordneten, um ihre Opposition deutlich zu machen. Am Wochenende vor der Abstimmung demonstrierten in Stormont tausende Iren gegen die Ausweitung des Abtreibungsgesetzes. »Wenn uns Westminster das Abtreibungsgesetz aufzwingt, werde ich als Minister es nicht einführen«,
meinte der irische Minister und Abgeordnete Jeffrey Donaldson und kritisierte:
»Unsere Gegner sagen, dass es um
Gleichheit geht. Wo ist also die Gleichheit
für die Menschen von Nordirland, wenn
sie nichts mitzureden haben über ein Gesetz, das sie nicht wollen?« Über 100.000
Unterschriften nordirischer Abtreibungsgegner wurden am 20. Oktober Premierminister Gordon Brown übergeben.
Aber auch in den übrigen Teilen Großbritanniens gab es heftigen Widerstand
gegen die beantragte Liberalisierung des
Gesetzes. Viele Lebensschutzgruppen arbeiteten zu diesem Zweck zusammen, sowohl von anglikanischer und evangelikaler
als auch von katholischer Seite. Einzelne
Bischöfe ergriffen mutig das Wort; die
katholische Bischofskonferenz sandte ein
zweiseitiges Merkblatt an alle Pfarren, in
welchem die Gläubigen dringend aufgefordert wurden an die Abgeordneten ihrer
Wahlkreise zu schreiben. »Wenn Menschen, die ihrem Gewissen verpflichtet
sind, nicht handeln, besteht die sehr ernste
Gefahr, dass das Abtreibungsgesetz noch
schlimmer ausfallen wird, als es jetzt schon
ist«, so der Appell des bischöflichen
Schreibens.
Für den Abend des 22. Oktober war
die Abtreibungsdebatte im Unterhaus
vorgesehen. Wäre es tatsächlich zur Abstimmung gekommen, hätten die befürch-
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teten Änderungen
mit allergrößter
Wahrscheinlichkeit eine Mehrheit
gefunden. Laut
dem Daily Telegraph habe Gordon Brown persönlich interveniert und gewarnt,
dass die Zeit für
diese Kontroverse
nicht reif sei. Da- Gordon Brown
raufhin wurden
die Tagesordnungspunkte vom zuständigen Minister so umdisponiert, dass für
eine Abtreibungsdebatte keine Zeit mehr
blieb. Da es zum HFEA keine weitere Lesung mehr gibt, war die Abtreibungsdebatte auf unbestimmte Zeit vertagt. Laut Betty Gibson, der Vorsitzenden von SPUC
Nordirland, habe Brown erkannt, dass er
es »mit einem rechtsstaatlichen Dilemma
zu tun hätte«, sollten die Abgeordneten
in Westminster die Nordirland-Versammlung einfach übergehen.
Die Initiatorin des Nordirland-Antrags
Diane Abbot bezeichnete die Umdisponierung der Tagesordnung als »schäbiges
Manöver von Ministern«; auch von einem
»schockierenden Akt des Verrates gegen
Frauen« war die Rede. Für eine Generation sei die Chance verloren, dass irische
Frauen endlich die »gleichen Rechte«
genießen würden wie die übrigen Britinnen. Dieser Aufschrei hat wohl eine gewisse Berechtigung, denn wenn – wie geplant
– die Justizgewalt bald an die NordirlandVersammlung abgegeben wird, so ist die
nötige Mehrheit für Abtreibung bei weitem nicht in Aussicht.
Für Nordirland ist die Debatte also
vorerst glimpflich ausgegangen. Und die
übrigen Provinzen? Abtreibung auf Verlangen hätte im Parlament reale Aussichten auf eine Mehrheit. Selbst für den Fall,
dass die konservative Partei wieder die
Mehrheit erringen sollte, sei noch nichts
gewonnen, warnt SPUC. Denn gut ein
Viertel der Konservativen habe in der
Embryonen-Debatte gegen die Anliegen
des Lebensschutzes gestimmt. Auch in
der Abtreibungsfrage sei nichts anderes
zu erwarten. Laut dem »Independent«
haben einflussreiche konservative Parlamentarier bereits angekündigt, den Abtreibungsparagrafen diskutieren zu wollen. Ihrer Ansicht nach solle die 24Wochen-Obergrenze zwar verkürzt, Abtreibung im Übrigen aber liberalisiert
werden. Weiterkämpfen – lautet einstweilen die Devise der britischen Lebensschutzorganisationen – und die Hoffnung
auf ein Umdenken nicht verlieren.
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GESELLSCHAFT
Voller Lücken
Seit Ende August berät der Bundestag einen von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf für ein
neues Gendiagnostikgesetz. Laut Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) soll das geplante
Gesetz die Chancen des Einsatzes genetischer Untersuchungen wahren und mögliche Gefahren bannen.
Das hört sich gut an. Kritik gibt es dennoch.
Von Matthias Lochner
U
nd das gleich von allen Seiten.
Zwar wird der Gesetzesentwurf
im Ganzen sowohl parteiübergreifend als auch seitens der Länder und
der Ärzteschaft begrüßt, doch so richtig
zufrieden ist kaum jemand mit ihm.
Aber der Reihe nach: Die Grundsätze
des Gesetzesentwurfs sind laut Bundesregierung das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung und das Verbot von
Diskriminierung aufgrund genetischer
Eigenschaften. Um diesen Rechnung zu
tragen, sieht der Entwurf vor, dass Gentests künftig nur noch mit Einwilligung
der zu untersuchenden Person und
ausschließlich von Ärzten durchgeführt
werden dürfen. Vorgeburtliche genetische
Untersuchungen sollen auf medizinische
Zwecke beschränkt werden. Bei der Untersuchung des Embryos dürfen nur Eigenschaften untersucht werden, welche
die Gesundheit des Kindes vor oder nach
der Geburt beeinträchtigen können. Vaterschaftstests sind nur dann zulässig,
wenn auch die zu untersuchende Person
in den Test eingewilligt hat. Arbeitgeber
dürfen dem Entwurf zufolge keine genetischen Untersuchungen von Mitarbeitern, Versicherungsunternehmen nicht
von Kunden fordern. Auch haben Versicherungsunternehmen nicht das Recht,
Auskünfte über bereits erfolgte Gentests
zu verlangen. Ausnahmen soll es für
besonders hohe Versicherungssummen
geben: Ab einer Versicherungssumme
von 300.000 Euro sollen die Ergebnisse
von Gentests vorgelegt werden, um einem
möglichen Missbrauch vorzubeugen.
Die Oppositionspolitikerin Birgitt
Bender (Bündnis 90/Die Grünen) wirft
der Regierung deshalb vor, gegenüber
der Versicherungswirtschaft eingeknickt
zu sein. Und auch die Bundesärztekammer (BÄK) ist mit dem Gesetz nicht rundum zufrieden. Zwar attestiert die Standesvertretung der Ärzte dem Gendiagnostikgesetz »viele gute Ansätze« aber
eben auch »einige Schwächen«. Begrüßt
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Probedruck
wird der Arztvorbehalt bei prädikativen
genetischen Untersuchungen. Zudem stelle das Gesetz klar, dass niemand wegen
genetischer Eigenschaften diskriminiert
werden dürfe. Deshalb sei es richtig, genetische Untersuchungen auf Verlangen des
Arbeitgebers oder eines Versicherungsunternehmens grundsätzlich zu verbieten.
Auch weitere wichtige Forderungen der
Ärzteschaft wie die Verankerung eines
Rechts auf Nichtwissen und die Freiwilligkeit der Teilnahme an Gentests seien
in dem Entwurf berücksichtigt worden.
Allerdings kritisiert BÄK-Präsident
Jörg-Dietrich Hoppe die in das ärztliche
Berufsrecht hineinreichenden Regelungen
zur Qualitätssicherung und zur Prüfung
der Qualifikation von Ärzten. Nach den
Heilberufsgesetzen der Bundesländer
obliege die Festlegung der Anforderungen
»Kommt ein Abbruch nicht in Frage,
sollte man keinen Test machen.«
an die Qualifikation der Ärzte zur genetischen Beratung den Landesärztekammern. Über diese Aufgabenzuweisung
setze sich der Entwurf teilweise hinweg.
»Damit wird das bewährte Zusammenwirken von Staat und Selbstverwaltung
nachhaltig gefährdet«, so Hoppe.
Ferner bemängelt die BÄK, Kinder
würden bei genetischen Untersuchungen
durch das Gesetz nur unzureichend geschützt. Dem Nachrichtenmagazin »Focus« sagte Hoppe, das Gesetz befreie die
Eltern nicht von der Pflicht, bei Gentests
des Nachwuchses eine besondere Vorsicht
walten zu lassen. Weniger ist hier oft
mehr: Dies gilt bereits für Untersuchungen des Embryos im Mutterleib. »Oft
kann man damit nur ein Krankheitsrisiko
bestimmen, das bringt Schwangere in
eine schwierige Lage. Kommt ein Ab-
bruch nicht in Frage, sollte man keinen
solchen Test machen«, rät Hoppe.
Lücken weise das Gesetz auch dort
auf, wo es darum gehe, Kinder vor dem
Wissen über ihre Erbanlagen zu schützen.
Im Gesetz sei zwar ein Recht auf Nichtwissen festgelegt, so Hoppe. Der damit
verbundene Schutz ist aber offenbar eher
spärlich. Hätten Eltern etwa Kinder auf
eine Anfälligkeit für bestimmte Krebsarten testen lassen, seien diese später verpflichtet, das so erworbene Wissen – etwa
beim Abschluss einer hohen Lebensversicherung – anzugeben. Das stelle hohe
Anforderungen auch an die beratenden
Ärzte. »Umfangreiche Aufklärung vorher
ist die beste Methode. Anders sind genetische Untersuchungen bei Minderjährigen kaum zu regeln. Kinder sind sonst
nicht ausreichend geschützt – weder vor
der Geburt noch danach«, resümiert der
BÄK-Präsident.
Auch der Bundesrat bewertet in einer
ausführlichen Stellungnahme das geplante
Gendiagnostikgesetz zwar grundsätzlich
positiv, fordert zugleich aber Änderungen
am Entwurf. So sei es etwa unverständlich,
dass der Umgang mit genetischen Proben
und Daten zu Forschungszwecken von
den Regelungen des Gendiagnostikgesetzes ausgenommen werden solle. »Dies
erscheint angesichts der immer noch
wachsenden Zahl von Biobanken, die
Proben sowie umfangreiche medizinischdiagnostische Daten auch aus genetischen
Untersuchungen vorhalten, nicht angemessen«, so die Länder.
Im Gegensatz zur Ärzteschaft bemängelt der Bundesrat zudem die Absicht der
Bundesregierung, die genetischen Untersuchungen nur von Ärzten durchführen
zu lassen. Der so genannte Arztvorbehalt
sei bei der Untersuchung von Neugeborenen »nicht praxistauglich«. Hebammen
und Geburtshelfer müssten dazu weiterhin berechtigt sein. Das Argument: Nur
so könne gewährleistet werden, dass nahezu alle Neugeborenen vom Screening
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Gerade der gesellschaftliche Druck auf
Eltern, die kein gesundes Kind bekommen, könnte ansonsten in Zukunft stark
zunehmen, gab Rüttgers zu Bedenken.
Das sei keine Theorie und auch keine
Utopie. Schon heute würden viele Kinder
abgetrieben, nur weil die Wahrscheinlichkeit bestehe, dass sie nicht ganz gesund
seien, bekräftigte der promovierte Jurist.
»Wollen wir riskieren, dass Kinder nicht
zur Welt kommen, nur weil der Verdacht
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ARCHIV
Karl Lauterbach bezeichnete Rüttgers
Behauptung, Abtreibungen könnten aufgrund des Gesetzes künftig vorgenommen
werden, wenn eine genetische Veranlagung für einen späteren Ausbruch von
Erkrankungen diagnostiziert werde, als
»absurd«. »Kein Arzt und kein Krankenhaus würden eine solche Diagnose als
Grund für einen Schwangerschaftsabbruch akzeptieren«, äußerte Lauterbach
gegenüber dem »Kölner Stadt-Anzeiger«.
WWW.JUERGEN-RUETTGERS.DE
erfasst würden. Darüber hinaus fordern
die Länder die Beseitigung begrifflicher
Unschärfen im Gesetzesentwurf. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass das
Gesetz auch auf Untersuchungen angewendet werde, die lediglich der Feststellung einer erhöhten Krankheitswahrscheinlichkeit dienten. Der Bundesrat
plädiert ferner für eine Stärkung der
Rechte der Betroffenen. Diese müssten
ihre Einwilligung zu einem Gentest
jederzeit widerrufen können – auch mündlich.
Ein Hauptstreitpunkt des Gesetzesentwurfs sind die Regelungen zu so genannten prädikativen genetischen Untersuchungen, also Gentests für erst später im
Leben ausbrechende Krankheiten. Zu
solchen Erkrankungen zählt neben Alzheimer beispielsweise auch Chorea Huntington, eine nur selten auftretende, dominant vererbbare Krankheit. Die Symptome der tödlichen Erkrankung, zu denen
Bewegungsstörungen und ein langsamer
Verfall des Gehirns und des Körpers zählen, treten in der Regel erst bei Patienten
über 30 Jahren auf.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) kritisierte
das Gesetzesvorhaben in diesem Punkt
scharf. In seiner Rede anlässlich des 50jährigen Bestehens der Kölner Gesellschaft für christlich jüdische Zusammenarbeit warnte Rüttgers davor, dass künftig
»Gene über Leben und Tod« entschieden.
Laut dem Gesetz dürfe ein Embryo »genetisch auf ein Alzheimer-Risiko getestet
und abgetrieben werden. Obwohl niemand sagen kann, ob die Krankheit nach
70, 75 oder 80 Jahren tatsächlich auch
ausbricht. Das rüttelt an den Grundfesten
unseres Menschenbildes«, beklagte der
CDU-Politiker.
Wenig später untermauerte Rüttgers
seine Kritik an dem Gesetzentwurf des
Kabinetts Merkel noch einmal ausführlich
in einem Gastbeitrag für die »Frankfurter
Allgemeinen Zeitung«. Unter dem Titel
»Im Zweifel für den Embryo« bezeichnete der NRW-Ministerpräsident das
Gesetz zwar grundsätzlich als positiv,
mahnte aber zugleich an, dass der Entwurf
weder ein Verbot von Untersuchungen
für Krankheiten enthalte, die zu einem
späteren Zeitpunkt im Leben eines Menschen auftreten können, noch für solche,
die unheilbar sind.
Schon beim Embryonenschutzgesetz
sei es schwer gewesen, ethische Grenzen
zu ziehen. »Deshalb müssen wir uns fragen, ob wir nicht Tür und Tor für den
Missbrauch öffnen, wenn wir das Verbot
für Untersuchungen spätmanifester
Krankheiten nicht gesetzlich regeln.«
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Jörg-Dietrich Hoppe, Bundesärztekammer-Präsident
NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU)
auf eine spätmanifeste Krankheit besteht?
Also allein aufgrund der Diagnose der
Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann
einmal im Leben eine schwere Krankheit
auftreten könnte – als Ursache eines genetischen Defekts?« Dies sei weder mit
dem christlichen Menschenbild noch mit
dem Menschenbild des Grundgesetzes
vereinbar, so Rüttgers.
Die Reaktionen auf die Äußerungen
des CDU-Politikers ließen nicht lange
auf sich warten. Während einige Politiker
Rüttgers zustimmten, widersprachen an-
Zustimmung erhielt Rüttgers hingegen
von der Kölner CDU-Bundestagsabgeordneten Ursula Heinen: »Jürgen Rüttgers hat Recht, wenn er sagt, dass im
Gendiagnostikgesetz eine Verbindung
zwischen Gentests an spätmanifesten
Krankheiten und Spätabtreibungen herstellbar ist.« Das Gesetz müsse daher
enger gefasst werden, als es derzeit beabsichtigt sei. Gentests im Mutterleib sollten
untersagt werden, wenn es sich dabei um
so genannte spätmanifeste Krankheiten
handele. Ein Beratungsangebot für
schwangere Frauen reiche nicht aus. »Die
Frage ist doch, was fängt man mit dem
Wissen an«, so Heinen.
Die Medizinrechtsexpertin der Grünen, Ulrike Riedel, bemängelt zwar, Rüttgers Aussage, ein Embryo dürfe genetisch
auf ein Alzheimer-Risiko getestet und abgetrieben werden, beruhe auf einer falschen Auslegung des Paragrafen 218. »So
wie er ihn versteht, ist es eigentlich nicht
möglich«, so Riedel. Allerdings begrüßte
auch sie grundsätzlich die Kritik des
CDU-Ministerpräsidenten: »Es ist genau
das, was die Grünen auch gesagt haben.«
Ihre Partei stimme mit Rüttgers überein,
dass ungeborene Kinder auf spät manifestierende Krankheiten nicht genetisch
»Die Frage ist doch, was fängt man
mit dem Wissen an?«
dere heftig. »Das Gesetz eröffnet in keiner
Weise die Möglichkeit zu Schwangerschaftsabbrüchen, die mit einer eventuell
zu irgendeinem Zeitpunkt einmal ausbrechenden Erkrankung des Ungeborenen
gerechtfertigt würden«, meinte etwa der
stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Wolfgang Bosbach
(CDU). Der SPD-Gesundheitsexperte
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GESELLSCHAFT
getestet werden dürften. Die Grünen
verlangen, dass die Regierung ein entsprechendes Verbot der prädikativen Tests
ins Gesetz aufnimmt. Aus ihrer Sicht zeigt
sich darin die ganze Problematik der vorgeburtlichen Diagnostik. »Es können nur
sehr wenige Krankheiten in der Gebärmutter therapiert werden«, sagte Riedel.
Unterstützung erhält Rüttgers auch
aus Brüssel. Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Bioethik der christlich-konserARCHIV
Dr. med. Peter Liese (CDU)
vativen Fraktion im Europäischen Parlament, Peter Liese, nahm Rüttgers in
Schutz. »Im Kern hat Rüttgers Recht.
Die Gefahr, dass Kinder wegen des Risikos einer Erkrankung, die erst im Erwachsenenalter auftritt, abgetrieben werden,
ist überhaupt nicht weit hergeholt«, so
WWW:SPD.DE
hauptungen seien absurd und kein Arzt
und kein Krankenhaus würde eine solche
Diagnose als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch akzeptieren, muss man
Lauterbach entgegenhalten, dass er die
Zwänge, unter denen Ärzte im In- und
Ausland stehen, nicht kennt«, bemängelt
der CDU-Europapolitiker. An der Freien
Universität Brüssel beispielsweise würden
Embryonen im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik aussortiert, weil sie ein
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD)
erhöhtes Risiko für Brustkrebs tragen.
Wenn so etwas heute in Europa möglich
sei, könne man nicht so tun, als gäbe es
keinen Diskussionsbedarf. Der Gesetzgeber dürfe sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen. »Wie beim Thema Spätabtreibungen muss die Politik eine Entscheidung treffen und darf nicht
immer nur an die Verantwortung
der Ärzte appellieren«, so Liese.
»Wie beim Thema Spätabtreibungen
Von erschreckender Unkenntnis
zeuge
auch die Aussage von Bunmuss die Politik eine Entscheidung treffen.«
desgesundheitsministerin Ulla
Schmidt, es gäbe derzeit keine
Tests, die spätere Krankheiten wie
Liese. Schon heute sei Pränataldiagnostik
Krebs prognostizieren können. »Selbstauch mit der Möglichkeit einer Abtreiverständlich gibt es schon gut etablierte
bung bei sich spät manifestierenden ErTests für dominant-erbliche spät manifeskrankungen, wie erblich bedingten Zystierende Erkrankungen, wie polyzystische
tennieren oder Chorea Huntington, mögNierenerkrankungen oder Chorea Hunlich. Sie werde in Deutschland und im
tington.« Auch Tests, die ein gewisses
Ausland praktiziert. »Die Gefahr, dass
Risiko für Brust- oder Darmkrebs vorhersich dieses Problem in Zukunft ausweitet,
sagen, seien bereits auf dem Markt. »Zwar
ist reell. Es wird eine Vielzahl von geneist ihre Aussagekraft problematisch, aber
tischen Tests geben, die auch das Risiko
so einfach wie Ulla Schmidt kann man
von Volkskrankheiten wie Herzinfarkt
es sich bestimmt nicht machen«, beklagte
oder Krebs beziffern können«, ist der
Liese.
promovierte Humangenetiker sicher.
Scharf ins Gericht ging der Mediziner
»Wenn der SPD-Bundestagsabgeordauch mit der Äußerung Schmidts, Rüttnete Karl Lauterbach sagt, Rüttgers Begers unterstelle zu Unrecht einen Auto20
Probedruck
matismus zwischen vorgeburtlicher Untersuchung und Schwangerschaftsabbruch. »Auch hier kennt Ulla Schmidt
die Praxis nicht«, so der Mediziner. Leider
gebe es nur in ganz wenigen Fällen eine
vorgeburtliche Therapie. Deswegen sei
der Zweck einer vorgeburtlichen Untersuchung fast immer, dass im Falle eines
Hinweises auf die Krankheit eine Abtreibung stattfinde. »Dies zu verschleiern,
ist unverantwortlich und führt dazu, dass
Frauen Pränataldiagnostik durchführen
lassen und sich dem entsprechenden Risiko aussetzen, obwohl für sie eine Abtreibung nicht in Betracht kommt«, kritisierte Liese.
Der für medizinische Grundsatzfragen
und Gentechnik zuständige Berichterstatter der Unionsfraktion im Gesundheitsausschuss, Hubert Hüppe (CDU), rechnet
denn auch mit Korrekturen an dem Gesetzesentwurf. So gebe es in seiner Fraktion Bedenken gegenüber vorgeburtlichen
Gentests, die mögliche Risiken für sich
erst spät manifestierende Krankheiten
aufzeigen könnten, sagte Hüppe in Berlin.
Abgeordnete teilten die Überzeugung
Jürgen Rüttgers, dass solche Tests verboten werden sollten. Er selbst dränge auf
ein Verbot solcher Untersuchungen an
Embryonen, zumal der Eingriff selbst
zum Teil ein hohes Risiko für das ungeborene Kind mit sich bringe, jedoch ohne
therapeutischen Nutzen sei. Unter Verweis auf die aktuelle Debatte um Spätabtreibungen mahnt der CDU-Politiker:
»Es darf nicht dazu kommen, dass noch
mehr Kinder abgetrieben werden, nur
weil eine erhöhte Wahrscheinlichkeit
besteht, dass sie möglicherweise Jahrzehnte später erkranken.«
IM PORTRAIT
Matthias Lochner
Der Autor, Jahrgang 1984, studiert
Deutsch, Geschichte und Katholische
Theologie für das
Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Universität zu Köln. Er
ist seit 2001 Mitglied der ALfA. Im
Mai diesen Jahres wurde er zum Vorsitzenden der »Jugend für das Leben«
(JfdL), der Jugendorganisation der ALfA,
gewählt. Als freier Journalist publiziert
Matthias Lochner regelmäßig auch in
LebensForum.
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GESELLSCHAFT
Fürsorge versus Autonomie
Ende Oktober und Mitte November haben Abgeordnete des Deutschen Bundestages zwei neue
Gesetzentwürfe zur Patientenverfügung zur parlamentarischen
Beratung in den Bundestag eingebracht. Unser Autor hat sie studiert.
Von Rainer Beckmann
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LebensForum 88
Probedruck
den Abbruch oder Verzicht auf lebenserhaltende medizinische Maßnahmen für
eine Situation verlangt, in der die Krankheit nicht zwingend einen tödlichen Verlauf nehmen wird. In diesen Fällen muss
sich der Patient vor Abfassung der Patientenverfügung einer ärztlichen Beratung
unterzogen haben und eine Dokumentation der Beratung der Erklärung beifügen.
die dem Patienten nahestehen (»beratendes Konsil«), zwischen Arzt und Betreuer
bzw. Bevollmächtigtem Einigkeit besteht,
dass dieses Vorgehen dem Willen des
Patienten entspricht.
In den zahlreichen Fällen, in denen es
somit zu einer gerichtlichen Entscheidung
kommt, muss zum einen für den Patienten
jeweils ein so genannter Verfahrenspfleger
BILDERBOX - FOTOLIA.COM
em Deutschen Bundestag liegt
schon seit März dieses Jahres
ein Gesetzentwurf zur Regelung von Patientenverfügungen vor (BTDrs. 16/8442). Unter Federführung des
SPD-Abgeordneten Joachim Stünker
strebt eine Gruppe von Parlamentariern
an, Patientenverfügungen in möglichst
vielen Fällen unmittelbare Geltung zu
verschaffen. Diesen Gesetzentwurf könnte
man mit dem Etikett »autonomie-zentriert« belegen, da die Elemente der Fürsorge und Missbrauchsabwehr nur geringe Ausprägung erfahren.
Ganz in Gegensatz dazu steht ein Ende
Oktober 2008 von einer weiteren Abgeordnetengruppe vorgelegter Entwurf.
Unter Federführung des stellvertretenden
Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagesfraktion, Wolfgang Bosbach, dem
SPD-Abgeordneten Rene Röspel und der
grünen Vizepräsidentin des Bundestages
Katrin Göhring-Eckhardt, wurde ein Regelungsvorschlag erarbeitet, der unterschiedliche Voraussetzungen für die Wirksamkeit von Patientenverfügungen in verschiedenen Krankheitssituationen verlangt und in erheblichem Umfang auf soziale und gerichtliche Kontrolle setzt.
Der neue Gesetzentwurf hat den
Nachteil, dass er in seiner Gesetzessystematik für den Laien auf der ersten Blick
schwer zu durchschauen ist. Da derartige
Regelungen aber für den einfachen Bürger
ohnehin durch Broschüren und Formulare erst »anwendbar« gemacht werden,
sollte hieraus allein keine negative Einschätzung abgeleitet werden.
Der Entwurf differenziert zwischen
unterschiedlichen Krankheitssituationen.
Soll die Patientenverfügung verbindlich
den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen vorschreiben, dann reicht eine
schriftliche Erklärung aus, wenn sie sich
auf den Fall einer unheilbaren, tödlich
verlaufenden Krankheit bezieht. Das gleiche gilt für die Situation des irreversiblen
Bewusstseinsverlustes. Anders sieht es
aus, wenn der Patient in seiner Verfügung
Wird zunehmend verrechtlicht: Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Patienten.
Die Patientenverfügung muss ferner vor
einem Notar errichtet worden sein. Sie
darf außerdem nicht älter als 5 Jahre sein
oder muss innerhalb der letzten 5 Jahre
nach erneuter ärztlicher Beratung bestätigt worden sein.
Ein weiterer wesentlicher Punkt dieses
Gesetzentwurfes liegt darin, dass die
Nichteinwilligung oder der Widerruf der
Einwilligung in eine lebenserhaltende
Maßnahme durch den rechtlichen Vertreter des Patienten (Betreuer oder Bevollmächtigter) grundsätzlich vom Vormundschaftsgericht genehmigt werden
muss. Dies ist nur dann nicht der Fall,
wenn nach ärztlicher Überzeugung eine
unheilbare, tödlich verlaufende Krankheit
vorliegt und nach Beratung mit Personen,
bestellt und zum anderen ein gesondertes
medizinisches Gutachten eingeholt werden. Der Gesetzentwurf setzt damit auf
teilweise hohe formale Hürden und soziale wie gerichtliche Kontrollmechanismen
(beratendes Konsil; Genehmigung durch
das Vormundschaftsgericht).
Etwas unklar bleibt bei diesem Gesetzentwurf, welche Konsequenzen der
Wunsch eines Patienten haben wird, in
einer bestimmten Situation auf künstliche
Ernährung und Flüssigkeitszufuhr zu
verzichten. Nach den Grundsätzen der
Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung
zählt zur so genannten »Basisversorgung«
zwar das »Stillen von Hunger und Durst«.
Der Arzt muss aber hinsichtlich der
künstlichen Nahrungs- und Flüssigkeits21
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GESELLSCHAFT
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zufuhr »den Willen des Patienten
beachten«. Der Gesetzentwurf von
Bosbach/Röspel/Göhring-Eckardt
sieht dagegen im Gesetzeswortlaut
vor, dass Maßnahmen der Basisversorgung »nicht ausgeschlossen«
werden können und erläutert dies
in der Begründung so, dass »ein
völliger Entzug von Nahrung und
Flüssigkeit« ebenfalls ausgeschlossen ist, »selbst wenn dies in einer
Patientenverfügung so formuliert
ist«.
Da es beim Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen sprichwörtlich »um Leben und Tod«
geht, ist dieser »fürsorge-orientierte« Ansatz grundsätzlich nachvollziehbar, erscheint aber im Ergebnis
so kompliziert und bürokratisch,
dass seine Chancen, eine parlamentarische Mehrheit zu finden, dadurch Schaden nehmen könnte.
Dies hat offenbar eine dritte
Gruppe von Bundestagsabgeordneten um den CSU-Politiker
Wolfgang Zöller erkannt, die Anfang November 2008 einen weiteren Gesetzentwurf zur Regelung
von Patientenverfügungen vorgestellt hat. Dieser ist eine Weiterentwicklung eines schon vor längerer Zeit erarbeiteten Vorschlags.
Er verzichtet bewusst auf allzu
bürokratische Vorgaben und behandelt alle möglichen Anwendungssituationen gleich. Zu einer
Entscheidung des Vormundschaftsgerichts soll es immer dann
kommen, wenn Arzt und Patientenvertreter bei der Ermittlung
des Patientenwillens keine Einigkeit erzielen.
Die Regelungen der beiden
Gesetzentwürfe unterscheiden sich
auch bei der Frage, wie vorzugehen
ist, wenn ein eindeutiger, auf die
aktuelle Entscheidungssituation
zutreffender Patientenwille nicht
vorliegt. Dann muss – schon gemäß
bisheriger Gerichtspraxis – nach
dem so genannten »mutmaßlichen
Willen« entscheiden werden.
Während die Abgeordnetengruppe
um Bosbach in diesen Fällen
immer eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts für notwendig
hält, bleibt es für Zöller bei dem
Grundsatz, dass nur dann die Genehmigung des Gerichts notwendig ist, wenn sich Arzt und Patientenvertreter nicht über den (mutmaßlichen) Patientenwillen einigen
können.
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Probedruck
Ob sich nun der eine oder der
andere Entwurf im Parlament
durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Nach den gegenwärtigen Planungen soll es noch im Frühjahr
2009 zu einer Bundestagsentscheidung – ohne den sonst üblichen
Fraktionszwang – kommen. Die
meisten bereits verfassten Patientenverfügungen werden auch danach noch Bestand haben. Und
auch die Abneigung vieler Menschen, im Vorhinein Festlegungen
für ihre medizinische Behandlung
am Lebensende zu treffen, wird
fortbestehen. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass nur eine
Minderheit der Bevölkerung diese
Form der »Vorsorge« für ein
»selbstbestimmtes« Sterben für
sinnvoll hält.
Man mag das begrüßen oder
bedauern, als Faktum wird man es
hinnehmen müssen. Patientenverfügungen sind schließlich keine
Patentlösung für den Umgang mit
Sterben und Tod. Sie sind lediglich
geeignet, Maßnahmen zu begrenzen und damit einer unbarmherzigen Apparatemedizin entgegenzuwirken. Aber wäre das nicht ohnehin Aufgabe unseres Gesundheitssystems? Alle Menschen sollten
darauf vertrauen können, in unserem hochentwickelten Gesundheitssystem menschenwürdig sterben zu können, auch dann, wenn
sie keine Patientenverfügung verfasst haben.
Da man künftige Entwicklungen
ohnehin nicht in jedem Detail voraussehen und damit auch nicht
»vorausentscheiden« kann, sollte
in der gesellschaftlichen Diskussion
dem Instrument der »Vorsorgevollmacht« mehr Beachtung geschenkt
werden. Wenn der Patient selbst
nicht mehr in der Lage ist, die erforderlichen Erklärungen zu seiner
medizinischen Behandlung abzugeben, dann sollte er wenigsten rechtzeitig selbst eine Vertrauensperson
auswählen und mit Vertretungsmacht ausstatten, damit diese an
seiner Stelle dem Arzt als Ansprechpartner zur Verfügung stehen kann.
Auf diese Weise kann wohl am ehesten sicher gestellt werden, dass
immer die aktuell beste Entscheidung für den Patienten getroffen
wird – egal, welche formellen und
verfahrensmäßigen Regelungen der
Gesetzgeber für Patientenverfügungen beschließen wird.
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D O K U M E N TAT I O N
»Natürlich, gewöhnlich,
verhältnismäßig«
Unter welchen Umständen auf die Versorgung von Patienten mit Wasser und Nahrung verzichtet
werden kann oder ob diese unter allen Umständen geboten ist, gilt selbst unter Experten als umstritten.
LebensForum dokumentiert die Position der vatikanischen Glaubenskongregation, die sich im
vergangenen Jahr ausführlich mit dieser Frage beschäftigt hat.
Frage: Ist die Ernährung und Wasserversorgung (ob auf natürlichen oder
künstlichen Wegen) eines Patienten im
»vegetativen Zustand« moralisch verpflichtend, außer wenn Nahrung und
Wasser vom Körper des Patienten nicht
mehr aufgenommen oder ihm nicht verabreicht werden können, ohne erhebliches
physisches Unbehagen zu verursachen?
Antwort: Ja. Die Verabreichung von
Nahrung und Wasser, auch auf künstlichen Wegen, ist prinzipiell ein gewöhnliches und verhältnismäßiges Mittel der
Lebenserhaltung. Sie ist darum verpflichtend in dem Maß, in dem und solange
sie nachweislich ihre eigene Zielsetzung
erreicht, die in der Wasser- und Nahrungsversorgung des Patienten besteht.
Auf diese Weise werden Leiden und Tod
durch Verhungern und Verdursten verhindert.
Frage: Falls ein Patient im »anhaltenden vegetativen Zustand« auf künstlichen
Wegen mit Nahrung und Wasser versorgt
wird, kann deren Verabreichung abgebrochen werden, wenn kompetente Ärzte
mit moralischer Gewissheit erklären, dass
der Patient das Bewusstsein nie mehr
wiedererlangen wird?
Antwort: Nein. Ein Patient im »anhaltenden vegetativen Zustand« ist eine
Person mit einer grundlegenden menschlichen Würde, der man deshalb die gewöhnliche und verhältnismäßige Pflege
schuldet, welche prinzipiell die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch
auf künstlichen Wegen, einschließt.
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Probedruck
Papst Benedikt XVI. hat in der dem unterzeichneten Kardinalpräfekten gewährten Audienz die
vorliegenden Antworten, die in der Ordentlichen
Versammlung dieser Kongregation beschlossen
worden sind, gutgeheißen und deren Veröffentlichung angeordnet.
Rom, am Sitz der Kongregation für die Glaubenslehre, am 1. August 2007.
William Kardinal Levada, Präfekt
Erzbischof Angelo Amato, S.D.B., Sekretär
schwerer Krankheit der Patient und jene,
die für ihn sorgen, das Recht und die
Pflicht haben, die für die Erhaltung der
Gesundheit und des Lebens notwendige
Pflege zu leisten. Auf der anderen Seite
beinhaltet diese Pflicht gewöhnlich nur
ARCHIV
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ntworten auf Fragen der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten bezüglich der
künstlichen Ernährung und Wasserversorgung
KOMMENTAR
Die Kongregation für die Glaubenslehre hat die Antwort auf zwei Fragen
formuliert, der von Bischof William S.
Skylstad, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten von
Amerika, mit Schreiben vom 11. Juli 2005
vorlegt worden sind. Dabei geht es um
die künstliche Ernährung und Wasserversorgung von Patienten, die sich in einem
sogenannten »vegetativen Zustand« befinden. Gegenstand der Fragen ist, ob
die Ernährung und Wasserzufuhr, vor
allem wenn sie auf künstlichen Wegen
erfolgen, nicht eine übermäßig schwere
Belastung für diese Patienten, für die
Angehörigen und für das Gesundheitssystem darstellen, so dass sie, auch im
Licht der kirchlichen Morallehre, als
außergewöhnliches oder unverhältnismäßiges Mittel und damit als nicht moralisch verpflichtend betrachtet werden
könnten.
Die Befürworter eines möglichen Verzichts auf die Ernährung und Wasserversorgung dieser Patienten berufen sich
häufig auf eine Ansprache, die Papst Pius
XII. anlässlich eines Anästhesiologenkongresses am 24. November 1957 gehalten
hat. Darin bekräftigte der Papst zwei allgemeine ethische Prinzipien: Auf der einen Seite lehren uns die natürliche Vernunft und die christliche Moral, dass bei
William Kardinal Levada im Vatikan
die Anwendung der Mittel, die unter
Berücksichtigung aller Umstände als gewöhnlich betrachtet werden, die also für
den Patienten und für die anderen keine
außergewöhnliche Belastung mit sich
bringen. Eine strengere Verpflichtung
wäre für die Mehrzahl der Menschen zu
schwer und würde die Erlangung wichtiger höherer Güter zu sehr erschweren.
Das Leben, die Gesundheit und alle irdischen Tätigkeiten sind den geistlichen
Zielen untergeordnet. Natürlich ist damit
nicht verboten, mehr für die Erhaltung
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des Lebens und der Gesundheit zu tun,
als streng verpflichtend ist, vorausgesetzt,
dass dadurch keine wichtigeren Pflichten
versäumt werden.
WAS PIUS XII. MIT »AUßERGEWÖHNLICHEN MITTELN« MEINTE*
Man muss zunächst anmerken, dass
sich die Antworten von Pius XII. auf den
Gebrauch und Abbruch der Wiederbelebungstechniken beziehen. Die hier untersuchte Frage hat aber nichts mit solchen Techniken zu tun. Patienten im
»vegetativen Zustand« atmen spontan,
verdauen Nahrungsmittel auf natürliche
Weise, verrichten andere Stoffwechselfunktionen und befinden sich in einem
stabilen Zustand. Sie können sich jedoch
nicht allein ernähren. Wenn ihnen Nahrung und Flüssigkeit nicht künstlich verabreicht werden, sterben sie. Und die
Ursache für ihren Tod ist dann nicht eine
Krankheit oder der »vegetative Zustand«,
sondern einzig das Verhungern und Verdursten. Die künstliche Wasser- und Nahrungsversorgung bringt zudem gewöhnlich weder für den Patienten noch für die
Angehörigen eine schwere Belastung mit
sich. Sie ist nicht mit übermäßigen Kosten
verbunden, sie steht jedem durchschnittlichen Gesundheitssystem zur Verfügung,
sie erfordert an sich keinen Krankenhausaufenthalt, sie steht im Verhältnis zur
Erreichung ihres Ziels, nämlich das Sterben des Patienten durch Verhungern und
Verdursten zu verhindern. Sie ist keine
Therapie, die zur Heilung führt, und will
es auch nicht sein, sie ist nur eine gewöhnliche Pflege zur Erhaltung des Lebens.
Was hingegen eine erhebliche Belastung darstellen kann, ist die Sorge für
einen Angehörigen im »vegetativen Zustand«, wenn dieser Zustand länger andauert. Eine derartige Belastung entspricht etwa der Sorge um einen Menschen, dessen vier Gliedmaßen gelähmt
sind, der schwer geisteskrank ist oder der
an einer vorangeschrittenen AlzheimerKrankheit leidet. Solche Menschen brauchen eine ständige Betreuung, die Monate
oder sogar Jahre lang dauern kann. Der
von Pius XII. formulierte Grundsatz kann
aus offenkundigen Gründen aber nicht
dahingehend interpretiert werden, dass
es erlaubt sei, solche Patienten, deren
gewöhnliche Pflege für ihre Familie eine
erhebliche Belastung mit sich bringt, sich
selbst zu überlassen und damit sterben
zu lassen. Dies meinte Pius XII. nicht,
als er von außergewöhnlichen Mitteln
sprach.
Alles weist darauf hin, dass bei Patienten im »vegetativen Zustand« der erste
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Probedruck
Teil des von Pius XII. formulierten
Grundsatzes zur Anwendung kommt: Bei
schwerer Krankheit besteht das Recht
und die Pflicht, die für die Erhaltung der
Gesundheit und des Lebens notwendige
Pflege zu leisten. Die Entwicklung des
Lehramts der Kirche, die aus der Nähe
die Fortschritte der Medizin und die sich
ergebenden Zweifel verfolgt hat, bekräftigt dies voll.
DER UNTERSCHIED ZWISCHEN
THERAPIE UND PFLEGE*
Die Erklärung zur Euthanasie, die von
der Kongregation für die Glaubenslehre
am 5. Mai 1980 veröffentlicht wurde,
legte dar, dass zwischen verhältnismäßigen
und unverhältnismäßigen Mitteln sowie
zwischen therapeutischen Maßnahmen
und normaler dem Kranken geschuldeter
Pflege zu unterscheiden ist. »Wenn der
Tod trotz der angewandten Mittel unausweichlich näher kommt, ist es erlaubt,
im Gewissen die Entscheidung zu treffen,
auf Therapien zu verzichten, die nur eine
kurze und schmerzvolle Verlängerung
des Lebens bewirken würden, ohne jedoch
die normale Pflege zu unterlassen, die
man in solchen Fällen dem Kranken
schuldet« (Teil IV). Noch weniger darf
man die gewöhnliche Pflege von Patienten unterlassen, die sich nicht in unmittelbarer Todesgefahr befinden, wie es
gewöhnlich bei jenen der Fall ist, die sich
im »vegetativen Zustand« befinden und
für die der Abbruch der gewöhnlichen
Pflege nichts anderes als den Tod bewirken würde.
Am 27. Juni 1981 veröffentlichte der
Päpstliche Rat Cor Unum ein Dokument
mit dem Titel »Ethische Fragen« bezüglich der Schwerkranken und Sterbenden,
in dem es unter anderem heißt: »Streng
verpflichtend bleibt hingegen auf jeden
Fall die Anwendung der sogenannten
›minimalen‹ Mittel, also jener Mittel, die
normalerweise und unter gewöhnlichen
Umständen der Erhaltung des Lebens
dienen (Ernährung, Bluttransfusionen,
Injektionen usw.). Der Abbruch dieser
Mittel würde praktisch bedeuten, dem
Leben des Patienten ein Ende bereiten
zu wollen« (Nr. 2.4.4).
In einer Ansprache an die Teilnehmer
eines internationalen Kurses über neue
Erkenntnisse in der Leukämie-Frühdiagnose am 15. November 1985 rief Papst
Johannes Paul II. die Erklärung zur Euthanasie in Erinnerung und bekräftigte
klar, dass man kraft des Prinzips der Verhältnismäßigkeit der Pflegemaßnahmen
weder »von wirksamen therapeutischen
Maßnahmen zur Lebenserhaltung noch
von der Anwendung der normalen Mittel
zur Lebenserhaltung« dispensieren kann,
zu denen mit Sicherheit die Verabreichung von Nahrung und Flüssigkeit gehören. Nicht erlaubt sind gemäß den
Ausführungen des Papstes jene Unterlassungen, die darauf abzielen, »das Leben
zu verkürzen, um dem Patienten oder
den Angehörigen Leiden zu ersparen«.
DIE ANSPRACHE JOHANNES PAUL II.
VOM 20. MÄRZ 2004*
1995 wurde vom Päpstlichen Rat für
die Pastoral im Krankendienst die Charta
für die im Gesundheitsdienst tätigen Personen veröffentlicht. In der Nr. 120 wird
dort ausdrücklich gesagt: »Die Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit gehört,
auch wenn sie künstlich erfolgt, zur normalen Pflege, die man dem Kranken
immer schuldet, solange sie sich nicht als
unerträglich für ihn erweist. Ihre unrechtmäßige Aussetzung kann tatsächlich
eine Euthanasie bedeuten«.
Ganz deutlich ist die Ansprache von
Johannes Paul II. an eine Gruppe von
Bischöfen aus den Vereinigten Staaten
von Amerika anlässlich ihres Ad-liminaBesuches am 2. Oktober 1998: Ernährung
und Flüssigkeitszufuhr werden als normale Pflegemaßnahmen und gewöhnliche
Mittel zur Lebenserhaltung betrachtet.
Es ist nicht annehmbar, sie abzubrechen
oder nicht zu verabreichen, wenn diese
Entscheidung den Tod des Patienten zur
Folge hat. Wir stünden dann vor einer
Euthanasie durch Unterlassung (vgl. Nr.
4).
In der Ansprache vom 20. März 2004
an die Teilnehmer des Internationalen
Fachkongresses zum Thema »Lebenserhaltende Behandlungen und vegetativer
Zustand: Wissenschaftliche Fortschritte
und ethische Dilemmas« bekräftigte Johannes Paul II. in sehr klaren Worten die
Linie der genannten Dokumente und bot
auch eine entsprechende Interpretation.
Der Papst unterstrich folgende Punkte:
1. »Für jene, deren ›vegetativer Zustand‹ mehr als ein Jahr andauert, wurde
der Ausdruck anhaltender vegetativer
Zustand geprägt. In Wirklichkeit entspricht dieser Definition keine andere
Diagnose, sondern nur eine konventionelle Prognose in Bezug auf die Tatsache,
dass die Besserung des Patienten – statistisch gesehen – immer schwieriger wird,
je länger der vegetative Zustand andauert«
(Nr. 2).
2. Gegenüber jenen, die das Menschsein der Patienten im »anhaltenden veLebensForum 88
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3. »Der Kranke im vegetativen Zustand hat also in Erwartung der Genesung
oder des natürlichen Endes das Recht auf
eine ärztliche Grundbetreuung (Ernährung, Wasserzufuhr, Hygiene, Erwärmung, usw.) und auf die Vorsorge gegen
Komplikationen, die mit der Bettlägerigkeit verbunden sind. Er hat auch das
Recht auf eine gezielte Rehabilitationsmaßnahme und auf die Überwachung der
klinischen Zeichen einer eventuellen Besserung. Insbesondere möchte ich unterstreichen, dass die Verabreichung von
Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf
künstlichen Wegen erfolgt, immer ein
natürliches Mittel der Lebenserhaltung
und keine medizinische Behandlung ist.
Ihre Anwendung ist deshalb prinzipiell
als gewöhnlich und verhältnismäßig und
damit als moralisch verpflichtend zu betrachten, und zwar in dem Maß, in dem
und solange sie nachweislich ihre eigene
Zielsetzung erreicht, die im vorliegenden
Fall darin besteht, dem Patienten Nahrung und Schmerzlinderung zu verschaffen« (Nr. 4).
4. Die vorausgehenden Dokumente
wurden aufgegriffen und im genannten
Sinn interpretiert: »Denn die Pflicht, die
normale Pflege, die man in solchen Fällen
dem Kranken schuldet, nicht vorzuenthalten (Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung zur Euthanasie, Teil IV),
umfasst auch die Versorgung mit Nahrung
und Wasser (vgl. Päpstlicher Rat Cor
Unum, Ethische Fragen bezüglich der
Schwerkranken und Sterbenden, Nr.
2.4.4; Päpstlicher Rat für die Pastoral im
Krankendienst, Charta für die im Gesundheitsdienst tätigen Personen, Nr. 120).
Eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, die
auf den geringen Hoffnungen auf Besserung gründet, wenn der vegetative Zustand mehr als ein Jahr andauert, kann
ethisch die Aussetzung oder Unterbrechung der minimalen Pflege des Patienten, die Ernährung und Wasserzufuhr
einschließt, nicht rechtfertigen. Denn
eine solche Unterbrechung würde einzig
und allein den Tod durch Verhungern
und Verdursten herbeiführen. In diesem
Sinn würde sie letztlich, wenn bewusst
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und absichtlich herbeigeführt, zu einer
wahren und eigentlichen Euthanasie
durch Unterlassung« (Nr. 4).
Die Antworten, welche die Kongregation für die Glaubenslehre nun vorlegt,
liegen auf der Linie der eben angeführten
Dokumente des Heiligen Stuhls, besonders der Ansprache von Johannes Paul
II. vom 20. März 2004. Sie beinhalten
zwei grundlegende Aussagen: Zum einen
wird bekräftigt, dass die Verabreichung
von Wasser und Nahrung, auch auf
künstlichen Wegen, prinzipiell ein gewöhnliches und verhältnismäßiges Mittel
der Lebenserhaltung für Patienten im
»vegetativen Zustand« ist. »Sie ist darum
verpflichtend in dem Maß, in dem sie
und solange sie nachweislich ihre eigene
Zielsetzung erreicht, die in der Wasserund Nahrungsversorgung des Patienten
besteht«. Zum anderen wird klargestellt,
dass dieses gewöhnliche Mittel der Lebenserhaltung auch jenen geschuldet ist,
die sich im »anhaltenden vegetativen
Zustand« befinden, weil es sich um Personen mit einer grundlegenden menschlichen Würde handelt.
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kann, dann wird ihre Verabreichung vollkommen unnütz. Schließlich wird nicht
ganz ausgeschlossen, dass die künstliche
Ernährung und Wasserversorgung in
gewissen seltenen Fällen für den Patienten
eine übermäßige Belastung oder ein erhebliches physisches Unbehagen, etwa
aufgrund von Komplikationen beim Gebrauch der Hilfsinstrumente, mit sich
bringen kann.
Diese außergewöhnlichen Fälle beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das
allgemeine ethische Prinzip, gemäß dem
die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichen Wegen erfolgt, immer ein natürliches Mittel
der Lebenserhaltung und nicht eine therapeutische Behandlung darstellt. Ihre
Anwendung ist deshalb als gewöhnlich
und verhältnismäßig zu betrachten, auch
wenn der »vegetative Zustand« andauert.
* Die so gekennzeichneten Zwischenüberschriften sind – der besseren Lesbarkeit geschuldete
– Hinzufügungen der LebensForum-Redaktion.
NIEMAND IST ZUM
UNMÖGLICHEN VERPFLICHTET*
Wenn die Kongregation für die Glaubenslehre bekräftigt, dass die Verabreichung von Nahrung und Wasser
prinzipiell moralisch verpflichtend
ist, schließt sie nicht aus, dass die
künstliche Ernährung und Wasserzufuhr in sehr abgelegenen oder
extrem armen Regionen physisch
unmöglich sein kann. Dann gilt
der Grundsatz: Ad impossibilia
nemo tenetur (Niemand ist zum
Unmöglichen verpflichtet). In
solchen Fällen bleibt jedoch die
Verpflichtung, die zur Verfügung stehende minimale Pflege
anzubieten und nach Möglichkeit die notwendigen
Mittel für eine angemessene Lebenserhaltung zu
besorgen. Die Kongregation schließt
auch nicht aus, dass
es zusätzliche
Komplikationen
geben kann, die
dazu führen,
dass der Patient Nahrung und
Flüssigkeit
nicht mehr
aufnehmen
CHRISTOPH HURNAUS
getativen Zustand« in Zweifel ziehen, ist
zu bekräftigen, »dass der jedem Menschen
innewohnende Wert und seine personale
Würde sich nicht verändern, was immer
auch seine konkreten Lebensumstände
sein mögen. Ein Mensch ist und bleibt
immer ein Mensch und wird nie zur Pflanze oder zum Tier, selbst wenn er schwerkrank oder in der Ausübung seiner höheren Funktionen behindert ist« (Nr. 3).
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GESELLSCHAFT
www.ich-tus-nicht.de
1971 behaupteten 374 Frauen in der Zeitschrift „Stern«: „Wir haben
abgetrieben« und legten so den Grundstein für die Legalisierung
der vorgeburtlichen Kindstötungen in Deutschland. Unter
umgekehrten Vorzeichen haben Jugendliche nun im Internet eine
ganz ähnliche Kampagne gestartet. Ihr Slogan: „Ich tus nicht!«
Von Nathanael Liminski
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eues von der »Generation
Es sind junge Menschen, die um den
Benedikt«: Auf ihrer jüngst der
Wert von Kindern wissen und für ihren
Öffentlichkeit präsentierten
unbedingten Schutz in jeder Lebensphase
Aktionsseite www.ich-tus-nicht.de haben
eintreten wollen. Sie wollen nicht ankladie Jugendlichen Stimmen und Gesichter
gen, wissen um die Not von vielen wervon bisher über 80 jungen Frauen und
denden Eltern. Gerade deshalb wollen
Männern zusammengetragen, für die im
sie ihre Stimme erheben, ihrer Haltung
Falle eines Schwangerschaftskonflikts Abtreibung keine Lösung darstellt. Anliegen der
»Generation Benedikt« ist es, der
von Papst Benedikt XVI. immer
wieder eingeforderten »Kultur
des Lebens« konkrete Gestalt zu
verleihen. Sie greifen dabei das
schwierige Kapitel bundesrepublikanischer Geschichte, die Zeit
der politischen Auseinandersetzung über die Einführung und
Ausgestaltung des Paragraphen
218, bewusst auf.
»Wir haben abgetrieben.« So
lautete im Juni 1971 das Bekenntnis von 374 Frauen in der
Zeitschrift »Stern«. Ihr Ziel war
die Legalisierung der Abtreibung,
ihr Motto »Mein Bauch gehört
mir!«. »Ich tus nicht.« So drücken
seit Juni 2008 viele junge Menschen ihr unbedingtes Bekenntnis
zum Leben aus. Für sie kommt Screenshot des Internetauftritts »www.ich-tus-nicht.de«
eine Abtreibung nicht oder nicht
mehr in Frage. Auch wenn die Schwanund der schweigenden Mehrheit ein Gegerschaft kurzfristige oder langfristige
sicht geben.
Abstriche bedeutet.
Diese jungen Menschen denken an die
Es sind junge Frauen, die ihre naZukunft. Sie wollen sie in einer menschtürliche Begabung zur Mutterschaft nicht
lichen Gesellschaft erleben. Eines ist dabei
abstreifen wollen. Es sind junge Männer,
für sie klar: Der Mensch entwickelt sich
die um ihre Verantwortung für die
nicht zum Menschen, sondern als
Schwangerschaft wissen und ihre Rolle
Mensch. Seine Würde wird ihm nicht
in der Partnerschaft wahrnehmen wollen.
gegeben, er hat sie. Von Anfang bis Ende.
Sie haben begriffen, dass Schwangerschaft
Das hat Konsequenzen.
keine Angelegenheit alleine der Frau ist,
Diese jungen Menschen wollen konsondern in Partnerschaft entsteht, getrasequent sein. Nicht, weil sie sich als Gutgen und ausgelebt werden muss, kann,
menschen präsentieren wollen, sondern
darf.
weil sie davon überzeugt sind, dass dies
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Probedruck
im Letzten allen zu Gute kommt: Den
Kindern, den Müttern, den Vätern, unserer Gesellschaft.
Neben den Statements finden sich
weitere Angebote auf der Internetseite:
In der Rubrik Lebensgeschichten werden
Zeugnisse von jungen Menschen präsentiert, die sich in schwierigen Situationen
für das Leben des Ungeborenen entschieden haben oder sich für genau diejenigen
einsetzen, die vor dieser Entscheidung
stehen.
Die »Generation Benedikt« ist sich
dabei bewusst: »Das Leben schreibt unglaubliche Geschichten – manchmal traurige, manchmal schöne. Schwangerschaft
kann Glück, Zufriedenheit, Erfüllung
bedeuten. Nicht selten aber bringt sie
auch Leid, Angst und Sorge. Zu diesem
sensiblen Zeitpunkt im Leben kommt es
entscheidend darauf an, wie Menschen
mit dem Geschenk des Lebens umgehen
und wie man mit ihnen umgeht.« Die
aufbereiteten Zeugnisse sprechen für sich.
In ihrem Einsatz für das Leben verlieren die Initiatoren nicht aus dem
Auge, dass es sich bei Abtreibung
um ein hochsensibles, persönliches, polarisierendes Thema
handelt. Ihrer Meinung nach ist
jeder dazu aufgerufen, seinen
individuellen Standpunkt zu bilden und zu beziehen. Dazu lohnt
sich ein Blick auf die Fakten, wie
sie in der gleichnamigen Rubrik
auf www.ich-tus-nicht.de dargestellt und erläutert werden.
Besucher der Seite sind zum
Mitmachen aufgerufen: Denn das
Leben braucht Freunde. Das
ungeborene Leben braucht Geborene, die ihm eine Stimme
leihen, ein Gesicht geben. Die
Gründe, für das Leben zu sein,
sind so unterschiedlich wie
menschliches Leben es selber ist.
Mitmachen ist ganz einfach: Eine
E-Mail mit digitalem Passfoto
und einem Statement in beliebiger
Länge an [email protected] reicht aus.
Der »Generation Benedikt« ist es ein
Herzensanliegen, wieder über das TabuThema Abtreibung ins Gespräch zu kommen. Dabei geht es ihr um Verständigung:
»Wir wollen nicht anklagen. Wir wollen
unterstützen: All jene, die sich für das
Leben einsetzen sowie diejenigen, die
sich mit dem Gedanken an eine Abtreibung tragen. Wir sind uns im Klaren
darüber, dass diese Positionierung junger
Menschen Zustimmung hervorruft, aber
auch Fragen aufwirft und Widerspruch
erzeugt.«
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GESELLSCHAFT
Schmetterling und
Taucherglocke
Im vergangenen Jahr wurde Julian Schnabels Film »Schmetterling
und Taucherglocke«, der das Leben und Sterben eines
Patienten mit Locked-in-Syndrom erzählt, mit Preisen geradezu
überschüttet. Nun ist der Film, der auf einem wahren Schicksal
basiert, auch auf DVD erschienen.
Von José García
W
unregelmäßige Auf- und Abblenden, Bilder in unterschiedlicher Schärfe, Fischaugenbilder, bei denen Gesichter sehr
nah an die Kamera treten. Der Zuschauer
begreift, dass er die subjektive Sicht eines
Liegenden eingenommen hat.
PRO KINO
er nach einer längeren Operation aus der Narkose aufgewacht ist, kennt das eigenartige Gefühl: unzusammenhängende
Bilder und Geräusche blitzen kurz auf,
dann wird es wieder schwarz vor Augen,
ein Gefangener seines Körpers ist. Er
kann nur noch sein linkes Augenlid bewegen.
Der »echte« Jean-Dominique Bauby
war 43 Jahre alt und Chefredakteur der
Modezeitschrift »Elle«, als ihn am 8.
Dezember 1995 während einer Autofahrt
mit seinem neunjährigen Sohn ein schwerer Hirnschlag traf, der ihn für zwanzig
Tage ins Koma versetzte. Als er dann aus
dem Koma erwachte, konnte er nicht
sprechen. Außerdem war er vollständig
gelähmt. Bauby litt am seltenen Lockedin-Syndrom, das heißt, er befand sich wie
in einer Taucherglocke abgeschnitten von
der Welt. Doch sein Geist war intakt, er
konnte umherfliegen wie ein Schmetterling. Mit Hilfe eines Buchstabiersystems
und dank der Unterstützung durch die
Lektorin Claude Mendibil wird er seine
Erfahrungen in Buchform veröffentlichen
können: »Le scaphandre et le papillon«
erscheint 1997, einige Wochen vor Baubys
Tod. Die deutsche Ausgabe wird 1998
unter dem Titel »Schmetterling und Taucherglocke« veröffentlicht. Eine Neuauflage (als »Buch zum Film«) erschien bei
dtv pünktlich zum Filmstart.
Auf der Grundlage
von Baubys Memoiren,
die weltweit ein Beststeller wurden, und sich
allein in Deutschland
mehr als 400.000 Mal
verkauften, entwickelte
Ronald Harwood das
Drehbuch für Julian
Schnabels gleichnamigen Spielfilm, der 2007
beim Internationalen
Filmfestival Cannes im
Wettbewerb uraufgeführt wurde. In Cannes
wurde »Schmetterling
und Taucherglocke« mit
dem Preis für Beste
Regie ausgezeichnet, ehe
er bei den Golden Globes die Preise für die
Beste Regie und den
Besten ausländischen
Film gewann, und später
viermal (Regie, adaptiertes Drehbuch, Kamera und Schnitt) für
den Oscar nominiert
wurde.
Im Krankenhaus von
Berck-sur-Mer in der Normandie lernt
Jean-Dominique Bauby (Mathieu Amalric) mit Hilfe eines von der Sprachtherapeutin Henriette Durand (Marie-Josée
Croze) entwickelten Buchstabiersystems,
das die Buchstaben nach ihrer Häufigkeit
Wie kommuniziert man, wenn man nur noch ein Augenlid bewegen kann?
man verliert jegliches Raum-Zeitempfinden – bis das Bewusstsein nach und
nach zurückkehrt. Diese Empfindungen
stellt Regisseur Julian Schnabel in seinem
Spielfilm »Schmetterling und Taucherglocke« mit filmischen Mitteln nach:
LebensForum 88
Probedruck
Ein Arzt erklärt dem Liegenden, was
geschehen ist: Der Patient hat einen Hirnschlag erlitten und zwei Monate im Koma
gelegen. Nun leidet er an einem seltenen
Syndrom, das den Hirnstamm so beeinträchtigt, dass der Patient völlig gelähmt,
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GESELLSCHAFT
machte den Film ganz so, als hätte er eine
Textur, einen Körper, als ob er Haut hätte.
Die ganze Leinwand war die Haut, und
so sehe ich das auch beim Malen. Beim
Drehen hatte ich das Gefühl: Ich mache
Mit seinen 41 Minuten wird das Bonusmaterial der kürzlich veröffentlichten
limitierten DVD-Edition verhältnismäßig
kurz gehalten. Die hohe Qualität des
Extra-Materials entschädigt den Zuschau-
PRO KINO
in der französischen Sprache ordnet, sich
mit dem Aufschlag seines linken Augenlids
mitzuteilen.
So diktiert er der Lektorin Claude
Mendibil (Anne Consigny) Buchstabe für
Buchstabe, Wort für Wort seine Erfahrungen. In mühsamer, vierzehnmonatiger
Arbeit entsteht auf diese Art das 130 Seiten umfassende autobiographische Buch,
dessen Erscheinen Jean-Dominique Bauby noch erleben kann, ehe er an einer Infektion stirbt.
In den ersten dreißig Minuten nimmt
die Kamera die Perspektive des Liegenden
ein. Der Zuschauer sieht ausschließlich
durch das linke Auge eines Mannes. Er
hört aber auch seine Gedanken, die wie
ein Schmetterling durch die Landschaft
seines Geistes flattern, während der Körper
in einer Taucherglocke gefangen bleibt.
Mit seiner dritten Regiearbeit bringt
der bildende Künstler Julian Schnabel
zum Ausdruck, wie ein Maler die Kinoleinwand behandelt – wenn er mit einem
großartigen Kameramann wie Janusz
Kaminski zusammenarbeiten kann. Sein
visuelles Konzept erläutert Schnabel
folgendermaßen: »Eine spezielle Behandlung des Bildes war notwendig, um JeanDos Innenleben zu visualisieren. Ich
DVD-TIPP
Verliert an Würde, wer auf die Hilfe anderer angewiesen ist?
Schmetterling und Taucherglocke
Schmetterling und Taucherglocke – Limited Edition. USA/Frankreich 2007
(Original: Le scaphandre et le papillon).
Regie: Julian Schnabel. Mit: Mathieu
Amalric, Emmanuelle Seigner, MarieJosée Croze, Anne Consigny, Patrick
Chesnais, Marina Hands, Max von Sydow. FSK ab 12 Jahren, 112 Minuten.
Sprache: Deutsch: DTS /DD 5.1; Französisch: DD 5.1; Untertitel: Deutsch.
EAN-Code: 4260170490025. 17,95 EUR.
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Probedruck
er aber bei weitem dafür. So vermittelt
das zwölfminütige Kapitel »Abgetaucht«
einen überaus aufschlussreichen Einblick
in das filmische Konzept von »Schmetterling und Taucherglocke«. Denn der
Film wird, besonders in der ersten halben
Stunde, konsequent aus der Sicht des Liegenden erzählt. Dies bedeutet, dass der
auf der Leinwand zu sehende Ausschnitt
die Reichweite eines nur noch mit dem
linken Auge sehenden, liegenden MenPRO KINO
den Raum. Ich mache die Farbe. Ich
verlieh dem Raum durch kurze Brennweiten eine Wölbung, und setzte ein
fluoreszierendes Licht in die Ecke.«
Jean-Dominique Bauby bekommt häufig Besuch von seiner Frau Céline (Emmanuelle Seigner) und den drei Kindern,
obwohl sich Céline von ihm hatte scheiden lassen, als er sich mit einer Jüngeren
einließ. Zu den ergreifendsten Momenten
des Filmes gehört aber ein Telefongespräch Jean-Dos mit seinem Vater (Max
von Sydow), der nicht mehr aus der Wohnung herauskommen kann.
»Schmetterling und Taucherglocke«
bloß als ein Film »gegen Euthanasie« anzusehen, greift viel zu kurz. Denn trotz
des bekannten tragischen Ausganges ist
»Schmetterling und Taucherglocke« eine
wahrhafte Hymne auf das Leben, eine
Liebeserklärung an das Leben. Obwohl
Bauby zunächst einfach sterben wollte,
entdeckt er bald eine neue Schönheit am
Leben. Jean-Do Baubys Geist bewegt
sich lebendiger denn je, erlebt Augenblicke tiefer Verzweiflung, aber auch Momente echter Schönheit, und nicht zuletzt
auch voller Komik. Die unaufdringliche
Musik verstärkt den Eindruck eines wahren Meisterwerks.
Macht menschlich: Mitgefühl
schen erreichen darf. Was wiederum nicht
nur heißt, dass diese Bilder verwackelt
und unscharf aussehen, sondern auch,
dass durch eine Art Fischauge GesichtsLebensForum 88
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ausschnitte, etwa Münder und Augen zu
sehen sind.
Drehbuchautor Ronald Harword erläutert darüber hinaus, dass bei der Adaption von Baubys Buch erst die Idee,
Jean-Dominique Bauby durch eine Kamera zu ersetzen, den Durchbruch brachte. In einem sehr persönlich gehaltenen
Interview erklärt Regisseur Julian Schnabel die Gründe, die ihn zur Realisierung
des Projektes bewegten, insbesondere
weil die Vater-Sohn-Beziehung bei den
Baubys seinem Verhältnis zu seinem eigenen Vater ähnelte. Der amerikanische
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ARCHIV
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BUCH-TIPP
Selbst eine massiv eingeschränkte Existenz muss kein unglückliches Leben zur Folge haben.
Große Filme haben nicht nur die Menschen ihrer Zeit begeistert, sondern
transportieren auch eine zeitlose
menschliche Botschaft. José García, der
vielen Lesern durch seine profunden
Filmkritiken bekannt ist, stellt in diesem
faszinierenden Führer durch die Welt
des Kinos 50 Meisterwerke vor, die
Tiefgründiges über den Menschen aussagen. Die Auswahl deckt alle Genres
ab und umfaßt den Zeitraum von 1947
bis heute. Klassiker wie „Die Brücke«
oder »Schindlers Liste« sind ebenso
dabei wie besonders gelungene Trickfilme oder mancher ausgefallene Streifen.
Ein »Muss« für Kino-Fans.
José Garcia: Der Himmel über Hollywood.
Was große Filme über den Menschen sagen.
Gebunden, 208 Seiten, EUR 19,90.
ISBN 978-3-86744-069-1
Maler und Filmemacher führt außerdem
aus, warum er unbedingt auf französisch
und im authentischen Krankenhaus drehen wollte, wo Jean-Do Bauby die letzten
Monate seines Lebens verbrachte.
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Probedruck
Die einzigartige Fotografie des Filmes
illustriert der für diese Arbeit mehrfach
ausgezeichnete Kameramann Janusz Kaminski im siebenminütigen Feature »Augenblicke«. Der »Director of Photography«, der seit »Schindlers Liste« (1993)
bei allen Steven Spielberg-Filmen die
Kamera geführt hat, erläutert insbesondere die Interaktion der Schauspieler mit der Kamera und die Kunstgriffe,
die nötig waren, um dem Zuschauer das
Sehen durch ein Auge aus einer unbeweglichen Haltung begreiflich zu machen.
Besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang: All diese Kunstgriffe wurden bereits während der Aufnahmen
durchgeführt, d.h. sie wurden nicht wie
so häufig in Spielfilmen der letzten Jahre
während der Post-Produktion im Computer erzeugt. Der nachdenkliche, aber
auch zuweilen überraschend humorvolle
Audiokommentar von Julian Schnabel
rundet die Extras ab.
»Schmetterling und Taucherglocke«
wurde im Oktober 2008 von den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Kino –
Gilde deutscher Filmkunsttheater e.V.,
dem Verband der Filmkunst- und Programmkinos in Deutschland, mit dem
Preis »Bester ausländischer Film« ausge-
zeichnet. Damit erhielt Julian Schnabels
Film die einzige Auszeichnung, die in
Deutschland in der Kategorie »internationaler Film« verliehen wird.
IM PORTRAIT
Dr. phil. José Gracía
José García, geboren 1958, Promotion
in Mittelalterlicher Geschichte an der
Universität Köln, arbeitet als Journalist
und Filmkritiker insbesondere für »Die
Tagespost« und den
Internetdienst »Familie und Erziehung«.
Mitglied im Verband der Deutschen
Filmkritik.
Im MM-Verlag erschien von ihm zuletzt
»Träume, Werte und Gefühle. Die wundersame Welt von Film und Kino«. Im
diesem Herbst erschien sein jüngstes
Buch: »Der Himmel über Hollywood.
Was große Filme über den Menschen
sagen« im Augsburger Sankt Ulrich Verlag.
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BÜCHERFORUM
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ie Menge der Bücher, die sich
mit der verbrauchenden Embryonenforschung befassen, ist
auch zehn Jahre, nachdem es dem USAmerikaner James
A. Thompson als
Erstem gelang, embryonale Stammzellen des Menschen im Labor zu
kultivieren, noch
immer recht übersichtlich. Erschwerend
kommt hinzu, dass von den erhältlichen
Titeln nur wenige brauchbar sind. Das
vorliegende Buch aus der Feder der promovierten Philosophin
Adriene Weigl hilft
diese Lücke zu schließen.
Denn in ihm entfaltet die Autorin nicht
nur die embryologischen Grundlagen und
deutet sie anschließend. Breiten Raum
nimmt die Wiedergabe
und Widerlegung von
Einwänden ein, die
gegen die von Weigl
und anderen verfochtene These ins Feld geführt werden und die
lautet: Spätestens ab
der Karyogamie, der
letzten Phase der Befruchtung, haben wir
es beim menschlichen
Embryo auch mit einem menschlichen
Wesen zu tun, dessen Würde zu achten
und dessen Lebensrecht zu wahren ist.
Eindrucksvoll sowie unter Verzicht
auf jegliche Polemik widerlegt Weigl die
Vertreter eines abgestuften Lebensschutzkonzeptes. Ob es um die Möglichkeit der
Zwillingsbildung, den behaupteten Informationszuschuss des mütterlichen Organismus, ohne den die Entwicklung des
Embryos gestoppt würde, oder das Modell
der Achsenbildung geht, Weigl hat stets
die besseren Argumente und zeigt, dass
derartige Einwände entweder an der Sache vorbei gehen oder nicht das Gewicht
besitzen, das ihnen in der von Interessen
geleiteten Debatte zugestanden wird.
In einem dritten Teil »Menschsein
und Menschenwürde« arbeitet die Autorin ausgehend vom traditionellen Personendenken heraus, was den Menschen
zum Menschen macht. Im Anschluss daran unterzieht Weigel einzelne biotechnische Methoden – angefangen von der
künstlichen Befruchtung und der Gewinnung von Stammzellen, über das Embry-
onensplitting und die Chimärenbildung
bis hin zum Klonen in seinen unterschiedlichen Spielarten – einer profunden ethischen Beurteilung. Last but not least
beschäftigt sie sich
auch mit rechtlichen Fragen. Ausgehend von rechtsphilosophischen
Überlegungen zum
Verhältnis von
Recht und Moral, untersucht sie, ob das
Grundgesetz, wie von Befürwortern der
embryonalen Stammzellforschung behauptet, zum Schutz von Embryonen
schweigte. Dem Problem des Wertungswiderspruchs, der
zwi-schen der rechtlichen Regelung der
Abtrei-bung und dem
Schutz von Embryonen in der Petrischale
besteht, widmet sie
ebenso Beachtung,
wie der Frage, ob
durch das Embryonenschutzgesetz auch
die Präimplantationsdiagnostik verboten sei. Dass Weigl
im Vergleich mit den
Befürwortern einer
embryonenverbrauchenden Forschung
über die besseren Argumente verfügt, hindert sie nicht, Verständnis für diese zu
entwickeln. So schreibt sie zum Schluss:
»Die Vorstellung eines Embryos in der
Petrischale kann uns kaltlassen und
vielleicht sogar ein wenig abstoßen, ohne
dass wir deswegen gefühllose Menschen
wären. Unser Fühlen ist nicht auf Wiedererkennen des Mitmenschen in seinen
frühesten Stadien ausgelegt.« Anders sei
es mit unserem Denken: »Es kann zeigen,
dass gerade dieser Punkt in der Laborschale, dieses verschwindend kleine bisschen Organismus der preisgegebene
Mensch schlechthin ist, der unseres Schutzes bedarf, umso mehr, als er nicht einmal
zu wimmern vermag, um uns zum Handeln zu bewegen (...).«
Die Preisgabe
des Menschen
30
Probedruck
Stefan Rehder
Adrienne Weigl: Der preisgegebene Mensch. Überlegungen zum biotechnischen Umgang mit menschlichen Embryonen. Mit einem Vorwort von Robert
Spaemann. Resch Verlag, Gräfelfing 2007. 316 Seiten.
24,90 EUR.
Im Schaufenster
Ausgeschlachtet
Über Organtransplantationen glauben wir
eine Menge zu wissen.
Aber dass außer Organen auch Knochen und
Gewebe transplantiert
werden, wissen nur
wenige. In »Ausgeschlachtet – Die
menschliche Leiche als Rohstoff« deckt die
Journalistin Martina Keller auf, woher das
Gewebe kommt, das benötigt wird, wenn
etwa Verbrennungsopfern Haut transplantiert werden soll, ein Sportler ein neues Kreuzband erhält oder bei Schönheitsoperationen
Lippen aufgespritzt und Nasen »korrigiert«
werden. In diesem einzigartigen Buch beleuchtet Keller den pietätlosen Umgang mit Leichen,
beschreibt den gigantischen Markt, auf dem
Lei-chenteile wie Rohstoffe gehandelt werden
– allein in den USA wird mit dem Handel von
Gewebe ein jährlicher Umsatz von mehr als
einer Milliarde Dollar erwirtschaftet – und
deckt Skandale und illegale Machenschaften
auf. Ins Gericht geht die Autorin auch mit dem
deutschen Gewebegesetz und der entsprechenden EU-Richtlinie. Diese hätten zwar zu
mehr Klarheit geführt, ließen den Profiteuren
jedoch ausreichend Schlupflöcher offen.
Fazit: Ein immens wichtiges Buch, das Ross
und Reiter nennt und hoffentlich für eine drinreh
gend notwendige Debatte sorgt.
Martina Keller: Ausgeschlachtet. Die menschliche
Leiche als Rohstoff. Econ Verlag, Berlin 2008. 256
Seiten. 18,00 EUR.
Aktive Sterbehilfe
Auch im protestantischen Raum formiert
sich fundierter Widerspruch gegen die beobachtbaren Bemühungen, Euthanasie schrittweise zu legalisieren.
Eine gelungene Kostprobe liefern der Dekan
der Freien Theologischen Akademie Gießen,
Stephan Holthaus und Timo Jahnke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Institut für Ethik
& Werte«, in ihrem Buch: »Aktive Sterbehilfe
– Ausweg oder Irrweg?« Weit mehr als andere
thematisieren die Autoren darin auch die
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Folgen einer möglichen Liberalisierung rechtlicher Regelungen. Dabei zeigen sie etwa anhand von Daten aus der Schweiz und der Niederlande, dass die Freigabe des ärztlich assistierten Suizids zu Veränderungen der »generellen Einstellung zu Tod und Sterben« geführt hat. Angesichts einer »hohen Quote von
Behandlungsabbrüchen und Behandlungsverzichten« warnen sie davor, dass aus dem
»Sterben-Wollen« ein »Sterben-Müssen« wird.
Behandelt wird auch die »Terminale Sedation«,
die manchmal bei Sterbenden im Endstadium
zum Einsatz kommt. In den Niederlanden werde sie von Ärzten allerdings auch mit der erklärten Absicht eingesetzt, das Sterben zu
beschleunigen. Hilfreich ist auch der Anhang,
der neben den »Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbehilfe« auch die
Webadressen einiger interessanter Internetportale zur Palliativmedizin und zur Hospizbewegung umfasst.
Fazit: Ein leicht lesbares Buch, das Beachtung
reh
verdient.
Stephan Holthaus/Timo Jahnke: Aktive Sterbehilfe.
Ausweg oder Irrweg? Edition Ethik & Werte. Brunnen
Verlag, Gießen 2008. 140 Seiten. 12,95 EUR.
Vorsicht
Vorsorge!
Das jüngste Werk des
Arztes, Bestsellerautors und Leiters des
Wissenschaftsressorts der »Süddeutschen Zeitung« widmet sich einem Gebiet,
das für Lebensrechtler
nur von mittelbarem Interesse sein dürfte. In
ihm hinterfragt Werner Bartens, ob Prävention
– die jüngste Mode am Gesundheitshimmel
– tatsächlich so wirkungsvoll ist, wie häufig
behauptet wird, oder ob sie nicht auch völlig
nutzlos oder sogar gefährlich sein kann. Die
vielen gut aufbereiteten Fallbeispiele legen
nahe, dass es klug wäre, sich eine kritische
Einstellung gegenüber den Verheißungen der
modernen Gesundheitsindustrie zu bewahren
oder – falls noch nicht vorhanden – schleunigst
zuzulegen. Das gilt selbstverständlich auch
für die Schwangerenvorsorge, die in diesem
Buch bedauerlicherweise nicht eigens behandelt wird. Dabei ist der Autor mit einer Gynäkologin, deren Praxis er auf seiner Homepage
bewirbt, verheiratet.
Fazit: Ein seriöser Augenöffner. Flott und leicht
reh
geschrieben.
Werner Bartens: Vorsicht Vorsorge! Wenn Prävention
nutzlos oder gefährlich wird. Suhrkamp, Frankfurt
a. Main 2008. 194 Seiten. 7,50 EUR.
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uf die Enzyklika »Humanae Vitae« von Papst Paul VI. (1968)
wird der interessierte Leser eher
selten verwiesen. Nach ihrem Erscheinen
bereits innerkirchlich von Theologen
und Laien als »Pillenenzyklika« desavouiert, las man sie
im Rahmen von
»family planing«
und 68-Revolte nur als rückwärts gewandten Legalismus. Erst allmählich wird die
anthropologische Weite des Textes wahrgenommen.
Was hat der Papst
zur »Pille« gesagt?
Die Eheleute sind
»freie und bewusste
Mitarbeiter Gottes«,
ihre Liebe soll »treu
und ausschließlich und
lebensstiftend«, kurzum: keusch sein. Er
spricht von der »von
Gott bestimmten unlösbaren Verknüpfung
der beiden Sinngehalte – liebende Vereinigung und Fortpflanzung – die beide
dem ehelichen Akt
innewohnen«.
Bevölkerungswachstum und die
individuelle und soziale Belastung von
Frau und Familie in
der Realität des modern way of life werden
in ihrer ganzen Problematik erwogen.
Als fundamental gute und gerechte Wegweisung für geplante Elternschaft erkennt
Paul VI. die von der Schöpfung vorgegebene und individuell überprüfbare Phase
der weiblichen Empfängnisbereitschaft
während des Zyklus. Diese Kenntnis bedarf der personalen Aneignung in der
Disziplin liebender Partnerschaft. Ihr
physischer Vorteil: keine Nebenwirkung!
Solchem Klartext gegenüber bestanden
ablehnende Kritiker auf der subjektiven
Freiheit und dem autonomen Gewissen
als moralischen Gegengewichten. Inzwischen bemerkt man, dass die derzeit
inflationär beanspruchte Berufung auf
das eigene Gewissen nur eine moralische
Exkulpation für den bequemeren Weg
darstellt und dazu missbraucht wird, die
Ansprüche der Moral den eigenen Lebensumständen anzupassen (Relativismus). Mancher Moralexperte setzt weiter
ausschließlich auf die Abwägung von
Handlungsfolgen (Konsequentialismus);
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er übersieht, dass eine Handlung nicht
allein aufgrund ihrer Folgen oder ihres
Zwecks »gut« genannt werden kann - die
sogenannte Ethik des Heilens mittels
Embryonenverbrauchs sei Lehrparabel!
Selbst kritische
Stimmen werden
die prophetische
Perspektive der Enzyklika nicht übersehen können: sie warnte vor dem drohenden sexualmoralischen
Laxismus sowie vor zunehmender Verfügbarkeit der chemisch oder technisch unfruchtbar »gemachten« Frau – was
nicht zuletzt Star-Feministinnen wie Alice
Schwarzer empört.
Für Vincent Twomey spricht Paul VI.
von der Tugend in Familie und Gemeinschaftsleben und sieht
die Tiefe des Textes
spirituell noch gar
nicht ausgelotet. Angesichts der Kontroverse über Geburtenkontrolle und ein international angestrebtes »Recht auf Abtreibung« gilt es, eine
grundlegende Neuinterpretation der Natur der menschlichen
Freiheit zu erarbeiten.
»Moral ist die Qualität menschlicher
Freiheit.« Sie wirkt sich auf unsere Handlungen, weit mehr noch auf unsere personale Identität aus. Die einzigartige
wechselseitige Selbsthingabe in der Ehe
ist personal, Geschenk und Kraft zur
Weitergabe des Lebens! Der Körper ist
kein Rohmaterial für Fortschrittstechnik!
Enzykliken wie »Evangelium vitae« von
Johannes Paul II. führten diese Gedanken
bereits weiter.
Ist das »nur katholisch«, »legalistisch«,
»rückwärts gewandt«? Also, junge Geister,
Theologen, keine Zurückhaltung bei der
Lektüre und ans Werk sachlich weiterführender Interpretation!
Zur Krise
der Moral
Dr. Maria Overdick-Gulden
Vincent Twomey: Der Papst, die Pille und die Krise
der Moral. Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2008. 205
Seiten. 19,90 EUR.
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K U R Z V O R S C H LU S S
Die Befürchtungen, dass es zu einem Dammbruch kommt, wenn das Lebensrecht vor
der Geburt und am Ende des Lebens in Frage
gestellt wird, sind nur zu berechtigt. Eine
Gesellschaft, selbst wenn man nur die offiziellen Zahlen nimmt, in der jedes 7. Kind
abgetrieben wird, untergräbt seine eigene
Zukunftsfähigkeit. (...) Mein Dank gilt allen,
die sich für den Schutz des Lebens einsetzen, die den Mut haben, auch unbequeme
Wahrheiten zu sagen und die sich zu den
Werten bekennen, die unsere Gesellschaft
zusammenhalten.«
Auszug aus dem Grußwort des Thüringer Ministers für Bundes- und Europaangelegenheiten
und Chef der Staatskanzlei, Dr. Klaus Zeh, zum
Schweigemarsch »1.000 Kreuze für das Leben«
»
Ich begrüße Ihre Aktion, mit der Sie öffentlich für den Lebensschutz eintreten und mit
1.000 weißen Holzkreuzen dazu beitragen,
dass Menschen stehen bleiben, genau hinschauen und innehalten. Denn das ist heute
angesichts des medizinisch Möglichen besonders wichtig: ein Bewusstsein zu schaffen für die Würde menschlichen Lebens.
Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt,
dass der Schutz, insbesondere des behinderten ungeborenen Lebens, unzureichend
ist. Spätabtreibungen können derzeit ohne
Beratung und Bedenkzeit bis zur Geburt
vorgenommen werden. Je weiter die
Schwangerschaft voranschreitet, desto
geringer wird der Schutz für das werdende
Leben.«
Professor Dr. Maria Böhmer, Bundesvorsitzende
der Frauen-Union der CDU Deutschlands in ihrem
Grußwort zum Schweigemarsch »1.000 Kreuze
für das Leben«.
»
Die Senioren-Union der CDU Deutschlands
teilt Ihre Besorgnis über die immer noch
ungewöhnlich hohe Abtreibungsrate in der
Bundesrepublik Deutschland. Über das
menschliche Leid hinaus, das mit jeder Abtreibung verbunden ist, ist diese hohe Abtreibungsrate auch ein Zeugnis für allgemeines gesellschaftliches Versagen auch
vor dem Hintergrund der demographischen
Entwicklung unseres Landes.«
Der Erzbischof von Berlin,
Georg Kardinal Sterzinsky,
hat die Veranstalter des FIAPAC-Kongresses, der sich
Ende Oktober in Berlin mit den Themen
Abtreibung und Verhütung beschäftigte,
attackiert. Statt zum Leben zu ermutigen,
wolle der Kongress, »die Abtreibung
perfektionieren«, so Sterzinsky. Der Kardinal beklagte den technokratischen Umgang der Veranstalter mit dem Thema
und kritisierte, dass
Abtreibungen als
»die normalste Sache der Welt« betrachtet würden.
»Dass Menschenleben getötet werden, erschreckt offenbar niemand Georg Kardinal Sterzinsky
mehr, wenn es nur
in verharmlosender Weise mit Fachbegriffen ausgesprochen wird.« Auch werde
vergessen, dass Abtreibungen nach deutschem Recht »rechtswidrig« seien, so
Sterzinsky weiter. Besonders zynisch sei,
dass der Kongress auch vom Berliner
Hebammenverband unterstützt werde,
obwohl Hebammen doch eigentlich dem
Leben dienen sollten.
reh
Gott, warum hast Du uns
niemanden geschickt, der
Heilmittel für Aids findet,
den Welthunger wirksam
bekämpft und alle sozialen
Ungerechtigkeiten
ausräumt?
Aber … WO SIND SIE?
Roger Kusch hat wieder zugeschlagen. Am 12. November »begleitete« Hamburgs
ehemaliger Justizsenator in
der Mainmetropole Frankfurt den Suizid
eines 94-Jährigen Mannes. Der Mann
hinterlässt eine 89-jährige Ehefrau, die
an Alzheimer erkrankt ist und in einem
Altenheim lebt. Nach Angaben von Kusch
litt der 94-jährige Mann nicht an einer
tödlichen Erkrankung. Seine Entscheidung aus dem
Leben zu scheiden,
begründet der Mann
damit, dass er selbst
nicht pflegebedürftig werden wolle.
Bei dem neuerlichen Fall handelt es
sich bereits um den Roger Kusch
dritten, von Kusch
begleiteten Selbstmord. Anfang Oktober
unterstützte Kusch den Suizid einer 84jährigen Rentnerin in Hamburg. Vier
Monate zuvor hatte er eine 79-Jährige
Frau aus Würzburg bei ihrem Selbstmord
begleitet. Nach eigenen Angaben berechnet Kusch für seine Leistungen normalerweise ein Honorar von 8.000 Euro
pro Fall
reh
Habe ich
getan!
Ihr habt sie
abgetrieben.
Professor Dr. Otto Wulff, Bundesvorsitzender
der Senioren-Union in seinem Grußwort zum
Schweigemarsch »1.000 Kreuze für das Leben«.
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Probedruck
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CDU
»
Tops & Flops
ARCHIV
Expressis verbis
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KURZ & BÜNDIG
Lebensschutz ist wählbar
K.O. für liberales Abtreibungsrecht
Montevideo. Uruguays Präsident Tabare Vazquez hat nach mehrfacher Ankündigung Mitte
November von seinem Vetorecht Gebrauch
gemacht und eine Legalisierung vorgeburtlicher Kindstötungen in seinem Land verhindert.
Zuvor hatte das Parlament
nach monatelangen Auseinandersetzungen für einen Gesetzentwurf gestimmt, der
vorsah, Abtreibung innerhalb
der ersten zwölf Schwangerschaftswochen bei Gefahr für
das Leben der Mutter oder
einer Behinderung des Kindes
zu erlauben. Auch sollen Frauen wirtschaftliche oder familiäre Probleme geltend machen Vazquez
können. Durch das Veto von
Vazquez, der selbst Arzt ist, wird die Gesetzesvorlage nun an das Parlament zurückverwiesen. Dieses benötigt zur Überstimmung
des Vetos 60 Prozent der Stimmen. Da jedoch
nur eine sehr knappe Mehrheit der Parlamentarier für den Entwurf votiert hatte, rechnet
damit niemand. Uruguay gilt als eines der am
stärksten säkularisierten Länder Lateinamerireh
kas.
Wahl 2009: Bundestagskandidaten im Kurzporträt
WWW.PRESIDENCIA.GUB.UY
macht, seine Kollegen in einer ergreifenden Rede auf, die »Büchse der Pandora
nicht weiter zu öffnen«. Die Nutzung
embryonaler Stammzellen setze das »TöARCHIV
Michael Brand, MdB, Jahrgang 1973,
studierte Politische Wissenschaften,
Geschichte und Rechtswissenschaften
an der Friedrich-Wilhelm-Universität in
Bonn und Sarajevo (Bosnien-Herzegowina). Dem Deutschen Bundestag gehört
der CDU-Politiker seit 2005 an und vertritt dort den Wahlkreis 176 (Fulda). In
der Stammzell-Debatte stimmte Brand
für den von den Abgeordneten Hubert
Hüppe, Marie-Luise Dött (beide CDU)
und Maria Eichhorn (CSU) eingebrachten Gesetzentwurf (BT-Drucksache 16/
7983), der ein völliges Verbot des Imports
embryonaler Stammzellen vorsah. Brand
ist ordentliches Mitglied des Bundestagsausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit und dort als Berichterstatter für den Bereich Abfall, Entsorgung
und Verpackung zuständig. Als stellvertretendes Mitglied gehört er dem Haushalts-, dem Verteidigungs- und dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe an. In der Stammzelldebatte
rief der evangelische Christ, der sich auch
gegen Abtreibung und Sterbehilfe stark
Michael Brand
ten von Menschen« voraus. Vor diesem
Fakt könne sich »niemand drücken, kein
Forscher, kein Politiker und auch kein
anderer Mensch«, so Brand.
reh
Aufschub für Euthanasiegesetz
Mehr Informationen: www.michael-brand.de
Luxemburg. Im Großherzogtum Luxemburg
wird sich die endgültige Abstimmung über
das geplante Euthanasiegesetz voraussichtlich
bis ins Frühjahr 2009 verzögern. Grund sind
Bedenken des Luxemburger Staatsrats im
Hinblick auf das im Februar in erster Lesung
beschlossene Gesetz. Der Staatsrat kritisiert,
dass die geplante Neuregelung nicht ausreichend für Rechtssicherheit sorge. Der von
Sozialisten und Grünen initiierte Gesetzentwurf geht in mehreren Punkten über das bel-
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Probedruck
spielen und auch die Partnerwahl beeinflussen sollen. Unterschiedliche
MHC-Typen passen angeblich gut,
ähnliche schlecht zusammen. Via Internet sollen die Kunden anschließend
nach dem passenden MHC-Partner
suchen können. Dabei beruft sich die
Firma auf eine Studie, bei er Frauen
den Geruch von T-Shirts beurteilen
sollten, die von Männern, die weder
Dusche noch Deo benutzen durften,
72 Stunden lang getragen wurden.
Das klingt bizarr und ist es auch.
Dabei hätten die Schweizer genug Zeit
gehabt, um von Thurman und Hawke
zu lernen. Zwar heiratete das Filmpaar,
nachdem Gattaca in die Kinos kam,
tatsächlich. Doch wurde ihre Ehe sechs
Jahre und zwei Kinder später wieder
geschieden. Sich »gut riechen« zu können, ist offenbar kein Garant für eine
glückliche und stabile Beziehung. Speichelproben sollten auch künftig nur
bei der Verbrecherjagd zum Einsatz
kommen.
Stefan Rehder
ARCHIV
»Deutschland. Das von morgen« (16)
Für sein meisterhaftes Science-Fiction-Drama »Gattaca« ließ der neuseeländische Regisseur Andrew Niccols
Irene (Uma Thurman) dem von ihr
auserwählten Vincent (Ethan Hawke)
eines ihrer Kopfhaare zur Genanalyse
reichen. Dabei haucht sie: »Falls Sie
dann noch interessiert sind, sagen Sie
es mir«. So stellte sich Niccols anno
1997 den Beginn von Romanzen in einer gentechnisierten Zukunft vor. Einer, die Niccols so weit entfernt wähnte,
dass er in »Gattaca« zum ersten bemannten Raumflug zum Saturn ansetzen ließ.
Heute, da noch kein Mensch auch
nur einen Fuß auf den Mars gesetzt
hat, macht das Zürcher Unternehmen
GenPartner mit dieser Vision ernst.
Anhand von Speichelproben analysiert
die Firma den so genannten Haupthistokompatibilitäts-Komplex (MHC).
Diese Gene stellen bestimmte Oberflächenproteine her, die eine wichtige
Rolle bei der körpereigenen Abwehr
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Blick auf das Großherzogtum Luxemburg
gische Euthanasie-Gesetz hinaus. Laut dem
Luxemburger Entwurf können auch 16- bis
18-jährige sowie Demenzkranke eine »Tötung
auf Verlangen« beantragen. Bei der ersten
Lesung im Februar stimmten 30 Abgeordnete
für den Entwurf. 26 stimmten dagegen, drei
enthielten sich. Der Fraktionszwang war für
die Abstimmung aufgehoben worden. reh
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LESERFORUM
»sozialverträglichen Frühableben« kommt
und Leute wie Roger Kusch Profit aus
den Ängsten der Menschen vor einem
Sterben in Schmerzen und Einsamkeit
schöpfen, sollten wir nach unseren Möglichkeiten im Privaten und Öffentlichen
dazu beitragen, dass die aktive Sterbehilfe
hierzulande auch weiterhin verboten
bleibt.
Optisch und inhaltlich
hat mich das LebensForum wieder einmal
überzeugt. Vor allem
die Aufmachung hat
mir gut gefallen.
Josef Schall, Mainz
Bevor ich den Beitrag (»Die Wissen-
Blind und bezugslos
schaft hat festgestellt...«) von Herrn Rehder im letzten LebensForum las, war ich
noch der Überzeugung, dass dem neuzeitlichen Wahrheitsbegriff »verum, quia
factum«, der auch der naturwissenschaftlichen Methode eigen ist, wenigstens noch
Wissen schafft Verantwortung
und stark machen für den Lebensschutz.
Sonst können wir uns in einigen Jahren
zwar als eine tierliebe und umweltfreundliche, aber weniger als eine »menschenachtende« Gesellschaft rühmen.
An dieser Stelle möchte ich einmal
meinen herzlichsten Dank für das »LebensForum« aussprechen. Diese Zeitschrift stellt für mich neben einer Plattform des Austausches und neben einer
Informationsbörse zugleich auch einen
stets neuen Ansporn dar. Denn wie sagt
man: »Wissen schafft Verantwortung!«
Martina Botzke, Münster
WOMEN ON WEB / WILLEM VELTHOVEN
Gute Argumente
Wie in der letzten Ausgabe deutlich
wurde, kommen zunehmend neue Streitfragen auf: So kämpfen »Women on web«
neuerdings mittels eines Onlineversandes für einen freien Zugang zur Abtreibung(spille), verschiedene EU-Mitgliedsstaaten fordern ein einheitliches Abtreibungsrecht und Roger Kusch ist mit seiner
hauseigenen »Kusch Sterbehilfe« auf dem
Vormarsch.
Mit jeder weiteren Ausgabe von »LebensForum« wird mir erneut bewusst,
wie wichtig es ist, dass wir uns einsetzen
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Probedruck
Die Diskussion um die Legalisierung
der aktiven Sterbehilfe in Deutschland
bleibt weiterhin akut. Dies hat die letzte
Ausgabe des LebensForums einmal mehr
verdeutlicht. Wie das Interview mit BÄKPräsident Jörg-Dietrich Hoppe zeigt,
scheint die Ärzteschaft die Euthanasie
erfreulicherweise abzulehnen. Dies und
die großen Erfolge der Palliativmedizin
und Hospizbewegung sind gute Argumente, die sich gegen die »Tötung auf
Verlangen« anführen lassen. Wenn wir
nicht wollen, dass es zukünftig zu einem
ARCHIV
Rebecca Gomperts: Abtreibung per Online-Bestellung
ARCHIV
Roman Schneider, Düsseldorf über
LebensForum Nr. 87
Bundesärztekammer-Präsident Jörg-Dietrich Hoppe
Früher Fälscher: Ernst Haeckel (1834 - 1919)
ein gewisser korrespondenztheoretischer
Bezug zur untersuchten Wirklichkeit zugrundeliegt. Naturwissenschaft hat demnach das Forschungsziel die Gesetzlichkeiten, die in der Natur zu beobachten
sind, aufzudecken. Ganz offensichtlich
hat aber die pragmatische Vorstellung
der Wahrheit immer mehr dazu geführt,
dass nun noch nicht einmal mehr eine
Korrespondenz zwischen naturwissenschaftlicher Aussage und zu beschreibender empirischer Wirklichkeit angestrebt
wird, wenn sich Erfolg auf anderem Wege
eher einstellt. Bei einem solchen Vorgehen
geht es erst recht nicht mehr darum, die
Wahrheit oder das Wesen des untersuchten »Forschungsobjektes« – der Mensch
im embryonalen Zustand – zu ergründen.
In weiten Kreisen scheint das zeitgenössische Denken für diese grundlegendste
Frage blind geworden zu sein, was in
zunehmender Weise erschütternd zutage
tritt.
Thomas Kreter, Bonn
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IMPRESSUM
IMPRESSUM
LEBENSFORUM
Ausgabe Nr. 88, 4. Quartal 2008
ISSN 0945-4586
Verlag
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V.
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07
www.alfa-ev.de, Email: [email protected]
Herausgeber
Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminski (V.i.S.d.P.)
Kooperation
Ärzte für das Leben e.V. – Geschäftsstelle
z.H. Frau Dr. Bärbel Dirksen
Ludwig-Schüsselerstr. 29, 64678 Lindenfels
Tel.: 0 62 54 / 4 30, E-Mail: [email protected]
www.aerzte-fuer-das-leben.de
Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen
Stitzenburgstraße 7, 70182 Stuttgart
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Von Claudia Kaminski
N
schend die Andacht. Auch hier reagierte
die Polizei hervorragend und führte das
Paar innerhalb kürzester Zeit aus der
Kirche. Nur leicht gestört wurde daher
die Predigt von Peter Strauch, ehemaliger
Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und einstiger Präses des
Bundes Freier evangelischer Gemeinden.
Er machte deutlich: wer sich an Menschen
vergreife, vergreife sich dabei auch an
Gott. Gott liebe ausnahmslos jeden Men-
HERMANN BREDEHORST
och nie gab es im Vorfeld der
Der anschließende Schweigemarsch
1.000-Kreuze-Aktion so viele
durch die Innenstadt von Berlin war eine
Aufrufe im Internet gegen die
eindrucksvolle Demonstration für das
Lebensrechtler – und noch nie wurde der
Recht auf Leben. Rund 1.000 Teilnehmer
Schweigemarsch so massiv gestört wie in
gingen unbeirrt und ohne sich von den
diesem Jahr am 20. September in Berlin.
begleitenden Störern provozieren zu lasSchon während der Kundgebung auf dem
sen, ihren Weg zur St. Hedwigs-KathePlatz vor dem Roten Rathaus musste die
drale. Dabei zeigte sich, wie gut die Polizei
Polizei immer wieder – zum Teil sehr
tatsächlich abzuschirmen verstand: Leunordentlich gekleidete, schrille – Gegenbensrechtler, deren Kleidung ein wenig
demonstranten zurückdrängen und zum
zu sehr an »Autonome« erinnerten, durfSchweigen bringen. Immer
wieder wurde gejohlt, gebrüllt
und geschrieen »Hätt’ Maria
abgetrieben, wär’t Ihr uns erspart geblieben.« Die Abtreibungsbefürworter hatten zudem Transparente dabei
(»Deutschland braucht Abtreibung«) mit denen sie jedoch ebenfalls von den freundlichen aber bestimmten Polizisten auf Abstand zur Versammlung auf dem Platz gehalten wurden.
Die Veranstalter vom Bundesverband Lebensrecht betonten, dass die Tabuisierung
des Abtreibungsgeschehens in
Deutschland aufhören müsse.
Es sei ein Skandal, dass hunderttausende Kinder nicht leben dürften und hunderttausenden Frauen im Schwangerschaftskonflikt nicht geholfen werde. Grußworte zahl- Mehr als 1.000 Lebensrechtler zogen schweigend durch Berlin.
reicher Persönlichkeiten und
Politiker zeigten, dass die Demonstration
ten sich nicht unter die Demonstranten
sehr viele Unterstützer hat.
mischen.
Im Rahmen der Kundgebung begrüßte
Tatsächliche Gegendemonstranten
der Bundesverband Lebensrecht den Gehatten es da leichter: Ein lesbisches Pärsetzentwurf der CDU/CSU zur Verminchen hatte sich schon vor Beginn des
derung von Spätabtreibungen als wichtiGottesdienstes unauffällig Plätze in der
gen Schritt in die richtige Richtung,
ersten Reihe der Kathedrale gesichert.
machte aber auch deutlich, dass das UnWährend der Predigt sprangen beide
rechtsbewusstsein im Hinblick auf die
gleichzeitig auf, entblößten ihre mit umTötung ungeborener Kinder in der Gegekehrten Kreuzen bemalten Oberkörper
sellschaft weithin geschwunden sei.
und störten so erst rufend, dann knut-
Probedruck
schen. Dies gelte sowohl für Ungeborene
als auch für werdende Mütter und Väter.
Und weil diese 1.000-Kreuze-Aktion
in Berlin eine gute Gelegenheit ist, für das
Recht auf Leben einzutreten und es auch
sichtbar zu machen, hat der Bundesverband Lebensrecht beschlossen, schon
nächstes Jahr wieder eine Demonstration
in Berlin zu veranstalten. Am 19. September 2009 sind alle herzlich eingeladen mit
uns auf die Straße zu gehen.

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