Gesamt

Transcrição

Gesamt
www.care-management.emh.ch
CA R E
MANAGEMENT
4
1
September
Februar
2011
2008
Die Zeitschrift
für Managed
Care, Qualität
und
E-Health
Zeitschrift
für Integrierte
Versorgung,
Qualität
und
eHealth
Helsana-Modell
Interview
mit Ueli Grüninger
OliverRezepteschreiber
Vom
Reich kommentiert
zumdie
Partner
Ergebnisse der Online-Umfrage
von «Care Management»
Schwerpunkt «Mental Health und Integrierte Versorgung»
Ärztenetze
Depressionen
und mehr
Was stellen sich führende Gesundheitspolitiker darunter vor?
Schwerpunkt «Mental Health und Integrierte Versorgung»
Ärztenetze
Eine
Krankheit
in der französischsprachigen
kommt selten allein
Schweiz
Eine Übersicht über Managed Care in der Westschweiz
Schwerpunkt «Mental Health und Integrierte Versorgung»
Schwerpunkt
«Ärztenetze − eine Leistungsschau»
Gründung
Jeder
Tagvon
wird
Ärztenetzen
genau geplant
Von der Vision bis zur Realität
Vorschau auf das Symposium 2011
Vertikale Integration:
Symposium
2008 des Forums
Genug
Managed
der Care
Worte – Taten!
Ein philosophischer Rückblick von Ludwig Hasler
Ein Ausblick auf weitere notwendige Reformschritte
Die
englische
of Medicine»
Jenseits
von«Map
Managed
Care
2011
Der «Lonely Planet» für das Gesundheitswesen
Kleinstpraxen bei Detailhändlern und Apotheken: eine Lösung für die Schweiz?
Förderpreis
2008 desauch
Forums
Managed
Wo die Kunden
Patient
seinCare
können
Einblick in die Siegerprojekte
Offizielles
OrganOrgan
Offizielles
FORUM
MAN A G E D
CARE
Editores Medicorum Helveticorum
Unser Dank gilt allen, die tagtäglich bei der Rehabilitation und Wiedereingliederung
von Verunfallten Grossartiges leisten: den Ärzten, dem Pflegepersonal, den Arbeitgebern und den Verunfallten selber. Ihnen allen ist es zu verdanken, dass immer mehr
Menschen nach einem Unfall wieder in ihr gewohntes Leben zurückkehren können.
Mehr Infos über das New Case Management der Suva: www.suva.ch/ncm
BEIM WORT GENOMMEN
Interview mit Ueli Grüninger,
Geschäftsführer Kollegium für Hausarztmedizin und Projektleiter Gesundheitscoaching
Vom Rezepteschreiber zum Partner
Managed Care: Herr Grüninger, wie schätzen Sie den Stellenwert der Prävention in der schweizerischen Gesundheitspolitik ein?
Ueli Grüninger: Dadurch, dass jetzt ein Präventionsgesetz aufgegleist ist, hat das Thema deutlich an Bedeutung gewonnen. Das ist erfreulich. Viele befürworten
eine Stärkung der Prävention aus grundsätzlichen, gesundheitspolitischen Überlegungen, manche aber vor
allem unter dem Kostenaspekt. Das Letztere ist allerdings
ein wenig gefährlich.
Warum gefährlich?
Prävention ist nicht Teil des KVG. Entweder ist man
krank, dann bezahlt die Krankenversicherung die Heilungskosten, oder man ist gesund, dann geht es sie nichts
an. Die neueren Konzepte, die Gesundheit und Krankheit als Kontinuum betrachten und Empowerment
und Gesundheitskompetenz als Schlüsselfaktoren ins
Zentrum stellen, stossen auf ein veraltetes System, welches
ausschliesslich auf die Verwaltung von Krankheit ausgerichtet ist. Dazu kommt, dass Finanzierung und Erträge
von Präventionsmassnahmen an verschiedenen Orten
anfallen. Weil die Krankenkassen nicht für indirekte
Krankheitskosten wie Arbeits- und Lohnausfälle aufkommen müssen, haben sie auch wenig Anreiz, gesundes
Verhalten zu fördern.
Und was ist die Konsequenz daraus?
Alle lieben und loben die Prävention, aber wenn es darum
geht, sie zu finanzieren, ist niemand zuständig.
Wie und wo soll Prävention ausgebaut werden?
Zunächst müssen wir zu einer Gesamtbetrachtung kommen und nicht weiter unkoordiniert den Ausbau von
Interventionen nur in einzelnen Bereichen wie beispielsweise Tabak, Ernährung oder Stress fördern. Es braucht
einen neuen Ansatz: Gesundheit, umfassend verstanden,
sollte als Mittel zum Zweck gesehen werden, das es uns
ermöglicht, unser Leben produktiv und erfüllend zu
gestalten. Also gilt es, die persönlichen Ressourcen zu
stärken und die Menschen dabei zu unterstützen.
Wo sehen Sie die Rolle des medizinischen Fachpersonals in
der Prävention?
Es ist wichtig, systematisch Partnerschaften aufzubauen.
Keine Berufsgruppe hat ein Monopol, alle haben ihre
spezifischen Kompetenzen. Vielleicht braucht es dafür
eine Änderung der traditionellen Arbeitsteilung, wie sie in der kurativen
Medizin gilt: Der Arzt ist nicht
mehr in jedem Fall der Chef, der
Macher, der Verschreibende. Und:
Das Rollenverständnis ist zu erweitern, auch in der Partnerschaft
zwischen Ärztin und Patient. Der
Patient, die Patientin ist eigentlich
die wichtigste Person – in ihr steckt
ein Riesenpotential.
Ueli Grüninger
Sie denken also, dass noch mehr herauszuholen ist?
Auf jeden Fall. Aber Prävention verlangt per definitionem
Änderungen von allen, und das ist harte Arbeit. Und dann
muss man auch sehen, Prävention ist keine Wunderdroge.
Ich erinnere an das sogenannte Präventionsparadox:
«Viele müssen handeln, damit wenige profitieren.» Es
müssen also Hunderte mit Rauchen aufhören, damit
einige wenige nicht an Lungenkrebs erkranken. Das
macht es für den Einzelnen nicht leichter, seinen Lebensstil zu ändern.
Sie haben vor etwas über zwei Jahren das Projekt Gesundheitscoaching lanciert. Worum geht es bei diesem Projekt?
Persönlich machte ich schon als junger Arzt die Erfahrung, dass ich mit meinem medizinischen Wissen bald
an Grenzen stiess, wenn es darum ging, Patientinnen und
Patienten zu gesünderen Verhaltensweisen zu motivieren.
Meine Versuche, die Patienten zu einer Gewichtsabnahme
oder zum Rauchstopp zu «führen», endeten meist frustrierend. So entstand die Idee, ein Instrument zu entwickeln, mit dem die Kolleginnen und Kollegen in der
Praxis einfach und mit vertretbarem Aufwand etwas
machen können.
Mit welchen Methoden arbeiten Sie?
Methoden der ärztlichen Kurzintervention samt Evidenz
für deren Wirksamkeit gibt es bereits seit einiger Zeit
für einzelne Probleme wie Rauchen oder Alkohol. Es ging
darum, sie so weiterzuentwickeln und zu kombinieren,
dass sie für eine breitere Problempalette und auch in der
täglichen Sprechstunde eingesetzt werden können. Neben
der Methodik ist das Entscheidende aber die veränderte
Rollenverteilung zwischen Arzt und Patient: Der Arzt
wird zum Coach und Begleiter. Er unterstützt den
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
1
BEIM WORT GENOMMEN
Patienten darin, etwas zu machen, was dieser selbst
will. Es ist eine Partnerschaft, in einer erweiterten
Patient–Arzt-Beziehung.
Wie sieht das konkret aus?
Wir gehen in vier Schritten vor: Ansprechen, analysieren, abmachen und ausführen. In einer ersten Sitzung
fragen wir also die Patientin, ob sie Interesse hat,
selber etwas für sich und ihre Gesundheit zu machen.
Wir sagen nicht: «Sie haben ein Problem, Sie sollten ...»,
sondern die Patientin entscheidet selbst, ob sie etwas
verändern will, und was und wie. Sie füllt dazu als Erstes
einen Fragebogen aus mit einer Selbsteinschätzung
zu den sechs Bereichen Rauchen, Alkohol, Ernährung,
Gewicht, Bewegung und Stress. Bis zu einer zweiten
Konsultation überprüft die Patientin selber anhand
eines Fragebogens ihre Situation und ihr Gesundheitsverhalten, dann werden die Resultate dieser Selbsteinschätzung besprochen. Im dritten Schritt macht
die Patientin, unterstützt von ihrem Arzt, ihren persönlichen Plan aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen und
Ressourcen: Kleine, realistische Ziele ermöglichen Erfolgserlebnisse, die zum Weitermachen motivieren.
Der Arzt begleitet dann als Coach die Patientin durch
die Umsetzung.
Und machen die Patientinnen und Patienten mit?
Wir führen zurzeit einen 12-monatigen Pilottest in
20 Hausarztpraxen durch. Der bisherige Erfolg hat unsere
Erwartungen deutlich übertroffen: 90% der von ihrem
Hausarzt angesprochenen Patienten nehmen den Fragebogen mit nach Hause, 60–65% von ihnen füllen ihn
aus und kommen damit zur zweiten Konsultation. Auch
auf der dritten und vierten Stufe bleiben je rund zwei
Drittel dabei.
Wie steht es mit der Finanzierung?
Das ist natürlich der Knackpunkt. Für fast jeden der
sechs genannten Verhaltensbereiche ist auf nationaler
Ebene eine andere Stelle zuständig – Bundesämter, Tabakpräventionsfonds, Gesundheitsförderung Schweiz – eine
unmögliche Situation. Wir haben das Geld für den Pilot
auch mit Unterstützung vieler weiterer Partner trotzdem
zusammenbekommen. Wie es nach der Pilotphase weitergeht, ist noch nicht klar. Die Patientinnen und Patienten
machen gerne mit und auch drei Viertel der Ärzte, die
jetzt dabei sind, möchten weitermachen, das ist schon
einmal ein Highlight. Die Ergebnisse der laufenden Evaluation, die wir in diesem Jahr publizieren wollen, tragen
hoffentlich dazu bei, mögliche Geldgeber vom Nutzen der
Fortführung und Verbreitung des Gesundheitscoachings
zu überzeugen.
2
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Das Kollegium für Hausarztmedizin (KHM) ist eine Stiftung zur Förderung der Qualität der medizinischen
Grundversorger, getragen von den Fachgesellschaften
der Hausärzte, der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften und den medizinischen Fakultäten der Schweiz. Das KHM hat das Projekt «Gesundheitscoaching» zusammen mit Gesundheitsförderung
Schweiz entwickelt und erprobt es mit Unterstützung
von Bund, Kantonen, Stiftungen und Wirtschaft seit
Anfang 2010 in einem ausgedehnten Pilotprojekt im
Kanton St. Gallen. Das Programm integriert die Beratung
für die häufigsten Gesundheitsverhaltensweisen in ein
gemeinsames, modular aufgebautes Rahmenprogramm
für die Gesundheitsförderung und Prävention in der
ärztlichen Praxis. Die bereits bestehende Partnerschaft
zwischen Patient und Arzt wird genutzt – die Zusammenarbeit spielt sich sowohl in der Sprechstunde als auch im
Alltag des Patienten ab. Die Evaluationsergebnisse werden im Laufe von 2011 vorliegen. Mehr Informationen
finden sich unter www.gesundheitscoaching-khm.ch.
Die Hausarztpraxis mag ein guter Ort zu sein, um Präventionsbotschaften zu vermitteln, doch bleibt dann überhaupt
noch Zeit für die Behandlung der Kranken?
Hier stossen wir tatsächlich an Grenzen. Die traditionellen
Aufgaben der Hausarztpraxis haben natürlich trotz allem
Vorrang. Diese sind, ganz im Gegensatz zur Prävention,
auch tarifarisch abgesichert …
… Damit wären wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs.
So ist es. Aber Tarife sind nur eine Rahmenbedingung.
Neue Formen der integrierten Versorgung werden eine
Arbeitsaufteilung und damit die Machbarkeit in der Praxis fördern. Am wichtigsten aber ist die grundsätzliche
Umstellung auf ein umfassendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit, und auf eine neue Verteilung von
Rollen und Verantwortung zwischen Patient und Arzt.
Erhoffen Sie sich vom neuen Präventionsgesetz Unterstützung
für das Projekt Gesundheitscoaching?
Direkte Unterstützung ist daraus nicht zu erwarten. Es
besteht aber die Hoffnung, dass das Gesetz eine breitere
Sicht auf die Prävention eröffnet und damit Schub gibt
für dringend notwendige weitere Entwicklungen.
Interview: Anna Sax
Korrespondenz:
Dr. med. Ueli Grüninger, Kollegium für Hausarztmedizin KHM
Landhausweg 26, 3007 Bern
[email protected], www.gesundheitscoaching-khm.ch
I N H A LT S V E R Z E I C H N I S / I M P R E S S U M
Beim Wort genommen
Anna Sax
Ueli Grüninger
1 Vom Rezepteschreiber zum Partner
Der Geschäftsführer des Kollegium für Hausarztmedizin
und Projektleiter Gesundheitscoaching über den Stellenwert der Prävention im Schweizer Gesundheitswesen
18 «Vernetzung ist die beste Anti-Burn-out-Strategie
für Ärzte»
Joachim Leupold und Urs Keller – Ein Psychiater
und ein Hausarzt berichten über ihre Erfahrungen
im gemeinsamen Gesundheitsnetz
Anna Sax
Schwerpunkt «Mental Health
und Integrierte Versorgung»
Alfred Künzler, Hans Kurt
4 Geeignete Strukturen schaffen
Den Bedürfnissen psychisch Kranker ist
in der Integrierten Versorgung Rechnung zu tragen
21 Jeder Tag wird genau geplant
Im Gespräch mit einer Psychiatrie-Patientin
im ambulanten Versorgungsnetz
Silvia Schenker
23 Krankes Gesundheitswesen
Psychische Krankheiten und Integrierte Versorgung
aus Sicht einer Nationalrätin
Regula Ricka
5 Depressionen und mehr
Die epidemiologischen Daten zum psychischen
Gesundheitszustand in der Schweiz
Andreas Andreae, Gisela Heim, Klaus Raupp,
Agnes von Wyl
7 Case Management unter erschwerten
Bedingungen
Forum Managed Care
Symposium 2011
26 Vertikale Integration: Genug der Worte – Taten!
Vorschau auf das Symposium 2011
Da tut sich was
Heinz Locher
Erfahrung mit einem Versorgungsmodul
für Schwerkranke an der ambulant-stationären
Schnittstelle
28 Jenseits von Managed Care 2011
Judith Alder, Alfred Künzler, Regine Strittmatter
Spektrum
12 Eine Krankheit kommt selten allein
Bei körperlichen chronischen Erkrankungen darf
die Psyche nicht vergessen gehen
Patrick Haemmerle
15 Niederschwellig und mobil
Im Kanton Freiburg besucht das PsyMobile
Jugendliche mit psychischen Beschwerden zu Hause
Ein Ausblick auf weitere notwendige Reformschritte
nach der laufenden KVG-Revision
Urs Zanoni
32 Wo die Kunden auch Patient sein können
Kleinstpraxen bei Detailhändlern und Apotheken:
ein Weg gegen den Hausärztemangel in der Schweiz?
Aufgefallen
36 Neues Jahr, neues Redaktionsteam
IMPRESSUM
Zeitschrift für Integrierte Versorgung, Qualität
und eHealth
Offizielles Organ des Forums Managed Care
ISSN Printausgabe: 1662–5404
ISSN Online-Version: 1662–5412
Redaktion
Anna Sax, Matthias Scholer
Managing Editor
Matthias Scholer
Redaktioneller Beirat
Georges Ackermann, Philip Baumann,
Iren Bischofberger, Lorenz Borer, Martin Denz,
Dieter von Ehrenberg, Thomas Gierl,
Kurt E. Hersberger, Claudio Heusser, Patrick Holzer,
Bruno Kesseli, Mechtild Willi Studer, Urs Zanoni
Betreuung des Schwerpunktthemas dieser Nummer
Alfred Künzler, Hans Kurt
Redaktionsassistentin
Ruth Schindler (E-Mail: [email protected])
Redaktionsadresse
EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG
Farnsburgerstrasse 8
CH-4132 Muttenz
Tel. +41 (0)61 467 85 54
Fax +41 (0)61 467 85 56
E-Mail:
[email protected]
Marketing EMH
Thomas Gierl M.A.
Leiter Marketing und Kommunikation
EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG
Farnsburgerstrasse 8
CH-4132 Muttenz
Tel. +41 (0)61 467 85 49
Fax +41 (0)61 467 85 56
E-Mail: [email protected]
Inserate
EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG
Ariane Furrer
Assistentin Inserateregie
Farnsburgerstrasse 8
CH-4132 Muttenz
Tel. +41 (0)61 467 85 88
Fax +41 (0)61 467 85 56
E-Mail: [email protected]
Abonnemente
EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG
Abonnemente
Farnsburgerstrasse 8
CH-4132 Muttenz
Tel. +41 (0)61 467 85 75
Fax +41 (0)61 467 85 76
E-Mail: [email protected]
Jahresabonnement:
CHF 100.– exkl. Versand
© Copyright by EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, elektronische Wiedergabe
und Übersetzung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlags gestattet.
Das Copyright der angenommenen Beiträge geht für die Dauer
des gesetzlichen Urheberrechts auf den Verlag EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Basel, über. Der Verlag erhält damit das
Recht, den Beitrag im In- und Ausland sowie zeitlich unbeschränkt zu verwenden, zu bearbeiten (z.B. zu Abstracts), zu
übersetzen, zu vervielfältigen, zu übermitteln, weiterzuverwerten, zu veröffentlichen und zu vertreiben, in jeder Form und in
jedem Medium (auch im Internet), sowie dem Autor selbst,
Dritten als auch der Allgemeinheit die entsprechenden Nutzungsrechte auf Verwendung, Bearbeitung usw. einzuräumen.
Die Autoren stimmen der Übertragung des Copyrights zu.
Hinweis
Der Verlag übernimmt keine Garantie oder Haftung für Preisangaben oder Angaben zu Diagnose und Therapie, im speziellen
für Dosierungsanweisungen
Alfred Künzler und Hans Kurt zum Schwerpunktthema «Mental Health und Integrierte Versorgung»
Geeignete Strukturen schaffen
Den Bedürfnissen psychisch Kranker ist in der Integrierten Versorgung Rechnung zu tragen
Aus den Forschungsergebnissen des
Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums geht hervor, dass trotz
hoher Prävalenzraten nur ein kleiner
Teil der psychischen Erkrankungen
in der Schweiz tatsächlich erkannt
und wenn nötig von spezialisierten
Fachpersonen behandelt wird. Neben persönlichen Leidensgeschichten
birgt dieser Umstand auch die Gefahr
von erheblichen Kostenverschiebungen in den somatischen Bereich
des Medizinalsystems, aber auch in
andere Bereiche des Sozialsystems,
etwa in die IV. Dem ist beim Entwickeln künftiger Managed-CareModelle Rechnung zu tragen: Studien belegen, dass eine adäquate
Behandlung psychischer Erkrankungen sowohl die Zahl von Berentungen vermindert wie auch
wesentlich zur erfolgreichen Rehabilitation beiträgt.
Um die spezifischen Bedürfnisse psychisch kranker Menschen berücksichtigen zu können, braucht es
vor diesem Hintergrund auch im
Rahmen integrierter Versorgungsmodelle geeignete Strukturen für
die Früherkennung und Frühbe-
Alfred Künzler
Hans Kurt
handlung. Angesichts der nach wie vor hohen Stigmatisierung psychischer Erkrankungen muss der niederschwellige Zugang zu ausgewiesenen Fachpersonen – in diesem
Fall Psychiater und Psychologen – möglich bleiben. Dies
nicht zuletzt, damit neue strukturelle Rahmenbedingungen nicht einen wesentlichen Faktor jedes psychiatrischen
und psychotherapeutischen Behandlungserfolgs gefährden, nämlich die vertrauenswürdige therapeutische Beziehung. Es gilt sicherzustellen, dass nicht Kostenargumente
ausgerechnet im Bereich der volkswirtschaftlich relevanten psychischen Krankheiten zu – letztlich kontraproduktiven – Leistungsrationierungen führen.
Integrierte Versorgungsmodelle sollen die Behandlungsqualität garantieren und gleichzeitig die Kosten reduzieren. Gerade im Bereich komplexer Krankheitsbilder,
wie chronischen psychischen Störungen oder somatischen
Erkrankungen und deren psychischen Begleiterscheinungen und Folgen, zeigt sich die potentielle Widersprüchlichkeit dieser Anforderungen besonders deutlich.
Wird obigen Gedankengängen Rechnung getragen, stellt
die verstärkte Koordination und interdisziplinäre Vernetzung anerkannter Leistungserbringer – hier der Fachärzte
für Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Fachpsychologen für Psychotherapie – in integrativen Versorgungsmodellen aus unserer Sicht eine Chance dar.
Korrespondenz:
Dr. phil. hum. Alfred Künzler, Vorstand/Past-President FSP1
Mühlebergstrasse 104a, 3034 Murzelen
[email protected]
www.psychologie.ch
1
Föderation der Schweizer Psychologen, Dachverband der univer-
sitär ausgebildeten Psychologen und psychologischen Psychothera-
Dr. med. Hans Kurt, Präsident FMPP2/SGPP
peuten
Bielstrasse 109, 4500 Solothurn
2
Dachverband der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgesell-
schaften SGKJPP und SGPP
4
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
[email protected]
www.psychiatrie.ch
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Regula Ricka
Depressionen und mehr
Die epidemiologischen Daten zum psychischen Gesundheitszustand in der Schweiz
Psychische Störungen sind weitverbreitet und zählen
laut Weltgesundheitsorganisation zu den häufigsten
Krankheiten. Sie führen oft zu relevanten Beeinträchtigungen in Alltag und Beruf bis hin zu Invalidisierung
oder gar Suizid. Dennoch werden sie oft nicht erkannt,
heruntergespielt und in ihrer persönlichen, gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Bedeutung
unterschätzt. Wie es um den psychischen Gesundheitszustand in der Schweiz wirklich steht, geht aus
den neusten epidemiologischen Daten hervor.
Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium in Neuchâtel (Obsan) führt im Auftrag von Bund und Kantonen
regelmässig Analysen zur psychischen Gesundheit, Krankheiten und Behinderungen durch und berichtet über
die wichtigsten Fakten zur Situation und Entwicklung
der psychischen Gesundheit der Schweiz.
Etwa die Hälfte der Bevölkerung erkrankt ein- oder mehrmals im Verlaufe des Lebens an einer psychischen Krankheit (Lebenszeitprävalenz). Die meisten davon sind vorübergehend. Ein Drittel der Menschen mit psychischen
Problemen fühlt sich in der Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Personen mit chronischen psychischen Problemen sind im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung
doppelt so oft in ihrer Leistungsfähigkeit und dreimal so
oft in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt [1].
International und national übereinstimmende Studien
belegen, dass die Jahresprävelenz für eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung der erwachsenen Bevölkerung bei 25% liegt [1]. Depressionen zählen zu den
häufigsten psychischen Erkrankungen [2]. Suizid ist eine
tragische Folge. Es wird davon ausgegangen, dass in 90%
der Suizide eine Depression [3] vorlag.
In der Schweiz sterben jährlich rund 1300 Personen
durch Suizid. Im Jahr 2008 waren es 861 Männer und
452 Frauen. Tendenziell sind die Suizide bei den jüngeren
Männern abnehmend. Im Alter nehmen sie leicht zu.
Trotzdem ist die Suizidrate der Schweiz im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch [4], inklusive
organisierter Suizidhilfe. Weit häufiger sind Suizidversuche. Die Inzidenzrate für die Beobachtungsjahre 2004–
2009 beträgt für die Agglomeration Bern 106,8/100 000
Abb.1 Kostenentwicklung psychiatrische Versorgung (KVG).
700 000 000
600 000 000
CHF / Jahr
500 000 000
400 000 000
300 000 000
200 000 000
100 000 000
0
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
Kosten freipraktizierende Psychiater/innen
Kosten ambulante psychiatrische Kliniken
stationäre psychiatrische Kliniken
Quelle: Datenpool santésuisse / Auswertung Obsan 2000–2009
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
5
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Einwohner. Betroffen sind insbesondere Frauen zwischen
15 und 29 Jahren. Ein Suizidversuch gilt als Risikofaktor
für weitere suizidale Handlungen [5].
Versorgungsstrukturen und deren Inanspruchnahme
In den letzten Jahren haben sowohl die ärztlichen als auch
die psychotherapeutischen Leistungen zugenommen. Das
heisst nicht, dass der Anteil psychischer Krankheiten
gestiegen ist. Wahrscheinlich hat die Bereitschaft zur
Behandlung zugenommen.
In der Grundversorgung nehmen die Hausärztinnen
und Hausärzte eine wichtige Rolle in der Behandlung
von psychischen Krankheiten ein. Laut internationalen
Studien liegt die Prävalenzrate von Depressionen um
10% [3]. Im Vergleich dazu lag im Jahr 2008 die Anzahl
der gemeldeten depressionsbedingten Konsultationen
bei 1% aller gemeldeten Konsultationen in den Hausarztpraxen der Schweiz [2].
Die Zahl der niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiater hat in den letzten Jahren zugenommen. Mit 24 freipraktizierenden Fachärztinnen und Fachärzten pro 1000
Einwohner nimmt die Schweiz in Europa einen Spitzenplatz ein (6). Gemäss den Angaben der Berufsverbände
für die nichtärztliche Psychotherapie steigt die Zahl der
Psychologinnen und Psychologen mit einer Weiterbildung kontinuierlich an. Sturny [1] prognostiziert in
wenigen Jahren eine Verdoppelung der psychologischen
Psychotherapie gegenüber der fachärztlichen Psychiatrie.
In derselben Arbeit wird festgestellt, dass die Psychotherapiepraxen in der Schweiz sehr ungleich verteilt sind.
In den ländlichen Kantonen gibt es nur vereinzelte spezialisierte Praxen.
Die Schweiz verfügt mit 62 psychiatrischen Kliniken über
1,3 Betten pro 1000 Einwohner, die Hospitalisierungsrate
liegt bei 7,5/1000 Einwohner. Im internationalen Vergleich hat die Schweiz die Standards für eine balancierte
ambulante und stationäre Behandlung noch nicht erreicht
[6]. Nachfolgend werden die Kostenverhältnisse auf
der Grundlage der obligatorischen Krankenversicherung
für die psychiatrische Versorgung dargelegt (siehe Abb.1).
6
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Die Häufigkeit und die Art der Inanspruchnahme von
psychiatrischen und psychotherapeutischen Leistungen
werden nicht allein durch den Schweregrad einer Krankheit beeinflusst. Soziodemographische, systembezogene
(Verfügbarkeit der Angebote) wie auch regionale Faktoren
(Stadt/Land) beeinflussen die Inanspruchnahme von
Behandlung und Betreuung [7].
Literatur
1 Sturny I, Schaller S. Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie. In: Kocher G, Oggier W. Gesundheitswesen Schweiz
2010–2012. Bern; 2010. S. 321 ff.
2 Schuler D. Diagnose von Depressionen in Hausarztpraxen.
2010. www.bag.admin.ch/themen/medizin/00683/03923/
index. Eingesehen am 12. Januar 2011.
3 Begré S, Rička R. Erkennen, behandeln und verhüten
von Depressionen in der Grundversorgung. Schweiz. Ärztezeitung. 2010;91:8. S. 312–6.
4 Bundesamt für Statistik. Statistik der Todesursachen
von 2008. www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/
14/02/04/key/01.html. Eingesehen am 11. Januar 2011.
5 Reisch T. Bericht Monitoring suizidales Verhalten in der
Agglomeration Bern. 2010. www.bag.admin.ch/themen/
medizin/00683/03923/index. Eingesehen am 12. Januar 2011.
6 World Health Organization (2008). Policies and practices
for mental health in Europe – meeting the challenges.
www.euro.who.int/document/e91732.pdf. Eingesehen
am 12. Januar 2011.
7 Fasel T. Baer N, Frick U. (2010). Dynamik der Inanspruchnahme bei psychischen Problemen. Obsan Dossier 13,
Neuchâtel.
Korrespondenz:
Dr. Regula Ricka, MPH
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Eidgenössisches Departement des Innern EDI
Bundesamt für Gesundheit BAG
Direktionsbereich Gesundheitspolitik
Schwarzenburgstrasse 161, CH-3097 Liebefeld
[email protected]
www.bag.admin.ch
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Andreas Andreae 1 , Gisela Heim 2 , Klaus Raupp 3 , Agnes von Wyl 4
Case Management
unter erschwerten Bedingungen
Erfahrung mit einem Versorgungsmodul für Schwerkranke an der ambulant-stationären Schnittstelle
Der psychiatrische Wissensfortschritt und die gesundheitspolitische Strategie «ambulant vor stationär»
führen vermehrt dazu, dass psychisch kranke Menschen nicht mehr über längere Zeiträume hinweg
aus ihrem angestammten Leben herausgerissen
werden, sondern einen Grossteil ihres Genesungsoder Stabilisierungsprozesses ausserhalb der stationären Psychiatrie vollziehen. Dank einer professionalisierten Versorgungskoordination und intensivem
Case Management können heute selbst schwer Erkrankte mit komplexen Sozialproblemen davon profitieren. Die Integrierte Psychiatrie Winterthur (ipw)
hat während den letzten 10 Jahren damit Erfahrungen
gesammelt.
Zeitgemässe Versorgungs- und Behandlungsgrundsätze
wie Patientenorientierung, Gemeindenähe, Integration
und Spezialisierung haben die Psychiatrie zu einem ebenso
differenzierten und reichhaltigen wie verästelten und in
Spezialleistungen fragmentierten Angebotssystem ausAbb. 1 Leistungserbringer im Netzwerk auf sechs Versorgungsebenen.
Sozialhilfe
Selbsthilfe
Spitex
Psychiater
Hausarzt
Psychologe
Ambi
Tagesklinik
k
Spital
KIZ + Kinik
Spez. Klinik
Arbeitsintegr.
Werkstatt
Wohnheim
Zahlreiche Leistungserbringer – ein Produkt
1 ipw Dr. med. Ärztlicher Direktor
2 ipw lic. phil. Leiterin Soziales und Netzwerk
3 ipw Leiter Case Management
4 ZHAW Dr. phil. Dep. Psychol. Leiterin Forschungsschwerpunkt
Psychotherapie und psychische Gesundheit
gestaltet. Zwar kann die heutige Psychiatrie massgeschneidert auf Wünsche, Bedürfnisse und Probleme der Patienten und
Mitbetroffenen eingehen. Der gesamte
Behandlungsprozess hin zu einem sinnvollen Ganzen gerät aber leicht aus dem
Blickfeld. So bleiben Einzelleistungen oft
isoliert ohne die nötige passgenaue Begleit- oder Anschlusslösung. Und gerade
für schwierigste Fälle sind integrale Behandlungspfade durch Abgrenzungen
zwischen Gesundheits- und Sozialwesen,
Krankenversicherern, Kanton und Gemeinden versperrt. Um ihr Behandlungspotential auszuschöpfen, kommt die
heutige Psychiatrie um professionalisierte
Formen der Versorgungskoordination und
-steuerung nicht herum – auf Fallebene
genauso wie auf Systemebene.
Netzwerklösungen und Integrierte
Versorgung
Eine Organisationsform auf Systemebene,
die das Dilemma von Spezialisierung,
Fragmentierung und Integration zu lösen
vermag, ist das Netzwerk. Netzwerke sind
verbindliche Formen der Zusammenarbeit verschiedenster rechtlich selbständiger Leistungsanbieter zu gemeinsamen
Produktionsprozessen (Abb. 1). Dabei
liegt die Lösung von Koordination und
Steuerung in einem geschickten Spiel
zwischen festgelegten Standards, individuellen und situationsbezogenen Freiräumen
sowie definierten Verantwortlichkeiten,
die sich auf die Kernkompetenzen der
jeweiligen Berufsgruppe oder Organisationseinheit beziehen. Seit der Institutionsgründung 2001 ist die Hauptaufgabe
der Integrierten Psychiatrie Winterthur
ipw (seit 2010 inkl. Zürcher Unterland,
420 000 Regionsbewohner) die fortlaufende Entwicklung einer kooperativen patientenorientierten Netzwerkversorgung.
Andreas Andreae
Gisela Heim
Klaus Raupp
Agnes von Wyl
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
7
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Bedarf, Hilfestellungen, Interventionen und Schnittstellen werden gemeinsam von der Institution und den
freien ärztlichen, therapeutischen, pflegefachlichen und
sozialen Versorgungspartnern sowie den Betroffenen
beschrieben und zugunsten klarer Behandlungs- und
Rehabilitationswege optimiert. Immer wesentlicher wird
dabei der frühzeitige Einbezug aller Leistungsfinanzierer.
Die an Vorgaben der WHO und des Zürcher Psychiatriekonzepts von 1995/98 orientierten konzeptionellen
und strukturellen Leitlinien von ipw und Netzwerk sind
in dieser Zeitschrift dargestellt worden [1, 2].
Intensive Case Management bei Heavy Use
Auf Fallebene steht das Intensive Case Management
(ICM) paradigmatisch für neue Lösungen in heutigen
Versorgungssystemen, auch wenn es nur für eine kleine
Patientengruppe mit allerschwierigsten instabilen Krankheitsverläufen und Sozialproblemen konzipiert ist. ICM
setzt in der Kernzone schlechthin der Versorgungsaufgabe
an, entlang der ambulant-stationären Schnittstelle, wo es
komplexen kritischen Fallkarrieren mit Mehrfachproblematik und unkoordiniertem «Heavy Use» entgegenwirken will. Die ambulant-stationäre Schnittstelle bleibt
auch in einer gut vernetzten Psychiatrie der herausforderungsreichste Übergang; die Brüche auf Systemebene
sind am grössten (Abb. 2), die konkreten Austrittsrisiken
auf Fallebene treten nicht in der Klinik, sondern erst
zu Hause zutage [3]. ICM ist zugleich zeitintensive, aktiv
aufsuchende, tragende Beziehungsarbeit und langfristige
Abb. 2 Ambulant-stationäre Schnittstelle – Übergänge und Brüche.
Gesundheitswesen
Psychiatrische
Klinik
Finanzierung
Spezialisierte
Versorgung
Medizinische
Versorgung
Intramurale
Welt
Soziale
Integration
Sozialwesen
Grundversorgung
Lebenswelt
Zu Hause
8
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
beharrliche Fallkoordination und Netzwerkarbeit. Es
zielt auf gesundheitliche und soziale Stabilität. Sozialpsychiatrische Errungenschaften der Diagnostik und
Behandlung im und mit dem sozialen Umfeld verbinden
sich mit modernem Dienstleistungsverständnis und Organisationsmanagement. Eine hohe Mobilität ermöglicht
neben ambulant-stationärem Schnittstellenmanagement
den entscheidenden Miteinbezug der sozialen Lebenswelten eines Patienten. ICM ist aber nicht nur regional
zu einem Aushängeschild neuer Versorgungsmethodik
und -kultur in der Psychiatrie geworden. Die Methode
hat sich weltweit entwickelt, und positive Effekte auf
Hospitalisationsbedarf, Versorgungskooperation und
Sozialkompetenz sind in einer aktuellen Metaanalyse der
Cochrane-Gruppe bestätigt worden [4].
ICM wurde in der ipw 2001/02 als Teil des kantonalen
Anschubprojektes der ipw versuchsweise eingeführt. Projektleitend war der Fachbereich Sozialarbeit der ipw,
welcher internationale Methodenstandards von Intensive
Case Management auf Verhältnisse der Klinikorganisation
und Versorgungsregion adaptiert und mit zwei Sozialpädagogen eintrainiert hatte. Die Prozessmodule Engagement, Assessment, Planning, Intervention, Controlling
und Evaluation und Piloterfahrungen mit der Implementierung und Nutzung von ICM in einem Schlüssel
von maximal 15 Fällen auf einen Case Manager wurden
hier bereits früher beschrieben [1]. Von Anfang an war
ICM Teil eines Ganzen, d.h. eines von mehreren sukzessive entwickelten Versorgungsmodulen in der integrierten
Netzwerkkoordination und -steuerung. Seine Entwicklung und Erprobung vollzog sich im spezifischen Regionsversorgungskontext. Entsprechend relativiert sich seine
isolierte Betrachtung und Übertragung als Versorgungsmodul. Fallauswahl, Verfahrenstechniken und Fachpersonaleinsatz erfuhren Differenzierungen und Anpassungen
bedingt durch Fall- und Systemrückmeldungen, Begleitevaluation, Forschungsergebnisse und wandelnde Vorgaben zur Leistungsfinanzierung. Über inzwischen zehn
Jahre erfolgte eine schrittweise Evolution des Konzepts
in drei Generationen (Abb. 3).
Evaluation und Forschung
Die erste Generation ICM1 wurde von der ipw retrospektiv evaluiert [5]. Für die ersten 50 Fälle 2002–2004
konnten 21 statistische Paarlinge unter allen ipw-Patienten gefunden und im Vergleich ein starker und signifikanter Rückgang von Hospitalisationstagen und Symptomen festgestellt werden. Die kantonale Gesundheitsdirektion beauftragte daraufhin die ipw, ICM unter Auflage
eines anzustrebenden Effizienzgewinns für die Akutversorgung über die nächsten Jahre umfassend zu implemen-
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Abb. 3 Evolution der Konzeptentwicklung von ICM ipw.
1. Generation
2001/02–2006:
2 Case Manager, finanziert aus Klinikbudget nach Stationsabbau.
Intensive Case
Management 1
Pilotprojekt
2. Generation
Intensive Case
Management 2
Studie I
(RCT 07–13)
Qualitative
Analyse
3. Generation
Intensive Case
Management 3
Studie II
(naturalistisch)
2007–2009/10:
5 Case Manager, mitfinanziert von Poliklinikpauschalen + TARMED. Auftrag der Gesundheitsdirektion
zur umfassenden Einführung unter Auflage von Effizienzsteigerung in der Akutversorgung.
2009/10:
Überprüfung und Optimierung von Methodik und Patientenauswahl:
– Verbesserung des Assessment-, Zielsetzungs- und Commitmentprozesses
– Rekrutierung im Versorgungsnetz und in der Institution
– Konsequente zeitliche Limitierung der Intervention
Ab 2011: 7 Case Manager, Ausbau vorgesehen (Regionsverdoppelung)
Wirksamkeitsnachweis der optimierten CM-Methodik. Naturalistisches Studiendesign. Praxisbezogene
Patientenauswahl. Eigenständige Servicestelle mit Team- und Fachkonzept als Querschnittfunktion
für Institution und Netzwerk (keine Einbettung in Ambulatorien oder sozialpsych. Zentren).
3-monatige Vorabklärungsphase für Motivation und Zielentwicklung. Maximale Dauer ICM
27 Monate. Klärung einer Fallpauschale mit Kostenträgern.
tieren. In rollender konzeptioneller Überarbeitung wurde
die zweite Generation ICM2 von der kasuistisch-versorgungspraktischen weg auf eine hospitalisationsstatistische
Indikationsebene ausgerichtet. Damit wurde dem HeavyUse-Ansatz sowie forschungsmethodischen und ökonomischen Erwartungen an einen Wirksamkeitsnachweis
durch Pflegetageinsparungen entsprochen. 12% der
hospitalisierten Patienten (Heavy User) konsumieren
50% des akutstationären Aufwandes, in der Versorgungsregion Winterthur (200 000 Einwohner) damals rund
50–100 neue Fälle pro Jahr mit unterschiedlichen
Hauptdiagnosen. Rekrutierungsraum waren nurmehr die
Akutstationen.
Seit Herbst 2007 wurde für ICM2 ein Randomized
Controlled Trial (RCT) durch die Zürcher Hochschule
für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Departement
Angewandte Psychologie, auf der Basis internationaler
Heavy Use Kriterien durchgeführt [6, 7]. 2007–2010
wurden alle 18- bis 63-jährigen Heavy User angefragt
und nach einem Eingangsassessment über Blockrandomisierung einem ICM von 18 bis 36 Monaten Dauer resp.
Standardbehandlung zugeordnet. Je 27 Fälle konnten in
die Interventions- oder Kontrollgruppe aufgenommen
werden. Interviews und Tests erfolgen bei Beginn, in
Jahresabständen, bei Abschluss und sechs Monate danach.
Abschlüsse erfolgen 2010–13.
Von Studienbeginn weg zeigten sich Probleme mit dem
Indikations-, Rekrutierungs- und Forschungskonzept
von ICM2 und eine erhebliche Drop-out-Rate. Die rein
hospitalisationsstatistische Rekrutierung erfasste viele
Fälle, deren Heavy Use bereits koordiniert war. Manche
eingeschlossenen Fälle zeigten weder eine schwierige Problematik entlang der ambulant-stationären Schnittstelle
noch im Sozialen generell und waren oftmals schon
ausreichend im Netzwerk eingebunden. So waren immer
wieder potentielle resp. Studienprobanden nicht oder
nur anfänglich bereit, ICM überhaupt anzunehmen.
Umgekehrt konnten die Case Manager in manche Fällen
nur wenig einbringen. Die Kooperation stand auf schwachen Füssen, und einige Fälle waren bald nicht mehr
erreichbar.
Qualitative Analyse
Mit einem qualitativen Ansatz wurde im Zürcher Impulsprogramm zur nachhaltigen Entwicklung der Psychiatrie
(ZInEP) den Fragen nachgegangen, welche Patienten von
ICM profitieren können und worauf Case Manager
besonders zu achten haben [8]. Die Patientendokumentationen zeigten hohe Heterogenität der Kontakthäufigkeit,
-frequenz und Zeitdosis im ICM je nach Fall. Interviews
ergaben unterschiedliche Zielsetzungen der Beteiligten.
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
9
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Case Manager und Netzakteure sahen Selbständigkeit,
Arbeitsintegration, soziale Integration und Netzanbindung als Ziele von ICM und schätzten die Bedeutung
von Helferkonferenzen und Standortgesprächen hoch
ein. Patienten schätzten Krisen- bzw. Beratungsgespräche
und Unterstützung bei Hygiene, Haushalt, Einkauf und
Terminen und hatten zu Beginn gegenüber ICM oft keine
klaren Erwartungen. Es hat sich auch gezeigt, dass es
sowohl den Klienten wie auch den Case Managern
Schwierigkeiten bereitet, den optimale Zeitpunkt für den
Abschluss des ICM zu finden. Da mit der Methode sehr
viel Zeit in den Beziehungsaufbau zu schwer psychisch
kranken Menschen investiert wird, die per definitionem
Probleme haben, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen, ist es besonders anspruchsvoll, einen guten Ablösungsprozess einzuleiten, ohne Krisen und Suizidalität
heraufzubeschwören.
Dritte Konzeptgeneration
Aus der qualitativen Studie und neuer Literatur zum
Thema hat man gelernt und das ICM ipw noch weiterentwickelt. Einerseits wurde zu Beginn eine dreimonatige
Kontakt- und Klärungsphase eingeführt, die zeigen soll,
inwieweit eine verbindliche Zusammenarbeit mit dem
jeweiligen Klienten möglich ist. Motivationsarbeit und
Intensive Case Management – ein Fallbeispiel
• 52-j. Patientin, emotional instabile Persönlichkeitsstörung, rezidivierende klinikbedürftige depressive und
suizidale Krisen.
• Vor Jahren geschieden, partnerlos geblieben, selbstständig erwachsene Kinder distanziert.
• Anmeldung von praktizierendem Psychiater/Psychotherapeuten wegen Häufung von Sozialproblemen und gesundheitlichen Krisen bei schwindender Behandlungscompliance, Kernauftrag Psychotherapie kaum mehr
durchführbar.
• In letzten 30 Monaten 6 Hospitalisationen, Zunahme
Frequenz, Dauer, FFE.
• Invalidisiert, stark isoliert, Panikentwicklung, Chaos in
Alltagsbewältigung.
• Case Manager (CM): langer vorsichtiger Kontakt-, Vertrauens- und Beziehungsaufbau, dann erstmals zu
Hause, Einblick in verwahrlostes Wohn- und Organisationschaos und leidvolle Vereinsamung.
• Erstassessment, gemeinsames Erarbeiten von Zielen,
Prioritäten und Verbindlichkeiten: Überblick, Ordnung,
Sozialkontakte, Aktivierung Helfernetz mit Schweigepflichtsentbindungen.
10
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Beziehungsaufbau stehen während dieser Zeit im Vordergrund. Andererseits soll die neu eingeführte Beschränkung des ICM auf 2,25 Jahre dahin führen, dass der
Ablösungsprozess bereits zu Anfang vorgespurt wird, indem sich die Zielvereinbarungen auf diesen Zeitraum
ausrichten. Die ZHAW (ICM3-Studie) wird die Effektivität, was Aufwand und Nutzen betrifft, weiterhin
wissenschaftlich begleiten. Sie ist nach den Erfahrungen
der CM2-Studie nicht mehr als RCT-, sondern als naturalistische Studie konzipiert mit Fallmatching aus den
ipw-Daten. Der Fokus bei den Einschlusskriterien liegt
nicht mehr hauptsächlich auf einer bisherigen Hospitalisationskarriere, sondern auf der gesundheitlichen und
sozialen Belastung sowie fehlender Koordination im
Netz. Zusätzlich werden Daten zur Arbeitsbeziehung Case
Manager– Patient/-in erhoben, um die relevanten Wirkfaktoren von ICM zu erhalten.
Das aktuelle Modell der dritten Generation ICM3 steht
seit kurzem in Erprobung. Es wird sich im neuen Versorgungsauftrag der ipw zudem zeigen müssen, wie gut sich
ICM in einem neuen Versorgungsgebiet mit anderer Bevölkerungsstruktur übertragen lässt. Das aktuelle Modell
findet auch das Interesse grosser Krankenversicherer,
welche zurzeit mit der ipw resp. der kantonalen Gesundheitsdirektion Zusammenarbeitsmöglichkeiten und pauschalierte Tarife verhandeln.
• Entwicklung und Finanzierungsklärungen nötiger medizinischer, sozialer und haushaltstechnischer Einzelleistungen.
• Nach 1 Jahr CM Beziehungspflege und Koordinations/Sozialregie: mehr Alltagsordnung, Wohnlichkeit und
Sozialkontakte, Wohlbefinden deutlich zunehmend, z.T.
Haushalthilfe, zusehends eigeninitiativ, Kontaktfestigung zu den zuvor überforderten Kindern (Familienarbeit).
• Zwischenzeitliche Krisen, Medikamentenkarenz, Kurzhospitalisation, ICM bleibt stets eingebunden, Zielführung, Helferkoordination, Systemkommunikation,
Beziehungskontinuität.
• Erarbeitung einer Behandlungsvereinbarung für künftige Krisen (2 planbare Kurzinterventionen im späteren
Verlauf ohne FFE).
• Vierteljährliche Helferkonferenzen zur Leistungsabstimmung und Zielüberprüfung. Nach über 2 Jahren Verdünnung und Beendigung des ICM nach Integration in eine
50% geschützte Tätigkeit, Festigung der Psychotherapie, Anschluss an Recovery-Gruppe, Installation einer
wöchentlichen Haushalthilfe und Fortführung einer jährlichen Helferkonferenz durch den Sohn.
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Blick in die Zukunft
Die Methode ICM in der ipw hat sich über 10 Jahre hinweg kontinuierlich differenziert und verbessert. Bisher
richtete sich seine Weiterentwicklung in erster Linie nach
den Bedürfnissen der Patienten und Behandlungspartner
aus. Je länger, je mehr stellt sich die Methode aber auch
den Legitimationsanforderungen der Kostenträger. Forschungsergebnisse müssen überzeugend belegen, dass
der Platz für ICM in der heutigen Psychiatrieversorgung
auch unter dem finanziellen Aspekt gerechtfertigt ist.
Auch wenn die Praktiker vom Wert eines ICM tagtäglich
von neuem überzeugt werden, genügen diese Argumente
nicht mehr. Einen kosteneffizienten Mehrwert für ICM
separat auszuweisen, erweist sich in der Praxisforschung
als schwierig. Leichter wären Gesamtsystemeffekte zu
bemessen. Z.B. gelingt es der ipw, mit einer Bettenziffer
von vergleichsweise niedrigen 0,5 pro Tausend Einwohnern, ihre Versorgungsaufgabe in anerkannter Qualität zu
bewältigen. Die finanzielle Zukunft von ICM – obschon
oft gelobt und zitiert – ist vorläufig noch nicht gesichert.
une hospitalisation psychiatrique. Schweizer Archiv für
Neurologie und Psychiatrie 160(6):246–52, 2009.
4 Dieterich M, Irving CB, Park B, Marshall M. Intensive
case management for severe mental illness. Cochrane Database of Systematic Reviews, 2010, Issue 10.
5 Andreae A, Schröder S, Schuetz C. Intensive Case
Management im Modellprojekt Integrierte Psychiatrie
Winterthur (Zürich/Schweiz): Evaluation eines 3-jährigen
Pilotversuches. Posterbeitrag am Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde DGPPN, 2005.
6 Junghan UM, Brenner HD. Heavy use of acute in-patient
psychiatric services: the challenge to translate a utilization
pattern into service provision. Acta Psychiat Scand, 2006,
113 (Suppl. 429):24–32.
7 Roick C, Gärtner A, Heider D, Angermeyer MC.
Heavy user psychiatrischer Versorgungsdienste. Psychiatr.
Prax., 2002, 29:334–342.
8 Meier P, Chew Howard E, Andreae A, von Wyl A.
Psychiatrisches Case Management in der Integrierten
Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland: Eine qualitative
Literatur
Analyse. Zürich: Unveröffentlichtes Manuskript ZHAW, 2010.
1 Andreae A, Schröder S. Patientenorientierung in der
Integrierten Psychiatrie Winterthur. Managed Care 2004,
7:18–20.
Korrespondenz:
2 Andreae A. Integrierte psychiatrische Versorgung:
Dr. med. Andreas Andreae, Ärztlicher Direktor
von der Stammklinik zur Netzwerkklinik. Managed Care
Integrierte Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland
2006, 4:18–20.
Wieshofstrasse 102, 8404 Winterthur
3 Bonsack Ch et al. Le case managment de transition:
[email protected]
une intervention à court terme dans la communauté après
www.ipw.zh.ch
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
11
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Judith Alder 1 , Alfred Künzler 2 , Regine Strittmatter 3
Eine Krankheit kommt selten allein
Bei körperlichen chronischen Erkrankungen darf die Psyche nicht vergessen gehen
Die Integrierte Versorgung bietet künftig die Möglichkeit, die psychische Ebene in die Behandlung chronischer, körperlicher Leiden besser einzubinden. Denn
dank einer umfassenden Behandlungseinheit kann
die Schwelle für eine psychologische Mitbehandlung
gesenkt und die Stigmatisierung psychischer Probleme
entschärft werden. Grundvoraussetzung dafür ist jedoch ein entsprechendes psychologisches Basiswissen
bei den Grundversorgern.
Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung ist in regelmässiger
medizinischer Betreuung wegen einer chronischen Krankheit [1]. Gemeint sind lange andauernde und oft progredient verlaufende Krankheiten wie Herz-Kreislauf-,
Lungen- und rheumatische Erkrankungen, chronische
Schmerzen, Krebs oder Allergien. Chronische Krankheiten gehen in der Regel mit einer Einschränkung
der bio-psycho-sozialen Funktionsfähigkeit einher und
erzeugen vielfältige psychosoziale Belastungen. Neben
Krankheitssymptomen und Behandlungsnebenwirkungen können sich existentielle und spirituelle Fragen aufdrängen sowie familiäre, soziale, finanzielle, berufliche
und psychische Probleme entwickeln. Krankheitsverarbeitung bzw. Coping bezeichnet das Bemühen des Patienten, diese Belastungen innerpsychisch (durch Emotionsregulation) und durch zielgerichtete Verhaltensanpassung
zu reduzieren und zu verarbeiten.
Die komplexen Behandlungen chronischer Krankheiten
machen einen Grossteil unserer Gesundheitskosten aus
[2]. Dabei sind in der Regel eine Reihe von Behandelnden
involviert, zum Teil indikationsgesteuert aufgrund der
Komplexität der Problematik (Multimorbidität), zum Teil
patientengesteuert. In beiden Fällen lässt sich durch verstärkte Koordination der involvierten Behandelnden eine
Kosten- ebenso wie Qualitätsoptimierung der Behandlung vermuten, insbesondere wenn die psychische Ebene
miteinbezogen wird.
Psychologische Faktoren
Bei chronischen körperlichen Krankheiten spielen psychologische Faktoren bei der Entstehung und im Verlauf sowie bei der Verarbeitung der Krankheit eine
wichtige Rolle.
Neben der steigenden Lebenserwartung sind es insbesondere Lebensstilfaktoren und ungünstiges Gesundheitsverhalten, welche die Zunahme von chronisch körperlichen
12
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Krankheiten erklären. In Ländern mit
hohem Einkommen wie der Schweiz
sind es Rauchen, Übergewicht und
Adipositas, Bewegungsmangel, hoher
Blutglukoseanteil, hohes Cholesterol
und ungünstige Ernährung, welche
das Risiko erhöhen, eine chronische
körperliche Krankheit zu entwickeln
oder daran zu sterben [3].
Daneben wurde das Vorliegen von
psychischen Störungen, insbesondere
depressiver Erkrankungen, verschiedentlich als Risikofaktor für die
Entwicklung bestimmter chronisch
körperlicher Erkrankungen identifiziert [4, 5]. Dieser Zusammenhang
ist einerseits den oben beschriebenen
ungünstigeren Lebensstilfaktoren zuzuschreiben, die bei Menschen mit
psychischen Belastungen u.a. auch
im Rahmen eines dysfunktionalen
Copings gehäuft auftreten. Andererseits sind psychische Störungen mit
neurophysiologischen und insbesondere immunologischen Veränderungen assoziiert, die die körperliche
Gesundheit beeinträchtigen können
[6].
Chronische Krankheiten gehen mit
einer hohen psychischen Komorbidität einher, was als wichtiges Kriterium einer maladaptiven Krankheitsverarbeitung gilt [7]. So liegt die
Prävalenz von psychischen Störungen
bei Krebserkrankten im Initialstadium bei 31,7% bzw. ca. 50% im
palliativen Stadium [8, 9], 20–40%
der Patienten entwickeln nach einem
Herzinfarkt [7], 30% im Rahmen
einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung eine depressive Störung
[10]. Das Risiko, eine Depression
oder Angststörung zu entwickeln, ist
Judith Alder
Alfred Künzler
Regine Strittmatter
1
Leitende Psychologin Universitätsfrauenklinik Basel
2
Onko-Psychologe Psychiatrische Dienste Aargau / Kantonsspital Aarau
3
Stv. Geschäftsleiterin Rheumaliga Schweiz
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
bei Personen mit chronischen Schmerzen zweimal so hoch
wie bei Personen ohne chronische Schmerzen [11].
Pychische Störungen können sich reaktiv auf die mit der
körperlichen Krankheit assoziierten Belastungen entwickeln, bzgl. Symptomatik und Ausprägung aber das Bild
einer Anpassungsstörung (ICD-10 F43) überschreiten.
Daneben können medizinische Behandlungen direkt
psychische Nebenwirkungen haben: so werden beispielsweise depressive Symptome und Chronic Fatigue mit
Chemotherapie-induzierten immunologischen Veränderungen in Verbindung gebracht [12].
Psychische Störungen wirken sich aber auch negativ auf
die Prognose von chronischen Krankheiten aus. Das Vorliegen einer psychischer Störung kann mit einer erhöhten
Mortalität [4, 5], eingeschränkter gesundheitsbezogener
Lebensqualität und einer weiteren Chronifizierung der
körperlichen Erkrankung assoziiert sein [13]. Dies lässt
sich auf Compliance-Probleme, ein ungünstigeres Gesundheitsverhalten von psychisch belasteten Personen
(u.a. im Sinne eines dysfunktionalen Copings) und den
direkten pathophysiologischen Einfluss der psychischen
Störung zurückführen.
Die dargestellten Befunde legen nahe, dass das Ergebnis
der medizinischen Behandlung nicht nur von der somatischen Therapie abhängt, sondern auch von der Berücksichtigung der oben genannten psychologischen Faktoren.
Dementsprechend, und auf der Basis unseres biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, muss in jeder Versorgungssituation gewährleistet werden, dass psychische
Störungen und psychosoziale Belastungen mit diagnostiziert werden. Da die Detektionsrate psychischer Störungen von somatisch-medizinischen Fachpersonen niedrig
ist, müssen Gatekeeper psychodiagnostisch ausgebildet
oder psychiatrisch-psychologische Fachpersonen sein
[14]. Andererseits sollte das Gatekeeping so gestaltet
sein, dass es der immer noch verbreiteten Stigmatisierung
psychischer Probleme auch bei körperlichen Krankheiten
Rechnung trägt.
Psychologische Mitbehandlung
Die biopsychosoziale Sichtweise der Internationalen
Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung
und Gesundheit (ICF) der WHO [15] basiert auf
einem dreidimensionalen Begriff der Funktionsfähigkeit. Neben der körperlichen Funktionsfähigkeit umfasst
er die Aktivität und die Partizipation des Betroffenen.
Nicht zuletzt aus dieser Definition leitet sich der Anspruch
eines ganzheitlichen, interdisziplinären Behandlungsangebotes ab.
Bei chronisch körperlichen Erkrankungen stehen im
Fokus der Behandlung und Begleitung:
• Symptom- und Komplikationenmanagement;
• Anpassung an bleibende oder zunehmende Einschränkungen;
• möglichst weitgehende Erhaltung bzw. Wiederherstellung der biopsychosozialen Funktionsfähigkeit.
Für Patienten, deren Angehörige und das Versorgungssystem stellen sich demzufolge neben der medizinischen
Behandlung weitere Aufgaben. Diese umfassen im psychosozialen Bereich [16, 17]:
• Erlernen von Copingstrategien,
• Förderung des Gesundheitsverhalten,
• Aufrechterhaltung des emotionalen Gleichgewichts,
• Erhalt des Selbstwertes,
• Erlernen sozialer Kompetenzen,
• Umgang mit eingeschränkter körperlicher Leistungsfähigkeit und einer krankheitsbedingt unsicheren
Zukunft,
• Reintegration in Arbeit, Familie und Gesellschaft u.a.m.
Die Auswirkungen einer chronischen Erkrankung hängen
weitgehend vom Gesundheitsverhalten bzw. der Selbstmanagementkompetenz des Patienten ab [18, 19]. Psychologisches Know-how hat hier also potentiell grosse
Wirkung. Für ein erfolgreiches Selbstmanagement brauchen Patienten nicht nur angemessenes Wissen über die
Krankheit und deren Behandlung. Sie müssen darüber
hinaus Strategien entwickeln, um das Leben mit ihrer
Erkrankung auf körperlicher, emotionaler und sozialer
Ebene zu bewältigen. Psychologische Interventionen
umfassen hier Beratung (z.B. in Bezug auf berufliche Neuorientierung, familiäre Probleme etc.), Psychoedukation
(z.B. über den Einfluss psychosozialer Faktoren auf die
Entstehung von chronischem Schmerz), Entspannungstraining, Verhaltenstraining (z.B. Stressbewältigung),
emotionaler Support, Krisenintervention (z.B. bei Suizidgefahr) [20]. Die hohe Komorbidität chronischer körperlicher Erkrankungen mit psychischen Störungen macht
zudem häufig psychotherapeutische Interventionen erforderlich [21].
Die Wirksamkeit psychologischer Interventionen gilt für
viele chronische körperliche Krankheiten als nachgewiesen. So verbessert die Teilnahme an psychoedukativen
Angeboten die glykämische Kontrolle bei Patienten mit
Diabetes [22, 23], während Interventionen für Herzpatienten sowohl physiologische Parameter, das Herzinfarktrisiko und die Mortalität als auch die psychische
Adaptation verbessern [24]. Ebenso ist die Wirksamkeit
psychologischer Interventionen für die Verbesserung des
körperlichen und psychischen Funktionsniveaus u.a. bei
chronischen Schmerzpatienten [25] und Krebskranken
[26] nachgewiesen. Befunde aus der Verhaltensmedizin
weisen auf den günstigen psychoneuroimmunologischen
Einfluss psychologischer Interventionen hin [27].
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
13
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Auf dem dargestellten Hintergrund psychologischer
Faktoren und Interventionen muss für eine kosten- sowie
qualitätsoptimierte Behandlung körperlich chronisch
Kranker sichergestellt sein, dass die psychische Behandlungsebene integriert ist.
Schlussfolgerungen
Chronisch körperliche Krankheiten sind häufig und
machen einen Grossteil aller ärztlichen Konsultationen
sowie unserer Gesundheitskosten aus. Sie weisen in Entstehung und Verlauf wesentliche psychologische Faktoren
und hohe psychische Komorbiditäten auf. Demnach
drängt sich psychologische Mitbehandlung hinsichtlich
Qualitäts- und Kostenoptimierung auf. Psychotherapie
und andere psychologische Interventionen stehen zur
Verfügung. Ihre Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und
Wirtschaftlichkeit ist nachgewiesen [28, 29].
Hinsichtlich der Integration der psychischen Ebene in
die Behandlung chronisch körperlicher Kranker stellt die
Integrierte Versorgung eine Chance dar. Im Rahmen einer
integrierten Behandlungseinheit ist für Patienten die
Schwelle zur sinnvollen psychologischen Mitbehandlung
möglicherweise einfacher zu überschreiten [30]. Die nach
wie vor bestehende Stigmatisierung psychischer Probleme
14
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
kann so allenfalls entschärft werden. Auch das in einer
schweizweiten Untersuchung gefundene Informationsdefizit über vorhandene psychosoziale Unterstützungsmöglichkeiten (in diesem Falle bei Krebs) kann einfacher
behoben werden, wenn die Behandlungspfade klarer
definiert sind [31]. Voraussetzung für beide möglichen
Vorteile eines Integrierten Versorgungssystems ist, dass
bei den Gatekeepern psychologisches diagnostisches und
therapeutisches Basiswissen vorhanden ist.
Literatur
Das ausführliche Literaturverzeichnis finden Sie in der
aktuellen Online-Version des Artikels unter:
www.care-management.emh.ch
Korrespondenz:
Dr. phil. Regine Strittmatter
Initiativgruppe chronischkrank.ch
c/o Rheumaliga Schweiz
Josefstr. 92
8005 Zürich
[email protected]
www.chronischkrank.ch
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Patrick Haemmerle
Niederschwellig und mobil
Im Kanton Freiburg besucht das PsyMobile Jugendliche mit psychischen Beschwerden zu Hause
Die Zugangsschwelle senken, näher bei den jungen
Patienten und ihren Familien sein, eine vielfältige
Interventionspalette anbieten und die Behandlungskontinuität wahren: Dies sind Leitlinien mobiler Interventionsmodelle einer zeitgemässen, sozialpsychiatrisch konzipierten Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Seit zwei Jahren ist im Kanton Freiburg deshalb das
PsyMobile auf Achse.
In der Sozialpsychiatrie für Erwachsene und Minderjährige beschäftigt
die Fachleute seit Jahren die schwierige Frage: Wie können Personen
erreicht bzw. behandelt werden, die
eine Betreuung benötigen und eine
solche beanspruchen könnten, ihre
Bedürfnisse aber nicht genügend
oder gar nicht kundtun? Solche
Personen oder Familien, die im angelsächsischen Sprachraum als hard
to reach, also als «schwer erreichbar»,
bezeichnet werden, weisen in
Patrick Haemmerle
ihrer psychosozialen Gesundheit
und Funktionsweise bedeutende Probleme auf. Oft sind sie sich dessen jedoch nicht bewusst
und/oder unternehmen keine eigenen Schritte, um Hilfe
zu erhalten.
Vor diesem Hintergrund wurden bereits vor einigen
Jahren mobile Interventionsmodelle entwickelt. Sie sind
Ausdruck einer sozialpsychiatrisch konzipierten, gemeindenahen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Denn in der
Regel sind sie weniger schwer und weniger stigmatisierend als eine Hospitalisierung. Zudem ermöglichen
mobile Interventionen – sei es aufgrund ihrer Funktionsweise selbst oder durch die Vermeidung kostspieliger
Hospitalisierungen – Kosteneinsparungen.
In der Schweiz werden deshalb teilstationäre Interventionen, die intermediär, also zwischen ambulanter und
stationärer Versorgung angesiedelt sind, gefördert und
angewendet. Dies stipuliert namentlich auch der Leitfaden zur Psychiatrieplanung, der im November 2006 von
der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) entworfen
wurde. Die Verantwortlichen der öffentlichen Gesundheit
(Public Mental Health) in der Schweiz anerkennen damit,
dass die Anstrengungen auf dem Gebiet der psychischen
Gesundheit unbedingt ausgebaut werden müssen. Die
Verstärkung der intermediären Versorgung soll ergänzend
zur Schaffung und Entwicklung von Tages- und Nachtkliniken primär durch die Realisierung mobiler Angebote
erfolgen. Aus diesem Grund werden entsprechende Pilotprojekte auch von der GDK empfohlen und gefördert.
Massgeschneidertes Modell
Die Ärztliche Direktion des Bereichs für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist seit mehreren
Jahren in der Entwicklung eines mobilen Angebots
engagiert. Mit der Schaffung des Freiburger Netzwerkes
Psychische Gesundheit (FNPG) Anfang 2008 und der
Zusammenlegung des kinder- und jugendpsychiatrischen
Dienstes mit der jugendpsychiatrischen Station unter
dieselbe ärztliche Direktion wurde der Kreis der Fachleute, die für ein mobiles Angebot zur Verfügung stehen,
spürbar erweitert. Damit wurde erst die Grundvoraussetzung für die Realisierung des Projektes «PsyMobile»
im Frühjahr 2009 geschaffen.
In der Planungsphase wurden verschiedene Modelle studiert, die in der Schweiz und im Ausland bereits eingesetzt
werden. Dabei ergab sich auch die Gelegenheit, einige Vertreter solcher Konzepte einzuladen, um ihre Organisation
und Funktionsweise besser zu verstehen.
Auf der Grundlage der analysierten Modelle [3, 6] liessen
sich im Wesentlichen für Erwachsene oder Minderjährige
vier Grundtypen mobiler psychiatrischer Interventionen
unterscheiden:
• Behandlung am Wohnsitz der Patienten (häusliche
Pflege);
• Krisenintervention an verschiedenen Orten;
• Interventionen für verschiedene Personengruppen
(z.B. autistische Kinder, Jugendliche von Risikogruppen, Jugendliche mit einer Erstpsychose [«Early psychosis»], Personen mit einer chronischen psychischen
Erkrankung, «Hard-to-reach-Patienten»);
• Interventionen im Vorfeld oder nach einer Hospitalisierung.
Jedes der untersuchten Konzepte wies unterschiedliche
Vor- und Nachteile auf – sei es in Bezug auf den erforderlichen Bereitschaftsdienst oder aber die Personalausstattung, Aufwand und Ertrag usw. Die Initianten
entschlossen sich, aus der Palette der bestehenden Modelle die optimalen Optionen auszuwählen, um ein
massgeschneidertes Angebot für den Kanton Freiburg zu
realisieren.
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
15
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Das PsyMobile im Detail
Nach bald zweijähriger Tätigkeit, definiert sich PsyMobile
heute als ein mobiles Angebot für Minderjährige mit
psychischen Beschwerden, für die eine ambulante Behandlung dauernd oder vorübergehend nicht möglich
ist. Diese neue Leistung ergänzt das ambulante Angebot
des FNPG und umfasst Behandlungen und Betreuungen,
die von einem pluridisziplinären Team erbracht werden.
Dazu gehört der projektverantwortliche ärztliche Direktor, eine leitende Ärztin, eine Psychologin-Psychotherapeutin, eine Sozialarbeiterin sowie ein Pflegefachmann
bzw. Heilpädagoge. Alle Mitarbeitenden sind nur teilzeitlich für das Projekt tätig. Die Leistungen werden
regulär nach TARMED abgerechnet. Die Schwierigkeit
dabei: Nur die Ärztin kann die Ortsveränderung direkt
abrechnen. Die anderen Berufsgruppen müssen diese teilweise als «Leistung für den Patienten in Abwesenheit des
Patienten» verrechnen.
Die Intervention erfolgt in der Regel im gewohnten
sozialen Umfeld, z.B. am Wohnsitz oder im schulischen
Kontext und bezweckt ganz allgemein, den Wiederanschluss an herkömmliche Therapie- und Unterstützungsangebote zu gewährleisten. Um dies zu erreichen, erfolgt
in einem ersten Schritt eine umfassende Abklärung der
Situation. Dabei wird die ganze Familie durch die Krise
Abb. 1 Das PsyMobile-Team mit dazugehörigem Fahrzeug.
begleitet, wobei mit den bereits involvierten Helfersystemen zusammengearbeitet wird. Nach der Anmeldung
durch die zuweisende Fachperson – immer mit dem Einverständnis der Eltern oder des gesetzlichen Vertreters
des Kindes – wird der Auftrag gemeinsam mit den involvierten Personen detailliert definiert. Gestützt darauf können dann die Modalitäten der Behandlung und Begleitung
festgelegt und im Lauf der Interventionen regelmässig
evaluiert werden. Das Ende der mobilen Interventionen
wird für gewöhnlich anlässlich eines pluridisziplinären
Gesprächs unter Beizug des Umfelds beschlossen.
Fallbeispiel:
Mike oder die Angst als (fast) unüberwindbares Hindernis für den Gang zur Schule
Mike, ein 14-jähriger Jugendlicher, muss wegen seiner
Angstzustände hospitalisiert werden. Er hat Bauchschmerzen, die ihn daran hindern, zur Schule zu gehen. Seit dem
plötzlichen Tod seiner Grossmutter, als er sieben Jahre alt
war, wird er Tag für Tag von Ängsten geplagt, die er bis
anhin geheim hielt. Der kurze stationäre Aufenthalt in
einer pädiatrischen Klinik mit kinderpsychiatrischer Liaison-Beteiligung ermöglicht eine gute Stabilisierung der
Angstkrisen. In der Folge wird eine ambulante Nachbehandlung geplant. Zu diesem Zeitpunkt fällt es ihm noch
sehr schwer, jeweils das Haus zu verlassen.
Weil Mike aufgrund seiner Panikzustände noch nicht
einmal ins Auto steigen kann, wird der Familie eine Intervention von PsyMobile vorgeschlagen. Anlässlich eines
Erstgesprächs mit dem Jungen, seinen Eltern, seiner ambulanten Psychotherapeutin und zwei Fachpersonen von
PsyMobile wird die Interventionsanfrage präzisiert und
die Ziele festgelegt:
Die Intervention des pluridisziplinären Teams soll Mike
ermöglichen, die Kontrolle über seine lähmenden Ängste
zu erlangen, damit er wieder zur Schule gehen kann. Um
dies zu erreichen, werden mobile Konsultationen am
16
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Wohnsitz vorgeschlagen, die, zu Beginn der Intervention,
vier- bis fünfmal pro Woche stattfinden sollen. Die therapeutische Arbeit läuft in vier Phasen ab:
In einer ersten Phase (12 Konsultationen) geht es
darum, Mike kennenzulernen, Möglichkeiten stressfreier
und angstlösender Tätigkeiten zu entdecken, seinen Lebenskontext und die Mitglieder seiner Familie kennenzulernen, eine Tagesstruktur aufzubauen, die psychopharmakotherapeutische Behandlung zu begleiten und
die Entspannungsübungen zu vertiefen, die er während
seines stationären Aufenthalts erlernt hat. Nach einigen –
anfangs fast täglichen – Hauskonsultationen kann die
Häufigkeit der Interventionen reduziert werden. Anlässlich
eines Teamgesprächs über die Situation wird der Einsatz
einer zweiten Therapeutin entschieden, um die Arbeit
mit Mike mit einem familientherapeutischen Ansatz zu
ergänzen.
Die zweite Phase (10 Konsultationen) hat zum Ziel, Mikes
Rückkehr in die Schule vorzubereiten. Anlässlich eines
Familiengesprächs mit beiden Therapeuten werden Mikes
Situation und die Unterstützungsmöglichkeiten jedes Familienmitglieds besprochen. Dabei stellt sich heraus, dass
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Literatur
8 McGorry Pat (ORYGEN), 2007: IMYOS – Intensive Mobile
1 Bonsack Charles et al., 2005: Difficult to engage Patients:
Youth Outreach Service. Document non publié de ORYGEN –
A specific target for time-limitied assertive Outreach in
Youth Health, Melbourne/Australia.
Swiss Setting. Can J Psychiatry, Vol 50, No 13, November
9 Pauzé Robert et al., 2007: Evolution des familles impli-
2005:41–46.
quées dans le programme Crise-Ado-Famille (CAF). Thérapie
2 Bonsack Charles, François Grasset et Christian Monney,
familiale, printemps 2007.
2007: Approches psychosociales intégrées et psychiatrie com-
10 Psydom, 2007: Service intercantonal de soins en soins
munautaire. Handout, exposé au cours CEPUSPP, 26.4.2007.
psychiatriques mobiles. Site Internet: www.psydom.ch
3 Bonsack Charles et al., 2008: Equipe de psychiatrie
11 Rhiner Bruno, 2007: Home treatment – aufsuchende
mobiles pour les trois âges de la vie: l’expérience lausannoise.
Familientherapie als erweiterte Behandlungsmöglichkeit.
Revue Médical Suisse, 171.
Handout von Vortrag am KJPD FR, 16.8.2007.
4 Ferrero François, 2007: Les interventions mobiles en
12 Torjman Sylvie et al., 2007: L’expérience d’une équipe
psychiatrie. Rapport non publié.
mobile en France. Conférence au Symposium «L’enfant,
5 Grandjean Christophe et Bernard Lévy, 2002: Unité
la famille, le social», Clinique Pitié-La Salpetrière, Paris
pédago-thérapeutique itinérante (UPTI). SPEA / Fondation
10.5.2007.
le Verdeil, Yverdon et Lausanne.
6 Haemmerle Patrick et al., 2008: Un projet d’intervention
Korrespondenz:
mobile en psychiatrie infanto-juvénile au sein du Secteur
Patrick Haemmerle, Dr. med., MPH, Kinder- und Jugend-
de Psychiatrie et Psychothérapie pour Enfants et Adolescents,
psychiater und -Psychotherapeut FMH
SPP-EA, du Réseau Fribourgeois de Santé Mentale, RFSM.
Ärztlicher Direktor
Document non publié.
Bereich für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
7 Holzer Laurent et V.Baier, 2007: L’Antenne d’Intervention
Freiburger Netzwerk Psychische Gesundheit FNPG
dans le Milieu pour Adolescents à haut risque pathologique
Chemin des Mazots 2, 1700 Fribourg
(AIMA). Handout d’une conférence à l’HPC de Marsens.
[email protected]
die familiäre Unterstützung, die vom Mitgefühl für Mikes
Leiden getragen wird, stark und fruchtbar ist. Die Eltern
haben für ihren Sohn z.B. bereits Nachhollektionen vorbereitet. Dann werden die nächsten Familiengespräche
festgelegt. Bezüglich der Vorbereitung auf die Rückkehr
zur Schule wird ein Plan entworfen und für die Geschwister werden Unterstützungsgespräche vorgeschlagen. Im
Lauf der folgenden Besuche wird der Plan für die Rückkehr
zur Schule zunehmend konkreter, bis hin zur Festsetzung
eines Rückkehrdatums. In der Folge wird die Vorbereitung
intensiviert. Mike erlangt zunehmend die Kontrolle über
seine Angstzustände und kann sich stabilisieren. Eine
Woche vor dem geplanten Datum findet in der Schule ein
Gespräch mit den Eltern und den Unterrichtspersonen
statt, um die Rückkehr optimal vorzubereiten.
Die dritte Phase (8 Gespräche) zielt auf Mikes Wiedereingliederung in die Schule ab. Am festgelegten Datum
begibt sich Mike nach neun Wochen Abwesenheit wieder
zur Schule. Anlässlich des an diesem Tag durchgeführten
Familiengesprächs sind alle erleichtert und zufrieden. In
der Folge finden weiterhin zweiwöchentliche Hausbesuche statt, damit rasch reagiert werden könnte, falls sich
grössere Schwierigkeiten ergeben sollten. Alles verläuft
gut: Mike geht wieder regelmässig zur Schule und ist
in der Lage, sich anhand von ermutigenden Ritualen
progressiv von seinen Angstzuständen zu befreien. Die
Krisenmomente, die zu Panikzuständen führten, können unter Kontrolle gebracht werden. Mike gewinnt
zunehmend Vertrauen und Stabilität zurück. Das Familiengespräch kurz vor den Schulferien bestärkt auch die
Familie in ihrem neugewonnenen Vertrauen in Mikes
Gesundung.
In der vierten Phase wird die mobile Intervention evaluiert.
Angesichts des Erfolgs der Intervention – Mike geht
wieder zur Schule – wird ein Gespräch mit der zuweisenden Therapeutin, der Familie und den Fachleuten von
PsyMobile durchgeführt. Dabei wird beschlossen, die
Hauskonsultationen bis zum anstehenden Klassenausflug
weiterzuführen, obwohl das Hauptziel der Intervention
bereits erreicht worden ist. Die Familiengespräche im Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ZKJP) mit der
ambulanten Therapeutin werden bis zum abschliessenden
Familiengespräch weitergeführt.
(Anonymisierte Situation)
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
17
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Interview mit Joachim Leupold 1 und Urs Keller 2
«Vernetzung ist die beste
Anti-Burn-out-Strategie für Ärzte»
Manche Spezialistinnen und Spezialisten haben noch
immer Vorbehalte gegenüber Integrierter Versorgung
und Netzwerken. Wie das Beispiel PizolCare zeigt,
profitieren aber unter dem Strich alle Beteiligten von
einer fachübergreifenden Zusammenarbeit. Ein Hausarzt und ein Psychiater berichten über ihre Erfahrungen
im gemeinsamen Gesundheitsnetz.
Care Management: Bei PizolCare sitzen Grundversorger,
Spezialisten und Spital-Kaderärzte gemeinsam im Verwaltungsrat. Funktioniert das überhaupt?
Urs Keller: Das funktioniert sogar sehr gut. PizolCare
geht davon aus, dass Krankheiten und Kosten nicht
steuerbar sind, Prozesse und Abläufe aber sehr wohl.
Deshalb genügt es nicht, wenn ein Hausarzt bestimmte
Aufgaben einfach an eine Spezialistin delegiert – es
braucht ein Bekenntnis zur vernetzten Zusammenarbeit.
Nur so können sowohl medizinisch wie auch auf der
Kostenseite gute Resultate erzielt bzw. eine kosteneffektive Behandlung sichergestellt werden.
Wie sieht es bei Ihnen mit dem Gatekeeping aus?
Urs Keller: Da haben wir es relativ einfach, denn es gibt
gar keine grosse Auswahl. Die Aktionäre von PizolCare
sind zugleich «Preferred Providers». Natürlich prüfen wir,
ob das Überweisungsverhalten korrekt ist bzw. ob eine
Überweisung tatsächlich erfolgt ist, doch der Spielraum
ist relativ gross. Die Spezialistinnen und Spezialisten
müssen ihre Daten zur Verfügung stellen: Wenn die
Kosten pro Geburt in einer Praxis auffallend hoch
sind, nimmt die Netzstelle Kontakt auf. Weiter schauen
wir auch darauf, dass die Leute an die richtige Stelle
geschickt werden – etwa HIV-Patienten ins Kantonsspital
St. Gallen, wo es eine HIV-Sprechstunde gibt, solange
dieses Angebot nicht in den eigenen Reihen besteht.
Wo hat Mental Health in der Integrierten Versorgung ihren
Platz?
Urs Keller: Für uns hat die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung einen sehr hohen Stellenwert.
1
Dr. med. Joachim Leupold ist Delegierter des Verwaltungsrats der
PizolCare und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Bad Ragaz.
2
Dr. med. Urs Keller ist Geschäftsführer und Präsident des Verwal-
tungsrats der PizolCare und Facharzt für Allgemeinmedizin in Wangs.
18
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Mental Disease ist eine von fünf
chronischen Erkrankungsgruppen,
die zusammen rund 80% der Gesundheitskosten verursachen. Wir
haben dazu ebenso wie zu Herzinsuffizienz, COPD, Diabetes und
End of Life-Versorgung Leitlinien
für Angehörige von nichtärztlichen
Gesundheitsberufen entwickelt.
Joachim Leupold: Wir sind neun
Psychiater, die Aktionäre und damit
Partner von PizolCare sind. Die Einbindung in ein Versorgungsnetz verJoachim Leupold
mittelt andere Sichtweisen und führt
zu einer anderen Klientel. Ein Qualitätszirkel wurde in der Region schon
früher gegründet, doch führten berufspolitische Diskussionen und vor
allem die Tatsache, dass wir in zwei
verschiedenen Kantonen – Graubünden und St. Gallen – tätig waren,
dazu, dass wir im PizolCare-Gebiet
einen eigenen Verein gegründet
haben: Den Verein Psychiatrie und
Psychotherapie Pizol (P&PP). Als
solcher haben wir mit den Hausärzten
Urs Keller
einen Zusammenarbeitsvertrag abgeschlossen. Dies aus der Überzeugung
heraus, dass ein intensiverer Austausch mit den Kollegen letztlich zu einer besseren Versorgungsqualität führt.
PizolCare hat einen Patientenbeirat. Wie funktioniert das?
Wie ist die Beteiligung der Patientinnen und Patienten?
Urs Keller: Der Patientenbeirat konstituiert sich selbst. Es
gibt zwei Organisationen, die Einsitz haben, Procap und
die Rheumaliga. Ansonsten sind es interessierte Personen,
Kranke, die medizinische Leistungen benötigen, und
Gesunde, die sich in erster Linie als Prämienzahlende
verstehen. Sie treffen sich regelmässig und geben teilweise
nützliche Inputs.
Zum Beispiel?
Urs Keller: Betreffend Patientenschulung wurde der
Wunsch geäussert, dass es zusätzlich zu den DiseaseManagement-Programmen noch weitere niederschwellige
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Angebote geben solle, etwa unabhängige Ernährungsberatung, die nicht nur bestimmte Produkte verkaufen will.
Gibt es weitere spezifische Angebote, und zwar solche im
Zusammenhang mit psychischer Gesundheit?
Joachim Leupold: Wir hatten eine Gruppe zur Männergesundheit, die ich gemeinsam mit einem Pfarrer leitete.
PizolCare unterstützte das Projekt. Es war eine gute und
Psychiater sorgen sich, dass Hausärzte,
zu rasch auf staatliche Institutionen zuru
̈ckgreifen und Patienten unnötigerweise
in eine Klinik einweisen.
interessante Erfahrung, und jetzt stellt sich die Frage,
ob und in welcher Form wir damit weitermachen. Die
Männer hatten sich teils auf ein Inserat gemeldet, teils
wurden sie von ihren Hausärzten motiviert.
Urs Keller: In einem weiteren Projekt geht es um die
Schulung für Angehörige von Kindern mit «Zappelphilipp»-Syndrom. Im Zentrum steht dabei die Idee, dass
Ritalin nur dann verschrieben werden soll, wenn gleichzeitig auch andere therapeutische Massnahmen stattfinden. Die Eltern und andere Bezugspersonen sollen lernen,
ein ADHS-Kind richtig zu begleiten.
Wie erklären Sie sich die Unsicherheit und Skepsis, die bei
Psychiatern rund um Managed Care und Netzwerke noch
immer verbreitet sind?
Joachim Leupold: Es ist vor allem die Befürchtung, dass
Patientinnen und Patienten die psychotherapeutische
oder psychiatrische Behandlung nicht erhalten, die sie
benötigen. Psychiater haben die Sorge, dass Hausärzte,
die als Gatekeeper agieren, zu rasch auf staatliche Institutionen zurückgreifen und die Leute manchmal unnötigerweise in eine Klinik einweisen.
Aber bestehen diese Ängste nicht auch zu Recht?
Urs Keller: Ängste sind oftmals auf fehlendes Wissen
zurückzuführen. In einem Versorgungsnetz mit Budgetmitverantwortung gehen wir davon aus, dass eine korrekte
Behandlung, die sich an den Guidelines orientiert, letztlich zwar nicht unbedingt günstiger, aber kosteneffizienter ist. Eine Drehtürpsychiatrie dient niemandem, und
das motiviert uns genau zu prüfen, wohin wir unsere
Patientinnen und Patienten überweisen.
Joachim Leupold: Das stimmt, aber gerade die Budgetverantwortung macht Angst, nicht nur den Psychiatern,
sondern auch den Patientinnen. Ein weiterer Anlass
zur Skepsis ist die Datensicherheit. Es geschieht bei
mir öfters, dass ein Patient mich bittet: «Aber bitte
sagen Sie es nicht meinem Hausarzt!» Patientinnen und
Patienten wollen nicht immer, dass der Hausarzt über
alle ihre «Geheimnisse» Bescheid weiss, gerade auf
dem Land, wo sich alle kennen. Das ist ein ernst zu
nehmendes Problem, aber wir haben innerhalb von
PizolCare eine Lösung gefunden.
Welche Lösung?
Joachim Leupold: Wir sprechen mit Hausärzten darüber,
fragen sie: Was müsst ihr wirklich wissen? Diagnosen,
Medikamente und Arbeitsfähigkeit gehören dazu, andere
Dinge aus dem Privatleben nicht unbedingt. Der geschützte Raum ist ein wesentliches Arbeitsinstrument des
Psychiaters. Und dieser Umgang mit den Daten muss auch
gut kommuniziert sein: sowohl gegenüber den ärztlichen
Kollegen als auch gegenüber den Patienten.
Und das genügt, um die nötige Vertrauensbasis mit den
Patientinnen herzustellen?
Joachim Leupold: Ja, normalerweise genügt das. Unsere
Patientinnen und Patienten profitieren ja auch, wenn alle
Beteiligten wissen, was die anderen machen. Das verstehen sie sehr gut und es gibt ihnen Sicherheit.
Wie verändert sich die Arbeit des Psychiaters, wenn er in ein
Netzwerk integriert ist? Wo sehen Sie Vor- und Nachteile?
Joachim Leupold: An der Kernarbeit, dem therapeutischen
Gespräch, ändert sich überhaupt nichts. Eventuell
schreibe ich nach der Sitzung noch ein E-Mail. Im Prinzip sehe ich nur Vorteile: Ich habe mehr Informationen
über meine Patientinnen und Patienten und kann sie
Besonders auf dem Land wollen Patienten
nicht immer, dass der Hausarzt ̈
uber alle ihre
Geheimnisse Bescheid weiss.
dadurch auch besser behandeln. Der Austausch mit den
Kolleginnen und Kollegen ist äusserst wertvoll. Und
schliesslich macht das Netzwerk Projekte wie die Männergruppe überhaupt erst möglich.
Die Tatsache, dass Sie als Aktionär zugleich «Preferred
Provider» sind, bringt Ihnen sicher auch zusätzliche Patientinnen und Patienten …
Joachim Leupold: Dieser Vorzugsstatus wäre nicht nötig.
Eine psychiatrische Überversorgung ist in dieser Region
definitiv nicht vorhanden. Wir sind dankbar für zielgerichtete Zuweisungen mit klarem Auftrag, gerne auch
frühzeitig zu einer kurzen konsiliarischen Beurteilung.
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
19
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Wie sieht es aus der Sicht des Netzwerks aus?
Urs Keller: Für uns gilt das Motto: Zufriedene Ärzte für
zufriedene Patienten.
Und auf der Kostenseite?
Urs Keller: Wie gesagt gehören psychisch Kranke zu den
kostspieligen Patienten, und ihre Zahl wird voraussichtlich in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Wir sind
aber überzeugt davon, dass der Zugang zur psychiatrischen Fachbehandlung niederschwellig bleiben soll, weil
letztlich mit einer nicht adäquaten Versorgung niemandem gedient ist und sicher auch keine Kosten gespart
werden. Die Situation wird hoffentlich bald verbessert
mit der Erweiterung des Risikoausgleichs um diagnosebezogene Daten. Das bedeutet möglicherweise dann
eine Entlastung des Budgets, da jüngere Personen eher
psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen.
Was möchten Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen zum
Schluss noch mitgeben?
Joachim Leupold: Kommunikation ist in unserem Beruf
das A und O. Die Arbeit in einem Versorgungsnetz erleichtert und fördert den fachlichen Austausch. Das ist
bereichernd und eine hervorragende Anti-Burn-out-Strategie – für uns Ärzte!
Urs Keller: Versorgungsnetze dienen auch der Patientensicherheit. Viel Leistung bedeutet nicht Qualität, im
20
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Gegenteil: Wer «Doctor-Hopping» betreibt, bekommt
zwar am Schluss meistens, was er will, sei es ein Prüfungsdispens (ich bin auch Schularzt!) oder Beruhigungsmittel.
Ich habe auch erlebt, dass für ADHS-Kinder von den
Eltern zu viel Ritalin verlangt wurde, weil ein Elternteil
es ebenfalls schluckte. So etwas ist weder sichere noch
qualitativ gute Medizin. Übrigens sind unsere Praxen und
das Netz bereits zum 3. Mal EQUAM-zertifiziert.
Interview: Anna Sax
Die PizolCare AG ist ein ärzteeigenes Gesundheitsnetz
in der Region Werdenberg-Sarganserland, bestehend aus
41 Grundversorgern, 38 Spezialärzten mit Praxis und 19
Spitalkaderärzten, die allesamt Aktionäre sind. PizolCare
arbeitet eng mit Spitex, Physiotherapeuten, Spitälern,
Psychiatriezentren und Rehakliniken zusammen.
Korrespondenz:
Dr. med. Joachim Leupold
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Bartholoméplatz 3
CH-7310 Bad Ragaz
[email protected]
www.seelischegesundheit.ch
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Anna Sax
Jeder Tag wird genau geplant
Im Gespräch mit einer Psychiatrie-Patientin im ambulanten Versorgungsnetz
Psychiatrie-Spitex und ambulante Therapie ermöglichen Patientinnen und Patienten, die sonst stationär
oder in der Tagesklinik betreut werden müssten, ein
selbstständiges Leben. Voraussetzung ist eine enge
Zusammenarbeit des interdisziplinären Betreuungsteams. Eine Berner Patientin berichtet von ihren
Erfahrungen.
«Sie ist eine Wundertüte», freut sich Martin H.* und
greift zärtlich nach der Hand seiner Freundin, die auf
dem Stuhl neben ihm unruhig hin- und herrutscht.
«Du nimmst mich ernst, das ist das Wichtigste», antwortet Lisa Z.* und strahlt ihn an. Einen Moment lang
vergessen die beiden, wo sie sich befinden: In der psychiatrisch-psychologischen Praxis «Psy-Bern» in Bern.
Hier laufen die Fäden von Lisas Betreuungsnetz zusammen. Die 36-Jährige leidet unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie einer zugrundeliegenden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
im Erwachsenenalter. Sie hat sich bereit erklärt, mit
Care Management über ihre Lebensgeschichte zu sprechen und darüber, wie sie die Integrierte Versorgung
als psychisch kranke Patientin erlebt.
Gemeindepsychiatrie als Modell
Die Berner Praxis arbeitet bei einigen PatientInnen im
Sinne eines sogenannten «home treatment»-Modells, wie
der Psychologe Dr. Marc Lächler ausführt, der ebenfalls
am Gespräch teilnimmt. Die enge Zusammenarbeit
mit der Psychiatrie-Spitex und mit anderen ambulanten Leistungserbringern macht es möglich, Klinikaufenthalte auf ein Minimum zu reduzieren. «Bern hat lange
eine Vorreiterrolle in der Gemeindepsychiatrie gespielt,
man kann sogar von einem ‹Berner Modell› sprechen»,
stellt Lächler nicht ohne Stolz fest. Die Universitären
Psychiatrischen Dienste UPD, die über die Stadt verteilt verschiedene tagesstationäre und ambulante Einrichtungen führen, sind ein Beispiel für ein solches
gemeindeintegriertes Versorgungsnetz. Patientinnen wie
Lisa können so im Alltag und im Krisenfall auf die
Unterstützung durch ein gut eingespieltes, interdisziplinäres Team zählen. Auch Familienangehörige und
Lebenspartner werden eng mit einbezogen.
* Namen der Redaktion bekannt
Drogen als Selbstmedikation
Lisa, die in Deutschland aufwuchs, war schon als Kind
zappelig und in der Schule eine Aussenseiterin, «entweder
aggressiv-bockig oder übertrieben lustig». ADHS war
damals noch deutlich weniger bekannt als heute, niemand
kam auf die Idee, dass Lisa krank sein könnte. Sie galt
einfach als Unruhestifterin. Sie war bereits 14 und im
Gymnasium, als ihr kleiner Bruder geboren wurde. Da
erst wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter ein schweres
Alkoholproblem hatte: «Ich habe meinen Bruder mehr
oder weniger grossgezogen, meine Mutter war dazu nicht
mehr in der Lage», erzählt sie. Lisa verliess das Gymnasium gezwungenermassen und bildete sich zur Kleinkinderzieherin aus. Den Berufsabschluss schaffte sie «mit
Auszeichnung». Lisa liebte ihren Beruf: «Ich wollte mit
Kindern zusammen sein, um Familie zu haben.» Doch
schon während der Ausbildung entwickelte sie eine
Essstörung. Sie konnte einfach nicht mehr essen. Als sie
noch 48 Kilo wog, beschloss sie zum ersten Mal, Hilfe
zu suchen. Ihr Hausarzt überwies sie zu einer Psychologin.
Diese merkte nichts, als Lisa anfing, exzessiv zu trinken
und Drogen zu konsumieren. Kokain half ihr, «herunterzukommen», sich zu beruhigen. Marc Lächler wirft
ein: «Viele ADHS-Betroffene weisen eine komorbide
Suchtstörung auf. Stimulierende Substanzen wie Kokain
werden bei diesen Betroffenen wie eine Art Selbstmedikation verwendet – es wirkt bei ihnen nicht aufputschend,
sondern eher beruhigend und fokussierend.» Lisa bestätigt: «Es gab keinen Ruhepunkt in meinem Leben –
ich wollte einfach nur Ruhe haben.» Seit sie nun vom
ADHS weiss und mit Ritalin behandelt wird, ist der
Kokainkonsum kein Thema mehr.
Es folgte der Therapieabbruch und die Trennung von
ihrem Freund. Lisa lernte einen neuen Mann kennen,
einen Schweizer. Sie legte endlich wieder an Gewicht
zu, heiratete und zog mit ihrem Mann nach Bern. Doch
ihre Krankheit machte sich immer stärker bemerkbar, sie
war unruhig, impulsiv, manchmal unheimlich wütend.
«Meine Wölfin», nennt sie diesen Zustand. Ihr Mann
hatte dafür kein Verständnis. Ihm war es peinlich, mit
einer Frau verheiratet zu sein, dazu noch mit einer Deutschen, die so extrovertiert war und manchmal auch laut
wurde. Sie fand Arbeit als Kleinkinderzieherin in einer
Familie, doch sie fühlte sich ständig überwacht, hintergangen, nicht ernst genommen. Als sie Ende 2005 einen
Zusammenbruch erlitt, riet ihr der Hausarzt zur Kündigung. Und er liess sie endlich durch eine Psychologin
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
21
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
abklären. Diese bestätigte die Diagnose, die sie sich bereits
selber gestellt hatte: Borderline-Syndrom. Hinzu kam
während einer teilstationären Behandlung die Diagnosestellung einer ADHS, die sie aus der Kindheit mitbrachte.
Lisa war froh, endlich Klarheit darüber zu haben, dass
sie krank war und nicht «selber schuld» daran, dass sie
sich «nicht besser im Griff» hatte. Für ihren Mann dagegen war die Diagnose eine Katastrophe.
«Aufgefangen und aufgehoben»
Die Scheidung vor vier Jahren war für sie zugleich das
Ende einer mühsam aufrechterhaltenen «Normalität» und
der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Sie fand eine
Wohnung, war aber zunächst nicht in der Lage, ihren Alltag selbstständig zu bewältigen. So folgte eine Phase, wo
sie in der psychiatrischen Tagesklinik betreut wurde. Der
Schritt in die «Freiheit» des selbstständigen Lebens wurde
möglich durch die Psychiatrie-Spitex, die wiederum eng
Viele ihrer körperlichen Symptome
sind Folgeerscheinungen der permanenten
inneren Unruhe und Spannungszustände.
mit der Praxis «Psy-Bern» zusammenarbeitet. So erhält
Lisa heute wöchentlich Besuch von der Spitex und findet
sich regelmässig in der ambulanten Praxis zur Psychotherapie, Körpertherapie und medikamentösen Überwachung ein. Ob sie sich da nicht bevormundet fühle,
kontrolliert im Räderwerk des Versorgungssystems, will
ich wissen. Nein, nicht kontrolliert fühle sie sich, sondern
aufgefangen und aufgehoben, antwortet Lisa. Sie ist
froh, dass auch der Hautarzt und selbst der Zahnarzt
Teil des Netzwerks sind, denn viele ihrer körperlichen
Symptome sind Folgeerscheinungen der permanenten
inneren Unruhe und Spannungszustände: Narben zeugen
von Selbstverletzungen, Zahnschmerzen sind die Folge
davon, dass sie, besonders in der Nacht, die Zähne viel
zu stark zusammenbeisst.
Seit einigen Monaten ist auch Martin Teil des Systems.
Er verliebte sich und machte den ersten Schritt auf Lisa
zu, obwohl er rasch merkte, dass mit ihr «psychisch etwas
nicht in Ordnung ist». Doch es war ihm egal: «Ich habe
nie Angst gehabt. Ich liebe Lisa, und ich lerne durch sie
auch ihre Krankheit kennen. Klar, manchmal geht’s mir
auf den Sack», fährt er in seiner unnachahmlich offenen
Art fort, «aber ich komme damit klar. Die Liebe trägt.»
Martin ist als wandernder Zimmermann in der Welt
22
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
herumgekommen. Er hat schon viel gesehen. Wenn er
ihr eine Hilfe sein kann, indem er ihr zuhört und sie ernst
nimmt, dann tut er das gern. «Übrigens», fügt er hinzu,
«tut sie auch viel für unsere Beziehung. Sie ist lieb –
und sie hat mir auch schon geholfen.» Martin begleitet
seine Freundin manchmal auch in die Therapie. Er weiss,
was er im Fall einer Krise zu tun hat. «Falls ich in die
Klinik eingeliefert werde», schmunzelt Lisa, «muss er die
Katzen versorgen.» Die beiden wohnen nicht zusammen,
Lisa will unabhängig bleiben.
Durchstrukturierte Tage
Wie denn nun ein Tag in ihrem Leben aussieht, will
ich von Lisa wissen. «Das Wichtigste ist, dass ich eine
Struktur habe», erklärt sie. Früher war es ihr unmöglich
gewesen, ihren Tag einzuteilen: Sie stand irgendwann
auf, versuchte drei Dinge gleichzeitig zu erledigen, liess
unvermittelt alles liegen und lief weg. Am Schluss blieb
ein Chaos zurück und sie war verzweifelt, weil sie wieder
nichts zustande gebracht hatte. «Nun kommt jeden
Donnerstag Rebekka von der Spitex zu mir nach Hause»,
erzählt Lisa. «Wir machen gemeinsam einen Wochenplan
und gehen einkaufen.» Jeder Tag wird im Voraus genau
geplant: Aufstehen – Morgentoilette – Frühstück – Katzen versorgen – aufräumen – fernsehen – Menu fürs
Abendessen planen. Wenn sie um 14 Uhr einen Termin
in der Stadt hat, muss sie den Zug um 13.05 Uhr nehmen,
sonst wird es zu knapp. Nach der Rückkehr in ihre
Wohnung werden sofort die Sachen eingeräumt und
die Kleider aufgehängt, das ist wichtig. Wenn Martin
zwischen 18.30 und 18.50 Uhr kommt, kochen sie
zusammen, erzählen einander vom Tag, schauen sich
einen Film an oder auch zwei. Im Wochenplan ist
auch «Ich-Zeit» eingetragen. Dann malt sie oft: «Ich male
gerne und gut», verrät Lisa, und fügt lächelnd hinzu: «Ich
bin sehr begabt.»
Was für mich eher wie ein langweiliger Alltagstrott aussieht, ist für Lisa ein täglicher Parforce-Akt. Ohne die
Struktur des Versorgungsnetzes wäre ein eigenständiges
Leben für sie unmöglich – «ich wäre ein Fall für die
psychiatrische Klinik». Die Handlungen der involvierten
Fachpersonen, Medikamente, Therapien und Tagesstrukturen sind aufeinander abgestimmt. Alle drei Monate
finden «Standort-Sitzungen» statt, an denen neuerdings
auch Martin teilnimmt. «Ich mache unglaubliche Fortschritte», schwärmt Lisa. «Ich setze mir realistische Ziele,
die ich auch einhalten kann.» Diese Woche wird sie ein
Schreiben ans Zivilstandsamt verfassen: Sie will ihren
Mädchennamen zurückhaben.
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Silvia Schenker
Krankes Gesundheitswesen
Psychische Krankheiten und Integrierte Versorgung aus Sicht einer Nationalrätin
In der Politik hat sich die Erkenntnis langsam durchgesetzt, dass psychische Krankheiten häufig vorkommen. Die volkswirtschaftlichen Kosten, die als Folge
der Erkrankungen entstehen, sind beträchtlich. Besonders augenfällig ist dies bei der Invalidenversicherung,
die seit Jahren rote Zahlen schreibt. Welche Lehren
zieht die Politik aus dieser Erkenntnis?
Aufgeschreckt von den andauernd hohen Defiziten der
Invalidenversicherung (IV) und getrieben von der Missbrauchs- und Scheininvalidendiskussion befasst sich die
Politik in den letzten Jahren mit der Frage der Häufigkeit
von psychischen Krankheiten. Im Rahmen der 5. IVRevision, die seit 1.1.2008 in Kraft ist, und aktuell im
Rahmen der IV-Revisionen 6a und 6b wird nach Lösungen gesucht, wie es gelingen kann, Menschen mit psychischen Krankheiten im Arbeitsprozess zu halten oder
wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. Die Komplexität
dieser Aufgabe zeigt sich im Alltag der IV-Stellen und der
Institutionen und Fachleute, die damit beschäftigt sind.
Wichtige neue Instrumente wie die Früherfassung und
Frühintervention, welche mit der 5. IV-Revision eingeführt wurde, können helfen.
Ungenügende psychiatrische Versorgung?
Die Frage stellt sich jedoch, ob das vorhandene Instrumentarium wirklich genügt oder ob der inzwischen registrierte Rückgang von Rentenbezügerinnen und -bezügern
nicht primär in einer restriktiveren Praxis der IV-Stellen
begründet ist. Eine grosse Gefahr besteht darin, dass
der politische Druck zu einer Ungleichbehandlung von
psychisch Kranken und Personen mit anderen Krankheitsbildern führt. Trotz intensiver Bemühungen von
Fachgesellschaften und den Organisationen der Betroffenen sind psychische Krankheiten nach wie vor tabuisiert. Dies erfahren all diejenigen, die aufgrund einer
psychischen Krankheit Probleme am Arbeitsplatz haben
oder nach einem krankheitsbedingten Verlust des Arbeitsplatzes eine neue Stelle suchen müssen.
In einer umfassenden Analyse von 887 Dossiers von
IV-RentnerInnen mit dem Diagnosecode 646 (psychogene oder milieureaktive Störungen; Neurosen; Borderline-Persönlichkeiten etc.) wurden wichtige Erkenntnisse
gewonnen. Unter anderem zeigte sich, dass bei den meisten Betroffenen mehrere Jahre zwischen dem Krankheitsbeginn und dem ersten Kontakt mit der IV liegen. Ausser-
dem zeigte die Dossieranalyse auf,
dass nur bei einem Drittel der
Berenteten zu Beginn des ärztlichen
Abklärungsverfahrens ein Facharzt
für Psychiatrie und Psychotherapie
involviert war. Bei einem Viertel der
Berentungen aus psychischen Gründen wurde im Verfahren überhaupt
nie eine psychiatrische Abklärung
vorgenommen.
Die Studie zeigt eindrücklich auf,
dass es an der fachärztlichen Versorgung der später Berenteten gefehlt
Silvia Schenker
hat. Eine adäquate fachärztliche Behandlung ist aber auch im Hinblick
auf die Rehabilitation von Menschen mit psychischen
Krankheiten wichtig. Sie können die Patienten dabei
unterstützen, vorhandene Ressourcen zu nutzen und
ihren Platz in der Arbeitswelt wiederzufinden.
In der Gesundheitspolitik wird zurzeit versucht, neue
Versorgungsmodelle zu fördern, die unter den Begriffen
«Managed Care» oder zunehmend Integrierte Versorgung
laufen. Die entsprechende Vorlage befindet sich im Differenzbereinigungsverfahren zwischen den beiden Räten.
In der Frühjahrssession 2011 wird voraussichtlich der
Nationalrat darüber entscheiden. Wer sich in Zukunft
in einem integrierten Versorgungsnetz behandeln lässt,
bezahlt nur noch 5% Selbstbehalt, alle andern bezahlen
15%. Mit diesem differenzierten Selbstbehalt wird versucht, Versicherte für diese Versorgungsmodelle zu motivieren. Wichtiges Element dieser Versorgungsmodelle
ist, dass die Zuweisung zu Ärzten, insbesondere Spezialärzten ausserhalb des Netzes, restriktiver erfolgen soll.
Die Integrierte Versorgung soll eine qualitative Verbesserung der Behandlung durch vermehrten Austausch und
bessere Zusammenarbeit bringen. Dabei sollen aber auch
Kosten eingespart werden können, indem die Behandlungsprozesse stärker gesteuert werden. Dadurch wird
die Freiheit der Patientinnen und Patienten bei der Wahl
der Ärztinnen und Ärzte reduziert. Wer diese Einschränkung nicht will, muss bereit sein, den entsprechenden
Preis dafür zu bezahlen.
Integration ohne Exklusion
Als in einer psychiatrischen Klinik tätige Sozialarbeiterin
weiss ich, wie wichtig bei psychischen Krankheiten eine
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
23
S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
rechtzeitige Diagnosestellung und eine professionelle
Behandlung sind. Sie sind die Grundlagen, ohne die alle
Bemühungen um eine Tagesstruktur und eine Integration
im Erwerbsleben nicht fruchten können.
In Zusammenhang mit der eingangs ausgeführten Problematik der Zunahme von psychischen Krankheiten
muss in Zukunft noch stärker auf die adäquate Behand-
Bei der Beurteilung der Gesundheit
sollte die soziale und ökonomische Situation
des Patienten miteinbezogen werden.
lung der Betroffenen geachtet werden. Die sinnvolle
Stärkung der integrierten Versorgung darf auf keinen
Fall dazu führen, dass der Zugang zu psychiatrischer
und psychotherapeutischer Behandlung eingeschränkt
wird. Im Gegenteil: Fachärzte der Psychiatrie und Psychotherapie müssten eine noch wichtigere Rolle bei
der Rehabilitation von Menschen mit psychischen Krankheiten spielen.
Das Thema «Integration in die Arbeitswelt» gewinnt bei
den Sozialversicherungen wie der Invalidenversicherung,
der Arbeitslosenversicherung und auch bei der Sozialhilfe
zunehmend an Bedeutung. Mit unterstützenden Instrumenten, aber auch mit Sanktionen wird versucht, möglichst viele Personen aus den Sicherungssystemen hinaus
in die Arbeitswelt zu führen oder gar nicht erst in die
Systeme aufzunehmen.
Diese Bestrebungen werden von der Politik unter dem
Stichwort «Arbeit vor Rente» gestützt. Dieser im Grundsatz sinnvolle Ansatz darf jedoch nicht dazu führen, dass
Menschen aus allen Netzen fallen. Gerade für psychisch
24
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Kranke ist diese Gefahr gross. Damit dies nicht geschieht,
müssen Sozial- und Gesundheitspolitik aufeinander abgestimmt sein. Gute Lösungen in der Gesundheitspolitik
zu finden, ist in unserm föderalistischen System und
angesichts der vielen divergierenden Interessen an und
für sich schon schwierig. Dabei nicht nur das politische
Gärtchen der Gesundheitspolitik im Auge zu behalten,
sondern auch noch die Wechselwirkungen mit andern
Politikfeldern zu bedenken, ist höchst anspruchsvoll.
Integrierte Versorgung bedingt nicht nur eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der Institutionen
und kontinuierlichen Austausch mit den involvierten
externen Stellen. Integrierte Versorgung bedeutet, Gesundheit nicht isoliert von der sozialen Situation und diese
wiederum nicht losgelöst von der ökonomischen Situation
der Menschen zu betrachten.
Wenn die Politik zurzeit die Therapie für das kranke
Gesundheitswesen in der Integrierten Versorgung sucht,
dann tut sie gut daran, vor der eigenen Türe zu kehren.
Auch die «Behandlungskette» bei politischen Themen
könnte durchaus etwas mehr Integration, sprich Koordination und Kommunikation ertragen.
Literatur
Baer N, Frick U, Fasel T. Dossieranalyse der Invalidisierung
aus psychischen Gründen. Liestal, 2009.
Korrespondenz:
Silvia Schenker
Sozialarbeiterin, Nationalrätin
Postfach 434
4013 Basel
[email protected]
www.silviaschenker.ch
WEG
Ziele setzen:
Pflege, Bildung, Management
Weiterbildungszentrum für
Gesundheitsberufe
Nachdiplomstudium Pflege
Modulare und zeitlich flexible Nachdiplomkurse mit Schwerpunkten
– Akute Pflege
– Pflege chronisch kranker Menschen
– Komplementärmedizinische Pflege
– Case Management in der Pflege
– Geriatrische Pflege
– Pflege von Menschen mit Demenz NEU
– Palliative Pflege
– Schulung und Beratung
– Kinaesthetics in der Pflege
– Individueller Schwerpunkt NEU
Den Studierenden steht zusätzlich ein breites Angebot
an Wahlmodulen zur Verfügung.
Nächste Informationsveranstaltung am 16. März 2011
am WE'G in Aarau von 17.00 –19.00 Uhr
WE'G Mühlemattstrasse 42 CH-5001 Aarau
Telefon +41(0)62 837 58 58 Fax +41(0)62 837 58 60 E-Mail [email protected]
13. Schweizerisches Forum der sozialen Krankenversicherung
Donnerstag, 19. Mai 2011
im Kongresshaus Zürich
Das Gesundheitswesen im Umbau:
Aktuelle Reformen
auf dem Prüfstand
Informationen und Anmeldung:
RVK, Haldenstrasse 25, 6006 Luzern
www.rvk.ch, [email protected]
www.weg-edu.ch
Referate
Andreas Faller
Vize-Direktor BAG
Jean-François Steiert
Vizepräsident des Dachverbandes
Schweizerischer Patientenstellen
Gerd Glaeske
Gesundheitsökonom, Universität
Bremen
Klaus Peter Rippe
Ethiker, Universität Zürich
Charles Giroud
Präsident RVK
Benjamin Tommer
Redaktor NZZ am Sonntag
Diskussion auf dem Podium
Rita Ziegler
Vorsitzende der Spitaldirektion
des UniversitätsSpitals Zürich
Marc Müller
Präsident Hausärzte Schweiz
Beat Ochsner
CEO Sympany Gruppe
Moderation
Markus Gilli
Programmleiter Tele Züri
Verband der
kleinen und mittleren
Krankenversicherer
FORUM MANAGED CARE
Symposium, 16. Juni 2011
Hallenstadion
Zürich
Vertikale Integration:
Genug der Worte – Taten!
DAS THEMA
Die Zukunft in der Medizin gehört
der Integrierten Versorgung. Die
Schweiz kennt seit über 20 Jahren
erfolgreiche Managed-Care-Organisationen wie HMO und Ärztenetzwerke. In der horizontalen Integration
der Grundversorgung gehört unser
Gesundheitswesen damit zu den fortschrittlichsten in Europa. Wie aber
steht es mit der vertikalen Integration
der verschiedenen Leistungserbringer
entlang der Behandlungskette? Für
eine effektive und nachhaltige Koordination und Steuerung der Behandlungen ist diese Dimension der Integration zweifellos der zentrale
Erfolgsfaktor.
Welche Organisationsformen sind
dafür zweckmässig? Gibt es in der
Schweiz schon Modelle und Organisationen erfolgreicher vertikaler Integration? Wie steht es mit Vorbildern
im Ausland? Wie können die verschiedenen Gesundheitsprofessionen
26
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
und Institutionen in vertikal integrierte
Organisationen eingebunden werden? Wie werden die Prozesse vereinheitlicht, die Qualität gesichert?
Welche Rolle spielen neue Technologien? Das sind zentrale Fragen und
Themen am Symposium 2011 des
Forum Managed Care.
In den Keynote-Referaten und Podiumsdiskussionen präsentieren und
erörtern Fachleute aus Medizin, Wissenschaft, Gesundheitsökonomie,
Technologie und Pflege die Voraussetzungen, Rahmenbedingungen,
Chancen und Risiken der vertikalen
Integration aus ganz verschiedenen
Perspektiven.
Von der Analyse zur praktischen
Umsetzung: Darum geht es in den
Projektpräsentationen und interaktiven Workshops. Erfolgreiche Entwickler, Anbieter und Umsetzer aus
der Schweiz und aus Deutschland
werden ihre Erfolgsrezepte, Ideen
und Erfahrungen von Managed Care
und Integrierter Versorgung präsentieren und sich der Diskussion mit den
Besuchern des Symposiums stellen.
Auch 2011 setzt das FMC auf die
Zusammenarbeit mit dem deutschen
Bundesverband für Managed Care
(www.bmcev.de). Gleichzeitig geht
der Blick in die Westschweiz: Wir
freuen uns auf die gemeinsame Weiterentwicklung der Integrierten Versorgung dies- und jenseits der Saane.
Wie in den Vorjahren wird auch
2011 der Förderpreis für besonders
innovative und zukunftsgerichtete
Projekte der Integrierten Versorgung
verliehen.
Den stimmungsvollen Ausklang bildet
dann das Abendprogramm in der
Giesserei Oerlikon.
FORUM MANAGED CARE
DAS PROGRAMM
Moderation: Ellinor von Kauffungen
09.15 Begrüssung
Peter Berchtold, Präsident Forum Managed Care
09.25 Vertikale Integration –
der Blick über den Tellerrand
Jens Alder, VR-Präsident
Sanitas Krankenversicherung
09.50 Vertikale Integration
aus der Perspektive des Zentrumsspitals
Benno Fuchs, Direktor Luzerner Kantonsspital
10.15 Soins Intégrés: un nouveau modèle
pour la médecine de famille
Dr méd. Philippe Schaller, Fondateur Groupe
Médical d’Onex, Réseau de Soins Delta
10.40 eVoting-Umfrage Vertikale Integration
11.10 Pause
11.40 Workshops und Projektpräsentationen (2 Blöcke)
12.45 Mittagessen
14.00 Die Bedeutung der Technologie:
eHealth als Voraussetzung zur erfolgreichen
Prozessintegration
14.20 Vertikale Integration aus Sicht der Health
Professionals und Patienten:
Die ideale Lösung für alle?
Podiumsdiskussion;
Moderation: Ellinor von Kauffungen
15.10 Pause
15.30 Workshops und Projektpräsentationen (2 Blöcke)
16.45 Verleihung Managed Care Förderpreis 2011
17.00 Apéro und Ausklang
18.15 Networking Dinner
Der Treffpunkt von Teilnehmenden und Referenten mit einer künstlerischen Überraschung
FÖRDERPREIS 2011 DES FMC
Das Forum Managed Care (FMC) verleiht anlässlich des
Symposiums vom 16. Juni 2011 den Förderpreis für herausragende Leistungen zur Entwicklung und Umsetzung
der Integrierten Versorgung im Schweizer Gesundheitswesen. Die Preissumme beträgt 10000 Franken. Der
Strategische Beirat des FMC entscheidet über die Vergabe des Förderpreises.
Teilnahmebedingungen
Alle zum Symposium 2011 eingereichten Projekte und
Studien, welche ganz oder hauptsächlich in der Schweiz
bearbeitet wurden, sind für den Förderpreis angemeldet.
Die Bewertung der Arbeiten erfolgt nach den Kriterien:
• Bezug zu den Themen des Symposiums «Vertikale Integration: Genug der Worte – Taten!»: Prozessintegration (namentlich ambulant-stationär), Vergütungsmodelle
über die ganze Betreuungskette, Behandlungsqualität
und Patientensicherheit, eHealth-Instrumente für die
vertikale Integration etc.
• Nachweis des Nutzens von Integration und Vernetzung
auf die medizinische Qualität und/oder die Wirtschaftlichkeit.
Der Preisträger und die nominierten Projekte werden in der
Zeitschrift «Care Management» vorgestellt.
Call for Abstracts und Einreichen der Projekte
Das Forum Managed Care lädt alle Interessierten ein,
am Symposium vom 16. Juni 2011 ihre wissenschaftlichen Studien, Optimierungsprojekte, Initiativen oder
Innovationen in Form von Präsentationen oder interaktiven Workshops vorzustellen. Die Arbeiten sollen die
Entwicklung, den Aufbau oder die Evaluation innovativer
Ansätze zur Integrierten Versorgung darstellen und entsprechende Resultate aufweisen. Das Formular zum Einreichen Ihrer Projekt-Zusammenfassung finden Sie unter
www.fmc.ch/symposium/abstracts
Meldeschluss ist der 15. März 2011. Vielen Dank!
FACTS & FIGURES
Tagungsort
Hallenstadion Zürich
www.hallenstadion.ch
Kosten
Frühbuchertarif bis 31.3.2011: CHF 440.–
Normaltarif: CHF 490.–
Networking Dinner Integrierte Versorgung: CHF 100.–
Sprache
Deutsch, französische Simultanübersetzung der
Keynote-Referate
Anmeldung
Melden Sie sich bitte über die Website des Forum
Managed Care an: www.fmc.ch/symposium
Vielen Dank!
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
27
D A T U T S I C H WA S
Heinz Locher
Jenseits von Managed Care 2011
Ein Ausblick auf weitere notwendige Reformschritte nach der laufenden KVG-Revision
Auch ein positives Resultat der laufenden Gesetzesrevision kann nur einen weiteren Schritt auf dem
weiten Weg einer erfolgreichen Etablierung der
Managed-Care-Grundsätze in der Schweiz bedeuten,
dessen Beginn noch in die KUVG-Zeit zurückgeht.
Mögliche weitere «Zukünfte» müssen schon heute
angedacht und Massnahmen zu deren Ermöglichung
eingeleitet werden.
Noch darf gehofft werden, dass die Eidgenössischen Räte
ihre Mehrfachpokerrunde zur Managed-Care-Vorlage mit
einem praxistauglichen Ergebnis erfolgreich abschliessen.
Anschliessend werden sich wohl die Stimmbürgerinnen
und Stimmbürger anlässlich einer Referendumsabstimmung ebenfalls zur Vorlage zu äussern haben, nachdem
sich gegenwärtig standespolitische Nostalgiker zum Klang
der alten Nationalhymne «… hast noch der Ärzte ja, …»
freudlos zum letzten Streit formieren. Ist damit, um wieder einmal Francis Fukuyama zu bemühen, das «Ende der
Geschichte» erreicht? Wohl kaum. Weitere Reformen
müssen und werden folgen.
Weshalb den Selbstbehalt zum Voraus festlegen?
Einen der Streitpunkte bildet die Höhe des Selbstbehaltes. Zur Diskussion stehen die Modelle 20/10 und 15/5.
Gestritten wird insbesondere über die Frage, ob das
Modell 15/5 zu einer Prämienerhöhung führen würde.
Wie auch bei andern Themen des Gesundheitswesens
(z.B. der Diskussion um die Preisdifferenzierung zwischen
Originalpräparaten und Generika) sind offensichtlich
einige grundlegende Aspekte in der Diskussion völlig
verlorengegangen, wenn sie den Akteuren überhaupt einmal bewusst waren. Der Sinn des Selbstbehalts besteht
ja bekanntlich darin, die Versicherten bzw. nun Kranken
zu einer massvollen Inanspruchnahme von Leistungen
anzuhalten. Mit dem Beitritt zu einem Managed CareVersicherungsplan haben diese aber bereits ein «Commitment» zur massvollen Nutzung der Ressourcen des
Gesundheitssystems abgelegt, so dass in diesem Modell ein
Selbstbehalt eine unnötige Verdoppelung des negativen
Anreizes bewirkt.
Bei gut konzipierten und gelebten MC-Versicherungsplänen können Kosteneinsparungen von 9% und mehr
erreicht werden [1]. Deshalb ist ein Verzicht auf einen
obligatorischen Selbstbehalt oder zumindest ein Umschwenken auf das Modell 15/5 vertretbar. Ein völliger
28
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Verzicht auf die Vorschrift eines
wie auch immer festgelegten Selbstbehalts würde zudem einen Beitrag
zum mehr als notwendigen Abbau
der ohnehin zu hohen Regelungsdichte leisten, ebenso wie die völlige
Freigabe der Vertragsdauer mit der
Möglichkeit des Kassen- und Modellwechsels nach vorgängig festgelegten
Bedingungen oder der Verzicht auf
vorgegebene maximale Prämienrabatte. Es ist unverständlich, dass
der Gesetzgeber (auch) hier MikroHeinz Locher
management betreibt und die Vertragsautonomie von Versicherten
und Versicherern in derart kleinkarierter Weise einengen
will [2]. Den Krankenversicherern sollte es zudem zur
Steigerung der Attraktivität derartiger Modelle freigestellt
bleiben, bei guten Ergebnissen eine Rückvergütung auszurichten. Falls sich diese an das ganze Kollektiv eines
MC-Versicherungsplans und nicht an einzelne Individuen richtete, ergäbe sich auch eine klare Abgrenzung
zu Bonus-Modellen. Ferner ist zur Stärkung der Vertragsautonomie von gesetzlichen Einschränkungen abzusehen, wer als Träger der Integrierten Versorgung mit
Budgetverantwortung zugelassen wirken kann: Gruppen
von Leistungserbringern, Managed-Care-Organisationen, Spitäler oder Organisationen im Eigentum von
Krankenversicherern.
Je integrierter, umso effizienter
Zur Gewährleistung einer Integrierten Versorgung mit
Budgetmitverantwortung der Leistungserbringer genügen reine organisationsübergreifende Prozessoptimierungen kaum. Nicht alle Akteure sind zudem bereit
und finanziell in der Lage, die damit verbundenen finanziellen Risiken zu tragen. Dies gilt nicht zuletzt dann,
wenn Formen des «payment for performance» bzw. des
«payment for results» Platz ergreifen sollen. Eine systematische Einordnung vermittelt dazu Überblickswissen:
Die Darstellung von Shih et al. [3] zeigt die Zusammenhänge zwischen Produktionsstruktur, Tarifform und
Qualitätssicherung in illustrativer Weise. Je integrierter
ein Leistungssystem ist (horizontale Achse), desto besser
ist es in der Lage, globale DRG-Pauschalen oder Integrierte Capitation-Modelle zu tragen (vertikale Achse
D A T U T S I C H WA S
Abb. 1 Produktionsstruktur, Tarifform und Qualitätssicherung.
links). Zudem ist ein solches System auch bezüglich eines
hohen Entschädigungsanteils von Outcome-Parametern
(vertikale Achse rechts) tragfähig.
Die sich daraus ergebenden Einsichten decken sich vollständig mit den Anliegen von Porter [4] und Teisberg [5]
bezüglich interinstitutioneller Komplexpauschalen und
der Orientierung der Qualitätsmessung am Ende einer
Behandlungsepisode bzw. bei chronisch Kranken pro
Behandlungsperiode – über die Grenzen der beteiligten
Leistungserbringer hinaus. Was das konkret bedeutet,
zeigt Teisberg am Beispiel der Behandlungskette für chronische Nierenkrankheiten auf: Eine Kombination von
Outcome-Messungen mit einer Neuorientierung von
Ärzteteams als integrierte Behandlungszentren würde
nicht nur den Patientennutzen markant steigern, sondern
auch zusätzliche Erträge und Erfahrungsgewinn für die
Leistungserbringer ermöglichen (S. 73ff.).
Solche bereichsübergreifenden Managed-Care-Modelle
sind für verschiedenste Patientengruppen realisierbar. Auf
Initiative des Bundesamtes für Gesundheitswesen (BAG)
wird gegenwärtig ein derartiger Ansatz für HIV-Patienten
erforscht und anschliessend erprobt. Falls er gelingt, bedeutete dies einen weiteren Meilenstein in der auch aus
internationaler Sicht äusserst innovativen und erfolgreichen Handhabung der HIV-Problematik durch das BAG.
Literatur
1 Beck, Konstantin, Die Sorge der Politik um die Zusammensetzung des MC-Kollektivs ist übertrieben, in infosantésuisse
9–10/10, S. 4–7.
2 W. Oggier hat schon früh auf die Bedeutung der Wahlfreiheit im Zusammenhang mit der Managed-Care-Vorlage
hingewiesen: Oggier Willy, Macht duales Modell Schule?,
datamaster, Edition 4, September 2008, S. 9 ff.
3 Shih A. et al, Organizing the U.S. Health Care Delivery
System for High Performance, The Commonwealth Fund,
New York Aug 2008, p 21.
4 Porter, Michael A., What Is Value in Health Care?, N Engl
J Med 363;26 nejm.org, December 23, 2010, p 2477–81.
5 Teisberg, Elizabeth Olmsted, Nutzenorientierter Wettbewerb im schweizerischen Gesundheitswesen, Zürich 2008.
Korrespondenz:
Heinz Locher, Dr. rer. pol.
Postfach 266, 3000 Bern 15
[email protected]
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
29
D A T U T S I C H WA S
«Nicht Jahre, sondern Jahrzehnte»
Fragen an Heinz Locher zum gemeinsamen Buch mit Hans Heinrich Brunner
Care Management: Gemeinsam mit dem im Frühjahr
2010 verstorbenen Hans Heinrich Brunner haben Sie ein
Buch über das Schweizerische Gesundheitssystem geschrieben, das praktisch ohne Zahlen und Tabellen auskommt,
dafür mit pointierter Kritik an der Selbstzufriedenheit
der Protagonisten des angeblich «besten Gesundheitssystems
der Welt» aufwartet. Was wollen Sie damit erreichen?
Heinz Locher: Mit einer praxisbezogenen Schau auf seine
Stärken und Schwächen wollten wir einen Beitrag zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems leisten. Zu diesem Zweck hinterfragten wir dessen
Mechanismen, die darin tätigen Akteure und deren möglichen Beweggründe und leuchteten dabei auch Räume
aus, die hochbedeutsam sind, aber kaum je im gesundheitspolitischen Diskurs aufscheinen. Die Themenauswahl ist subjektiv, aber nicht zufällig, und erhebt keinen
Anspruch auf «enzyklopädische» Vollständigkeit. Daraus
ergab sich auch der Untertitel «Feststellungen, Anregungen
und Lösungsvorschläge», verbunden mit Hinweisen auf
Handlungsachsen und Optionen. Das Buch steht damit
in einer Tradition unbestechlicher kritischer Aufklärung,
der wir uns beide stets verbunden fühlten. Der Fokus auf
Systeme, Werthaltungen und die «langen» Entwicklungswellen führte konsequenterweise zum Verzicht auf die
Nennung ohnehin rasch veraltender «aktueller» Zahlen.
Im Kapitel 6 übertragen Sie die Prinzipien der «Evidence
Based Medicine» auf das Gesundheitssystem als Ganzes
und stellen im Titel die Frage: «Ist ein Gesundheitssystem für
die Schweiz denkbar, in dem nur wissenschaftlich fundierte,
nutzenstiftende Behandlungen durchgeführt werden?». Die
Antwort habe ich nicht gefunden. Ist das Absicht?
Der Aufbau unseres Buches ist dem einer Bogenbrücke
vergleichbar. Die zwei Fundamente sind das zu Beginn stehende Kapitel über das Gesundheitswesen als komplexes
System mit den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen bezüglich seiner Nichtplanbarkeit einerseits, das gegen
Schluss stehende Kapitel über Ordnungspolitik, Wettbewerb und Regulierung. Die Antwort auf die genannte
Frage ergibt sich im Zusammenspiel dieser beiden Aspekte
mit den WZW-Bestimmungen. Sie lautet «Im Prinzip ja» –
was nicht als Reverenz an Radio Eriwan verstanden werden soll, sondern als Hinweis darauf, dass hierfür verschiedene Voraussetzungen gegebenen sein müssten, die
in der Schweiz (noch?) weitgehend fehlen. Der Aufbau
eines wirksamen Systems von Regulatoren und Regula-
30
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
tionsprozessen könnte angesichts der politischen Entscheidungsprozesse in der Schweiz nicht Jahre, sondern
Jahrzehnte benötigen – ein von der Sache her eigentlich
nicht akzeptabler Zeithorizont.
Das Krankenversicherungsgesetz verlangt in Art. 32 Abs. 1,
dass die durch die obligatorische Grundversicherung vergüteten Leistungen «wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich» sein müssen. Sie trauen den zuständigen Behörden
nicht zu, die Einhaltung dieses «WZW-Kriteriums» zu
überprüfen und sicherzustellen. Woran liegt das?
Nebst einer fehlgeleiteten politischen Kultur, in welcher
sich die politischen Entscheidungsträger chronisch überschätzen, liegt der Hauptgrund in der fehlenden Trennung
der heute im Bundesamt für Gesundheitswesen vermischten Aufgaben der Politikberatung einerseits, der rein fachorientierten Regulierung anderseits. Dieser Missstand
hat sich in jüngster Vergangenheit bei den Vorgängen um
Billigkassen, Prämiendumping und fehlenden Reserven
in geradezu dramatischer Weise manifestiert. Wie man ihn
beheben könnte, legen wir im Buch dar.
In diesem Kapitel hätte ich auch einen Abschnitt über
Managed Care und Versorgungsnetze erwartet. Sehen Sie
hier Potential für die Überwindung von Hindernissen auf
dem Weg zu einem «evidenzbasierten Gesundheitswesen»?
Wir beurteilen Managed Care und Versorgungsnetze
im Buch sehr positiv, haben unsere Haltung dazu aber
im Kapitel «Walmart oder das Ende der Cottage-Industrie» dargelegt. Managed-Care-Organisationen stellen
aus unserer Sicht auch einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Produktionsstruktur und Stärkung der
Risikotragfähigkeit der Leistungserbringer dar – beides
Voraussetzungen zum Einsatz neuer Formen der outputbezogenen Leistungsfinanzierung.
Interview: Anna Sax
Brunner, Hans Heinrich
Locher, Heinz
Die Schweiz hat das beste Gesundheitssystem – hat sie das wirklich?
Feststellungen, Anmerkungen
und Lösungsvorschläge
EMH Schweiz. Ärzteverlag, 2011
ISBN: 978-3-03754-054-1
Preis: 35.00 CHF
Hochschule
Gesundheit
Hochschule.
Und praxisbezogen.
Mühlemattstrasse 42
CH-5001 Aarau
Telefon +41 62 837 58 90
Telefax +41 62 837 58 60
E-Mail [email protected]
Web www.weg-fh.ch
Berufsbegleitende modulare Studiengänge
Informationsveranstaltungen
Master of Advanced Studies (MAS) in Care Management
Diploma of Advanced Studies (DAS) in Care Management
Certificate of Advanced Studies (CAS) in Case Management
Start: alle zwei Monate mit jedem Modulstart
Part of
Arbeit und Gesundheit
Die Erhaltung der Gesundheit von Arbeitnehmenden ist aus
wirtschaftlichen wie ethischen Gründen von grosser Bedeutung für die Gesellschaft. Das CAS-Programm befähigt
Fachpersonen, die im Bereich Gesundheitsschutz tätig sind,
Belastungen an Arbeitsplätzen zu erkennen sowie Massnahmen zur Verbesserung der Situation zu formulieren.
Dauer: April 2011 bis Januar 2012
Details unter www.hslu.ch/c154 und bei Priska Emmenegger,
T +41 41 367 48 23, [email protected]
Immer aktuell informiert:
www.hslu.ch/newsletter-sozialearbeit
22.02./03.05./20.09.2011
in Zürich, jeweils um 17 Uhr
Detaillierte Informationen
unter www.weg-fh.ch
Gerne beraten wir Sie
persönlich.
Teil der
Certificate of Advanced Studies CAS
16.03./08.06./17.08./02.11.2011
in Aarau, jeweils um 17 Uhr
FH
UAS
Kalaidos Fachhochschule
Schweiz
Kalaidos University of Applied Sciences
Switzerland
Departement
Gesundheit
Department of
Health Sciences
SPEKTRUM
Urs Zanoni
Wo die Kunden auch Patient
sein können
Kleinstpraxen bei Detailhändlern und Apotheken: ein Weg gegen den Hausärztemangel in der Schweiz?
Man nehme eine Nurse Practitioner, einen zehn Quadratmeter grossen Raum und einen frequenzstarken
Einkaufsort – fertig ist die Retail Clinic zur Behandlung
von leichten Erkrankungen und Verletzungen. Über
1200 solcher Kleinstpraxen sind innert zehn Jahren in
den USA entstanden. Liessen sich damit die knappen
hausärztlichen Ressourcen in der Schweiz erweitern?
Die Präsidenten von Hausärzte Schweiz und dem Apothekerverband pharmaSuisse nehmen Stellung dazu.
Keri Krumm hat rote, brennende Augen. Seit fünf Minuten sitzt sie auf einem einfachen Holzstuhl und beobachtet die Leute am Verkaufstresen der Apotheke, der wenige
Meter vor ihr steht. Sechs solcher Stühle stehen Seite an
Seite vor einer weissen Wand, daran eine stattliche Leuchttafel: «Minute Clinic. You’re sick, we’re quick».
Wir sind in einer Filiale von CVS Pharmacy in Boston;
CVS Pharmacy ist mit gut 7000 Apotheken die zweitgrösste Kette – nach Walgreens – in den USA. Minute
Clinic gehört wie CVS Pharmacy zum CVS LandmarkKonzern. 560 Standorte zählt Minute Clinic in den USA
und hat damit einen Marktanteil von fast 50 Prozent.
Jessica Brost ist die Nurse Practitioner, die gerade Dienst
hat; Ärzte gibt es hier keine. Sie tritt aus dem fensterlosen
Sprechzimmer, das etwa zehn Quadratmeter gross ist,
und signalisiert den Wartenden, dass sie für den nächsten Patienten bereit ist. Eine Anmeldung oder Terminvereinbarung gibt es nicht. Wer medizinisch versorgt
32
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
werden möchte, sitzt einfach in die
Reihe. Das Behandlungsangebot ist
streng fokussiert und standardisiert:
minor illness exam, minor injury
exam, skin condition exam, vaccinations, wellness & physical exams,
health condition monitoring (siehe
«Leistungen und Preise bei Minute
Clinic»).
Keri Krumm steht auf, nennt Jessica
Brost ihren Namen und geht mit ihr
ins Sprechzimmer. Die Nurse Practitioner tippt den Namen in den ComUrs Zanoni
puter und sieht, dass Keri Krumm
schon mal bei Minute Clinc war, eine
Penizillin-Allergie hat und krankenversichert ist. Dann
lässt sie sich die Beschwerden schildern, fragt nach und
macht Notizen in die elektronische Krankengeschichte.
Schliesslich untersucht sie die Augen und Ohren, die
Drüsen im Nackenbereich und misst die Temperatur.
Dann diagnostiziert sie eine Bindehautentzündung und
drückt Keri Krumm ein Rezept für Augentropfen in die
Hand. Die Patientin verabschiedet sich, geht rüber zum
Verkaufstresen und nimmt die Tropfen in Empfang. Seit
der Begrüssung sind rund 20 Minuten vergangen; die
Krankenversicherung wird das Ganze 49 $ kosten.
Die Geschichte dieser niederschwelligen Kleinstpraxen
startet im Mai 2000. Die Gründungslegende geht so: An
einem Wintersonntag 1999 sucht Rick Krieger mit seinem
Sohn, der starke Halsschmerzen hat, eine Notfallpraxis
auf. Dort muss er zwei Stunden warten, bis ein Test die
nötige Klarheit über die Ursache liefert. Für Rick Krieger
ist klar: Das muss schneller gehen und deshalb viel billiger sein. Ein halbes Jahr später eröffnet er in Minneapolis
das erste Quick Medx Center. Daraus geht schliesslich
Minute Clinic hervor, heute der klare Marktführer.
Die gebräuchlichste Bezeichnung für die Kleinstpraxen
lautet Retail Clinic, was auf die präferierten Standorte
hinweist: Die meisten sind in grossen Detailhandelsketten
wie Target und Wal-Mart zu finden sowie in Apothekenketten. Die Überlegung dahinter: Die Kunden der
Ketten können gleich noch ihre leichten Beschwerden
behandeln lassen; die Patienten können gleich noch
einkaufen gehen. Die Angebote sind – nach dem Vorbild von McDonald’s oder Starbucks – in höchstem
SPEKTRUM
Masse standardisiert. Hier wissen die Leute ganz genau,
was sie für wie viel erhalten.
Doch das Konzept hat seine Tücken. Zum Beispiel gibt
es starke saisonale Schwankungen; der grösste Zulauf
ist im Herbst, wenn die Grippeimpfung ansteht (siehe
«Saisonabhängig»). Zweitens scheint es schwierig zu sein,
Leute in die Kleinstpraxen zu lotsen, die nicht in den
Läden einkaufen möchten, in denen die Retail Clinics
eingemietet sind. Zum Dritten ist der Markt übersättigt:
Zwei Dutzend Mitbewerber gibt es mit etwa 1200 Standorten. Zwischen 2006 und 2008 verfünffachte sich das
Angebot auf rund 1000 Kliniken; seither erfolgt der
Zuwachs gemächlich. Das Beratungsunternehmen Deloitte erwartet allerdings einen nächsten Boom und
schätzt, dass sich die Zahl der Kliniken bis Ende 2014
fast verdreifachen wird.
Als zentraler Erfolgsfaktor wird die Convenience gesehen:
Die Kliniken haben sieben Tage die Woche offen, an
den Werktagen mindestens 12 Stunden. Die Wartezeiten
sind viel kürzer als in klassischen Arzt- oder Notfallpraxen, ebenso die Behandlungszeiten. Der Dachverband
der Kliniken nennt sich folgerichtig Convenient Care
Saisonabhängig
Das Geschäft der Retail Clinics ist stark saisonabhängig:
Die höchsten Frequenzen sind im Herbst zu verzeichnen,
wenn die Grippeimpfungen erfolgen. Die Angaben
stammen von der Avera St. Luke’s FastCare Clinic in
the Aberdeen, S.D., ShopKo store.
2009
Patienten
pro Monat
Juli
103
August
279
9,0
0,9
September
392
13,1
1,3
pro Tag
8,6
pro Stunde
0,8
Oktober
760
24,5
2,3
November
484
16,1
1,6
Dezember
453
15,1
1,4
Association und bezeichnet die Kleinstpraxen als Convenient Care Clinics.
Ein zweiter Erfolgsfaktor sind die Preise: Eine Konsultation wie jene von Keri Krumm ist etwa ein Drittel günstiger als in einer voll ausgerüsteten Arztpraxis; in der
Notfallstation eines Spitals wäre sie 20- bis 30-mal teurer.
Leistungen und Preise bei Minute Clinic
Minor illness exam: $69
Allergy symptoms
Body ache
Cough
Earache
Ear wax removal ($59)
Flu-like symptoms ($69–$129)
Itchy eyes
Motion sickness prevention
Nasal congestion
Pink eye
Sinus symptoms
Sore throat ($69–$122)
Urinary tract / bladder infection
($69–$84)
Minor injury exam: $69
Blisters
Burns
Bug bites and stings
Corneal abrasions
Jellyfish stings
Lacerations
Splinters
Sprains (ankle, knee)
Suture and staple removal
Wounds and abrasions
Skin condition exam: $27–$104
Acne
Athlete’s foot
Chicken pox
Cold sores & canker sores
Infections (minor)
Lice
Oral / mouth sores
Poison ivy
Rashes (minor)
Ringworm
Scabies
Shingles
Styes
Sunburn (minor)
Swimmer’s itch
Wart treatment
Hepatitis B (Adult) $102
Hepatitis B (Child) $102
Meningitis $147
MMR (Measles, Mumps, Rubella)
$116
Pneumonia $77
Polio (IPV) $96
TD (Tetanus, Diphtheria) $76
Tdap (Tetanus, Diphtheria,
Pertussis) $92
Vaccinations: $29.95–$147
DTaP (Diphtheria, Tetanus,
Pertussis) $82
Flu (Seasonal) $29.95
Hepatitis A (Adult) $117
Hepatitis A (Child) $97
Wellness & physical exams: $27–$104
Health condition monitoring: $59–$114
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
33
SPEKTRUM
Die durchschnittlichen Medikamentenkosten dagegen
liegen fünf Prozent höher als bei vergleichbaren Fällen
in der Arztpraxis, obwohl zwei von fünf Patienten ohne
ein Rezept aus der Klinik gehen. Jeder zehnte Patient wird
an einen Arzt oder eine Notfallstation überwiesen.
Ein wesentlicher Grund für die Preisunterschiede zur
klassischen Arztpraxis sind die tieferen Personalkosten:
Eine Nurse Practitioner verdient etwa 100 000 USD und
damit die Hälfte eines Arztes. Nurse Practitioners haben
einen Master in Nursing Science und eine spezifische
Weiterbildung in Diagnostik und Therapie. Da es sie in
den USA seit über 40 Jahren gibt, sind sie als Leistungserbringer unbestritten. Studien zeigen regelmässig, dass
die Behandlungsqualität vergleichbar ist mit der von
Hausärzten. In den Kliniken arbeiten sie normalerweise
alleine und decken die ganze Palette ab: Diagnose, Therapie, Führen der elektronischen Krankengeschichte,
Abrechnung, Beratung zu Prävention und Gesundheitsförderung – bis zur Dankeskarte, welche die Patienten in
der Regel zugeschickt bekommen.
Die Ärzteschaft hat sich inzwischen an die niederschwellige Konkurrenz gewöhnt. Die Praxen geben mehr und
mehr Gegensteuer, indem sie die Öffnungszeiten erwei-
Die Grundversorgung auf mehr
Fachpersonen aufteilen
Marc Müller,
Präsident von Hausärzte
Schweiz, über Möglichkeiten,
den Hausärztemangel
zu beheben
Care Management: Was halten Sie von niederschwelligen
Kleinstpraxen wie den Minute Clinics?
Marc Müller: Grundsätzlich ist es richtig, dass die
medizinische Grundversorgung auf mehr Fachpersonen aufgeteilt wird. Die Frage ist folglich, welche
Leistungen sollen auf welchem Kompetenzniveau erbracht werden?
Die Apotheken möchten vermehrt auch ärztliche Leistungen
erbringen: eine Diagnose erstellen, Medikamente verordnen. Wie beurteilen Sie diese Absichten?
Da bin ich skeptisch. Für die Diagnostik braucht es
einfach einen Arzt, denn die Ausbildung der Apotheker
ist nicht darauf ausgerichtet. Die Apotheken sind offenkundig unter Druck und suchen deshalb nach neuen
Geschäftsfeldern. Mit der margenunabhängigen Medi-
34
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
Perspektivenwechsel
Vom 26. bis 30. September 2010 weilte eine Delegation
des FMC-Vorstandes – Peter Berchtold, Jürg Vontobel
und Urs Zanoni – mit einem Dutzend Experten aus
Deutschland in Boston, um die jüngsten Entwicklungen,
Erfolge und Misserfolge des amerikanischen Gesundheitssystems zu studieren. Dieser Artikel ist der zweite
einer Serie, in der Konzepte und Erkenntnisse vertieft
präsentiert und diskutiert werden.
tert haben und Termine noch am gleichen Tag vergeben.
Und auch die Spitäler haben sich mittlerweile arrangiert:
Sie mischen zusehends in diesem Markt mit und versuchen damit, ihre Notfallabteilungen zu entlasten. Denn
auch in den USA gilt die Faustregel: Jeder zweite Patient
geht unnötigerweise in den Notfall.
Korrespondenz:
Urs Zanoni, MPH, Geschäftsführer mediX zürich
Vorstandsmitglied Forum Managed Care
Sumatrastrasse 10, 8006 Zürich
[email protected]
Die unterschätzten Kompetenzen
der Apotheker
Dominique Jordan,
Präsident von pharmaSuisse,
über die Neuorganisation
der Grundversorgung
Care Management: Was halten Sie von niederschwelligen
Kleinstpraxen wie den Minute Clinics?
Dominique Jordan: Das ist ein interessantes Konzept
und könnte dazu beitragen, die medizinische Grundversorgung zu sichern. Dass Ärzte aus Nachbar- und
Ostländern wegen den besseren finanziellen Rahmenbedingungen in die Schweiz ziehen, ist nämlich keine
langfristige Lösung. Anderseits sind Konzepte aus dem
Ausland in der Regel nur bedingt brauchbar und müssen
an die schweizerischen Verhältnisse angepasst werden,
damit die Patientensicherheit und Behandlungsqualität
garantiert sind.
Sie sprechen den Mangel an hausärztlichen Ressourcen an.
Folglich wäre die Schweiz ein idealer Standort für ein
vergleichbares Konzept?
SPEKTRUM
kamentenabgabe, wie sie die FMH vorschlägt, wird
dieser Druck noch zunehmen.
Also müssten die Apotheken Ärzte anstellen?
Das steht ihnen grundsätzlich frei, zum Beispiel für
die Triage. Die Krankenkassen stellen ja auch Ärzte
an. Sinnvoller wären aber Gesundheitszentren oder
Grosspraxen, in denen verschiedene Gesundheitsberufe
Hand in Hand arbeiten. Dies kann auch ein Apotheker
sein, der die sichere und hochwertige Medikamentenversorgung gewährleistet.
Und Nurse Practitioners wie in den Minute Clinics?
Wie gesagt: Für die Behandlung von speziellen Patientengruppen oder speziellen Krankheitsbildern braucht
es nicht in jedem Fall einen Arzt oder eine Ärztin. Für
die Betreuung von chronisch Kranken zum Beispiel
können auch spezifisch weitergebildete MPAs beigezogen werden, wie es derzeit diskutiert wird. Nurse
Practitioners oder Pflegefachpersonen gibt es aber einfach zu wenige: Deren Berufsverbände wissen genau,
dass der Nachwuchsmangel bei ihnen noch grösser ist
und schon viel länger dauert als bei den Ärzten.
Das Bestreben, mehr Zugänge zur medizinischen Grundversorgung zu schaffen, ist primär die Folge davon, dass es
zu wenig hausärztlicher Ressourcen gibt. Was unternimmt
Hausärzte Schweiz, um dies zu ändern?
Die wichtigsten Massnahmen werden in unserer Hausarztinitiative umschrieben: mehr Ausbildungsplätze,
das heisst bedarfsgerechte Ausbildung; kein Numerus
Clausus; die sichere Finanzierung von Praxisassistenzen;
neue Praxismodelle müssen der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Daneben braucht es Anstrengungen auf der gesetzlichen Ebene: Die ManagedCare-Vorlage geht in die richtige Richtung; nur besteht
die Gefahr, dass sie zwischen den Interessengruppen
zerrieben wird. Auch die Tarife sind zu modifizieren:
Hausärzte sind nach wie vor deutlich schlechter bezahlt
als Spezialisten. Schliesslich sind die Versorgungsstrukturen zu überdenken: In der GDK-Arbeitsgruppe «Neue
Versorgungsmodelle für die medizinische Grundversorgung» arbeiten wir zum Beispiel an Konzepten, die
zusätzliche Berufsgruppen einbeziehen.
Im Prinzip schon, denn der Hausarztmangel ist in gewissen Regionen bereits sehr kritisch. Doch die Ärzteschaft wehrt sich leider massiv gegen die Idee einer neuen
Aufgabenteilung mit den Apothekern. Letztlich führt
aber kein Weg daran vorbei, dass sich weitere Berufe
an der Grundversorgung beteiligen müssen – natürlich
unter Berücksichtigung ihrer Kompetenzen und der
Infrastrukturen, die sie zur Verfügung haben.
Welche Absichten hat denn pharmaSuisse, um die Apotheken – über Medikamenten-Dienstleistungen hinaus –
verstärkt in der Grundversorgung zu positionieren?
Damit eines von vornherein klar ist: pharmaSuisse beabsichtigt auf keinem Fall, aus Apothekern «Barfussärzte» zu machen. Hingegen wollen wir, dass unsere
Kompetenzen und Infrastrukturen besser ausgenützt
werden und wir formell zu einem integralen Bestandteil
der Grundversorgung werden. Wir wären zum Beispiel
in der Lage, bei gewissen Gesundheitsstörungen vom
Arzt delegierte Aufgaben zu übernehmen. Auch mit
Blick auf Integrierte Versorgungsmodelle für chronisch
Kranke können die Apotheker wichtige Funktionen
übernehmen, etwa bei der Erfassung von solchen
Patienten via Screenings und Triage oder bei deren
Begleitung. In der Prävention, besonders beim Impfen,
wird das Potential der Apotheken ebenfalls zu wenig
genutzt.
Verfügen die Apotheker wirklich über die nötigen Kompetenzen dafür?
pharmaSuisse und seine Mitglieder bereiten sich seit
mehr als 10 Jahren mit Aus-, Weiter und Fortbildung
auf diese Entwicklungen vor. In Basel und Genf wurden
Professuren für klinische und angewandte Pharmazie
eingerichtet und vom Verband finanziert. Weiterbildungstitel als Spezialist in Offizin- und Spitalpharmazie
liegen vor.
Heisst das, dass Sie davon absehen andere Leistungserbringer wie Ärzte und Pflegefachpersonen in die Apotheke
zu holen?
Ja, wir wollen primär die bestehenden Berufe in der
Apotheke für die Zukunft fit machen, sonst würden wir
den Mangel an Hausärzten und bei anderen Gesundheitsberufen noch verschärfen. Trotzdem ist es dringend
nötig, für die Betreuungsprozesse im System klare
Aufgabenteilungen zwischen sämtlichen Akteuren zu
definieren unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen
Kompetenzen und der Bedürfnisse der Schweizer Bevölkerung. Nur so lassen sich die Behandlungsqualität und
Kosteneffizienz optimieren.
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
35
A U F G E FA L L E N
Patienten arbeiten nicht mit
Vor allem bei Patienten mit einem chronischen Leiden
wird von Gesundheitsexperten immer wieder auf die
Notwendigkeit einer aktiven Mitarbeit der Betroffenen
hingewiesen. So sollen diese mit einer regelmässigen
Medikamenteneinnahme und aktiven Änderung ihrer
Lebensgewohnheiten den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts
der Techniker Krankenkasse für Nutzen und Effizienz
im Gesundheitswesen zufolge sieht ein Drittel der Befragten die Verantwortung für ihre Gesundheit eher bei
anderen als bei sich selbst. Und: Männer fühlen sich
davon noch weniger angesprochen als Frauen. Insgesamt
ist mit 28 Prozent mehr als ein Viertel der Betroffenen der
Ansicht, dass es Schicksal ist, ob sie wieder gesund werden
oder nicht.
Quelle: www.apotheke-adhoc.de
«Ich war ein Systemunfall»
Das 2004 in Deutschland gegründete Institut für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
war vielen wirtschaftsnahen Politikern und Lobbyisten
von Anfang an suspekt. Verstärkt wurde das Misstrauen
durch die Wahl eines Institutsleiters, der für seine
Fachkompetenz ebenso bekannt war wie für seine
undiplomatischen Auftritte: Peter Sawicki, der antrat,
um der evidenzbasierten Medizin in Deutschland zum
Durchbruch zu verhelfen, passte nicht ins Gesundheits-Establishment. «Ich war ein Systemumfall», erklärte
er später.
Die Medizinjournalistin Ursel Sieber hat den Aufstieg
und Fall des unbequemen Zeitgenossen und unbestechlichen Pharmakritikers zurückverfolgt. Sie sprach mit
seinen Weggefährten und Gegnern und beschreibt, mit
welchen Widerständen eine unabhängige und evidenzbasierte Medizin zu kämpfen hat.
Ursel Sieber
Gesunder Zweifel
Innenansichten eines Pharmakritikers –
Peter Sawicki und sein Kampf
für eine unabhängige Medizin.
Berlin Verlag; 2010.
Neues Jahr, neues Redaktionsteam
Mit dieser Ausgabe von «Care Management» gibt Urs
Zanoni die Funktion des Chefredaktors ab, die er Anfang
2008 mit der Neulancierung des Heftes unter dem Dach
von EMH Schweizerischer Ärzteverlag übernahm. Als
Vorstandsmitglied des Forum Managed Care versucht
er künftig zusammen mit EMH, die kommerzielle Basis
der Zeitschrift zu festigen.
Zur Verstärkung der Redaktion
konnte Anna Sax gewonnen werden. Die Gesundheitsökonomin
nimmt seit 20 Jahren verantwortungsvolle Aufgaben im Gesundheitswesen wahr. Unter anderem
war sie Geschäftsführerin der
Schweizerischen Gesellschaft für
Gesundheitspolitik SGGP, seit
2009 ist sie selbstständige Dozentin, Beraterin und
Redaktionsmitglied der Schweizerischen Ärztezeitung.
Zusammen mit Matthias Scholer,
der seit 2009 als Redaktor und
Managing Editor für die Zeitschrift
tätig ist, übernimmt sie ab diesem
Jahr die redaktionelle Verantwortung für «Care Management».
Auf Ende Jahr verabschiedete sich
zudem Ruedi Wartmann aus dem
redaktionellen Beirat, welchem er
seit der ersten Ausgabe der Zeitschrift angehörte und
stets mit seinen wertvollen Anregungen und Beiträgen unterstützte. Der Vorstand und der Redaktionelle
Beirat danken Ruedi Wartmann herzlich für seine langjährige Mitarbeit.
Schliesslich scheidet auch Tiziana Meyer als Vertreterin
des RVK aus. Sie gönnt sich ein Sabbatical. Ihre Nachfolge
übernimmt Dieter Ehrenberger.
Vorschau
Care Management 2/11 erscheint am 18. April 2011 mit dem Schwerpunktthema «Integrierte Versorgung in Deutschland».
36
C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1
www.care-management.emh.ch
CA R E
MANAGEMENT
Die Zeitschrift für Managed Care, Qualität und E-Health
Wir bedanken uns bei unseren
Inserentinnen und Inserenten für die gute
Zusammenarbeit im letzten Jahr.
argomed Ärzte AG
MedHow GmbH
Ärztekasse
MedSolution AG
AstraZeneca AG
medswiss.net Schweiz. Dachverband
der Ärztenetze
Berner Fachhochschule Fachbereich
Mondial Service Switzerland AG
Wirtschaft und Verwaltung
BlueCare AG
MSD Merck Sharp & Dohme-Chibret AG
Congrex Schweiz AG
Optimedia a division of Zenithoptimedia AG
CONTENT Marketing & Services GmbH
PonteNova PonteNet
CSS Versicherung
Publix Agentur für Werbung
CURAVIVA Verband Heime und
Rico Dormann Media Consultant Marketing
RVK
Institutionen
eastcare AG Ärztliches Dienstleistungsund Kompetenzzentrum
Sandoz Pharmaceuticals AG
sanofi-aventis (suisse) sa
E-Medicus GmbH
Semfinder AG
Exhibit & More AG
Spirig Pharma AG
grisomed AG
Studio Longatti Graphic Design & Advertising
hawadoc ag
SUVA
Hochschule Luzern
WE’G Hochschule Gesundheit
Keim Identity GmbH
WE’G Weiterbildungszentrum
Künzi Beratungen
MECONEX
für Gesundheitsberufe
wittlin stauffer
Wir wünschen Ihnen allen ein erfolgreiches
Jahr 2011 und freuen uns darauf,
auch in diesem Jahr wieder mit Ihnen
zusammenarbeiten zu dürfen.
EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG
Editores Medicorum Helveticorum
AZ_05_d_if_0309
Neugier.
Leidenschaft.
Wir entwickeln neue Medikamente,
um die Lebensqualität zu verbessern.
Medikamente, die innovativ sind.
Für Millionen von Menschen in aller Welt.