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www.care-management.emh.ch CA R E MANAGEMENT 4 1 September Februar 2011 2008 Die Zeitschrift für Managed Care, Qualität und E-Health Zeitschrift für Integrierte Versorgung, Qualität und eHealth Helsana-Modell Interview mit Ueli Grüninger OliverRezepteschreiber Vom Reich kommentiert zumdie Partner Ergebnisse der Online-Umfrage von «Care Management» Schwerpunkt «Mental Health und Integrierte Versorgung» Ärztenetze Depressionen und mehr Was stellen sich führende Gesundheitspolitiker darunter vor? Schwerpunkt «Mental Health und Integrierte Versorgung» Ärztenetze Eine Krankheit in der französischsprachigen kommt selten allein Schweiz Eine Übersicht über Managed Care in der Westschweiz Schwerpunkt «Mental Health und Integrierte Versorgung» Schwerpunkt «Ärztenetze − eine Leistungsschau» Gründung Jeder Tagvon wird Ärztenetzen genau geplant Von der Vision bis zur Realität Vorschau auf das Symposium 2011 Vertikale Integration: Symposium 2008 des Forums Genug Managed der Care Worte – Taten! Ein philosophischer Rückblick von Ludwig Hasler Ein Ausblick auf weitere notwendige Reformschritte Die englische of Medicine» Jenseits von«Map Managed Care 2011 Der «Lonely Planet» für das Gesundheitswesen Kleinstpraxen bei Detailhändlern und Apotheken: eine Lösung für die Schweiz? Förderpreis 2008 desauch Forums Managed Wo die Kunden Patient seinCare können Einblick in die Siegerprojekte Offizielles OrganOrgan Offizielles FORUM MAN A G E D CARE Editores Medicorum Helveticorum Unser Dank gilt allen, die tagtäglich bei der Rehabilitation und Wiedereingliederung von Verunfallten Grossartiges leisten: den Ärzten, dem Pflegepersonal, den Arbeitgebern und den Verunfallten selber. Ihnen allen ist es zu verdanken, dass immer mehr Menschen nach einem Unfall wieder in ihr gewohntes Leben zurückkehren können. Mehr Infos über das New Case Management der Suva: www.suva.ch/ncm BEIM WORT GENOMMEN Interview mit Ueli Grüninger, Geschäftsführer Kollegium für Hausarztmedizin und Projektleiter Gesundheitscoaching Vom Rezepteschreiber zum Partner Managed Care: Herr Grüninger, wie schätzen Sie den Stellenwert der Prävention in der schweizerischen Gesundheitspolitik ein? Ueli Grüninger: Dadurch, dass jetzt ein Präventionsgesetz aufgegleist ist, hat das Thema deutlich an Bedeutung gewonnen. Das ist erfreulich. Viele befürworten eine Stärkung der Prävention aus grundsätzlichen, gesundheitspolitischen Überlegungen, manche aber vor allem unter dem Kostenaspekt. Das Letztere ist allerdings ein wenig gefährlich. Warum gefährlich? Prävention ist nicht Teil des KVG. Entweder ist man krank, dann bezahlt die Krankenversicherung die Heilungskosten, oder man ist gesund, dann geht es sie nichts an. Die neueren Konzepte, die Gesundheit und Krankheit als Kontinuum betrachten und Empowerment und Gesundheitskompetenz als Schlüsselfaktoren ins Zentrum stellen, stossen auf ein veraltetes System, welches ausschliesslich auf die Verwaltung von Krankheit ausgerichtet ist. Dazu kommt, dass Finanzierung und Erträge von Präventionsmassnahmen an verschiedenen Orten anfallen. Weil die Krankenkassen nicht für indirekte Krankheitskosten wie Arbeits- und Lohnausfälle aufkommen müssen, haben sie auch wenig Anreiz, gesundes Verhalten zu fördern. Und was ist die Konsequenz daraus? Alle lieben und loben die Prävention, aber wenn es darum geht, sie zu finanzieren, ist niemand zuständig. Wie und wo soll Prävention ausgebaut werden? Zunächst müssen wir zu einer Gesamtbetrachtung kommen und nicht weiter unkoordiniert den Ausbau von Interventionen nur in einzelnen Bereichen wie beispielsweise Tabak, Ernährung oder Stress fördern. Es braucht einen neuen Ansatz: Gesundheit, umfassend verstanden, sollte als Mittel zum Zweck gesehen werden, das es uns ermöglicht, unser Leben produktiv und erfüllend zu gestalten. Also gilt es, die persönlichen Ressourcen zu stärken und die Menschen dabei zu unterstützen. Wo sehen Sie die Rolle des medizinischen Fachpersonals in der Prävention? Es ist wichtig, systematisch Partnerschaften aufzubauen. Keine Berufsgruppe hat ein Monopol, alle haben ihre spezifischen Kompetenzen. Vielleicht braucht es dafür eine Änderung der traditionellen Arbeitsteilung, wie sie in der kurativen Medizin gilt: Der Arzt ist nicht mehr in jedem Fall der Chef, der Macher, der Verschreibende. Und: Das Rollenverständnis ist zu erweitern, auch in der Partnerschaft zwischen Ärztin und Patient. Der Patient, die Patientin ist eigentlich die wichtigste Person – in ihr steckt ein Riesenpotential. Ueli Grüninger Sie denken also, dass noch mehr herauszuholen ist? Auf jeden Fall. Aber Prävention verlangt per definitionem Änderungen von allen, und das ist harte Arbeit. Und dann muss man auch sehen, Prävention ist keine Wunderdroge. Ich erinnere an das sogenannte Präventionsparadox: «Viele müssen handeln, damit wenige profitieren.» Es müssen also Hunderte mit Rauchen aufhören, damit einige wenige nicht an Lungenkrebs erkranken. Das macht es für den Einzelnen nicht leichter, seinen Lebensstil zu ändern. Sie haben vor etwas über zwei Jahren das Projekt Gesundheitscoaching lanciert. Worum geht es bei diesem Projekt? Persönlich machte ich schon als junger Arzt die Erfahrung, dass ich mit meinem medizinischen Wissen bald an Grenzen stiess, wenn es darum ging, Patientinnen und Patienten zu gesünderen Verhaltensweisen zu motivieren. Meine Versuche, die Patienten zu einer Gewichtsabnahme oder zum Rauchstopp zu «führen», endeten meist frustrierend. So entstand die Idee, ein Instrument zu entwickeln, mit dem die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis einfach und mit vertretbarem Aufwand etwas machen können. Mit welchen Methoden arbeiten Sie? Methoden der ärztlichen Kurzintervention samt Evidenz für deren Wirksamkeit gibt es bereits seit einiger Zeit für einzelne Probleme wie Rauchen oder Alkohol. Es ging darum, sie so weiterzuentwickeln und zu kombinieren, dass sie für eine breitere Problempalette und auch in der täglichen Sprechstunde eingesetzt werden können. Neben der Methodik ist das Entscheidende aber die veränderte Rollenverteilung zwischen Arzt und Patient: Der Arzt wird zum Coach und Begleiter. Er unterstützt den C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 1 BEIM WORT GENOMMEN Patienten darin, etwas zu machen, was dieser selbst will. Es ist eine Partnerschaft, in einer erweiterten Patient–Arzt-Beziehung. Wie sieht das konkret aus? Wir gehen in vier Schritten vor: Ansprechen, analysieren, abmachen und ausführen. In einer ersten Sitzung fragen wir also die Patientin, ob sie Interesse hat, selber etwas für sich und ihre Gesundheit zu machen. Wir sagen nicht: «Sie haben ein Problem, Sie sollten ...», sondern die Patientin entscheidet selbst, ob sie etwas verändern will, und was und wie. Sie füllt dazu als Erstes einen Fragebogen aus mit einer Selbsteinschätzung zu den sechs Bereichen Rauchen, Alkohol, Ernährung, Gewicht, Bewegung und Stress. Bis zu einer zweiten Konsultation überprüft die Patientin selber anhand eines Fragebogens ihre Situation und ihr Gesundheitsverhalten, dann werden die Resultate dieser Selbsteinschätzung besprochen. Im dritten Schritt macht die Patientin, unterstützt von ihrem Arzt, ihren persönlichen Plan aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen und Ressourcen: Kleine, realistische Ziele ermöglichen Erfolgserlebnisse, die zum Weitermachen motivieren. Der Arzt begleitet dann als Coach die Patientin durch die Umsetzung. Und machen die Patientinnen und Patienten mit? Wir führen zurzeit einen 12-monatigen Pilottest in 20 Hausarztpraxen durch. Der bisherige Erfolg hat unsere Erwartungen deutlich übertroffen: 90% der von ihrem Hausarzt angesprochenen Patienten nehmen den Fragebogen mit nach Hause, 60–65% von ihnen füllen ihn aus und kommen damit zur zweiten Konsultation. Auch auf der dritten und vierten Stufe bleiben je rund zwei Drittel dabei. Wie steht es mit der Finanzierung? Das ist natürlich der Knackpunkt. Für fast jeden der sechs genannten Verhaltensbereiche ist auf nationaler Ebene eine andere Stelle zuständig – Bundesämter, Tabakpräventionsfonds, Gesundheitsförderung Schweiz – eine unmögliche Situation. Wir haben das Geld für den Pilot auch mit Unterstützung vieler weiterer Partner trotzdem zusammenbekommen. Wie es nach der Pilotphase weitergeht, ist noch nicht klar. Die Patientinnen und Patienten machen gerne mit und auch drei Viertel der Ärzte, die jetzt dabei sind, möchten weitermachen, das ist schon einmal ein Highlight. Die Ergebnisse der laufenden Evaluation, die wir in diesem Jahr publizieren wollen, tragen hoffentlich dazu bei, mögliche Geldgeber vom Nutzen der Fortführung und Verbreitung des Gesundheitscoachings zu überzeugen. 2 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Das Kollegium für Hausarztmedizin (KHM) ist eine Stiftung zur Förderung der Qualität der medizinischen Grundversorger, getragen von den Fachgesellschaften der Hausärzte, der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften und den medizinischen Fakultäten der Schweiz. Das KHM hat das Projekt «Gesundheitscoaching» zusammen mit Gesundheitsförderung Schweiz entwickelt und erprobt es mit Unterstützung von Bund, Kantonen, Stiftungen und Wirtschaft seit Anfang 2010 in einem ausgedehnten Pilotprojekt im Kanton St. Gallen. Das Programm integriert die Beratung für die häufigsten Gesundheitsverhaltensweisen in ein gemeinsames, modular aufgebautes Rahmenprogramm für die Gesundheitsförderung und Prävention in der ärztlichen Praxis. Die bereits bestehende Partnerschaft zwischen Patient und Arzt wird genutzt – die Zusammenarbeit spielt sich sowohl in der Sprechstunde als auch im Alltag des Patienten ab. Die Evaluationsergebnisse werden im Laufe von 2011 vorliegen. Mehr Informationen finden sich unter www.gesundheitscoaching-khm.ch. Die Hausarztpraxis mag ein guter Ort zu sein, um Präventionsbotschaften zu vermitteln, doch bleibt dann überhaupt noch Zeit für die Behandlung der Kranken? Hier stossen wir tatsächlich an Grenzen. Die traditionellen Aufgaben der Hausarztpraxis haben natürlich trotz allem Vorrang. Diese sind, ganz im Gegensatz zur Prävention, auch tarifarisch abgesichert … … Damit wären wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs. So ist es. Aber Tarife sind nur eine Rahmenbedingung. Neue Formen der integrierten Versorgung werden eine Arbeitsaufteilung und damit die Machbarkeit in der Praxis fördern. Am wichtigsten aber ist die grundsätzliche Umstellung auf ein umfassendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit, und auf eine neue Verteilung von Rollen und Verantwortung zwischen Patient und Arzt. Erhoffen Sie sich vom neuen Präventionsgesetz Unterstützung für das Projekt Gesundheitscoaching? Direkte Unterstützung ist daraus nicht zu erwarten. Es besteht aber die Hoffnung, dass das Gesetz eine breitere Sicht auf die Prävention eröffnet und damit Schub gibt für dringend notwendige weitere Entwicklungen. Interview: Anna Sax Korrespondenz: Dr. med. Ueli Grüninger, Kollegium für Hausarztmedizin KHM Landhausweg 26, 3007 Bern [email protected], www.gesundheitscoaching-khm.ch I N H A LT S V E R Z E I C H N I S / I M P R E S S U M Beim Wort genommen Anna Sax Ueli Grüninger 1 Vom Rezepteschreiber zum Partner Der Geschäftsführer des Kollegium für Hausarztmedizin und Projektleiter Gesundheitscoaching über den Stellenwert der Prävention im Schweizer Gesundheitswesen 18 «Vernetzung ist die beste Anti-Burn-out-Strategie für Ärzte» Joachim Leupold und Urs Keller – Ein Psychiater und ein Hausarzt berichten über ihre Erfahrungen im gemeinsamen Gesundheitsnetz Anna Sax Schwerpunkt «Mental Health und Integrierte Versorgung» Alfred Künzler, Hans Kurt 4 Geeignete Strukturen schaffen Den Bedürfnissen psychisch Kranker ist in der Integrierten Versorgung Rechnung zu tragen 21 Jeder Tag wird genau geplant Im Gespräch mit einer Psychiatrie-Patientin im ambulanten Versorgungsnetz Silvia Schenker 23 Krankes Gesundheitswesen Psychische Krankheiten und Integrierte Versorgung aus Sicht einer Nationalrätin Regula Ricka 5 Depressionen und mehr Die epidemiologischen Daten zum psychischen Gesundheitszustand in der Schweiz Andreas Andreae, Gisela Heim, Klaus Raupp, Agnes von Wyl 7 Case Management unter erschwerten Bedingungen Forum Managed Care Symposium 2011 26 Vertikale Integration: Genug der Worte – Taten! Vorschau auf das Symposium 2011 Da tut sich was Heinz Locher Erfahrung mit einem Versorgungsmodul für Schwerkranke an der ambulant-stationären Schnittstelle 28 Jenseits von Managed Care 2011 Judith Alder, Alfred Künzler, Regine Strittmatter Spektrum 12 Eine Krankheit kommt selten allein Bei körperlichen chronischen Erkrankungen darf die Psyche nicht vergessen gehen Patrick Haemmerle 15 Niederschwellig und mobil Im Kanton Freiburg besucht das PsyMobile Jugendliche mit psychischen Beschwerden zu Hause Ein Ausblick auf weitere notwendige Reformschritte nach der laufenden KVG-Revision Urs Zanoni 32 Wo die Kunden auch Patient sein können Kleinstpraxen bei Detailhändlern und Apotheken: ein Weg gegen den Hausärztemangel in der Schweiz? Aufgefallen 36 Neues Jahr, neues Redaktionsteam IMPRESSUM Zeitschrift für Integrierte Versorgung, Qualität und eHealth Offizielles Organ des Forums Managed Care ISSN Printausgabe: 1662–5404 ISSN Online-Version: 1662–5412 Redaktion Anna Sax, Matthias Scholer Managing Editor Matthias Scholer Redaktioneller Beirat Georges Ackermann, Philip Baumann, Iren Bischofberger, Lorenz Borer, Martin Denz, Dieter von Ehrenberg, Thomas Gierl, Kurt E. Hersberger, Claudio Heusser, Patrick Holzer, Bruno Kesseli, Mechtild Willi Studer, Urs Zanoni Betreuung des Schwerpunktthemas dieser Nummer Alfred Künzler, Hans Kurt Redaktionsassistentin Ruth Schindler (E-Mail: [email protected]) Redaktionsadresse EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG Farnsburgerstrasse 8 CH-4132 Muttenz Tel. +41 (0)61 467 85 54 Fax +41 (0)61 467 85 56 E-Mail: [email protected] Marketing EMH Thomas Gierl M.A. Leiter Marketing und Kommunikation EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG Farnsburgerstrasse 8 CH-4132 Muttenz Tel. +41 (0)61 467 85 49 Fax +41 (0)61 467 85 56 E-Mail: [email protected] Inserate EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG Ariane Furrer Assistentin Inserateregie Farnsburgerstrasse 8 CH-4132 Muttenz Tel. +41 (0)61 467 85 88 Fax +41 (0)61 467 85 56 E-Mail: [email protected] Abonnemente EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG Abonnemente Farnsburgerstrasse 8 CH-4132 Muttenz Tel. +41 (0)61 467 85 75 Fax +41 (0)61 467 85 76 E-Mail: [email protected] Jahresabonnement: CHF 100.– exkl. Versand © Copyright by EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Basel Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, elektronische Wiedergabe und Übersetzung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Das Copyright der angenommenen Beiträge geht für die Dauer des gesetzlichen Urheberrechts auf den Verlag EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Basel, über. Der Verlag erhält damit das Recht, den Beitrag im In- und Ausland sowie zeitlich unbeschränkt zu verwenden, zu bearbeiten (z.B. zu Abstracts), zu übersetzen, zu vervielfältigen, zu übermitteln, weiterzuverwerten, zu veröffentlichen und zu vertreiben, in jeder Form und in jedem Medium (auch im Internet), sowie dem Autor selbst, Dritten als auch der Allgemeinheit die entsprechenden Nutzungsrechte auf Verwendung, Bearbeitung usw. einzuräumen. Die Autoren stimmen der Übertragung des Copyrights zu. Hinweis Der Verlag übernimmt keine Garantie oder Haftung für Preisangaben oder Angaben zu Diagnose und Therapie, im speziellen für Dosierungsanweisungen Alfred Künzler und Hans Kurt zum Schwerpunktthema «Mental Health und Integrierte Versorgung» Geeignete Strukturen schaffen Den Bedürfnissen psychisch Kranker ist in der Integrierten Versorgung Rechnung zu tragen Aus den Forschungsergebnissen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums geht hervor, dass trotz hoher Prävalenzraten nur ein kleiner Teil der psychischen Erkrankungen in der Schweiz tatsächlich erkannt und wenn nötig von spezialisierten Fachpersonen behandelt wird. Neben persönlichen Leidensgeschichten birgt dieser Umstand auch die Gefahr von erheblichen Kostenverschiebungen in den somatischen Bereich des Medizinalsystems, aber auch in andere Bereiche des Sozialsystems, etwa in die IV. Dem ist beim Entwickeln künftiger Managed-CareModelle Rechnung zu tragen: Studien belegen, dass eine adäquate Behandlung psychischer Erkrankungen sowohl die Zahl von Berentungen vermindert wie auch wesentlich zur erfolgreichen Rehabilitation beiträgt. Um die spezifischen Bedürfnisse psychisch kranker Menschen berücksichtigen zu können, braucht es vor diesem Hintergrund auch im Rahmen integrierter Versorgungsmodelle geeignete Strukturen für die Früherkennung und Frühbe- Alfred Künzler Hans Kurt handlung. Angesichts der nach wie vor hohen Stigmatisierung psychischer Erkrankungen muss der niederschwellige Zugang zu ausgewiesenen Fachpersonen – in diesem Fall Psychiater und Psychologen – möglich bleiben. Dies nicht zuletzt, damit neue strukturelle Rahmenbedingungen nicht einen wesentlichen Faktor jedes psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungserfolgs gefährden, nämlich die vertrauenswürdige therapeutische Beziehung. Es gilt sicherzustellen, dass nicht Kostenargumente ausgerechnet im Bereich der volkswirtschaftlich relevanten psychischen Krankheiten zu – letztlich kontraproduktiven – Leistungsrationierungen führen. Integrierte Versorgungsmodelle sollen die Behandlungsqualität garantieren und gleichzeitig die Kosten reduzieren. Gerade im Bereich komplexer Krankheitsbilder, wie chronischen psychischen Störungen oder somatischen Erkrankungen und deren psychischen Begleiterscheinungen und Folgen, zeigt sich die potentielle Widersprüchlichkeit dieser Anforderungen besonders deutlich. Wird obigen Gedankengängen Rechnung getragen, stellt die verstärkte Koordination und interdisziplinäre Vernetzung anerkannter Leistungserbringer – hier der Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Fachpsychologen für Psychotherapie – in integrativen Versorgungsmodellen aus unserer Sicht eine Chance dar. Korrespondenz: Dr. phil. hum. Alfred Künzler, Vorstand/Past-President FSP1 Mühlebergstrasse 104a, 3034 Murzelen [email protected] www.psychologie.ch 1 Föderation der Schweizer Psychologen, Dachverband der univer- sitär ausgebildeten Psychologen und psychologischen Psychothera- Dr. med. Hans Kurt, Präsident FMPP2/SGPP peuten Bielstrasse 109, 4500 Solothurn 2 Dachverband der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgesell- schaften SGKJPP und SGPP 4 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 [email protected] www.psychiatrie.ch S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Regula Ricka Depressionen und mehr Die epidemiologischen Daten zum psychischen Gesundheitszustand in der Schweiz Psychische Störungen sind weitverbreitet und zählen laut Weltgesundheitsorganisation zu den häufigsten Krankheiten. Sie führen oft zu relevanten Beeinträchtigungen in Alltag und Beruf bis hin zu Invalidisierung oder gar Suizid. Dennoch werden sie oft nicht erkannt, heruntergespielt und in ihrer persönlichen, gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Bedeutung unterschätzt. Wie es um den psychischen Gesundheitszustand in der Schweiz wirklich steht, geht aus den neusten epidemiologischen Daten hervor. Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium in Neuchâtel (Obsan) führt im Auftrag von Bund und Kantonen regelmässig Analysen zur psychischen Gesundheit, Krankheiten und Behinderungen durch und berichtet über die wichtigsten Fakten zur Situation und Entwicklung der psychischen Gesundheit der Schweiz. Etwa die Hälfte der Bevölkerung erkrankt ein- oder mehrmals im Verlaufe des Lebens an einer psychischen Krankheit (Lebenszeitprävalenz). Die meisten davon sind vorübergehend. Ein Drittel der Menschen mit psychischen Problemen fühlt sich in der Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Personen mit chronischen psychischen Problemen sind im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung doppelt so oft in ihrer Leistungsfähigkeit und dreimal so oft in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt [1]. International und national übereinstimmende Studien belegen, dass die Jahresprävelenz für eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung der erwachsenen Bevölkerung bei 25% liegt [1]. Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen [2]. Suizid ist eine tragische Folge. Es wird davon ausgegangen, dass in 90% der Suizide eine Depression [3] vorlag. In der Schweiz sterben jährlich rund 1300 Personen durch Suizid. Im Jahr 2008 waren es 861 Männer und 452 Frauen. Tendenziell sind die Suizide bei den jüngeren Männern abnehmend. Im Alter nehmen sie leicht zu. Trotzdem ist die Suizidrate der Schweiz im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch [4], inklusive organisierter Suizidhilfe. Weit häufiger sind Suizidversuche. Die Inzidenzrate für die Beobachtungsjahre 2004– 2009 beträgt für die Agglomeration Bern 106,8/100 000 Abb.1 Kostenentwicklung psychiatrische Versorgung (KVG). 700 000 000 600 000 000 CHF / Jahr 500 000 000 400 000 000 300 000 000 200 000 000 100 000 000 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Kosten freipraktizierende Psychiater/innen Kosten ambulante psychiatrische Kliniken stationäre psychiatrische Kliniken Quelle: Datenpool santésuisse / Auswertung Obsan 2000–2009 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 5 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Einwohner. Betroffen sind insbesondere Frauen zwischen 15 und 29 Jahren. Ein Suizidversuch gilt als Risikofaktor für weitere suizidale Handlungen [5]. Versorgungsstrukturen und deren Inanspruchnahme In den letzten Jahren haben sowohl die ärztlichen als auch die psychotherapeutischen Leistungen zugenommen. Das heisst nicht, dass der Anteil psychischer Krankheiten gestiegen ist. Wahrscheinlich hat die Bereitschaft zur Behandlung zugenommen. In der Grundversorgung nehmen die Hausärztinnen und Hausärzte eine wichtige Rolle in der Behandlung von psychischen Krankheiten ein. Laut internationalen Studien liegt die Prävalenzrate von Depressionen um 10% [3]. Im Vergleich dazu lag im Jahr 2008 die Anzahl der gemeldeten depressionsbedingten Konsultationen bei 1% aller gemeldeten Konsultationen in den Hausarztpraxen der Schweiz [2]. Die Zahl der niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiater hat in den letzten Jahren zugenommen. Mit 24 freipraktizierenden Fachärztinnen und Fachärzten pro 1000 Einwohner nimmt die Schweiz in Europa einen Spitzenplatz ein (6). Gemäss den Angaben der Berufsverbände für die nichtärztliche Psychotherapie steigt die Zahl der Psychologinnen und Psychologen mit einer Weiterbildung kontinuierlich an. Sturny [1] prognostiziert in wenigen Jahren eine Verdoppelung der psychologischen Psychotherapie gegenüber der fachärztlichen Psychiatrie. In derselben Arbeit wird festgestellt, dass die Psychotherapiepraxen in der Schweiz sehr ungleich verteilt sind. In den ländlichen Kantonen gibt es nur vereinzelte spezialisierte Praxen. Die Schweiz verfügt mit 62 psychiatrischen Kliniken über 1,3 Betten pro 1000 Einwohner, die Hospitalisierungsrate liegt bei 7,5/1000 Einwohner. Im internationalen Vergleich hat die Schweiz die Standards für eine balancierte ambulante und stationäre Behandlung noch nicht erreicht [6]. Nachfolgend werden die Kostenverhältnisse auf der Grundlage der obligatorischen Krankenversicherung für die psychiatrische Versorgung dargelegt (siehe Abb.1). 6 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Die Häufigkeit und die Art der Inanspruchnahme von psychiatrischen und psychotherapeutischen Leistungen werden nicht allein durch den Schweregrad einer Krankheit beeinflusst. Soziodemographische, systembezogene (Verfügbarkeit der Angebote) wie auch regionale Faktoren (Stadt/Land) beeinflussen die Inanspruchnahme von Behandlung und Betreuung [7]. Literatur 1 Sturny I, Schaller S. Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie. In: Kocher G, Oggier W. Gesundheitswesen Schweiz 2010–2012. Bern; 2010. S. 321 ff. 2 Schuler D. Diagnose von Depressionen in Hausarztpraxen. 2010. www.bag.admin.ch/themen/medizin/00683/03923/ index. Eingesehen am 12. Januar 2011. 3 Begré S, Rička R. Erkennen, behandeln und verhüten von Depressionen in der Grundversorgung. Schweiz. Ärztezeitung. 2010;91:8. S. 312–6. 4 Bundesamt für Statistik. Statistik der Todesursachen von 2008. www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/ 14/02/04/key/01.html. Eingesehen am 11. Januar 2011. 5 Reisch T. Bericht Monitoring suizidales Verhalten in der Agglomeration Bern. 2010. www.bag.admin.ch/themen/ medizin/00683/03923/index. Eingesehen am 12. Januar 2011. 6 World Health Organization (2008). Policies and practices for mental health in Europe – meeting the challenges. www.euro.who.int/document/e91732.pdf. Eingesehen am 12. Januar 2011. 7 Fasel T. Baer N, Frick U. (2010). Dynamik der Inanspruchnahme bei psychischen Problemen. Obsan Dossier 13, Neuchâtel. Korrespondenz: Dr. Regula Ricka, MPH Wissenschaftliche Mitarbeiterin Eidgenössisches Departement des Innern EDI Bundesamt für Gesundheit BAG Direktionsbereich Gesundheitspolitik Schwarzenburgstrasse 161, CH-3097 Liebefeld [email protected] www.bag.admin.ch S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Andreas Andreae 1 , Gisela Heim 2 , Klaus Raupp 3 , Agnes von Wyl 4 Case Management unter erschwerten Bedingungen Erfahrung mit einem Versorgungsmodul für Schwerkranke an der ambulant-stationären Schnittstelle Der psychiatrische Wissensfortschritt und die gesundheitspolitische Strategie «ambulant vor stationär» führen vermehrt dazu, dass psychisch kranke Menschen nicht mehr über längere Zeiträume hinweg aus ihrem angestammten Leben herausgerissen werden, sondern einen Grossteil ihres Genesungsoder Stabilisierungsprozesses ausserhalb der stationären Psychiatrie vollziehen. Dank einer professionalisierten Versorgungskoordination und intensivem Case Management können heute selbst schwer Erkrankte mit komplexen Sozialproblemen davon profitieren. Die Integrierte Psychiatrie Winterthur (ipw) hat während den letzten 10 Jahren damit Erfahrungen gesammelt. Zeitgemässe Versorgungs- und Behandlungsgrundsätze wie Patientenorientierung, Gemeindenähe, Integration und Spezialisierung haben die Psychiatrie zu einem ebenso differenzierten und reichhaltigen wie verästelten und in Spezialleistungen fragmentierten Angebotssystem ausAbb. 1 Leistungserbringer im Netzwerk auf sechs Versorgungsebenen. Sozialhilfe Selbsthilfe Spitex Psychiater Hausarzt Psychologe Ambi Tagesklinik k Spital KIZ + Kinik Spez. Klinik Arbeitsintegr. Werkstatt Wohnheim Zahlreiche Leistungserbringer – ein Produkt 1 ipw Dr. med. Ärztlicher Direktor 2 ipw lic. phil. Leiterin Soziales und Netzwerk 3 ipw Leiter Case Management 4 ZHAW Dr. phil. Dep. Psychol. Leiterin Forschungsschwerpunkt Psychotherapie und psychische Gesundheit gestaltet. Zwar kann die heutige Psychiatrie massgeschneidert auf Wünsche, Bedürfnisse und Probleme der Patienten und Mitbetroffenen eingehen. Der gesamte Behandlungsprozess hin zu einem sinnvollen Ganzen gerät aber leicht aus dem Blickfeld. So bleiben Einzelleistungen oft isoliert ohne die nötige passgenaue Begleit- oder Anschlusslösung. Und gerade für schwierigste Fälle sind integrale Behandlungspfade durch Abgrenzungen zwischen Gesundheits- und Sozialwesen, Krankenversicherern, Kanton und Gemeinden versperrt. Um ihr Behandlungspotential auszuschöpfen, kommt die heutige Psychiatrie um professionalisierte Formen der Versorgungskoordination und -steuerung nicht herum – auf Fallebene genauso wie auf Systemebene. Netzwerklösungen und Integrierte Versorgung Eine Organisationsform auf Systemebene, die das Dilemma von Spezialisierung, Fragmentierung und Integration zu lösen vermag, ist das Netzwerk. Netzwerke sind verbindliche Formen der Zusammenarbeit verschiedenster rechtlich selbständiger Leistungsanbieter zu gemeinsamen Produktionsprozessen (Abb. 1). Dabei liegt die Lösung von Koordination und Steuerung in einem geschickten Spiel zwischen festgelegten Standards, individuellen und situationsbezogenen Freiräumen sowie definierten Verantwortlichkeiten, die sich auf die Kernkompetenzen der jeweiligen Berufsgruppe oder Organisationseinheit beziehen. Seit der Institutionsgründung 2001 ist die Hauptaufgabe der Integrierten Psychiatrie Winterthur ipw (seit 2010 inkl. Zürcher Unterland, 420 000 Regionsbewohner) die fortlaufende Entwicklung einer kooperativen patientenorientierten Netzwerkversorgung. Andreas Andreae Gisela Heim Klaus Raupp Agnes von Wyl C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 7 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Bedarf, Hilfestellungen, Interventionen und Schnittstellen werden gemeinsam von der Institution und den freien ärztlichen, therapeutischen, pflegefachlichen und sozialen Versorgungspartnern sowie den Betroffenen beschrieben und zugunsten klarer Behandlungs- und Rehabilitationswege optimiert. Immer wesentlicher wird dabei der frühzeitige Einbezug aller Leistungsfinanzierer. Die an Vorgaben der WHO und des Zürcher Psychiatriekonzepts von 1995/98 orientierten konzeptionellen und strukturellen Leitlinien von ipw und Netzwerk sind in dieser Zeitschrift dargestellt worden [1, 2]. Intensive Case Management bei Heavy Use Auf Fallebene steht das Intensive Case Management (ICM) paradigmatisch für neue Lösungen in heutigen Versorgungssystemen, auch wenn es nur für eine kleine Patientengruppe mit allerschwierigsten instabilen Krankheitsverläufen und Sozialproblemen konzipiert ist. ICM setzt in der Kernzone schlechthin der Versorgungsaufgabe an, entlang der ambulant-stationären Schnittstelle, wo es komplexen kritischen Fallkarrieren mit Mehrfachproblematik und unkoordiniertem «Heavy Use» entgegenwirken will. Die ambulant-stationäre Schnittstelle bleibt auch in einer gut vernetzten Psychiatrie der herausforderungsreichste Übergang; die Brüche auf Systemebene sind am grössten (Abb. 2), die konkreten Austrittsrisiken auf Fallebene treten nicht in der Klinik, sondern erst zu Hause zutage [3]. ICM ist zugleich zeitintensive, aktiv aufsuchende, tragende Beziehungsarbeit und langfristige Abb. 2 Ambulant-stationäre Schnittstelle – Übergänge und Brüche. Gesundheitswesen Psychiatrische Klinik Finanzierung Spezialisierte Versorgung Medizinische Versorgung Intramurale Welt Soziale Integration Sozialwesen Grundversorgung Lebenswelt Zu Hause 8 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 beharrliche Fallkoordination und Netzwerkarbeit. Es zielt auf gesundheitliche und soziale Stabilität. Sozialpsychiatrische Errungenschaften der Diagnostik und Behandlung im und mit dem sozialen Umfeld verbinden sich mit modernem Dienstleistungsverständnis und Organisationsmanagement. Eine hohe Mobilität ermöglicht neben ambulant-stationärem Schnittstellenmanagement den entscheidenden Miteinbezug der sozialen Lebenswelten eines Patienten. ICM ist aber nicht nur regional zu einem Aushängeschild neuer Versorgungsmethodik und -kultur in der Psychiatrie geworden. Die Methode hat sich weltweit entwickelt, und positive Effekte auf Hospitalisationsbedarf, Versorgungskooperation und Sozialkompetenz sind in einer aktuellen Metaanalyse der Cochrane-Gruppe bestätigt worden [4]. ICM wurde in der ipw 2001/02 als Teil des kantonalen Anschubprojektes der ipw versuchsweise eingeführt. Projektleitend war der Fachbereich Sozialarbeit der ipw, welcher internationale Methodenstandards von Intensive Case Management auf Verhältnisse der Klinikorganisation und Versorgungsregion adaptiert und mit zwei Sozialpädagogen eintrainiert hatte. Die Prozessmodule Engagement, Assessment, Planning, Intervention, Controlling und Evaluation und Piloterfahrungen mit der Implementierung und Nutzung von ICM in einem Schlüssel von maximal 15 Fällen auf einen Case Manager wurden hier bereits früher beschrieben [1]. Von Anfang an war ICM Teil eines Ganzen, d.h. eines von mehreren sukzessive entwickelten Versorgungsmodulen in der integrierten Netzwerkkoordination und -steuerung. Seine Entwicklung und Erprobung vollzog sich im spezifischen Regionsversorgungskontext. Entsprechend relativiert sich seine isolierte Betrachtung und Übertragung als Versorgungsmodul. Fallauswahl, Verfahrenstechniken und Fachpersonaleinsatz erfuhren Differenzierungen und Anpassungen bedingt durch Fall- und Systemrückmeldungen, Begleitevaluation, Forschungsergebnisse und wandelnde Vorgaben zur Leistungsfinanzierung. Über inzwischen zehn Jahre erfolgte eine schrittweise Evolution des Konzepts in drei Generationen (Abb. 3). Evaluation und Forschung Die erste Generation ICM1 wurde von der ipw retrospektiv evaluiert [5]. Für die ersten 50 Fälle 2002–2004 konnten 21 statistische Paarlinge unter allen ipw-Patienten gefunden und im Vergleich ein starker und signifikanter Rückgang von Hospitalisationstagen und Symptomen festgestellt werden. Die kantonale Gesundheitsdirektion beauftragte daraufhin die ipw, ICM unter Auflage eines anzustrebenden Effizienzgewinns für die Akutversorgung über die nächsten Jahre umfassend zu implemen- S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Abb. 3 Evolution der Konzeptentwicklung von ICM ipw. 1. Generation 2001/02–2006: 2 Case Manager, finanziert aus Klinikbudget nach Stationsabbau. Intensive Case Management 1 Pilotprojekt 2. Generation Intensive Case Management 2 Studie I (RCT 07–13) Qualitative Analyse 3. Generation Intensive Case Management 3 Studie II (naturalistisch) 2007–2009/10: 5 Case Manager, mitfinanziert von Poliklinikpauschalen + TARMED. Auftrag der Gesundheitsdirektion zur umfassenden Einführung unter Auflage von Effizienzsteigerung in der Akutversorgung. 2009/10: Überprüfung und Optimierung von Methodik und Patientenauswahl: – Verbesserung des Assessment-, Zielsetzungs- und Commitmentprozesses – Rekrutierung im Versorgungsnetz und in der Institution – Konsequente zeitliche Limitierung der Intervention Ab 2011: 7 Case Manager, Ausbau vorgesehen (Regionsverdoppelung) Wirksamkeitsnachweis der optimierten CM-Methodik. Naturalistisches Studiendesign. Praxisbezogene Patientenauswahl. Eigenständige Servicestelle mit Team- und Fachkonzept als Querschnittfunktion für Institution und Netzwerk (keine Einbettung in Ambulatorien oder sozialpsych. Zentren). 3-monatige Vorabklärungsphase für Motivation und Zielentwicklung. Maximale Dauer ICM 27 Monate. Klärung einer Fallpauschale mit Kostenträgern. tieren. In rollender konzeptioneller Überarbeitung wurde die zweite Generation ICM2 von der kasuistisch-versorgungspraktischen weg auf eine hospitalisationsstatistische Indikationsebene ausgerichtet. Damit wurde dem HeavyUse-Ansatz sowie forschungsmethodischen und ökonomischen Erwartungen an einen Wirksamkeitsnachweis durch Pflegetageinsparungen entsprochen. 12% der hospitalisierten Patienten (Heavy User) konsumieren 50% des akutstationären Aufwandes, in der Versorgungsregion Winterthur (200 000 Einwohner) damals rund 50–100 neue Fälle pro Jahr mit unterschiedlichen Hauptdiagnosen. Rekrutierungsraum waren nurmehr die Akutstationen. Seit Herbst 2007 wurde für ICM2 ein Randomized Controlled Trial (RCT) durch die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Departement Angewandte Psychologie, auf der Basis internationaler Heavy Use Kriterien durchgeführt [6, 7]. 2007–2010 wurden alle 18- bis 63-jährigen Heavy User angefragt und nach einem Eingangsassessment über Blockrandomisierung einem ICM von 18 bis 36 Monaten Dauer resp. Standardbehandlung zugeordnet. Je 27 Fälle konnten in die Interventions- oder Kontrollgruppe aufgenommen werden. Interviews und Tests erfolgen bei Beginn, in Jahresabständen, bei Abschluss und sechs Monate danach. Abschlüsse erfolgen 2010–13. Von Studienbeginn weg zeigten sich Probleme mit dem Indikations-, Rekrutierungs- und Forschungskonzept von ICM2 und eine erhebliche Drop-out-Rate. Die rein hospitalisationsstatistische Rekrutierung erfasste viele Fälle, deren Heavy Use bereits koordiniert war. Manche eingeschlossenen Fälle zeigten weder eine schwierige Problematik entlang der ambulant-stationären Schnittstelle noch im Sozialen generell und waren oftmals schon ausreichend im Netzwerk eingebunden. So waren immer wieder potentielle resp. Studienprobanden nicht oder nur anfänglich bereit, ICM überhaupt anzunehmen. Umgekehrt konnten die Case Manager in manche Fällen nur wenig einbringen. Die Kooperation stand auf schwachen Füssen, und einige Fälle waren bald nicht mehr erreichbar. Qualitative Analyse Mit einem qualitativen Ansatz wurde im Zürcher Impulsprogramm zur nachhaltigen Entwicklung der Psychiatrie (ZInEP) den Fragen nachgegangen, welche Patienten von ICM profitieren können und worauf Case Manager besonders zu achten haben [8]. Die Patientendokumentationen zeigten hohe Heterogenität der Kontakthäufigkeit, -frequenz und Zeitdosis im ICM je nach Fall. Interviews ergaben unterschiedliche Zielsetzungen der Beteiligten. C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 9 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Case Manager und Netzakteure sahen Selbständigkeit, Arbeitsintegration, soziale Integration und Netzanbindung als Ziele von ICM und schätzten die Bedeutung von Helferkonferenzen und Standortgesprächen hoch ein. Patienten schätzten Krisen- bzw. Beratungsgespräche und Unterstützung bei Hygiene, Haushalt, Einkauf und Terminen und hatten zu Beginn gegenüber ICM oft keine klaren Erwartungen. Es hat sich auch gezeigt, dass es sowohl den Klienten wie auch den Case Managern Schwierigkeiten bereitet, den optimale Zeitpunkt für den Abschluss des ICM zu finden. Da mit der Methode sehr viel Zeit in den Beziehungsaufbau zu schwer psychisch kranken Menschen investiert wird, die per definitionem Probleme haben, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen, ist es besonders anspruchsvoll, einen guten Ablösungsprozess einzuleiten, ohne Krisen und Suizidalität heraufzubeschwören. Dritte Konzeptgeneration Aus der qualitativen Studie und neuer Literatur zum Thema hat man gelernt und das ICM ipw noch weiterentwickelt. Einerseits wurde zu Beginn eine dreimonatige Kontakt- und Klärungsphase eingeführt, die zeigen soll, inwieweit eine verbindliche Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Klienten möglich ist. Motivationsarbeit und Intensive Case Management – ein Fallbeispiel • 52-j. Patientin, emotional instabile Persönlichkeitsstörung, rezidivierende klinikbedürftige depressive und suizidale Krisen. • Vor Jahren geschieden, partnerlos geblieben, selbstständig erwachsene Kinder distanziert. • Anmeldung von praktizierendem Psychiater/Psychotherapeuten wegen Häufung von Sozialproblemen und gesundheitlichen Krisen bei schwindender Behandlungscompliance, Kernauftrag Psychotherapie kaum mehr durchführbar. • In letzten 30 Monaten 6 Hospitalisationen, Zunahme Frequenz, Dauer, FFE. • Invalidisiert, stark isoliert, Panikentwicklung, Chaos in Alltagsbewältigung. • Case Manager (CM): langer vorsichtiger Kontakt-, Vertrauens- und Beziehungsaufbau, dann erstmals zu Hause, Einblick in verwahrlostes Wohn- und Organisationschaos und leidvolle Vereinsamung. • Erstassessment, gemeinsames Erarbeiten von Zielen, Prioritäten und Verbindlichkeiten: Überblick, Ordnung, Sozialkontakte, Aktivierung Helfernetz mit Schweigepflichtsentbindungen. 10 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Beziehungsaufbau stehen während dieser Zeit im Vordergrund. Andererseits soll die neu eingeführte Beschränkung des ICM auf 2,25 Jahre dahin führen, dass der Ablösungsprozess bereits zu Anfang vorgespurt wird, indem sich die Zielvereinbarungen auf diesen Zeitraum ausrichten. Die ZHAW (ICM3-Studie) wird die Effektivität, was Aufwand und Nutzen betrifft, weiterhin wissenschaftlich begleiten. Sie ist nach den Erfahrungen der CM2-Studie nicht mehr als RCT-, sondern als naturalistische Studie konzipiert mit Fallmatching aus den ipw-Daten. Der Fokus bei den Einschlusskriterien liegt nicht mehr hauptsächlich auf einer bisherigen Hospitalisationskarriere, sondern auf der gesundheitlichen und sozialen Belastung sowie fehlender Koordination im Netz. Zusätzlich werden Daten zur Arbeitsbeziehung Case Manager– Patient/-in erhoben, um die relevanten Wirkfaktoren von ICM zu erhalten. Das aktuelle Modell der dritten Generation ICM3 steht seit kurzem in Erprobung. Es wird sich im neuen Versorgungsauftrag der ipw zudem zeigen müssen, wie gut sich ICM in einem neuen Versorgungsgebiet mit anderer Bevölkerungsstruktur übertragen lässt. Das aktuelle Modell findet auch das Interesse grosser Krankenversicherer, welche zurzeit mit der ipw resp. der kantonalen Gesundheitsdirektion Zusammenarbeitsmöglichkeiten und pauschalierte Tarife verhandeln. • Entwicklung und Finanzierungsklärungen nötiger medizinischer, sozialer und haushaltstechnischer Einzelleistungen. • Nach 1 Jahr CM Beziehungspflege und Koordinations/Sozialregie: mehr Alltagsordnung, Wohnlichkeit und Sozialkontakte, Wohlbefinden deutlich zunehmend, z.T. Haushalthilfe, zusehends eigeninitiativ, Kontaktfestigung zu den zuvor überforderten Kindern (Familienarbeit). • Zwischenzeitliche Krisen, Medikamentenkarenz, Kurzhospitalisation, ICM bleibt stets eingebunden, Zielführung, Helferkoordination, Systemkommunikation, Beziehungskontinuität. • Erarbeitung einer Behandlungsvereinbarung für künftige Krisen (2 planbare Kurzinterventionen im späteren Verlauf ohne FFE). • Vierteljährliche Helferkonferenzen zur Leistungsabstimmung und Zielüberprüfung. Nach über 2 Jahren Verdünnung und Beendigung des ICM nach Integration in eine 50% geschützte Tätigkeit, Festigung der Psychotherapie, Anschluss an Recovery-Gruppe, Installation einer wöchentlichen Haushalthilfe und Fortführung einer jährlichen Helferkonferenz durch den Sohn. S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Blick in die Zukunft Die Methode ICM in der ipw hat sich über 10 Jahre hinweg kontinuierlich differenziert und verbessert. Bisher richtete sich seine Weiterentwicklung in erster Linie nach den Bedürfnissen der Patienten und Behandlungspartner aus. Je länger, je mehr stellt sich die Methode aber auch den Legitimationsanforderungen der Kostenträger. Forschungsergebnisse müssen überzeugend belegen, dass der Platz für ICM in der heutigen Psychiatrieversorgung auch unter dem finanziellen Aspekt gerechtfertigt ist. Auch wenn die Praktiker vom Wert eines ICM tagtäglich von neuem überzeugt werden, genügen diese Argumente nicht mehr. Einen kosteneffizienten Mehrwert für ICM separat auszuweisen, erweist sich in der Praxisforschung als schwierig. Leichter wären Gesamtsystemeffekte zu bemessen. Z.B. gelingt es der ipw, mit einer Bettenziffer von vergleichsweise niedrigen 0,5 pro Tausend Einwohnern, ihre Versorgungsaufgabe in anerkannter Qualität zu bewältigen. Die finanzielle Zukunft von ICM – obschon oft gelobt und zitiert – ist vorläufig noch nicht gesichert. une hospitalisation psychiatrique. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 160(6):246–52, 2009. 4 Dieterich M, Irving CB, Park B, Marshall M. Intensive case management for severe mental illness. Cochrane Database of Systematic Reviews, 2010, Issue 10. 5 Andreae A, Schröder S, Schuetz C. Intensive Case Management im Modellprojekt Integrierte Psychiatrie Winterthur (Zürich/Schweiz): Evaluation eines 3-jährigen Pilotversuches. Posterbeitrag am Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde DGPPN, 2005. 6 Junghan UM, Brenner HD. Heavy use of acute in-patient psychiatric services: the challenge to translate a utilization pattern into service provision. Acta Psychiat Scand, 2006, 113 (Suppl. 429):24–32. 7 Roick C, Gärtner A, Heider D, Angermeyer MC. Heavy user psychiatrischer Versorgungsdienste. Psychiatr. Prax., 2002, 29:334–342. 8 Meier P, Chew Howard E, Andreae A, von Wyl A. Psychiatrisches Case Management in der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland: Eine qualitative Literatur Analyse. Zürich: Unveröffentlichtes Manuskript ZHAW, 2010. 1 Andreae A, Schröder S. Patientenorientierung in der Integrierten Psychiatrie Winterthur. Managed Care 2004, 7:18–20. Korrespondenz: 2 Andreae A. Integrierte psychiatrische Versorgung: Dr. med. Andreas Andreae, Ärztlicher Direktor von der Stammklinik zur Netzwerkklinik. Managed Care Integrierte Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland 2006, 4:18–20. Wieshofstrasse 102, 8404 Winterthur 3 Bonsack Ch et al. Le case managment de transition: [email protected] une intervention à court terme dans la communauté après www.ipw.zh.ch C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 11 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Judith Alder 1 , Alfred Künzler 2 , Regine Strittmatter 3 Eine Krankheit kommt selten allein Bei körperlichen chronischen Erkrankungen darf die Psyche nicht vergessen gehen Die Integrierte Versorgung bietet künftig die Möglichkeit, die psychische Ebene in die Behandlung chronischer, körperlicher Leiden besser einzubinden. Denn dank einer umfassenden Behandlungseinheit kann die Schwelle für eine psychologische Mitbehandlung gesenkt und die Stigmatisierung psychischer Probleme entschärft werden. Grundvoraussetzung dafür ist jedoch ein entsprechendes psychologisches Basiswissen bei den Grundversorgern. Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung ist in regelmässiger medizinischer Betreuung wegen einer chronischen Krankheit [1]. Gemeint sind lange andauernde und oft progredient verlaufende Krankheiten wie Herz-Kreislauf-, Lungen- und rheumatische Erkrankungen, chronische Schmerzen, Krebs oder Allergien. Chronische Krankheiten gehen in der Regel mit einer Einschränkung der bio-psycho-sozialen Funktionsfähigkeit einher und erzeugen vielfältige psychosoziale Belastungen. Neben Krankheitssymptomen und Behandlungsnebenwirkungen können sich existentielle und spirituelle Fragen aufdrängen sowie familiäre, soziale, finanzielle, berufliche und psychische Probleme entwickeln. Krankheitsverarbeitung bzw. Coping bezeichnet das Bemühen des Patienten, diese Belastungen innerpsychisch (durch Emotionsregulation) und durch zielgerichtete Verhaltensanpassung zu reduzieren und zu verarbeiten. Die komplexen Behandlungen chronischer Krankheiten machen einen Grossteil unserer Gesundheitskosten aus [2]. Dabei sind in der Regel eine Reihe von Behandelnden involviert, zum Teil indikationsgesteuert aufgrund der Komplexität der Problematik (Multimorbidität), zum Teil patientengesteuert. In beiden Fällen lässt sich durch verstärkte Koordination der involvierten Behandelnden eine Kosten- ebenso wie Qualitätsoptimierung der Behandlung vermuten, insbesondere wenn die psychische Ebene miteinbezogen wird. Psychologische Faktoren Bei chronischen körperlichen Krankheiten spielen psychologische Faktoren bei der Entstehung und im Verlauf sowie bei der Verarbeitung der Krankheit eine wichtige Rolle. Neben der steigenden Lebenserwartung sind es insbesondere Lebensstilfaktoren und ungünstiges Gesundheitsverhalten, welche die Zunahme von chronisch körperlichen 12 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Krankheiten erklären. In Ländern mit hohem Einkommen wie der Schweiz sind es Rauchen, Übergewicht und Adipositas, Bewegungsmangel, hoher Blutglukoseanteil, hohes Cholesterol und ungünstige Ernährung, welche das Risiko erhöhen, eine chronische körperliche Krankheit zu entwickeln oder daran zu sterben [3]. Daneben wurde das Vorliegen von psychischen Störungen, insbesondere depressiver Erkrankungen, verschiedentlich als Risikofaktor für die Entwicklung bestimmter chronisch körperlicher Erkrankungen identifiziert [4, 5]. Dieser Zusammenhang ist einerseits den oben beschriebenen ungünstigeren Lebensstilfaktoren zuzuschreiben, die bei Menschen mit psychischen Belastungen u.a. auch im Rahmen eines dysfunktionalen Copings gehäuft auftreten. Andererseits sind psychische Störungen mit neurophysiologischen und insbesondere immunologischen Veränderungen assoziiert, die die körperliche Gesundheit beeinträchtigen können [6]. Chronische Krankheiten gehen mit einer hohen psychischen Komorbidität einher, was als wichtiges Kriterium einer maladaptiven Krankheitsverarbeitung gilt [7]. So liegt die Prävalenz von psychischen Störungen bei Krebserkrankten im Initialstadium bei 31,7% bzw. ca. 50% im palliativen Stadium [8, 9], 20–40% der Patienten entwickeln nach einem Herzinfarkt [7], 30% im Rahmen einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung eine depressive Störung [10]. Das Risiko, eine Depression oder Angststörung zu entwickeln, ist Judith Alder Alfred Künzler Regine Strittmatter 1 Leitende Psychologin Universitätsfrauenklinik Basel 2 Onko-Psychologe Psychiatrische Dienste Aargau / Kantonsspital Aarau 3 Stv. Geschäftsleiterin Rheumaliga Schweiz S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » bei Personen mit chronischen Schmerzen zweimal so hoch wie bei Personen ohne chronische Schmerzen [11]. Pychische Störungen können sich reaktiv auf die mit der körperlichen Krankheit assoziierten Belastungen entwickeln, bzgl. Symptomatik und Ausprägung aber das Bild einer Anpassungsstörung (ICD-10 F43) überschreiten. Daneben können medizinische Behandlungen direkt psychische Nebenwirkungen haben: so werden beispielsweise depressive Symptome und Chronic Fatigue mit Chemotherapie-induzierten immunologischen Veränderungen in Verbindung gebracht [12]. Psychische Störungen wirken sich aber auch negativ auf die Prognose von chronischen Krankheiten aus. Das Vorliegen einer psychischer Störung kann mit einer erhöhten Mortalität [4, 5], eingeschränkter gesundheitsbezogener Lebensqualität und einer weiteren Chronifizierung der körperlichen Erkrankung assoziiert sein [13]. Dies lässt sich auf Compliance-Probleme, ein ungünstigeres Gesundheitsverhalten von psychisch belasteten Personen (u.a. im Sinne eines dysfunktionalen Copings) und den direkten pathophysiologischen Einfluss der psychischen Störung zurückführen. Die dargestellten Befunde legen nahe, dass das Ergebnis der medizinischen Behandlung nicht nur von der somatischen Therapie abhängt, sondern auch von der Berücksichtigung der oben genannten psychologischen Faktoren. Dementsprechend, und auf der Basis unseres biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, muss in jeder Versorgungssituation gewährleistet werden, dass psychische Störungen und psychosoziale Belastungen mit diagnostiziert werden. Da die Detektionsrate psychischer Störungen von somatisch-medizinischen Fachpersonen niedrig ist, müssen Gatekeeper psychodiagnostisch ausgebildet oder psychiatrisch-psychologische Fachpersonen sein [14]. Andererseits sollte das Gatekeeping so gestaltet sein, dass es der immer noch verbreiteten Stigmatisierung psychischer Probleme auch bei körperlichen Krankheiten Rechnung trägt. Psychologische Mitbehandlung Die biopsychosoziale Sichtweise der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO [15] basiert auf einem dreidimensionalen Begriff der Funktionsfähigkeit. Neben der körperlichen Funktionsfähigkeit umfasst er die Aktivität und die Partizipation des Betroffenen. Nicht zuletzt aus dieser Definition leitet sich der Anspruch eines ganzheitlichen, interdisziplinären Behandlungsangebotes ab. Bei chronisch körperlichen Erkrankungen stehen im Fokus der Behandlung und Begleitung: • Symptom- und Komplikationenmanagement; • Anpassung an bleibende oder zunehmende Einschränkungen; • möglichst weitgehende Erhaltung bzw. Wiederherstellung der biopsychosozialen Funktionsfähigkeit. Für Patienten, deren Angehörige und das Versorgungssystem stellen sich demzufolge neben der medizinischen Behandlung weitere Aufgaben. Diese umfassen im psychosozialen Bereich [16, 17]: • Erlernen von Copingstrategien, • Förderung des Gesundheitsverhalten, • Aufrechterhaltung des emotionalen Gleichgewichts, • Erhalt des Selbstwertes, • Erlernen sozialer Kompetenzen, • Umgang mit eingeschränkter körperlicher Leistungsfähigkeit und einer krankheitsbedingt unsicheren Zukunft, • Reintegration in Arbeit, Familie und Gesellschaft u.a.m. Die Auswirkungen einer chronischen Erkrankung hängen weitgehend vom Gesundheitsverhalten bzw. der Selbstmanagementkompetenz des Patienten ab [18, 19]. Psychologisches Know-how hat hier also potentiell grosse Wirkung. Für ein erfolgreiches Selbstmanagement brauchen Patienten nicht nur angemessenes Wissen über die Krankheit und deren Behandlung. Sie müssen darüber hinaus Strategien entwickeln, um das Leben mit ihrer Erkrankung auf körperlicher, emotionaler und sozialer Ebene zu bewältigen. Psychologische Interventionen umfassen hier Beratung (z.B. in Bezug auf berufliche Neuorientierung, familiäre Probleme etc.), Psychoedukation (z.B. über den Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Entstehung von chronischem Schmerz), Entspannungstraining, Verhaltenstraining (z.B. Stressbewältigung), emotionaler Support, Krisenintervention (z.B. bei Suizidgefahr) [20]. Die hohe Komorbidität chronischer körperlicher Erkrankungen mit psychischen Störungen macht zudem häufig psychotherapeutische Interventionen erforderlich [21]. Die Wirksamkeit psychologischer Interventionen gilt für viele chronische körperliche Krankheiten als nachgewiesen. So verbessert die Teilnahme an psychoedukativen Angeboten die glykämische Kontrolle bei Patienten mit Diabetes [22, 23], während Interventionen für Herzpatienten sowohl physiologische Parameter, das Herzinfarktrisiko und die Mortalität als auch die psychische Adaptation verbessern [24]. Ebenso ist die Wirksamkeit psychologischer Interventionen für die Verbesserung des körperlichen und psychischen Funktionsniveaus u.a. bei chronischen Schmerzpatienten [25] und Krebskranken [26] nachgewiesen. Befunde aus der Verhaltensmedizin weisen auf den günstigen psychoneuroimmunologischen Einfluss psychologischer Interventionen hin [27]. C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 13 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Auf dem dargestellten Hintergrund psychologischer Faktoren und Interventionen muss für eine kosten- sowie qualitätsoptimierte Behandlung körperlich chronisch Kranker sichergestellt sein, dass die psychische Behandlungsebene integriert ist. Schlussfolgerungen Chronisch körperliche Krankheiten sind häufig und machen einen Grossteil aller ärztlichen Konsultationen sowie unserer Gesundheitskosten aus. Sie weisen in Entstehung und Verlauf wesentliche psychologische Faktoren und hohe psychische Komorbiditäten auf. Demnach drängt sich psychologische Mitbehandlung hinsichtlich Qualitäts- und Kostenoptimierung auf. Psychotherapie und andere psychologische Interventionen stehen zur Verfügung. Ihre Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit ist nachgewiesen [28, 29]. Hinsichtlich der Integration der psychischen Ebene in die Behandlung chronisch körperlicher Kranker stellt die Integrierte Versorgung eine Chance dar. Im Rahmen einer integrierten Behandlungseinheit ist für Patienten die Schwelle zur sinnvollen psychologischen Mitbehandlung möglicherweise einfacher zu überschreiten [30]. Die nach wie vor bestehende Stigmatisierung psychischer Probleme 14 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 kann so allenfalls entschärft werden. Auch das in einer schweizweiten Untersuchung gefundene Informationsdefizit über vorhandene psychosoziale Unterstützungsmöglichkeiten (in diesem Falle bei Krebs) kann einfacher behoben werden, wenn die Behandlungspfade klarer definiert sind [31]. Voraussetzung für beide möglichen Vorteile eines Integrierten Versorgungssystems ist, dass bei den Gatekeepern psychologisches diagnostisches und therapeutisches Basiswissen vorhanden ist. Literatur Das ausführliche Literaturverzeichnis finden Sie in der aktuellen Online-Version des Artikels unter: www.care-management.emh.ch Korrespondenz: Dr. phil. Regine Strittmatter Initiativgruppe chronischkrank.ch c/o Rheumaliga Schweiz Josefstr. 92 8005 Zürich [email protected] www.chronischkrank.ch S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Patrick Haemmerle Niederschwellig und mobil Im Kanton Freiburg besucht das PsyMobile Jugendliche mit psychischen Beschwerden zu Hause Die Zugangsschwelle senken, näher bei den jungen Patienten und ihren Familien sein, eine vielfältige Interventionspalette anbieten und die Behandlungskontinuität wahren: Dies sind Leitlinien mobiler Interventionsmodelle einer zeitgemässen, sozialpsychiatrisch konzipierten Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit zwei Jahren ist im Kanton Freiburg deshalb das PsyMobile auf Achse. In der Sozialpsychiatrie für Erwachsene und Minderjährige beschäftigt die Fachleute seit Jahren die schwierige Frage: Wie können Personen erreicht bzw. behandelt werden, die eine Betreuung benötigen und eine solche beanspruchen könnten, ihre Bedürfnisse aber nicht genügend oder gar nicht kundtun? Solche Personen oder Familien, die im angelsächsischen Sprachraum als hard to reach, also als «schwer erreichbar», bezeichnet werden, weisen in Patrick Haemmerle ihrer psychosozialen Gesundheit und Funktionsweise bedeutende Probleme auf. Oft sind sie sich dessen jedoch nicht bewusst und/oder unternehmen keine eigenen Schritte, um Hilfe zu erhalten. Vor diesem Hintergrund wurden bereits vor einigen Jahren mobile Interventionsmodelle entwickelt. Sie sind Ausdruck einer sozialpsychiatrisch konzipierten, gemeindenahen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Denn in der Regel sind sie weniger schwer und weniger stigmatisierend als eine Hospitalisierung. Zudem ermöglichen mobile Interventionen – sei es aufgrund ihrer Funktionsweise selbst oder durch die Vermeidung kostspieliger Hospitalisierungen – Kosteneinsparungen. In der Schweiz werden deshalb teilstationäre Interventionen, die intermediär, also zwischen ambulanter und stationärer Versorgung angesiedelt sind, gefördert und angewendet. Dies stipuliert namentlich auch der Leitfaden zur Psychiatrieplanung, der im November 2006 von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) entworfen wurde. Die Verantwortlichen der öffentlichen Gesundheit (Public Mental Health) in der Schweiz anerkennen damit, dass die Anstrengungen auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit unbedingt ausgebaut werden müssen. Die Verstärkung der intermediären Versorgung soll ergänzend zur Schaffung und Entwicklung von Tages- und Nachtkliniken primär durch die Realisierung mobiler Angebote erfolgen. Aus diesem Grund werden entsprechende Pilotprojekte auch von der GDK empfohlen und gefördert. Massgeschneidertes Modell Die Ärztliche Direktion des Bereichs für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist seit mehreren Jahren in der Entwicklung eines mobilen Angebots engagiert. Mit der Schaffung des Freiburger Netzwerkes Psychische Gesundheit (FNPG) Anfang 2008 und der Zusammenlegung des kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes mit der jugendpsychiatrischen Station unter dieselbe ärztliche Direktion wurde der Kreis der Fachleute, die für ein mobiles Angebot zur Verfügung stehen, spürbar erweitert. Damit wurde erst die Grundvoraussetzung für die Realisierung des Projektes «PsyMobile» im Frühjahr 2009 geschaffen. In der Planungsphase wurden verschiedene Modelle studiert, die in der Schweiz und im Ausland bereits eingesetzt werden. Dabei ergab sich auch die Gelegenheit, einige Vertreter solcher Konzepte einzuladen, um ihre Organisation und Funktionsweise besser zu verstehen. Auf der Grundlage der analysierten Modelle [3, 6] liessen sich im Wesentlichen für Erwachsene oder Minderjährige vier Grundtypen mobiler psychiatrischer Interventionen unterscheiden: • Behandlung am Wohnsitz der Patienten (häusliche Pflege); • Krisenintervention an verschiedenen Orten; • Interventionen für verschiedene Personengruppen (z.B. autistische Kinder, Jugendliche von Risikogruppen, Jugendliche mit einer Erstpsychose [«Early psychosis»], Personen mit einer chronischen psychischen Erkrankung, «Hard-to-reach-Patienten»); • Interventionen im Vorfeld oder nach einer Hospitalisierung. Jedes der untersuchten Konzepte wies unterschiedliche Vor- und Nachteile auf – sei es in Bezug auf den erforderlichen Bereitschaftsdienst oder aber die Personalausstattung, Aufwand und Ertrag usw. Die Initianten entschlossen sich, aus der Palette der bestehenden Modelle die optimalen Optionen auszuwählen, um ein massgeschneidertes Angebot für den Kanton Freiburg zu realisieren. C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 15 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Das PsyMobile im Detail Nach bald zweijähriger Tätigkeit, definiert sich PsyMobile heute als ein mobiles Angebot für Minderjährige mit psychischen Beschwerden, für die eine ambulante Behandlung dauernd oder vorübergehend nicht möglich ist. Diese neue Leistung ergänzt das ambulante Angebot des FNPG und umfasst Behandlungen und Betreuungen, die von einem pluridisziplinären Team erbracht werden. Dazu gehört der projektverantwortliche ärztliche Direktor, eine leitende Ärztin, eine Psychologin-Psychotherapeutin, eine Sozialarbeiterin sowie ein Pflegefachmann bzw. Heilpädagoge. Alle Mitarbeitenden sind nur teilzeitlich für das Projekt tätig. Die Leistungen werden regulär nach TARMED abgerechnet. Die Schwierigkeit dabei: Nur die Ärztin kann die Ortsveränderung direkt abrechnen. Die anderen Berufsgruppen müssen diese teilweise als «Leistung für den Patienten in Abwesenheit des Patienten» verrechnen. Die Intervention erfolgt in der Regel im gewohnten sozialen Umfeld, z.B. am Wohnsitz oder im schulischen Kontext und bezweckt ganz allgemein, den Wiederanschluss an herkömmliche Therapie- und Unterstützungsangebote zu gewährleisten. Um dies zu erreichen, erfolgt in einem ersten Schritt eine umfassende Abklärung der Situation. Dabei wird die ganze Familie durch die Krise Abb. 1 Das PsyMobile-Team mit dazugehörigem Fahrzeug. begleitet, wobei mit den bereits involvierten Helfersystemen zusammengearbeitet wird. Nach der Anmeldung durch die zuweisende Fachperson – immer mit dem Einverständnis der Eltern oder des gesetzlichen Vertreters des Kindes – wird der Auftrag gemeinsam mit den involvierten Personen detailliert definiert. Gestützt darauf können dann die Modalitäten der Behandlung und Begleitung festgelegt und im Lauf der Interventionen regelmässig evaluiert werden. Das Ende der mobilen Interventionen wird für gewöhnlich anlässlich eines pluridisziplinären Gesprächs unter Beizug des Umfelds beschlossen. Fallbeispiel: Mike oder die Angst als (fast) unüberwindbares Hindernis für den Gang zur Schule Mike, ein 14-jähriger Jugendlicher, muss wegen seiner Angstzustände hospitalisiert werden. Er hat Bauchschmerzen, die ihn daran hindern, zur Schule zu gehen. Seit dem plötzlichen Tod seiner Grossmutter, als er sieben Jahre alt war, wird er Tag für Tag von Ängsten geplagt, die er bis anhin geheim hielt. Der kurze stationäre Aufenthalt in einer pädiatrischen Klinik mit kinderpsychiatrischer Liaison-Beteiligung ermöglicht eine gute Stabilisierung der Angstkrisen. In der Folge wird eine ambulante Nachbehandlung geplant. Zu diesem Zeitpunkt fällt es ihm noch sehr schwer, jeweils das Haus zu verlassen. Weil Mike aufgrund seiner Panikzustände noch nicht einmal ins Auto steigen kann, wird der Familie eine Intervention von PsyMobile vorgeschlagen. Anlässlich eines Erstgesprächs mit dem Jungen, seinen Eltern, seiner ambulanten Psychotherapeutin und zwei Fachpersonen von PsyMobile wird die Interventionsanfrage präzisiert und die Ziele festgelegt: Die Intervention des pluridisziplinären Teams soll Mike ermöglichen, die Kontrolle über seine lähmenden Ängste zu erlangen, damit er wieder zur Schule gehen kann. Um dies zu erreichen, werden mobile Konsultationen am 16 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Wohnsitz vorgeschlagen, die, zu Beginn der Intervention, vier- bis fünfmal pro Woche stattfinden sollen. Die therapeutische Arbeit läuft in vier Phasen ab: In einer ersten Phase (12 Konsultationen) geht es darum, Mike kennenzulernen, Möglichkeiten stressfreier und angstlösender Tätigkeiten zu entdecken, seinen Lebenskontext und die Mitglieder seiner Familie kennenzulernen, eine Tagesstruktur aufzubauen, die psychopharmakotherapeutische Behandlung zu begleiten und die Entspannungsübungen zu vertiefen, die er während seines stationären Aufenthalts erlernt hat. Nach einigen – anfangs fast täglichen – Hauskonsultationen kann die Häufigkeit der Interventionen reduziert werden. Anlässlich eines Teamgesprächs über die Situation wird der Einsatz einer zweiten Therapeutin entschieden, um die Arbeit mit Mike mit einem familientherapeutischen Ansatz zu ergänzen. Die zweite Phase (10 Konsultationen) hat zum Ziel, Mikes Rückkehr in die Schule vorzubereiten. Anlässlich eines Familiengesprächs mit beiden Therapeuten werden Mikes Situation und die Unterstützungsmöglichkeiten jedes Familienmitglieds besprochen. Dabei stellt sich heraus, dass S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Literatur 8 McGorry Pat (ORYGEN), 2007: IMYOS – Intensive Mobile 1 Bonsack Charles et al., 2005: Difficult to engage Patients: Youth Outreach Service. Document non publié de ORYGEN – A specific target for time-limitied assertive Outreach in Youth Health, Melbourne/Australia. Swiss Setting. Can J Psychiatry, Vol 50, No 13, November 9 Pauzé Robert et al., 2007: Evolution des familles impli- 2005:41–46. quées dans le programme Crise-Ado-Famille (CAF). Thérapie 2 Bonsack Charles, François Grasset et Christian Monney, familiale, printemps 2007. 2007: Approches psychosociales intégrées et psychiatrie com- 10 Psydom, 2007: Service intercantonal de soins en soins munautaire. Handout, exposé au cours CEPUSPP, 26.4.2007. psychiatriques mobiles. Site Internet: www.psydom.ch 3 Bonsack Charles et al., 2008: Equipe de psychiatrie 11 Rhiner Bruno, 2007: Home treatment – aufsuchende mobiles pour les trois âges de la vie: l’expérience lausannoise. Familientherapie als erweiterte Behandlungsmöglichkeit. Revue Médical Suisse, 171. Handout von Vortrag am KJPD FR, 16.8.2007. 4 Ferrero François, 2007: Les interventions mobiles en 12 Torjman Sylvie et al., 2007: L’expérience d’une équipe psychiatrie. Rapport non publié. mobile en France. Conférence au Symposium «L’enfant, 5 Grandjean Christophe et Bernard Lévy, 2002: Unité la famille, le social», Clinique Pitié-La Salpetrière, Paris pédago-thérapeutique itinérante (UPTI). SPEA / Fondation 10.5.2007. le Verdeil, Yverdon et Lausanne. 6 Haemmerle Patrick et al., 2008: Un projet d’intervention Korrespondenz: mobile en psychiatrie infanto-juvénile au sein du Secteur Patrick Haemmerle, Dr. med., MPH, Kinder- und Jugend- de Psychiatrie et Psychothérapie pour Enfants et Adolescents, psychiater und -Psychotherapeut FMH SPP-EA, du Réseau Fribourgeois de Santé Mentale, RFSM. Ärztlicher Direktor Document non publié. Bereich für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 7 Holzer Laurent et V.Baier, 2007: L’Antenne d’Intervention Freiburger Netzwerk Psychische Gesundheit FNPG dans le Milieu pour Adolescents à haut risque pathologique Chemin des Mazots 2, 1700 Fribourg (AIMA). Handout d’une conférence à l’HPC de Marsens. [email protected] die familiäre Unterstützung, die vom Mitgefühl für Mikes Leiden getragen wird, stark und fruchtbar ist. Die Eltern haben für ihren Sohn z.B. bereits Nachhollektionen vorbereitet. Dann werden die nächsten Familiengespräche festgelegt. Bezüglich der Vorbereitung auf die Rückkehr zur Schule wird ein Plan entworfen und für die Geschwister werden Unterstützungsgespräche vorgeschlagen. Im Lauf der folgenden Besuche wird der Plan für die Rückkehr zur Schule zunehmend konkreter, bis hin zur Festsetzung eines Rückkehrdatums. In der Folge wird die Vorbereitung intensiviert. Mike erlangt zunehmend die Kontrolle über seine Angstzustände und kann sich stabilisieren. Eine Woche vor dem geplanten Datum findet in der Schule ein Gespräch mit den Eltern und den Unterrichtspersonen statt, um die Rückkehr optimal vorzubereiten. Die dritte Phase (8 Gespräche) zielt auf Mikes Wiedereingliederung in die Schule ab. Am festgelegten Datum begibt sich Mike nach neun Wochen Abwesenheit wieder zur Schule. Anlässlich des an diesem Tag durchgeführten Familiengesprächs sind alle erleichtert und zufrieden. In der Folge finden weiterhin zweiwöchentliche Hausbesuche statt, damit rasch reagiert werden könnte, falls sich grössere Schwierigkeiten ergeben sollten. Alles verläuft gut: Mike geht wieder regelmässig zur Schule und ist in der Lage, sich anhand von ermutigenden Ritualen progressiv von seinen Angstzuständen zu befreien. Die Krisenmomente, die zu Panikzuständen führten, können unter Kontrolle gebracht werden. Mike gewinnt zunehmend Vertrauen und Stabilität zurück. Das Familiengespräch kurz vor den Schulferien bestärkt auch die Familie in ihrem neugewonnenen Vertrauen in Mikes Gesundung. In der vierten Phase wird die mobile Intervention evaluiert. Angesichts des Erfolgs der Intervention – Mike geht wieder zur Schule – wird ein Gespräch mit der zuweisenden Therapeutin, der Familie und den Fachleuten von PsyMobile durchgeführt. Dabei wird beschlossen, die Hauskonsultationen bis zum anstehenden Klassenausflug weiterzuführen, obwohl das Hauptziel der Intervention bereits erreicht worden ist. Die Familiengespräche im Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ZKJP) mit der ambulanten Therapeutin werden bis zum abschliessenden Familiengespräch weitergeführt. (Anonymisierte Situation) C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 17 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Interview mit Joachim Leupold 1 und Urs Keller 2 «Vernetzung ist die beste Anti-Burn-out-Strategie für Ärzte» Manche Spezialistinnen und Spezialisten haben noch immer Vorbehalte gegenüber Integrierter Versorgung und Netzwerken. Wie das Beispiel PizolCare zeigt, profitieren aber unter dem Strich alle Beteiligten von einer fachübergreifenden Zusammenarbeit. Ein Hausarzt und ein Psychiater berichten über ihre Erfahrungen im gemeinsamen Gesundheitsnetz. Care Management: Bei PizolCare sitzen Grundversorger, Spezialisten und Spital-Kaderärzte gemeinsam im Verwaltungsrat. Funktioniert das überhaupt? Urs Keller: Das funktioniert sogar sehr gut. PizolCare geht davon aus, dass Krankheiten und Kosten nicht steuerbar sind, Prozesse und Abläufe aber sehr wohl. Deshalb genügt es nicht, wenn ein Hausarzt bestimmte Aufgaben einfach an eine Spezialistin delegiert – es braucht ein Bekenntnis zur vernetzten Zusammenarbeit. Nur so können sowohl medizinisch wie auch auf der Kostenseite gute Resultate erzielt bzw. eine kosteneffektive Behandlung sichergestellt werden. Wie sieht es bei Ihnen mit dem Gatekeeping aus? Urs Keller: Da haben wir es relativ einfach, denn es gibt gar keine grosse Auswahl. Die Aktionäre von PizolCare sind zugleich «Preferred Providers». Natürlich prüfen wir, ob das Überweisungsverhalten korrekt ist bzw. ob eine Überweisung tatsächlich erfolgt ist, doch der Spielraum ist relativ gross. Die Spezialistinnen und Spezialisten müssen ihre Daten zur Verfügung stellen: Wenn die Kosten pro Geburt in einer Praxis auffallend hoch sind, nimmt die Netzstelle Kontakt auf. Weiter schauen wir auch darauf, dass die Leute an die richtige Stelle geschickt werden – etwa HIV-Patienten ins Kantonsspital St. Gallen, wo es eine HIV-Sprechstunde gibt, solange dieses Angebot nicht in den eigenen Reihen besteht. Wo hat Mental Health in der Integrierten Versorgung ihren Platz? Urs Keller: Für uns hat die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung einen sehr hohen Stellenwert. 1 Dr. med. Joachim Leupold ist Delegierter des Verwaltungsrats der PizolCare und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Bad Ragaz. 2 Dr. med. Urs Keller ist Geschäftsführer und Präsident des Verwal- tungsrats der PizolCare und Facharzt für Allgemeinmedizin in Wangs. 18 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Mental Disease ist eine von fünf chronischen Erkrankungsgruppen, die zusammen rund 80% der Gesundheitskosten verursachen. Wir haben dazu ebenso wie zu Herzinsuffizienz, COPD, Diabetes und End of Life-Versorgung Leitlinien für Angehörige von nichtärztlichen Gesundheitsberufen entwickelt. Joachim Leupold: Wir sind neun Psychiater, die Aktionäre und damit Partner von PizolCare sind. Die Einbindung in ein Versorgungsnetz verJoachim Leupold mittelt andere Sichtweisen und führt zu einer anderen Klientel. Ein Qualitätszirkel wurde in der Region schon früher gegründet, doch führten berufspolitische Diskussionen und vor allem die Tatsache, dass wir in zwei verschiedenen Kantonen – Graubünden und St. Gallen – tätig waren, dazu, dass wir im PizolCare-Gebiet einen eigenen Verein gegründet haben: Den Verein Psychiatrie und Psychotherapie Pizol (P&PP). Als solcher haben wir mit den Hausärzten Urs Keller einen Zusammenarbeitsvertrag abgeschlossen. Dies aus der Überzeugung heraus, dass ein intensiverer Austausch mit den Kollegen letztlich zu einer besseren Versorgungsqualität führt. PizolCare hat einen Patientenbeirat. Wie funktioniert das? Wie ist die Beteiligung der Patientinnen und Patienten? Urs Keller: Der Patientenbeirat konstituiert sich selbst. Es gibt zwei Organisationen, die Einsitz haben, Procap und die Rheumaliga. Ansonsten sind es interessierte Personen, Kranke, die medizinische Leistungen benötigen, und Gesunde, die sich in erster Linie als Prämienzahlende verstehen. Sie treffen sich regelmässig und geben teilweise nützliche Inputs. Zum Beispiel? Urs Keller: Betreffend Patientenschulung wurde der Wunsch geäussert, dass es zusätzlich zu den DiseaseManagement-Programmen noch weitere niederschwellige S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Angebote geben solle, etwa unabhängige Ernährungsberatung, die nicht nur bestimmte Produkte verkaufen will. Gibt es weitere spezifische Angebote, und zwar solche im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit? Joachim Leupold: Wir hatten eine Gruppe zur Männergesundheit, die ich gemeinsam mit einem Pfarrer leitete. PizolCare unterstützte das Projekt. Es war eine gute und Psychiater sorgen sich, dass Hausärzte, zu rasch auf staatliche Institutionen zuru ̈ckgreifen und Patienten unnötigerweise in eine Klinik einweisen. interessante Erfahrung, und jetzt stellt sich die Frage, ob und in welcher Form wir damit weitermachen. Die Männer hatten sich teils auf ein Inserat gemeldet, teils wurden sie von ihren Hausärzten motiviert. Urs Keller: In einem weiteren Projekt geht es um die Schulung für Angehörige von Kindern mit «Zappelphilipp»-Syndrom. Im Zentrum steht dabei die Idee, dass Ritalin nur dann verschrieben werden soll, wenn gleichzeitig auch andere therapeutische Massnahmen stattfinden. Die Eltern und andere Bezugspersonen sollen lernen, ein ADHS-Kind richtig zu begleiten. Wie erklären Sie sich die Unsicherheit und Skepsis, die bei Psychiatern rund um Managed Care und Netzwerke noch immer verbreitet sind? Joachim Leupold: Es ist vor allem die Befürchtung, dass Patientinnen und Patienten die psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung nicht erhalten, die sie benötigen. Psychiater haben die Sorge, dass Hausärzte, die als Gatekeeper agieren, zu rasch auf staatliche Institutionen zurückgreifen und die Leute manchmal unnötigerweise in eine Klinik einweisen. Aber bestehen diese Ängste nicht auch zu Recht? Urs Keller: Ängste sind oftmals auf fehlendes Wissen zurückzuführen. In einem Versorgungsnetz mit Budgetmitverantwortung gehen wir davon aus, dass eine korrekte Behandlung, die sich an den Guidelines orientiert, letztlich zwar nicht unbedingt günstiger, aber kosteneffizienter ist. Eine Drehtürpsychiatrie dient niemandem, und das motiviert uns genau zu prüfen, wohin wir unsere Patientinnen und Patienten überweisen. Joachim Leupold: Das stimmt, aber gerade die Budgetverantwortung macht Angst, nicht nur den Psychiatern, sondern auch den Patientinnen. Ein weiterer Anlass zur Skepsis ist die Datensicherheit. Es geschieht bei mir öfters, dass ein Patient mich bittet: «Aber bitte sagen Sie es nicht meinem Hausarzt!» Patientinnen und Patienten wollen nicht immer, dass der Hausarzt über alle ihre «Geheimnisse» Bescheid weiss, gerade auf dem Land, wo sich alle kennen. Das ist ein ernst zu nehmendes Problem, aber wir haben innerhalb von PizolCare eine Lösung gefunden. Welche Lösung? Joachim Leupold: Wir sprechen mit Hausärzten darüber, fragen sie: Was müsst ihr wirklich wissen? Diagnosen, Medikamente und Arbeitsfähigkeit gehören dazu, andere Dinge aus dem Privatleben nicht unbedingt. Der geschützte Raum ist ein wesentliches Arbeitsinstrument des Psychiaters. Und dieser Umgang mit den Daten muss auch gut kommuniziert sein: sowohl gegenüber den ärztlichen Kollegen als auch gegenüber den Patienten. Und das genügt, um die nötige Vertrauensbasis mit den Patientinnen herzustellen? Joachim Leupold: Ja, normalerweise genügt das. Unsere Patientinnen und Patienten profitieren ja auch, wenn alle Beteiligten wissen, was die anderen machen. Das verstehen sie sehr gut und es gibt ihnen Sicherheit. Wie verändert sich die Arbeit des Psychiaters, wenn er in ein Netzwerk integriert ist? Wo sehen Sie Vor- und Nachteile? Joachim Leupold: An der Kernarbeit, dem therapeutischen Gespräch, ändert sich überhaupt nichts. Eventuell schreibe ich nach der Sitzung noch ein E-Mail. Im Prinzip sehe ich nur Vorteile: Ich habe mehr Informationen über meine Patientinnen und Patienten und kann sie Besonders auf dem Land wollen Patienten nicht immer, dass der Hausarzt ̈ uber alle ihre Geheimnisse Bescheid weiss. dadurch auch besser behandeln. Der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen ist äusserst wertvoll. Und schliesslich macht das Netzwerk Projekte wie die Männergruppe überhaupt erst möglich. Die Tatsache, dass Sie als Aktionär zugleich «Preferred Provider» sind, bringt Ihnen sicher auch zusätzliche Patientinnen und Patienten … Joachim Leupold: Dieser Vorzugsstatus wäre nicht nötig. Eine psychiatrische Überversorgung ist in dieser Region definitiv nicht vorhanden. Wir sind dankbar für zielgerichtete Zuweisungen mit klarem Auftrag, gerne auch frühzeitig zu einer kurzen konsiliarischen Beurteilung. C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 19 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Wie sieht es aus der Sicht des Netzwerks aus? Urs Keller: Für uns gilt das Motto: Zufriedene Ärzte für zufriedene Patienten. Und auf der Kostenseite? Urs Keller: Wie gesagt gehören psychisch Kranke zu den kostspieligen Patienten, und ihre Zahl wird voraussichtlich in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Wir sind aber überzeugt davon, dass der Zugang zur psychiatrischen Fachbehandlung niederschwellig bleiben soll, weil letztlich mit einer nicht adäquaten Versorgung niemandem gedient ist und sicher auch keine Kosten gespart werden. Die Situation wird hoffentlich bald verbessert mit der Erweiterung des Risikoausgleichs um diagnosebezogene Daten. Das bedeutet möglicherweise dann eine Entlastung des Budgets, da jüngere Personen eher psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen. Was möchten Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen zum Schluss noch mitgeben? Joachim Leupold: Kommunikation ist in unserem Beruf das A und O. Die Arbeit in einem Versorgungsnetz erleichtert und fördert den fachlichen Austausch. Das ist bereichernd und eine hervorragende Anti-Burn-out-Strategie – für uns Ärzte! Urs Keller: Versorgungsnetze dienen auch der Patientensicherheit. Viel Leistung bedeutet nicht Qualität, im 20 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Gegenteil: Wer «Doctor-Hopping» betreibt, bekommt zwar am Schluss meistens, was er will, sei es ein Prüfungsdispens (ich bin auch Schularzt!) oder Beruhigungsmittel. Ich habe auch erlebt, dass für ADHS-Kinder von den Eltern zu viel Ritalin verlangt wurde, weil ein Elternteil es ebenfalls schluckte. So etwas ist weder sichere noch qualitativ gute Medizin. Übrigens sind unsere Praxen und das Netz bereits zum 3. Mal EQUAM-zertifiziert. Interview: Anna Sax Die PizolCare AG ist ein ärzteeigenes Gesundheitsnetz in der Region Werdenberg-Sarganserland, bestehend aus 41 Grundversorgern, 38 Spezialärzten mit Praxis und 19 Spitalkaderärzten, die allesamt Aktionäre sind. PizolCare arbeitet eng mit Spitex, Physiotherapeuten, Spitälern, Psychiatriezentren und Rehakliniken zusammen. Korrespondenz: Dr. med. Joachim Leupold Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH Bartholoméplatz 3 CH-7310 Bad Ragaz [email protected] www.seelischegesundheit.ch S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Anna Sax Jeder Tag wird genau geplant Im Gespräch mit einer Psychiatrie-Patientin im ambulanten Versorgungsnetz Psychiatrie-Spitex und ambulante Therapie ermöglichen Patientinnen und Patienten, die sonst stationär oder in der Tagesklinik betreut werden müssten, ein selbstständiges Leben. Voraussetzung ist eine enge Zusammenarbeit des interdisziplinären Betreuungsteams. Eine Berner Patientin berichtet von ihren Erfahrungen. «Sie ist eine Wundertüte», freut sich Martin H.* und greift zärtlich nach der Hand seiner Freundin, die auf dem Stuhl neben ihm unruhig hin- und herrutscht. «Du nimmst mich ernst, das ist das Wichtigste», antwortet Lisa Z.* und strahlt ihn an. Einen Moment lang vergessen die beiden, wo sie sich befinden: In der psychiatrisch-psychologischen Praxis «Psy-Bern» in Bern. Hier laufen die Fäden von Lisas Betreuungsnetz zusammen. Die 36-Jährige leidet unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie einer zugrundeliegenden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Sie hat sich bereit erklärt, mit Care Management über ihre Lebensgeschichte zu sprechen und darüber, wie sie die Integrierte Versorgung als psychisch kranke Patientin erlebt. Gemeindepsychiatrie als Modell Die Berner Praxis arbeitet bei einigen PatientInnen im Sinne eines sogenannten «home treatment»-Modells, wie der Psychologe Dr. Marc Lächler ausführt, der ebenfalls am Gespräch teilnimmt. Die enge Zusammenarbeit mit der Psychiatrie-Spitex und mit anderen ambulanten Leistungserbringern macht es möglich, Klinikaufenthalte auf ein Minimum zu reduzieren. «Bern hat lange eine Vorreiterrolle in der Gemeindepsychiatrie gespielt, man kann sogar von einem ‹Berner Modell› sprechen», stellt Lächler nicht ohne Stolz fest. Die Universitären Psychiatrischen Dienste UPD, die über die Stadt verteilt verschiedene tagesstationäre und ambulante Einrichtungen führen, sind ein Beispiel für ein solches gemeindeintegriertes Versorgungsnetz. Patientinnen wie Lisa können so im Alltag und im Krisenfall auf die Unterstützung durch ein gut eingespieltes, interdisziplinäres Team zählen. Auch Familienangehörige und Lebenspartner werden eng mit einbezogen. * Namen der Redaktion bekannt Drogen als Selbstmedikation Lisa, die in Deutschland aufwuchs, war schon als Kind zappelig und in der Schule eine Aussenseiterin, «entweder aggressiv-bockig oder übertrieben lustig». ADHS war damals noch deutlich weniger bekannt als heute, niemand kam auf die Idee, dass Lisa krank sein könnte. Sie galt einfach als Unruhestifterin. Sie war bereits 14 und im Gymnasium, als ihr kleiner Bruder geboren wurde. Da erst wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter ein schweres Alkoholproblem hatte: «Ich habe meinen Bruder mehr oder weniger grossgezogen, meine Mutter war dazu nicht mehr in der Lage», erzählt sie. Lisa verliess das Gymnasium gezwungenermassen und bildete sich zur Kleinkinderzieherin aus. Den Berufsabschluss schaffte sie «mit Auszeichnung». Lisa liebte ihren Beruf: «Ich wollte mit Kindern zusammen sein, um Familie zu haben.» Doch schon während der Ausbildung entwickelte sie eine Essstörung. Sie konnte einfach nicht mehr essen. Als sie noch 48 Kilo wog, beschloss sie zum ersten Mal, Hilfe zu suchen. Ihr Hausarzt überwies sie zu einer Psychologin. Diese merkte nichts, als Lisa anfing, exzessiv zu trinken und Drogen zu konsumieren. Kokain half ihr, «herunterzukommen», sich zu beruhigen. Marc Lächler wirft ein: «Viele ADHS-Betroffene weisen eine komorbide Suchtstörung auf. Stimulierende Substanzen wie Kokain werden bei diesen Betroffenen wie eine Art Selbstmedikation verwendet – es wirkt bei ihnen nicht aufputschend, sondern eher beruhigend und fokussierend.» Lisa bestätigt: «Es gab keinen Ruhepunkt in meinem Leben – ich wollte einfach nur Ruhe haben.» Seit sie nun vom ADHS weiss und mit Ritalin behandelt wird, ist der Kokainkonsum kein Thema mehr. Es folgte der Therapieabbruch und die Trennung von ihrem Freund. Lisa lernte einen neuen Mann kennen, einen Schweizer. Sie legte endlich wieder an Gewicht zu, heiratete und zog mit ihrem Mann nach Bern. Doch ihre Krankheit machte sich immer stärker bemerkbar, sie war unruhig, impulsiv, manchmal unheimlich wütend. «Meine Wölfin», nennt sie diesen Zustand. Ihr Mann hatte dafür kein Verständnis. Ihm war es peinlich, mit einer Frau verheiratet zu sein, dazu noch mit einer Deutschen, die so extrovertiert war und manchmal auch laut wurde. Sie fand Arbeit als Kleinkinderzieherin in einer Familie, doch sie fühlte sich ständig überwacht, hintergangen, nicht ernst genommen. Als sie Ende 2005 einen Zusammenbruch erlitt, riet ihr der Hausarzt zur Kündigung. Und er liess sie endlich durch eine Psychologin C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 21 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » abklären. Diese bestätigte die Diagnose, die sie sich bereits selber gestellt hatte: Borderline-Syndrom. Hinzu kam während einer teilstationären Behandlung die Diagnosestellung einer ADHS, die sie aus der Kindheit mitbrachte. Lisa war froh, endlich Klarheit darüber zu haben, dass sie krank war und nicht «selber schuld» daran, dass sie sich «nicht besser im Griff» hatte. Für ihren Mann dagegen war die Diagnose eine Katastrophe. «Aufgefangen und aufgehoben» Die Scheidung vor vier Jahren war für sie zugleich das Ende einer mühsam aufrechterhaltenen «Normalität» und der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Sie fand eine Wohnung, war aber zunächst nicht in der Lage, ihren Alltag selbstständig zu bewältigen. So folgte eine Phase, wo sie in der psychiatrischen Tagesklinik betreut wurde. Der Schritt in die «Freiheit» des selbstständigen Lebens wurde möglich durch die Psychiatrie-Spitex, die wiederum eng Viele ihrer körperlichen Symptome sind Folgeerscheinungen der permanenten inneren Unruhe und Spannungszustände. mit der Praxis «Psy-Bern» zusammenarbeitet. So erhält Lisa heute wöchentlich Besuch von der Spitex und findet sich regelmässig in der ambulanten Praxis zur Psychotherapie, Körpertherapie und medikamentösen Überwachung ein. Ob sie sich da nicht bevormundet fühle, kontrolliert im Räderwerk des Versorgungssystems, will ich wissen. Nein, nicht kontrolliert fühle sie sich, sondern aufgefangen und aufgehoben, antwortet Lisa. Sie ist froh, dass auch der Hautarzt und selbst der Zahnarzt Teil des Netzwerks sind, denn viele ihrer körperlichen Symptome sind Folgeerscheinungen der permanenten inneren Unruhe und Spannungszustände: Narben zeugen von Selbstverletzungen, Zahnschmerzen sind die Folge davon, dass sie, besonders in der Nacht, die Zähne viel zu stark zusammenbeisst. Seit einigen Monaten ist auch Martin Teil des Systems. Er verliebte sich und machte den ersten Schritt auf Lisa zu, obwohl er rasch merkte, dass mit ihr «psychisch etwas nicht in Ordnung ist». Doch es war ihm egal: «Ich habe nie Angst gehabt. Ich liebe Lisa, und ich lerne durch sie auch ihre Krankheit kennen. Klar, manchmal geht’s mir auf den Sack», fährt er in seiner unnachahmlich offenen Art fort, «aber ich komme damit klar. Die Liebe trägt.» Martin ist als wandernder Zimmermann in der Welt 22 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 herumgekommen. Er hat schon viel gesehen. Wenn er ihr eine Hilfe sein kann, indem er ihr zuhört und sie ernst nimmt, dann tut er das gern. «Übrigens», fügt er hinzu, «tut sie auch viel für unsere Beziehung. Sie ist lieb – und sie hat mir auch schon geholfen.» Martin begleitet seine Freundin manchmal auch in die Therapie. Er weiss, was er im Fall einer Krise zu tun hat. «Falls ich in die Klinik eingeliefert werde», schmunzelt Lisa, «muss er die Katzen versorgen.» Die beiden wohnen nicht zusammen, Lisa will unabhängig bleiben. Durchstrukturierte Tage Wie denn nun ein Tag in ihrem Leben aussieht, will ich von Lisa wissen. «Das Wichtigste ist, dass ich eine Struktur habe», erklärt sie. Früher war es ihr unmöglich gewesen, ihren Tag einzuteilen: Sie stand irgendwann auf, versuchte drei Dinge gleichzeitig zu erledigen, liess unvermittelt alles liegen und lief weg. Am Schluss blieb ein Chaos zurück und sie war verzweifelt, weil sie wieder nichts zustande gebracht hatte. «Nun kommt jeden Donnerstag Rebekka von der Spitex zu mir nach Hause», erzählt Lisa. «Wir machen gemeinsam einen Wochenplan und gehen einkaufen.» Jeder Tag wird im Voraus genau geplant: Aufstehen – Morgentoilette – Frühstück – Katzen versorgen – aufräumen – fernsehen – Menu fürs Abendessen planen. Wenn sie um 14 Uhr einen Termin in der Stadt hat, muss sie den Zug um 13.05 Uhr nehmen, sonst wird es zu knapp. Nach der Rückkehr in ihre Wohnung werden sofort die Sachen eingeräumt und die Kleider aufgehängt, das ist wichtig. Wenn Martin zwischen 18.30 und 18.50 Uhr kommt, kochen sie zusammen, erzählen einander vom Tag, schauen sich einen Film an oder auch zwei. Im Wochenplan ist auch «Ich-Zeit» eingetragen. Dann malt sie oft: «Ich male gerne und gut», verrät Lisa, und fügt lächelnd hinzu: «Ich bin sehr begabt.» Was für mich eher wie ein langweiliger Alltagstrott aussieht, ist für Lisa ein täglicher Parforce-Akt. Ohne die Struktur des Versorgungsnetzes wäre ein eigenständiges Leben für sie unmöglich – «ich wäre ein Fall für die psychiatrische Klinik». Die Handlungen der involvierten Fachpersonen, Medikamente, Therapien und Tagesstrukturen sind aufeinander abgestimmt. Alle drei Monate finden «Standort-Sitzungen» statt, an denen neuerdings auch Martin teilnimmt. «Ich mache unglaubliche Fortschritte», schwärmt Lisa. «Ich setze mir realistische Ziele, die ich auch einhalten kann.» Diese Woche wird sie ein Schreiben ans Zivilstandsamt verfassen: Sie will ihren Mädchennamen zurückhaben. S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » Silvia Schenker Krankes Gesundheitswesen Psychische Krankheiten und Integrierte Versorgung aus Sicht einer Nationalrätin In der Politik hat sich die Erkenntnis langsam durchgesetzt, dass psychische Krankheiten häufig vorkommen. Die volkswirtschaftlichen Kosten, die als Folge der Erkrankungen entstehen, sind beträchtlich. Besonders augenfällig ist dies bei der Invalidenversicherung, die seit Jahren rote Zahlen schreibt. Welche Lehren zieht die Politik aus dieser Erkenntnis? Aufgeschreckt von den andauernd hohen Defiziten der Invalidenversicherung (IV) und getrieben von der Missbrauchs- und Scheininvalidendiskussion befasst sich die Politik in den letzten Jahren mit der Frage der Häufigkeit von psychischen Krankheiten. Im Rahmen der 5. IVRevision, die seit 1.1.2008 in Kraft ist, und aktuell im Rahmen der IV-Revisionen 6a und 6b wird nach Lösungen gesucht, wie es gelingen kann, Menschen mit psychischen Krankheiten im Arbeitsprozess zu halten oder wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. Die Komplexität dieser Aufgabe zeigt sich im Alltag der IV-Stellen und der Institutionen und Fachleute, die damit beschäftigt sind. Wichtige neue Instrumente wie die Früherfassung und Frühintervention, welche mit der 5. IV-Revision eingeführt wurde, können helfen. Ungenügende psychiatrische Versorgung? Die Frage stellt sich jedoch, ob das vorhandene Instrumentarium wirklich genügt oder ob der inzwischen registrierte Rückgang von Rentenbezügerinnen und -bezügern nicht primär in einer restriktiveren Praxis der IV-Stellen begründet ist. Eine grosse Gefahr besteht darin, dass der politische Druck zu einer Ungleichbehandlung von psychisch Kranken und Personen mit anderen Krankheitsbildern führt. Trotz intensiver Bemühungen von Fachgesellschaften und den Organisationen der Betroffenen sind psychische Krankheiten nach wie vor tabuisiert. Dies erfahren all diejenigen, die aufgrund einer psychischen Krankheit Probleme am Arbeitsplatz haben oder nach einem krankheitsbedingten Verlust des Arbeitsplatzes eine neue Stelle suchen müssen. In einer umfassenden Analyse von 887 Dossiers von IV-RentnerInnen mit dem Diagnosecode 646 (psychogene oder milieureaktive Störungen; Neurosen; Borderline-Persönlichkeiten etc.) wurden wichtige Erkenntnisse gewonnen. Unter anderem zeigte sich, dass bei den meisten Betroffenen mehrere Jahre zwischen dem Krankheitsbeginn und dem ersten Kontakt mit der IV liegen. Ausser- dem zeigte die Dossieranalyse auf, dass nur bei einem Drittel der Berenteten zu Beginn des ärztlichen Abklärungsverfahrens ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie involviert war. Bei einem Viertel der Berentungen aus psychischen Gründen wurde im Verfahren überhaupt nie eine psychiatrische Abklärung vorgenommen. Die Studie zeigt eindrücklich auf, dass es an der fachärztlichen Versorgung der später Berenteten gefehlt Silvia Schenker hat. Eine adäquate fachärztliche Behandlung ist aber auch im Hinblick auf die Rehabilitation von Menschen mit psychischen Krankheiten wichtig. Sie können die Patienten dabei unterstützen, vorhandene Ressourcen zu nutzen und ihren Platz in der Arbeitswelt wiederzufinden. In der Gesundheitspolitik wird zurzeit versucht, neue Versorgungsmodelle zu fördern, die unter den Begriffen «Managed Care» oder zunehmend Integrierte Versorgung laufen. Die entsprechende Vorlage befindet sich im Differenzbereinigungsverfahren zwischen den beiden Räten. In der Frühjahrssession 2011 wird voraussichtlich der Nationalrat darüber entscheiden. Wer sich in Zukunft in einem integrierten Versorgungsnetz behandeln lässt, bezahlt nur noch 5% Selbstbehalt, alle andern bezahlen 15%. Mit diesem differenzierten Selbstbehalt wird versucht, Versicherte für diese Versorgungsmodelle zu motivieren. Wichtiges Element dieser Versorgungsmodelle ist, dass die Zuweisung zu Ärzten, insbesondere Spezialärzten ausserhalb des Netzes, restriktiver erfolgen soll. Die Integrierte Versorgung soll eine qualitative Verbesserung der Behandlung durch vermehrten Austausch und bessere Zusammenarbeit bringen. Dabei sollen aber auch Kosten eingespart werden können, indem die Behandlungsprozesse stärker gesteuert werden. Dadurch wird die Freiheit der Patientinnen und Patienten bei der Wahl der Ärztinnen und Ärzte reduziert. Wer diese Einschränkung nicht will, muss bereit sein, den entsprechenden Preis dafür zu bezahlen. Integration ohne Exklusion Als in einer psychiatrischen Klinik tätige Sozialarbeiterin weiss ich, wie wichtig bei psychischen Krankheiten eine C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 23 S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G » rechtzeitige Diagnosestellung und eine professionelle Behandlung sind. Sie sind die Grundlagen, ohne die alle Bemühungen um eine Tagesstruktur und eine Integration im Erwerbsleben nicht fruchten können. In Zusammenhang mit der eingangs ausgeführten Problematik der Zunahme von psychischen Krankheiten muss in Zukunft noch stärker auf die adäquate Behand- Bei der Beurteilung der Gesundheit sollte die soziale und ökonomische Situation des Patienten miteinbezogen werden. lung der Betroffenen geachtet werden. Die sinnvolle Stärkung der integrierten Versorgung darf auf keinen Fall dazu führen, dass der Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung eingeschränkt wird. Im Gegenteil: Fachärzte der Psychiatrie und Psychotherapie müssten eine noch wichtigere Rolle bei der Rehabilitation von Menschen mit psychischen Krankheiten spielen. Das Thema «Integration in die Arbeitswelt» gewinnt bei den Sozialversicherungen wie der Invalidenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und auch bei der Sozialhilfe zunehmend an Bedeutung. Mit unterstützenden Instrumenten, aber auch mit Sanktionen wird versucht, möglichst viele Personen aus den Sicherungssystemen hinaus in die Arbeitswelt zu führen oder gar nicht erst in die Systeme aufzunehmen. Diese Bestrebungen werden von der Politik unter dem Stichwort «Arbeit vor Rente» gestützt. Dieser im Grundsatz sinnvolle Ansatz darf jedoch nicht dazu führen, dass Menschen aus allen Netzen fallen. Gerade für psychisch 24 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Kranke ist diese Gefahr gross. Damit dies nicht geschieht, müssen Sozial- und Gesundheitspolitik aufeinander abgestimmt sein. Gute Lösungen in der Gesundheitspolitik zu finden, ist in unserm föderalistischen System und angesichts der vielen divergierenden Interessen an und für sich schon schwierig. Dabei nicht nur das politische Gärtchen der Gesundheitspolitik im Auge zu behalten, sondern auch noch die Wechselwirkungen mit andern Politikfeldern zu bedenken, ist höchst anspruchsvoll. Integrierte Versorgung bedingt nicht nur eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der Institutionen und kontinuierlichen Austausch mit den involvierten externen Stellen. Integrierte Versorgung bedeutet, Gesundheit nicht isoliert von der sozialen Situation und diese wiederum nicht losgelöst von der ökonomischen Situation der Menschen zu betrachten. Wenn die Politik zurzeit die Therapie für das kranke Gesundheitswesen in der Integrierten Versorgung sucht, dann tut sie gut daran, vor der eigenen Türe zu kehren. Auch die «Behandlungskette» bei politischen Themen könnte durchaus etwas mehr Integration, sprich Koordination und Kommunikation ertragen. Literatur Baer N, Frick U, Fasel T. Dossieranalyse der Invalidisierung aus psychischen Gründen. Liestal, 2009. Korrespondenz: Silvia Schenker Sozialarbeiterin, Nationalrätin Postfach 434 4013 Basel [email protected] www.silviaschenker.ch WEG Ziele setzen: Pflege, Bildung, Management Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe Nachdiplomstudium Pflege Modulare und zeitlich flexible Nachdiplomkurse mit Schwerpunkten – Akute Pflege – Pflege chronisch kranker Menschen – Komplementärmedizinische Pflege – Case Management in der Pflege – Geriatrische Pflege – Pflege von Menschen mit Demenz NEU – Palliative Pflege – Schulung und Beratung – Kinaesthetics in der Pflege – Individueller Schwerpunkt NEU Den Studierenden steht zusätzlich ein breites Angebot an Wahlmodulen zur Verfügung. Nächste Informationsveranstaltung am 16. März 2011 am WE'G in Aarau von 17.00 –19.00 Uhr WE'G Mühlemattstrasse 42 CH-5001 Aarau Telefon +41(0)62 837 58 58 Fax +41(0)62 837 58 60 E-Mail [email protected] 13. Schweizerisches Forum der sozialen Krankenversicherung Donnerstag, 19. Mai 2011 im Kongresshaus Zürich Das Gesundheitswesen im Umbau: Aktuelle Reformen auf dem Prüfstand Informationen und Anmeldung: RVK, Haldenstrasse 25, 6006 Luzern www.rvk.ch, [email protected] www.weg-edu.ch Referate Andreas Faller Vize-Direktor BAG Jean-François Steiert Vizepräsident des Dachverbandes Schweizerischer Patientenstellen Gerd Glaeske Gesundheitsökonom, Universität Bremen Klaus Peter Rippe Ethiker, Universität Zürich Charles Giroud Präsident RVK Benjamin Tommer Redaktor NZZ am Sonntag Diskussion auf dem Podium Rita Ziegler Vorsitzende der Spitaldirektion des UniversitätsSpitals Zürich Marc Müller Präsident Hausärzte Schweiz Beat Ochsner CEO Sympany Gruppe Moderation Markus Gilli Programmleiter Tele Züri Verband der kleinen und mittleren Krankenversicherer FORUM MANAGED CARE Symposium, 16. Juni 2011 Hallenstadion Zürich Vertikale Integration: Genug der Worte – Taten! DAS THEMA Die Zukunft in der Medizin gehört der Integrierten Versorgung. Die Schweiz kennt seit über 20 Jahren erfolgreiche Managed-Care-Organisationen wie HMO und Ärztenetzwerke. In der horizontalen Integration der Grundversorgung gehört unser Gesundheitswesen damit zu den fortschrittlichsten in Europa. Wie aber steht es mit der vertikalen Integration der verschiedenen Leistungserbringer entlang der Behandlungskette? Für eine effektive und nachhaltige Koordination und Steuerung der Behandlungen ist diese Dimension der Integration zweifellos der zentrale Erfolgsfaktor. Welche Organisationsformen sind dafür zweckmässig? Gibt es in der Schweiz schon Modelle und Organisationen erfolgreicher vertikaler Integration? Wie steht es mit Vorbildern im Ausland? Wie können die verschiedenen Gesundheitsprofessionen 26 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 und Institutionen in vertikal integrierte Organisationen eingebunden werden? Wie werden die Prozesse vereinheitlicht, die Qualität gesichert? Welche Rolle spielen neue Technologien? Das sind zentrale Fragen und Themen am Symposium 2011 des Forum Managed Care. In den Keynote-Referaten und Podiumsdiskussionen präsentieren und erörtern Fachleute aus Medizin, Wissenschaft, Gesundheitsökonomie, Technologie und Pflege die Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Chancen und Risiken der vertikalen Integration aus ganz verschiedenen Perspektiven. Von der Analyse zur praktischen Umsetzung: Darum geht es in den Projektpräsentationen und interaktiven Workshops. Erfolgreiche Entwickler, Anbieter und Umsetzer aus der Schweiz und aus Deutschland werden ihre Erfolgsrezepte, Ideen und Erfahrungen von Managed Care und Integrierter Versorgung präsentieren und sich der Diskussion mit den Besuchern des Symposiums stellen. Auch 2011 setzt das FMC auf die Zusammenarbeit mit dem deutschen Bundesverband für Managed Care (www.bmcev.de). Gleichzeitig geht der Blick in die Westschweiz: Wir freuen uns auf die gemeinsame Weiterentwicklung der Integrierten Versorgung dies- und jenseits der Saane. Wie in den Vorjahren wird auch 2011 der Förderpreis für besonders innovative und zukunftsgerichtete Projekte der Integrierten Versorgung verliehen. Den stimmungsvollen Ausklang bildet dann das Abendprogramm in der Giesserei Oerlikon. FORUM MANAGED CARE DAS PROGRAMM Moderation: Ellinor von Kauffungen 09.15 Begrüssung Peter Berchtold, Präsident Forum Managed Care 09.25 Vertikale Integration – der Blick über den Tellerrand Jens Alder, VR-Präsident Sanitas Krankenversicherung 09.50 Vertikale Integration aus der Perspektive des Zentrumsspitals Benno Fuchs, Direktor Luzerner Kantonsspital 10.15 Soins Intégrés: un nouveau modèle pour la médecine de famille Dr méd. Philippe Schaller, Fondateur Groupe Médical d’Onex, Réseau de Soins Delta 10.40 eVoting-Umfrage Vertikale Integration 11.10 Pause 11.40 Workshops und Projektpräsentationen (2 Blöcke) 12.45 Mittagessen 14.00 Die Bedeutung der Technologie: eHealth als Voraussetzung zur erfolgreichen Prozessintegration 14.20 Vertikale Integration aus Sicht der Health Professionals und Patienten: Die ideale Lösung für alle? Podiumsdiskussion; Moderation: Ellinor von Kauffungen 15.10 Pause 15.30 Workshops und Projektpräsentationen (2 Blöcke) 16.45 Verleihung Managed Care Förderpreis 2011 17.00 Apéro und Ausklang 18.15 Networking Dinner Der Treffpunkt von Teilnehmenden und Referenten mit einer künstlerischen Überraschung FÖRDERPREIS 2011 DES FMC Das Forum Managed Care (FMC) verleiht anlässlich des Symposiums vom 16. Juni 2011 den Förderpreis für herausragende Leistungen zur Entwicklung und Umsetzung der Integrierten Versorgung im Schweizer Gesundheitswesen. Die Preissumme beträgt 10000 Franken. Der Strategische Beirat des FMC entscheidet über die Vergabe des Förderpreises. Teilnahmebedingungen Alle zum Symposium 2011 eingereichten Projekte und Studien, welche ganz oder hauptsächlich in der Schweiz bearbeitet wurden, sind für den Förderpreis angemeldet. Die Bewertung der Arbeiten erfolgt nach den Kriterien: • Bezug zu den Themen des Symposiums «Vertikale Integration: Genug der Worte – Taten!»: Prozessintegration (namentlich ambulant-stationär), Vergütungsmodelle über die ganze Betreuungskette, Behandlungsqualität und Patientensicherheit, eHealth-Instrumente für die vertikale Integration etc. • Nachweis des Nutzens von Integration und Vernetzung auf die medizinische Qualität und/oder die Wirtschaftlichkeit. Der Preisträger und die nominierten Projekte werden in der Zeitschrift «Care Management» vorgestellt. Call for Abstracts und Einreichen der Projekte Das Forum Managed Care lädt alle Interessierten ein, am Symposium vom 16. Juni 2011 ihre wissenschaftlichen Studien, Optimierungsprojekte, Initiativen oder Innovationen in Form von Präsentationen oder interaktiven Workshops vorzustellen. Die Arbeiten sollen die Entwicklung, den Aufbau oder die Evaluation innovativer Ansätze zur Integrierten Versorgung darstellen und entsprechende Resultate aufweisen. Das Formular zum Einreichen Ihrer Projekt-Zusammenfassung finden Sie unter www.fmc.ch/symposium/abstracts Meldeschluss ist der 15. März 2011. Vielen Dank! FACTS & FIGURES Tagungsort Hallenstadion Zürich www.hallenstadion.ch Kosten Frühbuchertarif bis 31.3.2011: CHF 440.– Normaltarif: CHF 490.– Networking Dinner Integrierte Versorgung: CHF 100.– Sprache Deutsch, französische Simultanübersetzung der Keynote-Referate Anmeldung Melden Sie sich bitte über die Website des Forum Managed Care an: www.fmc.ch/symposium Vielen Dank! C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 27 D A T U T S I C H WA S Heinz Locher Jenseits von Managed Care 2011 Ein Ausblick auf weitere notwendige Reformschritte nach der laufenden KVG-Revision Auch ein positives Resultat der laufenden Gesetzesrevision kann nur einen weiteren Schritt auf dem weiten Weg einer erfolgreichen Etablierung der Managed-Care-Grundsätze in der Schweiz bedeuten, dessen Beginn noch in die KUVG-Zeit zurückgeht. Mögliche weitere «Zukünfte» müssen schon heute angedacht und Massnahmen zu deren Ermöglichung eingeleitet werden. Noch darf gehofft werden, dass die Eidgenössischen Räte ihre Mehrfachpokerrunde zur Managed-Care-Vorlage mit einem praxistauglichen Ergebnis erfolgreich abschliessen. Anschliessend werden sich wohl die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger anlässlich einer Referendumsabstimmung ebenfalls zur Vorlage zu äussern haben, nachdem sich gegenwärtig standespolitische Nostalgiker zum Klang der alten Nationalhymne «… hast noch der Ärzte ja, …» freudlos zum letzten Streit formieren. Ist damit, um wieder einmal Francis Fukuyama zu bemühen, das «Ende der Geschichte» erreicht? Wohl kaum. Weitere Reformen müssen und werden folgen. Weshalb den Selbstbehalt zum Voraus festlegen? Einen der Streitpunkte bildet die Höhe des Selbstbehaltes. Zur Diskussion stehen die Modelle 20/10 und 15/5. Gestritten wird insbesondere über die Frage, ob das Modell 15/5 zu einer Prämienerhöhung führen würde. Wie auch bei andern Themen des Gesundheitswesens (z.B. der Diskussion um die Preisdifferenzierung zwischen Originalpräparaten und Generika) sind offensichtlich einige grundlegende Aspekte in der Diskussion völlig verlorengegangen, wenn sie den Akteuren überhaupt einmal bewusst waren. Der Sinn des Selbstbehalts besteht ja bekanntlich darin, die Versicherten bzw. nun Kranken zu einer massvollen Inanspruchnahme von Leistungen anzuhalten. Mit dem Beitritt zu einem Managed CareVersicherungsplan haben diese aber bereits ein «Commitment» zur massvollen Nutzung der Ressourcen des Gesundheitssystems abgelegt, so dass in diesem Modell ein Selbstbehalt eine unnötige Verdoppelung des negativen Anreizes bewirkt. Bei gut konzipierten und gelebten MC-Versicherungsplänen können Kosteneinsparungen von 9% und mehr erreicht werden [1]. Deshalb ist ein Verzicht auf einen obligatorischen Selbstbehalt oder zumindest ein Umschwenken auf das Modell 15/5 vertretbar. Ein völliger 28 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Verzicht auf die Vorschrift eines wie auch immer festgelegten Selbstbehalts würde zudem einen Beitrag zum mehr als notwendigen Abbau der ohnehin zu hohen Regelungsdichte leisten, ebenso wie die völlige Freigabe der Vertragsdauer mit der Möglichkeit des Kassen- und Modellwechsels nach vorgängig festgelegten Bedingungen oder der Verzicht auf vorgegebene maximale Prämienrabatte. Es ist unverständlich, dass der Gesetzgeber (auch) hier MikroHeinz Locher management betreibt und die Vertragsautonomie von Versicherten und Versicherern in derart kleinkarierter Weise einengen will [2]. Den Krankenversicherern sollte es zudem zur Steigerung der Attraktivität derartiger Modelle freigestellt bleiben, bei guten Ergebnissen eine Rückvergütung auszurichten. Falls sich diese an das ganze Kollektiv eines MC-Versicherungsplans und nicht an einzelne Individuen richtete, ergäbe sich auch eine klare Abgrenzung zu Bonus-Modellen. Ferner ist zur Stärkung der Vertragsautonomie von gesetzlichen Einschränkungen abzusehen, wer als Träger der Integrierten Versorgung mit Budgetverantwortung zugelassen wirken kann: Gruppen von Leistungserbringern, Managed-Care-Organisationen, Spitäler oder Organisationen im Eigentum von Krankenversicherern. Je integrierter, umso effizienter Zur Gewährleistung einer Integrierten Versorgung mit Budgetmitverantwortung der Leistungserbringer genügen reine organisationsübergreifende Prozessoptimierungen kaum. Nicht alle Akteure sind zudem bereit und finanziell in der Lage, die damit verbundenen finanziellen Risiken zu tragen. Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn Formen des «payment for performance» bzw. des «payment for results» Platz ergreifen sollen. Eine systematische Einordnung vermittelt dazu Überblickswissen: Die Darstellung von Shih et al. [3] zeigt die Zusammenhänge zwischen Produktionsstruktur, Tarifform und Qualitätssicherung in illustrativer Weise. Je integrierter ein Leistungssystem ist (horizontale Achse), desto besser ist es in der Lage, globale DRG-Pauschalen oder Integrierte Capitation-Modelle zu tragen (vertikale Achse D A T U T S I C H WA S Abb. 1 Produktionsstruktur, Tarifform und Qualitätssicherung. links). Zudem ist ein solches System auch bezüglich eines hohen Entschädigungsanteils von Outcome-Parametern (vertikale Achse rechts) tragfähig. Die sich daraus ergebenden Einsichten decken sich vollständig mit den Anliegen von Porter [4] und Teisberg [5] bezüglich interinstitutioneller Komplexpauschalen und der Orientierung der Qualitätsmessung am Ende einer Behandlungsepisode bzw. bei chronisch Kranken pro Behandlungsperiode – über die Grenzen der beteiligten Leistungserbringer hinaus. Was das konkret bedeutet, zeigt Teisberg am Beispiel der Behandlungskette für chronische Nierenkrankheiten auf: Eine Kombination von Outcome-Messungen mit einer Neuorientierung von Ärzteteams als integrierte Behandlungszentren würde nicht nur den Patientennutzen markant steigern, sondern auch zusätzliche Erträge und Erfahrungsgewinn für die Leistungserbringer ermöglichen (S. 73ff.). Solche bereichsübergreifenden Managed-Care-Modelle sind für verschiedenste Patientengruppen realisierbar. Auf Initiative des Bundesamtes für Gesundheitswesen (BAG) wird gegenwärtig ein derartiger Ansatz für HIV-Patienten erforscht und anschliessend erprobt. Falls er gelingt, bedeutete dies einen weiteren Meilenstein in der auch aus internationaler Sicht äusserst innovativen und erfolgreichen Handhabung der HIV-Problematik durch das BAG. Literatur 1 Beck, Konstantin, Die Sorge der Politik um die Zusammensetzung des MC-Kollektivs ist übertrieben, in infosantésuisse 9–10/10, S. 4–7. 2 W. Oggier hat schon früh auf die Bedeutung der Wahlfreiheit im Zusammenhang mit der Managed-Care-Vorlage hingewiesen: Oggier Willy, Macht duales Modell Schule?, datamaster, Edition 4, September 2008, S. 9 ff. 3 Shih A. et al, Organizing the U.S. Health Care Delivery System for High Performance, The Commonwealth Fund, New York Aug 2008, p 21. 4 Porter, Michael A., What Is Value in Health Care?, N Engl J Med 363;26 nejm.org, December 23, 2010, p 2477–81. 5 Teisberg, Elizabeth Olmsted, Nutzenorientierter Wettbewerb im schweizerischen Gesundheitswesen, Zürich 2008. Korrespondenz: Heinz Locher, Dr. rer. pol. Postfach 266, 3000 Bern 15 [email protected] C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 29 D A T U T S I C H WA S «Nicht Jahre, sondern Jahrzehnte» Fragen an Heinz Locher zum gemeinsamen Buch mit Hans Heinrich Brunner Care Management: Gemeinsam mit dem im Frühjahr 2010 verstorbenen Hans Heinrich Brunner haben Sie ein Buch über das Schweizerische Gesundheitssystem geschrieben, das praktisch ohne Zahlen und Tabellen auskommt, dafür mit pointierter Kritik an der Selbstzufriedenheit der Protagonisten des angeblich «besten Gesundheitssystems der Welt» aufwartet. Was wollen Sie damit erreichen? Heinz Locher: Mit einer praxisbezogenen Schau auf seine Stärken und Schwächen wollten wir einen Beitrag zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems leisten. Zu diesem Zweck hinterfragten wir dessen Mechanismen, die darin tätigen Akteure und deren möglichen Beweggründe und leuchteten dabei auch Räume aus, die hochbedeutsam sind, aber kaum je im gesundheitspolitischen Diskurs aufscheinen. Die Themenauswahl ist subjektiv, aber nicht zufällig, und erhebt keinen Anspruch auf «enzyklopädische» Vollständigkeit. Daraus ergab sich auch der Untertitel «Feststellungen, Anregungen und Lösungsvorschläge», verbunden mit Hinweisen auf Handlungsachsen und Optionen. Das Buch steht damit in einer Tradition unbestechlicher kritischer Aufklärung, der wir uns beide stets verbunden fühlten. Der Fokus auf Systeme, Werthaltungen und die «langen» Entwicklungswellen führte konsequenterweise zum Verzicht auf die Nennung ohnehin rasch veraltender «aktueller» Zahlen. Im Kapitel 6 übertragen Sie die Prinzipien der «Evidence Based Medicine» auf das Gesundheitssystem als Ganzes und stellen im Titel die Frage: «Ist ein Gesundheitssystem für die Schweiz denkbar, in dem nur wissenschaftlich fundierte, nutzenstiftende Behandlungen durchgeführt werden?». Die Antwort habe ich nicht gefunden. Ist das Absicht? Der Aufbau unseres Buches ist dem einer Bogenbrücke vergleichbar. Die zwei Fundamente sind das zu Beginn stehende Kapitel über das Gesundheitswesen als komplexes System mit den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen bezüglich seiner Nichtplanbarkeit einerseits, das gegen Schluss stehende Kapitel über Ordnungspolitik, Wettbewerb und Regulierung. Die Antwort auf die genannte Frage ergibt sich im Zusammenspiel dieser beiden Aspekte mit den WZW-Bestimmungen. Sie lautet «Im Prinzip ja» – was nicht als Reverenz an Radio Eriwan verstanden werden soll, sondern als Hinweis darauf, dass hierfür verschiedene Voraussetzungen gegebenen sein müssten, die in der Schweiz (noch?) weitgehend fehlen. Der Aufbau eines wirksamen Systems von Regulatoren und Regula- 30 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 tionsprozessen könnte angesichts der politischen Entscheidungsprozesse in der Schweiz nicht Jahre, sondern Jahrzehnte benötigen – ein von der Sache her eigentlich nicht akzeptabler Zeithorizont. Das Krankenversicherungsgesetz verlangt in Art. 32 Abs. 1, dass die durch die obligatorische Grundversicherung vergüteten Leistungen «wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich» sein müssen. Sie trauen den zuständigen Behörden nicht zu, die Einhaltung dieses «WZW-Kriteriums» zu überprüfen und sicherzustellen. Woran liegt das? Nebst einer fehlgeleiteten politischen Kultur, in welcher sich die politischen Entscheidungsträger chronisch überschätzen, liegt der Hauptgrund in der fehlenden Trennung der heute im Bundesamt für Gesundheitswesen vermischten Aufgaben der Politikberatung einerseits, der rein fachorientierten Regulierung anderseits. Dieser Missstand hat sich in jüngster Vergangenheit bei den Vorgängen um Billigkassen, Prämiendumping und fehlenden Reserven in geradezu dramatischer Weise manifestiert. Wie man ihn beheben könnte, legen wir im Buch dar. In diesem Kapitel hätte ich auch einen Abschnitt über Managed Care und Versorgungsnetze erwartet. Sehen Sie hier Potential für die Überwindung von Hindernissen auf dem Weg zu einem «evidenzbasierten Gesundheitswesen»? Wir beurteilen Managed Care und Versorgungsnetze im Buch sehr positiv, haben unsere Haltung dazu aber im Kapitel «Walmart oder das Ende der Cottage-Industrie» dargelegt. Managed-Care-Organisationen stellen aus unserer Sicht auch einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Produktionsstruktur und Stärkung der Risikotragfähigkeit der Leistungserbringer dar – beides Voraussetzungen zum Einsatz neuer Formen der outputbezogenen Leistungsfinanzierung. Interview: Anna Sax Brunner, Hans Heinrich Locher, Heinz Die Schweiz hat das beste Gesundheitssystem – hat sie das wirklich? Feststellungen, Anmerkungen und Lösungsvorschläge EMH Schweiz. Ärzteverlag, 2011 ISBN: 978-3-03754-054-1 Preis: 35.00 CHF Hochschule Gesundheit Hochschule. Und praxisbezogen. Mühlemattstrasse 42 CH-5001 Aarau Telefon +41 62 837 58 90 Telefax +41 62 837 58 60 E-Mail [email protected] Web www.weg-fh.ch Berufsbegleitende modulare Studiengänge Informationsveranstaltungen Master of Advanced Studies (MAS) in Care Management Diploma of Advanced Studies (DAS) in Care Management Certificate of Advanced Studies (CAS) in Case Management Start: alle zwei Monate mit jedem Modulstart Part of Arbeit und Gesundheit Die Erhaltung der Gesundheit von Arbeitnehmenden ist aus wirtschaftlichen wie ethischen Gründen von grosser Bedeutung für die Gesellschaft. Das CAS-Programm befähigt Fachpersonen, die im Bereich Gesundheitsschutz tätig sind, Belastungen an Arbeitsplätzen zu erkennen sowie Massnahmen zur Verbesserung der Situation zu formulieren. Dauer: April 2011 bis Januar 2012 Details unter www.hslu.ch/c154 und bei Priska Emmenegger, T +41 41 367 48 23, [email protected] Immer aktuell informiert: www.hslu.ch/newsletter-sozialearbeit 22.02./03.05./20.09.2011 in Zürich, jeweils um 17 Uhr Detaillierte Informationen unter www.weg-fh.ch Gerne beraten wir Sie persönlich. Teil der Certificate of Advanced Studies CAS 16.03./08.06./17.08./02.11.2011 in Aarau, jeweils um 17 Uhr FH UAS Kalaidos Fachhochschule Schweiz Kalaidos University of Applied Sciences Switzerland Departement Gesundheit Department of Health Sciences SPEKTRUM Urs Zanoni Wo die Kunden auch Patient sein können Kleinstpraxen bei Detailhändlern und Apotheken: ein Weg gegen den Hausärztemangel in der Schweiz? Man nehme eine Nurse Practitioner, einen zehn Quadratmeter grossen Raum und einen frequenzstarken Einkaufsort – fertig ist die Retail Clinic zur Behandlung von leichten Erkrankungen und Verletzungen. Über 1200 solcher Kleinstpraxen sind innert zehn Jahren in den USA entstanden. Liessen sich damit die knappen hausärztlichen Ressourcen in der Schweiz erweitern? Die Präsidenten von Hausärzte Schweiz und dem Apothekerverband pharmaSuisse nehmen Stellung dazu. Keri Krumm hat rote, brennende Augen. Seit fünf Minuten sitzt sie auf einem einfachen Holzstuhl und beobachtet die Leute am Verkaufstresen der Apotheke, der wenige Meter vor ihr steht. Sechs solcher Stühle stehen Seite an Seite vor einer weissen Wand, daran eine stattliche Leuchttafel: «Minute Clinic. You’re sick, we’re quick». Wir sind in einer Filiale von CVS Pharmacy in Boston; CVS Pharmacy ist mit gut 7000 Apotheken die zweitgrösste Kette – nach Walgreens – in den USA. Minute Clinic gehört wie CVS Pharmacy zum CVS LandmarkKonzern. 560 Standorte zählt Minute Clinic in den USA und hat damit einen Marktanteil von fast 50 Prozent. Jessica Brost ist die Nurse Practitioner, die gerade Dienst hat; Ärzte gibt es hier keine. Sie tritt aus dem fensterlosen Sprechzimmer, das etwa zehn Quadratmeter gross ist, und signalisiert den Wartenden, dass sie für den nächsten Patienten bereit ist. Eine Anmeldung oder Terminvereinbarung gibt es nicht. Wer medizinisch versorgt 32 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 werden möchte, sitzt einfach in die Reihe. Das Behandlungsangebot ist streng fokussiert und standardisiert: minor illness exam, minor injury exam, skin condition exam, vaccinations, wellness & physical exams, health condition monitoring (siehe «Leistungen und Preise bei Minute Clinic»). Keri Krumm steht auf, nennt Jessica Brost ihren Namen und geht mit ihr ins Sprechzimmer. Die Nurse Practitioner tippt den Namen in den ComUrs Zanoni puter und sieht, dass Keri Krumm schon mal bei Minute Clinc war, eine Penizillin-Allergie hat und krankenversichert ist. Dann lässt sie sich die Beschwerden schildern, fragt nach und macht Notizen in die elektronische Krankengeschichte. Schliesslich untersucht sie die Augen und Ohren, die Drüsen im Nackenbereich und misst die Temperatur. Dann diagnostiziert sie eine Bindehautentzündung und drückt Keri Krumm ein Rezept für Augentropfen in die Hand. Die Patientin verabschiedet sich, geht rüber zum Verkaufstresen und nimmt die Tropfen in Empfang. Seit der Begrüssung sind rund 20 Minuten vergangen; die Krankenversicherung wird das Ganze 49 $ kosten. Die Geschichte dieser niederschwelligen Kleinstpraxen startet im Mai 2000. Die Gründungslegende geht so: An einem Wintersonntag 1999 sucht Rick Krieger mit seinem Sohn, der starke Halsschmerzen hat, eine Notfallpraxis auf. Dort muss er zwei Stunden warten, bis ein Test die nötige Klarheit über die Ursache liefert. Für Rick Krieger ist klar: Das muss schneller gehen und deshalb viel billiger sein. Ein halbes Jahr später eröffnet er in Minneapolis das erste Quick Medx Center. Daraus geht schliesslich Minute Clinic hervor, heute der klare Marktführer. Die gebräuchlichste Bezeichnung für die Kleinstpraxen lautet Retail Clinic, was auf die präferierten Standorte hinweist: Die meisten sind in grossen Detailhandelsketten wie Target und Wal-Mart zu finden sowie in Apothekenketten. Die Überlegung dahinter: Die Kunden der Ketten können gleich noch ihre leichten Beschwerden behandeln lassen; die Patienten können gleich noch einkaufen gehen. Die Angebote sind – nach dem Vorbild von McDonald’s oder Starbucks – in höchstem SPEKTRUM Masse standardisiert. Hier wissen die Leute ganz genau, was sie für wie viel erhalten. Doch das Konzept hat seine Tücken. Zum Beispiel gibt es starke saisonale Schwankungen; der grösste Zulauf ist im Herbst, wenn die Grippeimpfung ansteht (siehe «Saisonabhängig»). Zweitens scheint es schwierig zu sein, Leute in die Kleinstpraxen zu lotsen, die nicht in den Läden einkaufen möchten, in denen die Retail Clinics eingemietet sind. Zum Dritten ist der Markt übersättigt: Zwei Dutzend Mitbewerber gibt es mit etwa 1200 Standorten. Zwischen 2006 und 2008 verfünffachte sich das Angebot auf rund 1000 Kliniken; seither erfolgt der Zuwachs gemächlich. Das Beratungsunternehmen Deloitte erwartet allerdings einen nächsten Boom und schätzt, dass sich die Zahl der Kliniken bis Ende 2014 fast verdreifachen wird. Als zentraler Erfolgsfaktor wird die Convenience gesehen: Die Kliniken haben sieben Tage die Woche offen, an den Werktagen mindestens 12 Stunden. Die Wartezeiten sind viel kürzer als in klassischen Arzt- oder Notfallpraxen, ebenso die Behandlungszeiten. Der Dachverband der Kliniken nennt sich folgerichtig Convenient Care Saisonabhängig Das Geschäft der Retail Clinics ist stark saisonabhängig: Die höchsten Frequenzen sind im Herbst zu verzeichnen, wenn die Grippeimpfungen erfolgen. Die Angaben stammen von der Avera St. Luke’s FastCare Clinic in the Aberdeen, S.D., ShopKo store. 2009 Patienten pro Monat Juli 103 August 279 9,0 0,9 September 392 13,1 1,3 pro Tag 8,6 pro Stunde 0,8 Oktober 760 24,5 2,3 November 484 16,1 1,6 Dezember 453 15,1 1,4 Association und bezeichnet die Kleinstpraxen als Convenient Care Clinics. Ein zweiter Erfolgsfaktor sind die Preise: Eine Konsultation wie jene von Keri Krumm ist etwa ein Drittel günstiger als in einer voll ausgerüsteten Arztpraxis; in der Notfallstation eines Spitals wäre sie 20- bis 30-mal teurer. Leistungen und Preise bei Minute Clinic Minor illness exam: $69 Allergy symptoms Body ache Cough Earache Ear wax removal ($59) Flu-like symptoms ($69–$129) Itchy eyes Motion sickness prevention Nasal congestion Pink eye Sinus symptoms Sore throat ($69–$122) Urinary tract / bladder infection ($69–$84) Minor injury exam: $69 Blisters Burns Bug bites and stings Corneal abrasions Jellyfish stings Lacerations Splinters Sprains (ankle, knee) Suture and staple removal Wounds and abrasions Skin condition exam: $27–$104 Acne Athlete’s foot Chicken pox Cold sores & canker sores Infections (minor) Lice Oral / mouth sores Poison ivy Rashes (minor) Ringworm Scabies Shingles Styes Sunburn (minor) Swimmer’s itch Wart treatment Hepatitis B (Adult) $102 Hepatitis B (Child) $102 Meningitis $147 MMR (Measles, Mumps, Rubella) $116 Pneumonia $77 Polio (IPV) $96 TD (Tetanus, Diphtheria) $76 Tdap (Tetanus, Diphtheria, Pertussis) $92 Vaccinations: $29.95–$147 DTaP (Diphtheria, Tetanus, Pertussis) $82 Flu (Seasonal) $29.95 Hepatitis A (Adult) $117 Hepatitis A (Child) $97 Wellness & physical exams: $27–$104 Health condition monitoring: $59–$114 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 33 SPEKTRUM Die durchschnittlichen Medikamentenkosten dagegen liegen fünf Prozent höher als bei vergleichbaren Fällen in der Arztpraxis, obwohl zwei von fünf Patienten ohne ein Rezept aus der Klinik gehen. Jeder zehnte Patient wird an einen Arzt oder eine Notfallstation überwiesen. Ein wesentlicher Grund für die Preisunterschiede zur klassischen Arztpraxis sind die tieferen Personalkosten: Eine Nurse Practitioner verdient etwa 100 000 USD und damit die Hälfte eines Arztes. Nurse Practitioners haben einen Master in Nursing Science und eine spezifische Weiterbildung in Diagnostik und Therapie. Da es sie in den USA seit über 40 Jahren gibt, sind sie als Leistungserbringer unbestritten. Studien zeigen regelmässig, dass die Behandlungsqualität vergleichbar ist mit der von Hausärzten. In den Kliniken arbeiten sie normalerweise alleine und decken die ganze Palette ab: Diagnose, Therapie, Führen der elektronischen Krankengeschichte, Abrechnung, Beratung zu Prävention und Gesundheitsförderung – bis zur Dankeskarte, welche die Patienten in der Regel zugeschickt bekommen. Die Ärzteschaft hat sich inzwischen an die niederschwellige Konkurrenz gewöhnt. Die Praxen geben mehr und mehr Gegensteuer, indem sie die Öffnungszeiten erwei- Die Grundversorgung auf mehr Fachpersonen aufteilen Marc Müller, Präsident von Hausärzte Schweiz, über Möglichkeiten, den Hausärztemangel zu beheben Care Management: Was halten Sie von niederschwelligen Kleinstpraxen wie den Minute Clinics? Marc Müller: Grundsätzlich ist es richtig, dass die medizinische Grundversorgung auf mehr Fachpersonen aufgeteilt wird. Die Frage ist folglich, welche Leistungen sollen auf welchem Kompetenzniveau erbracht werden? Die Apotheken möchten vermehrt auch ärztliche Leistungen erbringen: eine Diagnose erstellen, Medikamente verordnen. Wie beurteilen Sie diese Absichten? Da bin ich skeptisch. Für die Diagnostik braucht es einfach einen Arzt, denn die Ausbildung der Apotheker ist nicht darauf ausgerichtet. Die Apotheken sind offenkundig unter Druck und suchen deshalb nach neuen Geschäftsfeldern. Mit der margenunabhängigen Medi- 34 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 Perspektivenwechsel Vom 26. bis 30. September 2010 weilte eine Delegation des FMC-Vorstandes – Peter Berchtold, Jürg Vontobel und Urs Zanoni – mit einem Dutzend Experten aus Deutschland in Boston, um die jüngsten Entwicklungen, Erfolge und Misserfolge des amerikanischen Gesundheitssystems zu studieren. Dieser Artikel ist der zweite einer Serie, in der Konzepte und Erkenntnisse vertieft präsentiert und diskutiert werden. tert haben und Termine noch am gleichen Tag vergeben. Und auch die Spitäler haben sich mittlerweile arrangiert: Sie mischen zusehends in diesem Markt mit und versuchen damit, ihre Notfallabteilungen zu entlasten. Denn auch in den USA gilt die Faustregel: Jeder zweite Patient geht unnötigerweise in den Notfall. Korrespondenz: Urs Zanoni, MPH, Geschäftsführer mediX zürich Vorstandsmitglied Forum Managed Care Sumatrastrasse 10, 8006 Zürich [email protected] Die unterschätzten Kompetenzen der Apotheker Dominique Jordan, Präsident von pharmaSuisse, über die Neuorganisation der Grundversorgung Care Management: Was halten Sie von niederschwelligen Kleinstpraxen wie den Minute Clinics? Dominique Jordan: Das ist ein interessantes Konzept und könnte dazu beitragen, die medizinische Grundversorgung zu sichern. Dass Ärzte aus Nachbar- und Ostländern wegen den besseren finanziellen Rahmenbedingungen in die Schweiz ziehen, ist nämlich keine langfristige Lösung. Anderseits sind Konzepte aus dem Ausland in der Regel nur bedingt brauchbar und müssen an die schweizerischen Verhältnisse angepasst werden, damit die Patientensicherheit und Behandlungsqualität garantiert sind. Sie sprechen den Mangel an hausärztlichen Ressourcen an. Folglich wäre die Schweiz ein idealer Standort für ein vergleichbares Konzept? SPEKTRUM kamentenabgabe, wie sie die FMH vorschlägt, wird dieser Druck noch zunehmen. Also müssten die Apotheken Ärzte anstellen? Das steht ihnen grundsätzlich frei, zum Beispiel für die Triage. Die Krankenkassen stellen ja auch Ärzte an. Sinnvoller wären aber Gesundheitszentren oder Grosspraxen, in denen verschiedene Gesundheitsberufe Hand in Hand arbeiten. Dies kann auch ein Apotheker sein, der die sichere und hochwertige Medikamentenversorgung gewährleistet. Und Nurse Practitioners wie in den Minute Clinics? Wie gesagt: Für die Behandlung von speziellen Patientengruppen oder speziellen Krankheitsbildern braucht es nicht in jedem Fall einen Arzt oder eine Ärztin. Für die Betreuung von chronisch Kranken zum Beispiel können auch spezifisch weitergebildete MPAs beigezogen werden, wie es derzeit diskutiert wird. Nurse Practitioners oder Pflegefachpersonen gibt es aber einfach zu wenige: Deren Berufsverbände wissen genau, dass der Nachwuchsmangel bei ihnen noch grösser ist und schon viel länger dauert als bei den Ärzten. Das Bestreben, mehr Zugänge zur medizinischen Grundversorgung zu schaffen, ist primär die Folge davon, dass es zu wenig hausärztlicher Ressourcen gibt. Was unternimmt Hausärzte Schweiz, um dies zu ändern? Die wichtigsten Massnahmen werden in unserer Hausarztinitiative umschrieben: mehr Ausbildungsplätze, das heisst bedarfsgerechte Ausbildung; kein Numerus Clausus; die sichere Finanzierung von Praxisassistenzen; neue Praxismodelle müssen der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Daneben braucht es Anstrengungen auf der gesetzlichen Ebene: Die ManagedCare-Vorlage geht in die richtige Richtung; nur besteht die Gefahr, dass sie zwischen den Interessengruppen zerrieben wird. Auch die Tarife sind zu modifizieren: Hausärzte sind nach wie vor deutlich schlechter bezahlt als Spezialisten. Schliesslich sind die Versorgungsstrukturen zu überdenken: In der GDK-Arbeitsgruppe «Neue Versorgungsmodelle für die medizinische Grundversorgung» arbeiten wir zum Beispiel an Konzepten, die zusätzliche Berufsgruppen einbeziehen. Im Prinzip schon, denn der Hausarztmangel ist in gewissen Regionen bereits sehr kritisch. Doch die Ärzteschaft wehrt sich leider massiv gegen die Idee einer neuen Aufgabenteilung mit den Apothekern. Letztlich führt aber kein Weg daran vorbei, dass sich weitere Berufe an der Grundversorgung beteiligen müssen – natürlich unter Berücksichtigung ihrer Kompetenzen und der Infrastrukturen, die sie zur Verfügung haben. Welche Absichten hat denn pharmaSuisse, um die Apotheken – über Medikamenten-Dienstleistungen hinaus – verstärkt in der Grundversorgung zu positionieren? Damit eines von vornherein klar ist: pharmaSuisse beabsichtigt auf keinem Fall, aus Apothekern «Barfussärzte» zu machen. Hingegen wollen wir, dass unsere Kompetenzen und Infrastrukturen besser ausgenützt werden und wir formell zu einem integralen Bestandteil der Grundversorgung werden. Wir wären zum Beispiel in der Lage, bei gewissen Gesundheitsstörungen vom Arzt delegierte Aufgaben zu übernehmen. Auch mit Blick auf Integrierte Versorgungsmodelle für chronisch Kranke können die Apotheker wichtige Funktionen übernehmen, etwa bei der Erfassung von solchen Patienten via Screenings und Triage oder bei deren Begleitung. In der Prävention, besonders beim Impfen, wird das Potential der Apotheken ebenfalls zu wenig genutzt. Verfügen die Apotheker wirklich über die nötigen Kompetenzen dafür? pharmaSuisse und seine Mitglieder bereiten sich seit mehr als 10 Jahren mit Aus-, Weiter und Fortbildung auf diese Entwicklungen vor. In Basel und Genf wurden Professuren für klinische und angewandte Pharmazie eingerichtet und vom Verband finanziert. Weiterbildungstitel als Spezialist in Offizin- und Spitalpharmazie liegen vor. Heisst das, dass Sie davon absehen andere Leistungserbringer wie Ärzte und Pflegefachpersonen in die Apotheke zu holen? Ja, wir wollen primär die bestehenden Berufe in der Apotheke für die Zukunft fit machen, sonst würden wir den Mangel an Hausärzten und bei anderen Gesundheitsberufen noch verschärfen. Trotzdem ist es dringend nötig, für die Betreuungsprozesse im System klare Aufgabenteilungen zwischen sämtlichen Akteuren zu definieren unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Kompetenzen und der Bedürfnisse der Schweizer Bevölkerung. Nur so lassen sich die Behandlungsqualität und Kosteneffizienz optimieren. C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 35 A U F G E FA L L E N Patienten arbeiten nicht mit Vor allem bei Patienten mit einem chronischen Leiden wird von Gesundheitsexperten immer wieder auf die Notwendigkeit einer aktiven Mitarbeit der Betroffenen hingewiesen. So sollen diese mit einer regelmässigen Medikamenteneinnahme und aktiven Änderung ihrer Lebensgewohnheiten den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der Techniker Krankenkasse für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen zufolge sieht ein Drittel der Befragten die Verantwortung für ihre Gesundheit eher bei anderen als bei sich selbst. Und: Männer fühlen sich davon noch weniger angesprochen als Frauen. Insgesamt ist mit 28 Prozent mehr als ein Viertel der Betroffenen der Ansicht, dass es Schicksal ist, ob sie wieder gesund werden oder nicht. Quelle: www.apotheke-adhoc.de «Ich war ein Systemunfall» Das 2004 in Deutschland gegründete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) war vielen wirtschaftsnahen Politikern und Lobbyisten von Anfang an suspekt. Verstärkt wurde das Misstrauen durch die Wahl eines Institutsleiters, der für seine Fachkompetenz ebenso bekannt war wie für seine undiplomatischen Auftritte: Peter Sawicki, der antrat, um der evidenzbasierten Medizin in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen, passte nicht ins Gesundheits-Establishment. «Ich war ein Systemumfall», erklärte er später. Die Medizinjournalistin Ursel Sieber hat den Aufstieg und Fall des unbequemen Zeitgenossen und unbestechlichen Pharmakritikers zurückverfolgt. Sie sprach mit seinen Weggefährten und Gegnern und beschreibt, mit welchen Widerständen eine unabhängige und evidenzbasierte Medizin zu kämpfen hat. Ursel Sieber Gesunder Zweifel Innenansichten eines Pharmakritikers – Peter Sawicki und sein Kampf für eine unabhängige Medizin. Berlin Verlag; 2010. Neues Jahr, neues Redaktionsteam Mit dieser Ausgabe von «Care Management» gibt Urs Zanoni die Funktion des Chefredaktors ab, die er Anfang 2008 mit der Neulancierung des Heftes unter dem Dach von EMH Schweizerischer Ärzteverlag übernahm. Als Vorstandsmitglied des Forum Managed Care versucht er künftig zusammen mit EMH, die kommerzielle Basis der Zeitschrift zu festigen. Zur Verstärkung der Redaktion konnte Anna Sax gewonnen werden. Die Gesundheitsökonomin nimmt seit 20 Jahren verantwortungsvolle Aufgaben im Gesundheitswesen wahr. Unter anderem war sie Geschäftsführerin der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspolitik SGGP, seit 2009 ist sie selbstständige Dozentin, Beraterin und Redaktionsmitglied der Schweizerischen Ärztezeitung. Zusammen mit Matthias Scholer, der seit 2009 als Redaktor und Managing Editor für die Zeitschrift tätig ist, übernimmt sie ab diesem Jahr die redaktionelle Verantwortung für «Care Management». Auf Ende Jahr verabschiedete sich zudem Ruedi Wartmann aus dem redaktionellen Beirat, welchem er seit der ersten Ausgabe der Zeitschrift angehörte und stets mit seinen wertvollen Anregungen und Beiträgen unterstützte. Der Vorstand und der Redaktionelle Beirat danken Ruedi Wartmann herzlich für seine langjährige Mitarbeit. Schliesslich scheidet auch Tiziana Meyer als Vertreterin des RVK aus. Sie gönnt sich ein Sabbatical. Ihre Nachfolge übernimmt Dieter Ehrenberger. Vorschau Care Management 2/11 erscheint am 18. April 2011 mit dem Schwerpunktthema «Integrierte Versorgung in Deutschland». 36 C a r e M a n a g e m e n t 2 0 1 1 ; 4 : N r. 1 www.care-management.emh.ch CA R E MANAGEMENT Die Zeitschrift für Managed Care, Qualität und E-Health Wir bedanken uns bei unseren Inserentinnen und Inserenten für die gute Zusammenarbeit im letzten Jahr. argomed Ärzte AG MedHow GmbH Ärztekasse MedSolution AG AstraZeneca AG medswiss.net Schweiz. Dachverband der Ärztenetze Berner Fachhochschule Fachbereich Mondial Service Switzerland AG Wirtschaft und Verwaltung BlueCare AG MSD Merck Sharp & Dohme-Chibret AG Congrex Schweiz AG Optimedia a division of Zenithoptimedia AG CONTENT Marketing & Services GmbH PonteNova PonteNet CSS Versicherung Publix Agentur für Werbung CURAVIVA Verband Heime und Rico Dormann Media Consultant Marketing RVK Institutionen eastcare AG Ärztliches Dienstleistungsund Kompetenzzentrum Sandoz Pharmaceuticals AG sanofi-aventis (suisse) sa E-Medicus GmbH Semfinder AG Exhibit & More AG Spirig Pharma AG grisomed AG Studio Longatti Graphic Design & Advertising hawadoc ag SUVA Hochschule Luzern WE’G Hochschule Gesundheit Keim Identity GmbH WE’G Weiterbildungszentrum Künzi Beratungen MECONEX für Gesundheitsberufe wittlin stauffer Wir wünschen Ihnen allen ein erfolgreiches Jahr 2011 und freuen uns darauf, auch in diesem Jahr wieder mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen. EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG Editores Medicorum Helveticorum AZ_05_d_if_0309 Neugier. Leidenschaft. Wir entwickeln neue Medikamente, um die Lebensqualität zu verbessern. Medikamente, die innovativ sind. Für Millionen von Menschen in aller Welt.