Wahrheit und Deflation
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Wahrheit und Deflation
Adolf Rami Wahrheit und Deflation Eine kritische Untersuchung deflationärer Wahrheitskonzeptionen mentis Paderborn Die Drucklegung wurde gefördert mit Mitteln des SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ der TU Dresden. Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ISO 9706 c 2009 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Str. 19, D–33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Satz: Buch- und Notensatz Brütting-Keil, Detmold Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978–3–89785–623–3 1. Die Charakterisierung deflationärer Konzeptionen der Wahrheit 1.0 Der Begriff und die philosophische Strömung des Wahrheitsdeflationismus Der Wahrheitsdeflationismus ist eine vergleichsweise junge philosophische Strömung, die ihre Wurzeln in den wahrheitstheoretischen Arbeiten von Frege, Ramsey, Ayer und Tarski hat.2 Die Ausdrücke ,deflationär’ und ,Deflationismus’ sind als Teil des philosophischen Fachjargons erst eine weitaus kürzere Zeit im Gebrauch.3 Das legt die Vermutung nahe, dass der Wahrheitsdeflationismus erst eine geraume Zeit nach seiner Entstehung als eine eigenständige Strömung im Rahmen der modernen philosophischen Wahrheitsdiskussion wahrgenommen wurde. Diese Vermutung entspricht meiner Ansicht nach auch den Tatsachen. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wurde die Relevanz dieser philosophischen Strömung – vor allem durch die Arbeiten von Field, Grover und Horwich4 – aufgezeigt. Die Ausdrücke ,deflationär’ und ,Deflationismus’ wurden von Anbeginn ihres Gebrauchs mit einem sehr unklaren und vagen Inhalt versehen; dieser Umstand hat sich mittlerweile zu einer fast babylonischen Verwirrung bezüglich ihres Gehalts gesteigert. Künne hat daher bspw. die Empfehlung ausgesprochen, auf den Gebrauch dieser Ausdrücke gänzlich zu verzichten. Seine diesbezügliche Diagnose lautet wie folgt: I shall steadfastly refrain from using the term ,deflationism’, which has been applied to various entries of my flow chart (in particular to nihilism, disquotationalism and minimalism). What deflationism comes to varies with the target that is alleged to be inflated. So we find a confusing multiplicity of uses in the literature. [. . . ] In view of this terminological chaos, I propose to put the term ‘deflationism’ on what Otto Neurath called, tongue in cheek, the Index Verborum Prohibitorum.5 Diese Einschätzung halte ich allerdings für etwas zu pessimistisch und ich möchte hier den Versuch wagen, die Intension des Ausdrucks ,deflationäre Wahrheitskonzeption’ durch halbwegs klare und generalisierbare Kriterien zu bestimmen. Diese Bestimmung wird aufgrund der verwirrenden 2 Frege (1892a [1962], 1915 [1969], 1918 [1966]); Ramsey (1927[1990a], 1927[1990b]); Ayer (1936, 1963); Tarski (1935 [1986], 1944). 3 Diese Ausdrücke wurden meines Wissens erst Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts von Paul Horwich in seinem Aufsatz „Three Forms of Realism“ eingeführt. Vgl. dazu: Horwich (1982, S. 194). 4 Field (1986, 1994a, 1994b); Grover (1992); Horwich (1982, 1990, 1998). 5 Künne (2003, S. 20—21). 16 1. Charakterisierung deflationärer Konzeptionen der Wahrheit Lage in Bezug auf den Gebrauch der Ausdrücke ,deflationär’ und ,Deflationismus’ auch stipulative Elemente enthalten. Ich möchte aber nichtsdestotrotz damit einen Inhalt erfassen, der mit einer geläufigen Auffassung der Charakterisierung bestimmter Wahrheitskonzeptionen einhergeht. Ich werde dabei wie folgt vorgehen. In einem ersten Schritt werde ich mich mit der Extension des Ausdrucks ,deflationäre Wahrheitskonzeption’ befassen. Ich werde zu diesem Zweck zwei Listen erstellen. Einerseits eine Liste von Wahrheitskonzeptionen, bezüglich derer eine eindeutige Übereinstimmung besteht, sie als deflationär einzuschätzen; andererseits eine Liste von kontroversen Grenzfällen. Daran anschließend werde ich mich kurz mit einigen gängigen Charakterisierungen von deflationären Wahrheitskonzeptionen kritisch auseinandersetzen. Auf dieser Grundlage werde ich dann in einem dritten Schritt eine eigene Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen einführen. 1.1 Normen für die Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen Zuallererst seien allerdings noch ein paar grundlegende Überlegungen zu unserem Vorhaben angestellt. Wenn es überhaupt Sinn macht, deflationäre Wahrheitskonzeptionen von anderen Wahrheitskonzeptionen abzugrenzen, dann sollte es mindestens eine spezifische These oder Annahme geben, auf die alle diese Konzeptionen und nur diese Konzeptionen festgelegt sind. In diesem Sinn hat eine Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen die folgende allgemeine Form: (CD) ∀x(x ist eine deflationäre Wahrheitskonzeption ↔ x ist eine Wahrheitskonzeption, die auf die Thesen T1 , T2 , . . . , Tn festgelegt ist). Unsere Aufgabe wird auf dieser Grundlage nun vor allem darin bestehen, herauszufinden, welche und wie viele Thesen dafür notwendig sind, das Schema (CD) zu einer Charakterisierung zu transformieren. In diesem Zusammenhang wird es uns auch um die Erfüllung einiger Normen gehen, die für eine korrekte Transformierung von (CD) entscheidend sind. Es gibt grundsätzlich einen recht einfachen und schnellen, aber nicht unproblematischen Weg (CD) zu erfüllen: Man sammelt alle jene Thesen zusammen, die für die jeweiligen einzelnen Konzeptionen, die man bündeln will, charakteristisch sind und auf die nur diese festgelegt sind; und vereinigt diese Thesen dann mittels Disjunktion zu einer Charakterisierung der folgenden Form: (CD*) ∀x(x ist eine deflationäre Wahrheitskonzeption ↔ x ist eine Wahrheitskonzeption, die auf T1 ∨ T2 ∨ . . . ∨ Tn festgelegt ist). 1.1 Normen deflationärer Wahrheitskonzeptionen 17 Eine solche Charakterisierung würde in einem gewissen Sinn auch angemessen sein; sie würde die Extension des Ausdrucks ,deflationäre Wahrheitskonzeption’ angemessen bestimmen. Sie weist aber auch zwei wesentliche Mängel auf. Erstens ist sie nicht projektierbar, d. h., sie lässt sich nicht auf mögliche neue Varianten des Wahrheitsdeflationismus ausweiten, wenn diese wiederum auf neuen, spezifischen, charakteristischen Thesen basieren. In diesem Sinn liefert die Charakterisierung somit keine Bestimmung der Intension des Ausdrucks ,deflationäre Wahrheitskonzeption’. Zweitens ist sie mangelhaft, weil sie unser Verständnis des Wahrheitsdeflationismus nicht vertieft. Denn es werden nur spezifische Thesen zusammengestellt, aber die Suche nach allgemeinen, übergreifenden Kriterien wird völlig unterlassen.6 Um diese beiden Mängel zu vermeiden, sollte eine Charakterisierung daher die folgenden drei Normen erfüllen: (N1) Die Anzahl der Thesen zur Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen sollte so klein wie nur möglich sein. (N2) Die Thesen zur Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen sollten so allgemein wie nur möglich anwendbar sein. (N3) Die Thesen zur Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen sollten so wenig disjunktiv wie nur möglich sein. Eine weitere Forderung, die sich auf der Grundlage der ersten angeführten Kritik und unserer eigenen Zielsetzung ergibt, können wir noch zusätzlich derart auf den Punkt bringen: (N4) Eine Realisierung von (CD) sollte nicht nur extensional, sondern auch intensional angemessen sein. Eine letzte Forderung sollten wir dann auch an den Inhalt der Thesen stellen: (N5) Die Thesen zur Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen sollten so klar und präzise wie nur möglich formuliert sein. Denn der wohl größte und verbreitetste Mangel bei der Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen besteht in einer Vielzahl oft wiederholter, unklarer und vager Thesen. Wir werden uns im Folgenden nun darum bemühen, diese fünf angeführten Normen so gut wie möglich zu erfüllen. 6 Von diesen beiden Mängeln sind vor allem die Charakterisierungen in O’Leary-Hawthorne und Oppy (1997) und in Soames (1999) betroffen. Darüber hinaus birgt dieses Vorgehen die Möglichkeit einer impliziten Doppelung von Kriterien. Eine ausführliche Kritik an beiden Ansätzen findet sich in Rami (2005a).