Wahrheit und Deflation

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Wahrheit und Deflation
Adolf Rami
Wahrheit und Deflation
Eine kritische Untersuchung deflationärer
Wahrheitskonzeptionen
mentis
Paderborn
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Printed in Germany
Satz: Buch- und Notensatz Brütting-Keil, Detmold
Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de)
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
ISBN 978–3–89785–623–3
1. Die Charakterisierung deflationärer
Konzeptionen der Wahrheit
1.0 Der Begriff und die philosophische Strömung
des Wahrheitsdeflationismus
Der Wahrheitsdeflationismus ist eine vergleichsweise junge philosophische Strömung, die ihre Wurzeln in den wahrheitstheoretischen Arbeiten
von Frege, Ramsey, Ayer und Tarski hat.2 Die Ausdrücke ,deflationär’ und
,Deflationismus’ sind als Teil des philosophischen Fachjargons erst eine
weitaus kürzere Zeit im Gebrauch.3 Das legt die Vermutung nahe, dass der
Wahrheitsdeflationismus erst eine geraume Zeit nach seiner Entstehung als
eine eigenständige Strömung im Rahmen der modernen philosophischen
Wahrheitsdiskussion wahrgenommen wurde. Diese Vermutung entspricht
meiner Ansicht nach auch den Tatsachen. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wurde die Relevanz dieser philosophischen Strömung – vor allem durch die Arbeiten von Field, Grover und
Horwich4 – aufgezeigt.
Die Ausdrücke ,deflationär’ und ,Deflationismus’ wurden von Anbeginn ihres Gebrauchs mit einem sehr unklaren und vagen Inhalt versehen;
dieser Umstand hat sich mittlerweile zu einer fast babylonischen Verwirrung bezüglich ihres Gehalts gesteigert. Künne hat daher bspw. die Empfehlung ausgesprochen, auf den Gebrauch dieser Ausdrücke gänzlich zu
verzichten. Seine diesbezügliche Diagnose lautet wie folgt:
I shall steadfastly refrain from using the term ,deflationism’, which has been
applied to various entries of my flow chart (in particular to nihilism, disquotationalism and minimalism). What deflationism comes to varies with the
target that is alleged to be inflated. So we find a confusing multiplicity of
uses in the literature. [. . . ] In view of this terminological chaos, I propose to
put the term ‘deflationism’ on what Otto Neurath called, tongue in cheek,
the Index Verborum Prohibitorum.5
Diese Einschätzung halte ich allerdings für etwas zu pessimistisch und ich
möchte hier den Versuch wagen, die Intension des Ausdrucks ,deflationäre
Wahrheitskonzeption’ durch halbwegs klare und generalisierbare Kriterien zu bestimmen. Diese Bestimmung wird aufgrund der verwirrenden
2 Frege
(1892a [1962], 1915 [1969], 1918 [1966]); Ramsey (1927[1990a], 1927[1990b]); Ayer
(1936, 1963); Tarski (1935 [1986], 1944).
3 Diese Ausdrücke wurden meines Wissens erst Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts
von Paul Horwich in seinem Aufsatz „Three Forms of Realism“ eingeführt. Vgl. dazu:
Horwich (1982, S. 194).
4 Field (1986, 1994a, 1994b); Grover (1992); Horwich (1982, 1990, 1998).
5 Künne (2003, S. 20—21).
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1. Charakterisierung deflationärer Konzeptionen der Wahrheit
Lage in Bezug auf den Gebrauch der Ausdrücke ,deflationär’ und ,Deflationismus’ auch stipulative Elemente enthalten. Ich möchte aber nichtsdestotrotz damit einen Inhalt erfassen, der mit einer geläufigen Auffassung
der Charakterisierung bestimmter Wahrheitskonzeptionen einhergeht. Ich
werde dabei wie folgt vorgehen. In einem ersten Schritt werde ich mich
mit der Extension des Ausdrucks ,deflationäre Wahrheitskonzeption’ befassen. Ich werde zu diesem Zweck zwei Listen erstellen. Einerseits eine
Liste von Wahrheitskonzeptionen, bezüglich derer eine eindeutige Übereinstimmung besteht, sie als deflationär einzuschätzen; andererseits eine Liste
von kontroversen Grenzfällen. Daran anschließend werde ich mich kurz
mit einigen gängigen Charakterisierungen von deflationären Wahrheitskonzeptionen kritisch auseinandersetzen. Auf dieser Grundlage werde ich
dann in einem dritten Schritt eine eigene Charakterisierung deflationärer
Wahrheitskonzeptionen einführen.
1.1 Normen für die Charakterisierung deflationärer
Wahrheitskonzeptionen
Zuallererst seien allerdings noch ein paar grundlegende Überlegungen zu
unserem Vorhaben angestellt. Wenn es überhaupt Sinn macht, deflationäre Wahrheitskonzeptionen von anderen Wahrheitskonzeptionen abzugrenzen, dann sollte es mindestens eine spezifische These oder Annahme
geben, auf die alle diese Konzeptionen und nur diese Konzeptionen festgelegt sind. In diesem Sinn hat eine Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen die folgende allgemeine Form:
(CD)
∀x(x ist eine deflationäre Wahrheitskonzeption ↔ x ist eine Wahrheitskonzeption, die auf die Thesen T1 , T2 , . . . , Tn festgelegt ist).
Unsere Aufgabe wird auf dieser Grundlage nun vor allem darin bestehen,
herauszufinden, welche und wie viele Thesen dafür notwendig sind, das
Schema (CD) zu einer Charakterisierung zu transformieren.
In diesem Zusammenhang wird es uns auch um die Erfüllung einiger
Normen gehen, die für eine korrekte Transformierung von (CD) entscheidend sind. Es gibt grundsätzlich einen recht einfachen und schnellen, aber
nicht unproblematischen Weg (CD) zu erfüllen: Man sammelt alle jene Thesen zusammen, die für die jeweiligen einzelnen Konzeptionen, die man
bündeln will, charakteristisch sind und auf die nur diese festgelegt sind;
und vereinigt diese Thesen dann mittels Disjunktion zu einer Charakterisierung der folgenden Form:
(CD*)
∀x(x ist eine deflationäre Wahrheitskonzeption ↔ x ist eine Wahrheitskonzeption, die auf T1 ∨ T2 ∨ . . . ∨ Tn festgelegt ist).
1.1 Normen deflationärer Wahrheitskonzeptionen
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Eine solche Charakterisierung würde in einem gewissen Sinn auch angemessen sein; sie würde die Extension des Ausdrucks ,deflationäre Wahrheitskonzeption’ angemessen bestimmen. Sie weist aber auch zwei wesentliche Mängel auf.
Erstens ist sie nicht projektierbar, d. h., sie lässt sich nicht auf mögliche neue Varianten des Wahrheitsdeflationismus ausweiten, wenn diese
wiederum auf neuen, spezifischen, charakteristischen Thesen basieren. In
diesem Sinn liefert die Charakterisierung somit keine Bestimmung der Intension des Ausdrucks ,deflationäre Wahrheitskonzeption’. Zweitens ist sie
mangelhaft, weil sie unser Verständnis des Wahrheitsdeflationismus nicht
vertieft. Denn es werden nur spezifische Thesen zusammengestellt, aber
die Suche nach allgemeinen, übergreifenden Kriterien wird völlig unterlassen.6 Um diese beiden Mängel zu vermeiden, sollte eine Charakterisierung
daher die folgenden drei Normen erfüllen:
(N1)
Die Anzahl der Thesen zur Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen sollte so klein wie nur möglich sein.
(N2)
Die Thesen zur Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen sollten so allgemein wie nur möglich anwendbar sein.
(N3)
Die Thesen zur Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen sollten so wenig disjunktiv wie nur möglich sein.
Eine weitere Forderung, die sich auf der Grundlage der ersten angeführten
Kritik und unserer eigenen Zielsetzung ergibt, können wir noch zusätzlich
derart auf den Punkt bringen:
(N4)
Eine Realisierung von (CD) sollte nicht nur extensional, sondern auch
intensional angemessen sein.
Eine letzte Forderung sollten wir dann auch an den Inhalt der Thesen
stellen:
(N5)
Die Thesen zur Charakterisierung deflationärer Wahrheitskonzeptionen sollten so klar und präzise wie nur möglich formuliert sein.
Denn der wohl größte und verbreitetste Mangel bei der Charakterisierung
deflationärer Wahrheitskonzeptionen besteht in einer Vielzahl oft wiederholter, unklarer und vager Thesen. Wir werden uns im Folgenden nun
darum bemühen, diese fünf angeführten Normen so gut wie möglich zu
erfüllen.
6 Von diesen beiden Mängeln sind vor allem die Charakterisierungen in O’Leary-Hawthorne
und Oppy (1997) und in Soames (1999) betroffen. Darüber hinaus birgt dieses Vorgehen die
Möglichkeit einer impliziten Doppelung von Kriterien. Eine ausführliche Kritik an beiden
Ansätzen findet sich in Rami (2005a).