Das Cri-du-Chat

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Das Cri-du-Chat
Das Cri-du-Chat-Syndrom
Medizinische, psycho-soziale und
pädagogische Aspekte
Stephan Berger
Nachdruck einer wissenschaftlichen Hausarbeit zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt an
Sonderschulen von Stephan Berger vorgelegt am 04.07.1996 bei der Universität Hamburg,
Fachbereich Erziehungswissenschaft, Institut für Behindertenpädagogik, Fachrichtung
Körperbehindertenpädagogik. Mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
a
Widmung und Danksagungen
Für Dennis
Mein Dank gilt vor allem meinen KollegInnen und FreundInnen sowie den Eltern von Dennis.
Danken möchte ich auch Frau Dr. Carlin und Familie Schulte für ihre Unterstützung.
Besonderen Dank an Uwe, der mit großer Ausdauer und Kompetenz diese Arbeit von Viren befreite.
Danke an Katja.
Vorwort
Wenn ich an meine erste Begegnung mit Dennis, einem inzwischen 11jährigen Jungen mit Cri-duChat-Syndrom, zurückdenke, dann erinnere ich mich an meine erste gastweise Unterbringung
beim Arbeitskreis "Behindertes Kind". Dabei sehe ich einen Jungen vor mir, der in ständiger
Begleitung einer Kuschel-Ente oder einer Handvoll Stöcke (zumindest habe ich ihn nur selten ohne
gesehen) über alles hinwegstolperte, was auch nur im geringsten auf seinem Weg lag; der weder
mit allen anderen zusammen essen wollte, noch an gemeinsamen Kreisen Gefallen fand, dafür um
so lauter gegen alles protestierte, was er nicht für gut heißen wollte. Ich habe noch jene "Kämpfe"
vor Augen, die er z.B. beim Essen oder beim Zähneputzen mit seinem Betreuer führte (oder umgekehrt ?). Andererseits sind mir aber auch jene Szenen noch gut in Erinnerung, in denen er mit
Begeisterung "Fruchtzwerge verkaufte" oder stundenlang über Eisenbahn-Kataloge "debattieren"
konnte.
Bereits im Vorfeld hatte ich erfahren, daß Dennis´ Behinderung aus einem Defekt eines
Chromosoms resultierte und mit Cri-du-Chat-Syndrom (Katzenschrei-Syndrom) bezeichnet wurde.
Jedoch konnte ich mir nur schwerlich etwas darunter vorstellen. Umgekehrt erging es mir
allerdings nicht anders. Da stand nun ein Junge vor mir, dessen Behinderung mir ja "bekannt" zu
sein schien, doch konnte ich beides nicht miteinander verbinden. Inzwischen hat sich diese
Betrachtungsweise grundlegend verändert, mit Unterstützung von Dennis. Heute steht nicht mehr
der Junge mit Cri-du-Chat-Syndrom vor mir, sondern in erster Linie Dennis.
Ich möchte noch ein zweites Erlebnis nennen, welches dazu führte, mich mit der Behinderung von
Dennis näher auseinanderzusetzen. Während eines Gespräches mit der Mutter erfuhr ich von den
Prognosen, mit denen Dennis ins Leben startete. Nachdem die Chromosomenuntersuchung die
Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" bestätigt hatte, bekamen die Eltern auf die Frage nach
Entwicklungsmöglichkeiten vom "beratenden" Humangenetiker die Antwort: "...daß das Kinder
sind, die nie laufen und nie sprechen lernen ... und daß man diese Kinder doch gleich einschläfern
lassen könnte."
Daraus entwickelte sich der Anspruch dieser Arbeit, ein "anderes" Bild dieser Behinderung zu zeigen und dazu anzuregen, neu über spezifische Syndrome nachzudenken.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
Inhaltsverzeichnis
0
Einleitung .............................................................................................................1
1
Die Geschichte von Dennis....................................................................................3
2
Vorbemerkungen zum Cri-du-Chat-Syndrom ........................................................5
3
3. 1
3. 1. 1
3. 1. 2
3. 1. 3
3. 1. 4
3. 2
3. 3
3. 4
3. 5
3. 5. 1
3. 5. 2
3. 6
3. 7
3. 8
3. 9
Medizinische Aspekte ...........................................................................................6
Chromosomen und Chromosomenaberrationen .......................................................6
Die menschlichen Chromosomen ............................................................................6
Chromosomenaberrationen.....................................................................................8
Numerische Chromosomenaberrationen..................................................................8
Strukturelle Chromosomenaberrationen ................................................................ 10
Chromosomenanomalien beim Cri-du-Chat-Syndrom ............................................ 10
Zytogenetik beim Cri-du-Chat-Syndrom................................................................ 11
Epidemiologie...................................................................................................... 15
Symptomatik ....................................................................................................... 15
Klinische Merkmale bei Kindern mit Cri-du-Chat Syndrom .................................... 15
Klinische Merkmale bei Erwachsenen mit Cri-du-Chat-Syndrom............................. 17
Ursachen der Deletion beim Cri-du-Chat-Syndrom ................................................ 18
Diagnostik ........................................................................................................... 19
Therapien ............................................................................................................ 20
Zusammenfassung ............................................................................................... 20
4
4. 1
4. 2
4. 2. 1
4. 2. 2
4. 3
4. 3. 1
4. 3. 2
4. 4
4. 5
4. 6
4. 7
4. 7. 1
4. 7. 2
4. 7. 3
4. 7. 4
4. 8
Psycho-soziale Auswirkungen ............................................................................. 22
Zur Situation von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom............................................. 22
Weitere Fallstudien............................................................................................... 23
Fallstudie über ein 7 1/2 jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom..................... 23
Fallstudie über ein 14jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom .......................... 24
Allgemeine Entwicklungsverzögerung .................................................................. 26
Psychomotorische und kognitive Entwicklungsverzögerung................................... 26
Verzögerung in der Sprachentwicklung................................................................. 30
Aussagen zum Entwicklungspotential ................................................................... 33
Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom ............................ 33
Das Erwachsenenalter........................................................................................... 37
Zur Situation von Eltern mit Cri-du-Chat-Kindern ................................................. 38
Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Beratung beim Cri-du-ChatSyndrom.............................................................................................................. 39
Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften............................................ 41
Möglichkeiten und Grenzen der pränatalen Diagnostik .......................................... 42
Der nichtalltägliche Alltag .................................................................................... 43
Zusammenfassung ............................................................................................... 45
5
5. 1
5. 2
5. 2. 1
5. 2. 2
5. 2. 3
5. 3
5. 4
5. 5
5. 6
5. 7
5. 8
Pädagogische Aspekte ......................................................................................... 47
Pädagogische Überlegungen zum Cri-du-Chat-Syndrom ........................................ 47
Allgemeine Entwicklungsförderung beim Cri-du-Chat-Syndrom ............................ 48
Psychomotorische Entwicklungsförderung ............................................................ 49
Unterstützung der Sprachentwicklung .................................................................. 50
Weitere Therapieangebote .................................................................................... 52
Verhaltensmodifikation ........................................................................................ 54
Eine Herausforderung für LehrerInnen und andere beruflich Betroffene.................. 55
Förderung im Erwachsenenalter............................................................................ 56
Häusliche Pflege oder Heim- bzw. Wohngruppenunterbringung............................. 56
Elternarbeit - Selbsthilfegruppen ........................................................................... 57
Zusammenfassung ............................................................................................... 58
6
Abschließende Überlegungen.............................................................................. 59
I
Das Cri-du-Chat-Syndrom
Literaturverzeichnis........................................................................................................... 62
A1
Ergebnisse der Fragebogenuntersuchung von Carlin (1996) .................................. 68
A2
Ergänzung zur Fallstudie 2 (14jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom): ....... 88
A3
Gegenüberstellung der Ergebnisse aus den USA mit den Daten aus der BRD....... 89
A4
Adressen für Erstkontakte und weitere Informationen......................................... 94
A5
Wiederholungsrisiko bei balancierter Translokation............................................ 95
A6
Chromosomensatz von Dennis ............................................................................ 95
A7
Beschreibung der Chromosomendarstellung........................................................ 96
A8
Glossar ............................................................................................................... 97
II
Das Cri-du-Chat-Syndrom
0
1
EINLEITUNG
In der vorliegenden Arbeit werden die verschiedenen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms beschrieben. Es handelt sich um eine Kombination von körperlicher und geistiger Behinderung, deren Ursprung genetisch bedingt ist. Da diese Behinderungsform sehr selten auftritt, existieren
vielerorts nur begrenzte bzw. gar keine Kenntnisse über Erscheinungsbilder,
Entwicklungsmerkmale, Auswirkungen sowie Förder- und Hilfsmöglichkeiten. Aufgrund dessen
sehe ich die Notwendigkeit, diesbezüglich Aufklärungsarbeit zu leisten.
In der Vorbereitung dieser Arbeit mußte ich feststellen, daß themenbezogene Literatur ebenso selten ist wie die Behinderung an sich. Zudem stammen die meisten Berichte über das Cri-du-ChatSyndrom von medizinischen Forschern, so daß verständlicherweise deren Schwerpunkte hauptsächlich auf Gebieten wie physikalische Charakteristika und Befunden aus genetischen Studien
liegen. Unglücklicherweise werden Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der psycho-sozialen
Auswirkungen selten im Detail dokumentiert.
Aufgrund dessen beziehe ich mich neben verschiedenster Literaturquellen (hauptsächlich englischsprachiger) zum Großteil auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen aus der Arbeit mit Dennis,
einem 11jährigen Jungen mit Cri-du-Chat-Syndrom. Eine weiter Informationsquelle bildet die derzeitige internationale Untersuchung zum Cri-du-Chat-Syndrom von Frau Dr. Carlin aus den USA,
an deren Auswertung ich momentan mitarbeite.
Angesichts der Komplexität dieser Behinderung halte ich es für sinnvoll, die Arbeit in drei
Hauptteile zu gliedern: (1) Medizinische Aspekte, (2) Psycho-soziale Auswirkungen und (3)
Pädagogische Aspekte. Um dem/der Leser/in jedoch den Einstieg in die Materie zu erleichtern,
werden den einzelnen Ausführungen eine Beschreibung von Dennis und einige Vorbemerkungen
zu seiner Behinderung vorangestellt.
Im Kapitel 3 sollen die grundlegenden medizinischen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms beschrieben werden. Um ein besseres Verständnis des genetischen Ursprungs dieser
Behinderungsform zu ermöglichen, werden die wichtigsten Formen chromosomaler Abnormitäten
erläutert, insbesondere jene, die beim Cri-du-Chat-Syndrom auftreten können. Außerdem muß davon ausgegangen werden, daß Eltern als erstes in der Regel gerade jene medizinischen Aspekte
erfahren. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels liegt im Bereich der physikalischen
Charakteristika. Dabei wird deutlich, daß bestimmte klinische Merkmale weitgehend bei allen
Betroffenen zu beobachten sind. Inwieweit jedoch das Ausmaß der genetischen Störung das
Erscheinungsbild bestimmt, welche direkten und indirekten Zusammenhänge zwischen klinischen
Merkmalen und den betroffenen genetischen Regionen bestehen und ob eine medizinische
Definition des Syndroms auch gleichzeitig die damit verbundene Entwicklung definieren kann,
das sind Fragen, um die es in diesem Kapitel gehen soll.
Hingegen werden im Kapitel 4 die Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der psycho-sozialen
Auswirkungen dokumentiert. Dabei soll zwischen der Situation der Kinder und der Situation der
Eltern unterschieden werden. Bezüglich der Situation der betroffenen Kinder geht es darum, durch
die Präsentation detaillierter Informationen über physische, soziale und kognitive Fähigkeiten sowie Verhaltensmuster die unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten unter der Bedingung des
Cri-du-Chat-Syndrom zu erläutern und das Wissen um die generellen Verhaltenscharakteristika zu
erweitern.
Dabei soll eines der Wesensmerkmale sein, Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren in der
Entwicklung dieser Kinder zu erkennen und zu verstehen. Anhand von Ergebnissen der
Untersuchung von Carlin, eigener Beobachtungen und zweier zusätzlicher Fallberichte soll die
Heterogenität des Syndroms verdeutlicht und seine unterschiedlichen Auswirkungen aufgezeigt
werden. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese Auswirkungen auf die primäre
Störung zurückzuführen sind oder ob es sich vielmehr bzgl. der Entwicklung um sekundäre
Erscheinungsformen handelt. Ergänzt werden diese Ausführungen durch Aspekte des
Erwachsenenalters.
Für die Eltern dieser Kinder stellt das Cri-du-Chat-Syndrom eine große Herausforderung dar. Sie
sind in ihrer Situation verschiedensten Belastungen ausgesetzt. Welche Rolle in diesem
Zusammenhang genetische Beratung, pränatale Diagnostik, Ungewißheit der konkreten
Auswirkungen sowie alltäglicher Umgang spielen, wird in diesem Kapitel erläutert.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
2
Nachdem die medizinischen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms und die psycho-sozialen
Auswirkungen beschrieben worden sind, folgt anschließend ein Kapitel über die verschiedenen
pädagogischen Aspekte. Dabei geht es in erster Linie um die Frage, welche Förderangebote beim
Cri-du-Chat-Syndrom hilfreich und notwendig sein können, um eine optimale Entwicklung zu ermöglichen und zu unterstützen.
Nach einigen grundlegenden pädagogischen Überlegungen zum Cri-du-Chat-Syndrom soll
zunächst auf allgemeine Fördermöglichkeiten eingegangen werden, danach speziell auf psychomotorische und sprachliche. Es sei der Hinweis erlaubt, daß es sich dabei nur um eine Auswahl
handelt, da in jedem Fall die Förderung individuell verschieden sein kann. Ergänzend werden einige weitere Therapieangebote beschrieben, die beim Cri-du-Chat-Syndrom ihre Anwendung finden/fanden.
Ein Kernpunkt dieses Kapitels wird es sein, die Notwendigkeit aufzuzeigen, dieses Syndrom auch
in seiner biologischen Hinsicht historisch zu entschlüsseln und es nicht statisch zu betrachten, sondern als Prozeß der Selbstorganisation zu rekonstruieren (Jantzen, 1990).
Neben den einzelnen Fördermöglichkeiten werde ich ebenfalls Bezug nehmen auf
Verhaltensmodifikation bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom sowie auf die Förderung im
Erwachsenenalter. Abgeschlossen wird das Kapitel 5 mit einigen Ausführungen zur Elternarbeit,
insbesondere mit der Vorstellung der Selbsthilfegruppe "Cri-du-Chat-Syndrom".
Die Zusammenfassung in Form abschließender Überlegungen weist noch einmal auf die wichtigsten Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms hin und stellt sowohl Ansprüche an weitere
Forschungsarbeiten als auch an eine neue Betrachtungsweise spezifischer Syndrome. Sie sollte, und
damit erfüllt sie den Sinn dieser Arbeit, zum einen über diese Form der Behinderung aufklären
und zum anderen den/die Leser/in anregen, seine/ihre Sichtweise zu hinterfragen und neu zu
überdenken.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
1
3
DIE GESCHICHTE VON DENNIS
"... das sind Kinder, die nie laufen und nie sprechen lernen ..." (ein Humangenetiker, 1985)
Eigentlich begann alles so, wie es sich viele Eltern wünschen. Nach einer normalen
Schwangerschaft und einer schnellen, unkomplizierten Geburt erblickte Dennis am 23.03.1985 zum
ersten Mal das Licht der Welt. Was wohl das Wichtigste war, er bekam den erhofften "Status" eines
gesunden Kindes. Daß dies ein Irrtum sein sollte und welche Konsequenzen dies für alle
Beteiligten nach sich ziehen würde, davon ahnten seine Eltern in dieser Zeit nichts.
"Dennis war ein kleiner Schatz, ruhig, bescheiden und ganz lieb ... so breitete sich eine große
Zufriedenheit aus, einhellig war die Begeisterung, ... der kleine Dennis war ganz ruhig, recht
brav und unauffällig."(Dennis´ Vater in: Kallenbach (Hrsg.), 1994, S. 27)
Doch dann bekam der Weg von Dennis eine ganz andere Richtung. Ein erster Verdacht des
Kinderarztes, dann die Bestätigung durch die genetische Untersuchung. Die Diagnose stand fest:
Cri-du-Chat-Syndrom. Dennis "litt" also an einem "komplexen Fehlbildungssyndrom infolge einer
strukturellen Chromosomenaberration" (vgl. Anhang A6). Was aber bedeutet das? Niemand
konnte den Eltern von Dennis erklären, was es denn mit diesem Syndrom auf sich hat, welche
Auswirkungen sich zeigen würden und welche Prognosen man wagen könnte. Statt dessen
bekamen Dennis und seine Eltern nur die Aussage des leitenden Humangenetikers mit auf ihren
neuen Weg: "Das sind Kinder, die nie laufen und nie sprechen lernen ... und diese Kinder könnte
man doch gleich einschläfern lassen." Mit diesen Worten startete Dennis nun also seine
"Syndromlaufbahn".
Gleichzeitig versuchten die Eltern, ihr neues Leben zu organisieren und wieder handlungsfähig zu
werden. Sie versuchten, alle Quellen von möglichen Informationen über das Syndrom ihres Sohnes
auszuschöpfen.
"Es gab so gut wie keine Literatur über das Krankheitsbild, zumindest nicht in deutscher
Sprache. Freunde besorgten uns amerikanische Fachliteratur, über eine Zeitschrift suchten
wir Kontakt zu Eltern mit Kindern gleicher Behinderung. Das Wissen und die Kunst der
Ärzte war, zumindest bei einer derart seltenen Krankheit, schnell an Grenzen gelangt. Die
Möglichkeiten, die sich eröffneten, waren: Bewegungstherapien, Beschäftigungstherapie und
Krankengymnastik."(Dennis´ Vater in: Kallenbach (Hrsg.), 1994, S. 28-29)
Derweilen ging Dennis´ Entwicklung langsam voran. Motorisch machte er gute Fortschritte, allerdings nicht ganz altersgemäß. Ausgeprägt waren vor allem Auffälligkeiten in der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung (Tastsinn und Bewegungsempfindung). Mit vier Jahren kam er in ein
Kindertagesheim für Mehrfachbehinderte, in dem er sich gut einlebte. Besonders im
Sozialverhalten machte er in dieser Zeit gute Fortschritte. Mittlerweile geht er in eine anthroposophische Sonderschule für Geistigbehinderte.
Dennis war 7 1/2 Jahre alt, als ich ihn vor 3 1/2 Jahren durch meine Arbeit im Arbeitskreis
"Behindertes Kind" kennenlernte. In dieser Zeit hat er enorme Entwicklungsfortschritte gemacht,
auch wenn es immer wieder Perioden gab, in denen seine Entwicklung zu stagnieren schien.
Dennis ist relativ klein für sein Alter und zeigt die typischen Dysmorphien des Cri-du-ChatSyndroms. Er ist unwahrscheinlich lebhaft und ebenso neugierig. Oft kann er seine
Aufmerksamkeit nicht länger als wenige Sekunden auf bestimmte Dinge richten. Dies führte z.B.
früher dazu, daß er fast keine Mahlzeit mit anderen zusammen einnehmen konnte, sondern davonlief und immer wieder zwischendurch gefüttert werden mußte. Durch feste Regeln und viel
Einfühlungsvermögen konnte dieses Problem zunächst im Arbeitskreis gelöst werden. In vielerlei
Hinsicht hat er jedoch eine immense Ausdauer, vor allem, wenn es um die Durchsetzung seines
Willens geht. Inzwischen hat er mehrere Strategien dafür entwickelt. Einerseits gibt es Situationen,
in denen er mit penetranter Hartnäckigkeit seine Vorhaben/seine Bedürfnisse durchzusetzen versucht, andererseits hat er gelernt, daß er manchmal nur eine Chance auf Erfolg hat, wenn er bestimmte Dinge gekonnt "umschifft" bzw. einfach einen günstigen Moment abwartet, um sein Werk
zu vollenden.
Oft leidet er unter dem Dilemma seiner Sprachbehinderung, z.B. wenn er spezielle Wünsche nicht
verständlich machen bzw. nicht verbal um seine Bedürfnisse streiten kann. So kommt es dann
wiederholt zu Frustrationen, in denen er anfängt, in seine Kleidung oder seine Hand zu beißen, zu
Das Cri-du-Chat-Syndrom
4
schlagen, andere zu kneifen und, was für sein Gegenüber am schwierigsten ist, mit seinem Kopf
auf den Boden bzw. auf Gegenstände zu schlagen. Häufig benutzt er diese Verhaltensweisen auch
dazu, um auf sich aufmerksam zu machen. Er fordert dann mit einer ebenso hartnäckigen
Ausdauer diese Aufmerksamkeit von anderen ein.
Dennis´ aktive Sprache ist relativ begrenzt. Er kann viele Einzelwörter sprechen und anwenden,
jedoch ist sein gesamtes Sprachbild gerade für Außenstehende sehr unverständlich. Einzelne
Bedürfnisse und Wünsche kann er somit auch verbal äußern. Seine Eltern und seine Geschwister
besitzen zudem weitaus größere Kenntnisse seiner "eigenen" Sprache. Dennis hat ein starkes
Bedürfnis nach Konversation und erzählt ungemein gern, und oft genug kann man den Inhalt seiner Erzählungen auch verstehen. Seine passive Sprache hingegen ist viel umfangreicher. Er versteht die meisten Fragen und Aufforderungen, die man ihm stellt. Er entwickelt immer mehr ein
Verlangen nach neuen Wörtern, denn oft genug merkt er, daß er in "seiner" Sprache nicht verstanden wird. Um das Problem von Dennis, Sprache als Kommunikationsmittel benutzen zu können,
von anderen jedoch nicht verstanden zu werden, zu verdeutlichen, möchte ich an dieser Stelle ein
Beispiel eines Mitarbeiters anführen:
"Als Sarah (eine autistische Jugendliche) sprechen gelernt hat, hat sie Dennis´ Sprache verblüffend genau imitiert, und oftmals sah es so aus, als würden die beiden sich darüber (über
diese Sprache) auch austauschen können. Jetzt, wo Sarah "normal" spricht, ist dieses
Verständnis nicht mehr so stark."
Dennis ist sehr empfindlich gegen laute Geräusche. Maschinengeräusche, Traktoren, Flugzeuge
u.a. machen ihm Angst. Entgegen dem begibt sich Dennis oft in Gefahrensituationen, die er nicht
abschätzen kann. Aufgrund seiner starken Wahrnehmungsstörung sowie des eingeschränkten
bzw. verzögerten Schmerzempfindens findet er vielfach nicht die nötigen Grenzen, so daß er sich
nur allzu oft Verletzungen zufügt. Andererseits ist mir aufgefallen, wie sehr er nach derartigen
Grenzen sucht und wie stark sein Bedürfnis nach Eigenwahrnehmung ist. So sind häufig selbststimulierende Verhaltensweisen bei Dennis zu beobachten. In jüngster Zeit hat er seine Augen als
eine der empfindlichsten Körperstellen entdeckt. Er steckt sich dann manchmal Gegenstände direkt
in sein Auge (allerdings sehr vorsichtig).
Natürlich birgt diese Situation ungemeine Gefahren, jedoch ist gerade das Auge auch ein Organ,
welches Außenreize mit am intensivsten registriert. Eine weitere Art der Selbst-Stimulation ist sein
Kopfschlagen bzw. sein Wippen im Vierfüßlerstand, wenn er müde ist und im Bett liegt, sitzt oder
kniet. Er zieht sich dann seine Bettdecke über den Kopf und schaukelt solange, bis er eingeschlafen
ist. Sein Wach-Schlaf-Rhythmus ist bis heute oft gestört. Das bedeutet, daß er entweder nicht einschläft oder morgens bzw. nachts schon Stunden früher wach ist.
Wohl am kennzeichnendsten für ihn ist seine typische und nahezu einzigartige Vorliebe für Stöcke,
die er in ständig pendelnder Bewegung in einer seiner Hände hält. Diese Stöcke möchte er in fast
jeder Lebensituation bei sich haben.
Insgesamt ist Dennis ein sehr freundlicher Junge, der gerne unter Kindern ist und neugierig auf sie
zugeht. Aufgrund seiner eigenen eingeschränkten Schmerzempfindung fehlt ihm diesbezüglich jedoch das Einfühlungsvermögen und die Vergleichbarkeit gegenüber anderen und ihrer
Verletzbarkeit. So kommt es schon vor, daß Dennis durch Unachtsamkeit andere Kinder einfach
umrennt oder ihnen an den Haaren zieht, nicht aus Böswilligkeit, sondern zwecks
Kontaktaufnahme. Dies führt natürlich immer wieder zu Konflikten. Gegenüber Erwachsenen
zeigt Dennis oft ein ausgeprägtes Nähebedürfnis.
Dennis freut sich über jede Art von groben taktil-kinästhetischen Angeboten, wie z.B. starkem
Druck. In Ruhephasen schaukelt er oft noch in Kauerstellung hin und her und reibt dabei häufig
seinen Kopf auf dem Boden. Die meisten Dinge erforscht er mit dem Mund, heute allerdings längst
nicht mehr so ausgiebig wie früher. Sein Muskeltonus ist nach wie vor hypoton und seine Gelenke
überdehnbar. Besonders deutlich läßt sich dies an seinem Gang erkennen.
Dennis hat gerade in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung vollzogen. In der Zeit, die ich ihn
nun kenne, hat er zum einen viele seiner Verhaltensauffälligkeiten abgelegt, andererseits auch neue
entwickelt. Insgesamt hat er jedoch sein Repertoire an Fähigkeiten um eine Vielzahl erweitern
können. Gerade im Hinblick auf die Prognosen, mit denen er in sein Leben gestartet ist, hat seine
bisherige Entwicklung gezeigt, welche Vielfalt an Möglichkeiten trotz eines genetisch determinierten Fehlers gegeben ist.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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VORBEMERKUNGEN ZUM CRI-DU-CHAT-SYNDROM
Von 100 Neugeborenen kommen zwei bis vier mit zum Teil schwerwiegenden Fehlbildungen zur
Welt, für die oft keine spezifischen Ursachen gefunden werden können. Eine bedeutende Gruppe
behindernder Konditionen, deren klinische Ursache bekannt ist, besteht aus Funktionsstörungen in
Folge chromosomaler Anomalien. Der Verlust oder die Vermehrung von Chromosomenmaterial
führt zu einer Reihe bestimmter Symptome, die für eine partielle Chromosomenanomalie charakteristisch sind.
Das Cri-du-Chat-Syndrom gehört zu dieser Gruppe von Chromosomenanomalien und bezieht sich
auf eine einzigartige Kombination von physischen und psychischen Behinderungen, entstanden
durch den Verlust einer variablen Menge genetischen Materials einer besonderen Region, bekannt
als kurzer Arm des Chromosoms Nr.5. Es gilt als die häufigste unbalancierte strukturelle
Chromosomenaberration (Veränderung von Chromosomen).
Dieses charakteristische Dysmorphiesyndrom (Mißbildungssyndrom) wird im deutschen
Sprachraum auch als Katzenschrei-Syndrom bezeichnet. Im Englischen spricht man von dem Cat
Cry-Syndrom oder Crying Cat-Syndrom. Weiterhin sind u.a. folgende Synonyme bekannt:
Lejeune-Syndrom, (5p-)-Syndrom, Partial Deletion of the Short Arm of Chromosome Number 5
Syndrome, Chromosome (5p-)-Syndrom, Partial 5p monosomy oder chromosome five short arm
deletion syndrome.
Im November 1963 wurde dieses Syndrom durch Jerome Lejeune, demselben französischen
Pädiater, der das zusätzliche Chromosom Nr.21 bei PatientInnen mit Down-Syndrom (Trisomie 21)
entdeckte, zum ersten Mal vorgestellt. Er beschrieb die Fälle dreier Mädchen, die bestimmte gemeinsame kongenitale (angeborene) Abnormitäten vorwiesen, zusammen mit einem sonderbaren,
hohen und wehleidigen Schrei, welchen Lejeune mit dem Schrei einer Katze verglich. Darum
nannte er dieses Syndrom "Cri-du-Chat"-Syndrom (Lejeune et al., 1963).
Das weitgehend übereinstimmende klinische Erscheinungsbild sowie die gleichartigen zytogenetischen (den Chromosomensatz betreffenden) Befunde ließen eine nosologische Einheit erkennen.
Chromosomen- analysen dieser PatientInnen hatten gezeigt, daß in allen Fällen bei einem
Chromosom der Gruppe 4-5 ein Stück des kurzen Arms fehlte. Lejeune fand heraus, daß es sich bei
dem deletierten Chromosom um das Chromosom Nr.5 handelt.
Der Schrei, die typischen Gesichtszüge und andere körperliche Auffälligkeiten der Kinder mit Cridu-Chat-Syndrom sind so charakteristisch, daß diese Diagnose von ÄrztInnen oft vermutet werden
kann, bevor sie durch eine Chromosomenanalyse bestätigt wird (Nelson et al., 1970). Es wird geschätzt, daß eines von 50.000 Neugeborenen ein Cri-du-Chat-Syndrom hat. In den USA werden jedes Jahr etwa 50-60 Kinder mit dieser Behinderung geboren (Wilkens et al., 1982). In der Regel sind
Mädchen doppelt so häufig betroffen wie Jungen, wobei die Ursachen für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede nicht ganz geklärt sind (Breg et al., 1970; Niebuhr, 1978b). Seit der ersten
Beschreibung durch Lejeune et al. wurden bis heute viele solcher Fälle dokumentiert, jedoch ist das
Wissen auch unter ÄrztInnen und anderen Fachleuten um die Auswirkungen, das
Entwicklungspotential und die Förder- und Hilfsmöglichkeiten gering.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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MEDIZINISCHE ASPEKTE
Das Cri-du-Chat-Syndrom als häufigste unbalancierte strukturelle Chromosomenaberration
(Schinzel, 1984) ist geprägt durch den Verlust genetischen Materials am kurzen Arm des
Chromosoms Nr.5. Kennzeichnend ist für dieses Syndrom, daß bestimmte klinische Merkmale
weitgehend bei allen Betroffenen auftreten, insbesondere der charakteristische Schrei. Diese verändern sich wiederum in der Adoleszenz. Inwieweit das Ausmaß der Chromosomenaberration das
Erscheinungsbild bestimmt, welche direkten und indirekten Zusammenhänge zwischen klinischen
Merkmalen und den betroffenen Regionen des Chromosoms Nr.5 bestehen, das sind Fragen, die
die MedizinerInnen, vor allem jedoch die HumangenetikerInnen, bis heute beschäftigen.
Im folgenden Absatz sollen die grundlegenden medizinischen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms
beschrieben werden, wobei die Schwerpunkte sowohl auf dem Gebiet der physikalischen
Charakteristika als auch im Bereich zytogenetischer Studien liegen.
3. 1
Chromosomen und Chromosomenaberrationen
3. 1. 1
Die menschlichen Chromosomen
Menschliche Chromosomen wurden erstmals 1874 von Arnold und 1881 von Flemming beobachtet. Waldeyer prägte 1888 dann den Begriff "Chromosomen". Mit der Chromosomentheorie der
Vererbung von 1904 erkannten Sutton und Boveri, daß die Chromosomen die Träger der
Erbanlagen sind. Klinische Bedeutung bekam die Chromosomenforschung jedoch erst 1956 mit den
neu entwickelten Präparationsmethoden von Tijo und Levan. Seither ist bekannt, daß die
Chromosomenzahl beim Menschen 46 beträgt (Murken & Cleve, 1996).
Die Chromosomen sind die lichtmikroskopisch sichtbaren Untereinheiten des Genoms (einfachen
Chromosomensatzes) einer Zelle. Mit spezifischen Farbstoffen behandelt und unter dem
Mikroskop betrachtet, erscheinen sie als dunkel gefärbte, fadenähnliche Strukturen. Chromosomen
bestehen aus Desoxyribonukleinsäuren (DNA) und befinden sich im Kern jeder Zelle. Die DNAMoleküle arbeiten wie Entwürfe, welche die genetischen Instruktionen für das richtige
Funktionieren aller körperlichen Zellen vermitteln sowie Informationen für die Entwicklung jeder
einzelnen befruchteten Eizelle enthalten. Jedes Chromosom kann als eine zusammenhängende
Einheit, die buchstäblich tausende Gene (Erbanlagen) beinhaltet, verstanden werden. Jedes Gen für
sich vermittelt eine spezifische Information für die Entwicklung vor der Geburt und die normalen
Zell- und Organfunktionen nach der Geburt.
Die Kerne all dieser Körperzellen, ausgenommen Eizellen und Spermien, enthalten 23
Chromosomenpaare, d.h. insgesamt 46 Chromosomen. Diese Paare umfassen 22 Autosomenpaare
(ohne Geschlechtschromosomen), eingeteilt in verschiedene Gruppen, die sich durch die Länge der
Arme und durch die verschiedene Stellung des Zentromers (Einschnürung am Chromosom) unterscheiden, und ein Gonosomenpaar mit den Geschlechtschromosomen. Jeweils eines der beiden
paarigen Chromosomen stammt von der Eizelle der Mutter, das andere von dem Sperma des
Vaters.
Die spezielle Kombination der aus den 23 mütterlichen und den 23 väterlichen Chromosomen zusammengesetzten Gene bestimmt eine neue, einzigartige Person. Die Darstellung der
Chromosomen wird als "Karyotyp" bezeichnet. Im pathologischen Karyotyp kann sowohl die Zahl
als auch die Struktur der Chromosomen verändert sein. Die Chromosomen einer weiblichen
Person unterscheiden sich im 23. bzw. Geschlechtschromosomenpaar von denen einer männlichen
Person insofern, daß die weibliche Zelle zwei X-Chromosomen enthält, die männliche hingegen ein
X- und ein Y-Chromosom.
Obwohl alle Zellen Chromosomen enthalten, werden diese jedoch meistens in den weißen
Blutkörperchen untersucht, da man sie hier am einfachsten lokalisieren kann.
"Eine Zelle durchläuft einen Zyklus sowohl im Organismus als auch in der Zellkultur. Die
Möglichkeit zur Vermehrung von Zellen in der Kultur hat die methodischen Möglichkeiten
und unser Wissen enorm erweitert. Während der Phase der Zellteilung, der Mitose, werden
die Chromosomen einer Zelle kurze Zeit sichtbar und damit der Untersuchung zugänglich.
Die Chromosomen sind dann stark verdichtet, sie sind "spiralisiert". Dies ist nötig, damit das
genetische Material auf die Tochterzellen verteilt werden kann. Die Verdichtung macht es
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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auch erst möglich, daß die ansonsten nicht erkennbaren Chromosomen lichtmikroskopisch
untersuchbar werden. In der Metaphase der Mitose sind die Chromosomen in einer Ebene,
der Äquatorialebene, angeordnet und damit am besten zu beurteilen. Man hat unter dem
Mikroskop daher immer Metaphasechromosomen vor sich."(Propping, 1989, S. 83)
Nach einer kurzen Phase des Zellwachstums im Teströhrchen können die Chromosomen der sich
teilenden weißen Blutzellen angefärbt werden. In dieser Zeit haben sich die Chromosomen ausreichend zusammengezogen und unter dem Mikroskop eine erkennbare Form erreicht. Die
Chromosomen werden fotografiert, und ein individueller Schnitt der Abbildung für eine sichere
Identifikation und Paarung wird möglich. Die Untersuchung und Aufzählung der Chromosomen
vieler Zellen zeigen, ob die richtige Anzahl von Chromosomen vorhanden ist. Die abschließende
Untersuchung der Größe und Form eines jeden Chromosoms erlaubt die Beurteilung, ob eventuell
ganze Chromosomen oder Teile davon fehlen oder im Überschuß vorliegen. Bei Personen mit dem
Cri-du-Chat-Syndrom zeigt die ungewöhnliche Verkürzung eines Teils des fünften
Chromosomenpaares, daß genetisches Material fehlt. Ein solcher Verlust wird als "Deletion" bezeichnet.
Abb. 1 zeigt per Diagramm ein Chromosom Nr. 5 mit den verschiedenen Strukturteilen.
Mikroskopisch erscheint das einzelne Chromosom als ein Chromatidenpaar (d.h. als Paar zweier
identischen Hälften, in die sich das Chromosom vor der Reduktionsteilung längsspaltet), das im
Zentromer zusammengehalten wird. Das Zentromer ist eine Einschnürung im oberen Drittel des
Chromosoms. Das genetische Material oberhalb des Zentromers ist bekannt als "kurzer Arm" oder
"p-Region" und der Teil unterhalb als "langer Arm" bzw. "q-Region".
Die Unterscheidung von Intensität und Muster der Bänder in den Chromosomen wird durch die
Färbeprozesse erleichtert und ermöglicht die eindeutige Identifikation des Chromosoms Nr. 5 sowie auch die aller anderen Chromosomen. Diese Methode benutzt man, um die Bänder in verlängerter Chromosomendarstellung hervorzubringen. Bekannt als "high resolution chromosome analysis" oder "prometaphase banding" gehört diese Darstellung zu den bedeutendsten karyotypen
Techniken der Chromosomenanalyse (Murken & Cleve, 1996). Hierbei werden die Chromosomen
in einem frühen Stadium der Zellteilung untersucht. Die Chromosomen sind dann so lang, daß
eine präzise Bestimmung (Ort/Ausmaß) einer Deletion möglich ist.
Ein neuer Durchbruch in der Chromosomendiagnostik gelang durch die Chromosomen-in-situSuppressions-Hybridisie-rung (CISS-Hybridisierung, 1988) bzw. die Fluoreszenz-in situHybridisierung (FISH) (Pettenati et al., 1994; Murken & Cleve, 1996). Der/die Leser/in sei an dieser Stelle für ausführlichere Erläuterungen auf Gersh et al. (1995) verwiesen. Mit diesen Methoden
gelingt es, durch molekulargenetische Techniken bestimmte Chromosomen bzw. auch kleinste
Chromosomenabschnitte bis hin zu einzelnen Genen in der Metaphase und im Interphasenkern
spezifisch zu markieren (Murken & Cleve, 1996). McKusick spricht sogar davon, daß die
Fortschritte der Chromosomendarstellung dem klinischen Genetiker sein Untersuchungsorgan zur
Verfügung gestellt haben.
kurzer Arm
(p)
5
4
1
3
2 1
1
2
3
1
4
5
1
Zentromer
langer Arm
(p)
2
3
2
1
2
3
4
3
5
5
Abb. 1:
Struktur des Chromosoms Nr.5 (Schinzel, 1984, S. 221)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
8
"Heute ist der klinische Genetiker in der gleichen Lage wie der Nephrologe mit der Niere,
der Kardiologe mit dem Herz usw. Wir können heute, wie das bei jedem Organ oder
Organsystem möglich ist, von der pathologischen Anatomie des menschlichen Genoms
sprechen" (McKusick, 1994, S. 54).
3. 1. 2
Chromosomenaberrationen
Zahlenmäßig sind die genetischen Faktoren die bedeutendsten Ursachen kongenitaler
Mißbildungen. Genetische Faktoren verursachen über ein Drittel aller kongenitaler Störungen, und
bei annähernd 85% sind die Ursachen bekannt. Chromosomenaberrationen sind relativ häufig und
werden in 6% aller Zygoten (befruchteten Eizellen) angenommen. Viele dieser Zellen durchlaufen
nie eine normale Zellteilung und werden Blastozyten (aus Blastomeren über der Furchung entwickelte Keimblasen, bei denen sich eine äußere Zellschicht von den übrigen Zellen absondert). Viele
Embryos werden während der ersten drei Wochen spontan abortiert (abgestoßen).
Personen mit chromosomalen Abnormitäten haben gewöhnlich charakteristische
Erscheinungsbilder (z.B. die physikalischen Charakteristika der Trisomie 21), und sie sehen oft anderen Personen mit der gleichen chromosomalen Abnormität ähnlicher als ihren eigenen
Geschwistern.
Chromosomenaberrationen werden in numerische und strukturelle Veränderungen eingeteilt.
Erstere sind durch zahlenmäßige Abweichungen charakterisiert, letztere durch Besonderheiten der
Chromosomenstruktur. Sie können entweder die Geschlechtschromosomen oder die Autosomen
betreffen. In seltenen Fällen sind beide Arten von Chromosomen betroffen (Klein, 1974).
Als erste numerische Chromosomenaberration beim Menschen wurde 1959 von Lejeune die
Trisomie 21 beim Down-Syndrom entdeckt. Noch im gleichen Jahr wurden das Turner-Syndrom
(45, X), das Klinefelter-Syndrom (47, XXY) und kurz darauf die beiden autosomalen Trisomien 13
und 18 (1960) bekannt.
Die ersten klinisch bedeutsamen strukturellen Chromosomenaberrationen wurden zu Beginn der
60er Jahre beschrieben: Philadelphia-Syndrom und Cri-du-Chat-Syndrom (Murken & Cleve, 1996).
3. 1. 3
Numerische Chromosomenaberrationen
Numerische Abnormitäten von Chromosomen entstehen meistens als ein Resultat eines als "nondisjunction" bezeichneten Vorgangs in der Meiose. Aus unbekannten Gründen trennen sich in einer der beiden meiotischen Teilungen die homologen (übereinstimmenden) Chromosomen gelegentlich nicht, so daß die beiden Chromosomen eines Paares in eine Keimzelle gelangen. Die "nondisjunction" kann während der Entstehung der mütterlichen oder väterlichen Geschlechtszellen
auftreten. Bei der Trisomie 21 beruhen z.B. 80% der Fälle auf "non-disjunction" in der mütterlichen
und 20% in der väterlichen Meiose.
Numerische Chromosomenaberrationen sind eine häufige Ursache von Spontanaborten.
Mindestens 50% der klinisch erfaßbaren Spontanaborte weisen eine Chromosomenaberration auf.
Eine ganze Reihe von neu aufgetretenen, numerischen Aberrationen nehmen mit dem Alter der
Mutter zu.
Chromosomenaberrationen sind in Keimzellen ungemein häufig nachweisbar, in Eizellen noch
häufiger als in Spermien. Jeder 5. Embryo ist im Präimplantationsstadium (vor der
Plazentaentwicklung) chromosomal abnorm. Da die meisten Aberrationen keine normale
Entwicklung zulassen, stirbt die große Mehrzahl chromosomal abnormer Embryonen intrauterin
(in der Gebärmutter) ab. Unter Neugeborenen besitzen noch etwa 0,6% eine
Chromosomenanomalie. (Propping, 1989).
Das Cri-du-Chat-Syndrom
Abb. 2:
9
Abnorme Oozyten (Eizellen)
32%
Abnorme Spermien
8%
Abnorme Präimplantations-Stadien
20,6%
Abnorme Embryonen im 1. Trimester der Schwangerschaft
8-10%
Chromosomenaberrationen unter Neugeborenen
0,6%
Allgemeines Modell der Selektion gegen Chromosomenaberrationen von den
Keimzellen bis zu Neugeborenen. Die Prozentangaben sind empirisch belegt.
(Plachot et al., 1987, S. 22)
Veränderungen in der Chromosomenanzahl ergeben entweder eine Aneuploidie oder eine
Polyploidie. An dieser Stelle sollen die verschiedenen Formen der numerischen
Chromosomenaberration erläutert werden (vgl. u.a. Moore, 1991; Pschyrembel, 1994).
Aneuploidie: Eine Abweichung von einer diploiden (vollständigen) Anzahl der 46 Chromosomen
wird Aneuploidie genannt. Ein Aneuploid ist eine Zelle, die keine exakte multiple haploide (nur
einen einfachen Chromosomensatz betreffende) Anzahl von 23 besitzt. Die prinzipielle Ursache einer Aneuploidie ist eine "non-disjunction" während der Zellteilung. Als ein Resultat können die
embryonalen Zellen hypodiploid sein (z.B. 45, wie beim Turner-Syndrom) oder hyperdiploid
(gewöhnlich 47, wie beim Down-Syndrom). Bei diploiden Organismen wird das Fehlen eines
Chromosoms als Monosomie, das zusätzliche Auftreten eines homologen Chromosoms als
Trisomie bezeichnet.
Monosomie: Die Störung der Genbalance infolge eines fehlenden Chromosoms, die Monosomie eines Autosoms, wirkt sich meistens letal (tödlich) aus oder führt zu schweren Mißbildungen.
Mindestens 97% der Embryonen, denen ein Geschlechtschromosom fehlt, sterben (Connor und
Ferguson-Smith, 1991), nur wenige überleben und entwickeln die Charakteristika des TurnerSyndroms.
Trisomie: Wenn drei Chromosomen anstelle des gewöhnlichen Paares präsent sind, so nennt man
diese Störung Trisomie. Die Trisomie von Autosomen ist primär verbunden mit drei Syndromen.
Die häufigste Form ist die Trisomie 21 (Down-Syndrom), bei dem drei Chromosomen Nr. 21 vorhanden sind. Trisomie 18 und Trisomie 13 sind weniger häufig. Säuglinge mit letztgenannten
Abnormitäten weisen häufig starke Mißbildungen und eine geistige Behinderung auf. Sie sterben
meistens in der frühen Kindheit.
Autosomale Trisomien erscheinen mit zunehmender Häufigkeit entsprechend des zunehmenden
mütterlichen Alters. Trisomie der Geschlechtschromosomen ist eine häufige Kondition. Da es jedoch keine charakteristischen physikalischen Befunde bei Säuglingen oder Kindern gibt, wird
diese Form selten entdeckt.
Tetrasomie und Pentasomie: Manche Personen, meistens geistig retardiert, haben vier oder fünf
Geschlechtschromosomen. Folgende Geschlechtschromosomenkomplexe wurden dokumentiert:
bei weiblichen XXXX und XXXXX; und bei männlichen XXXY, XXYY, XXXYY und XXXXY. Je größer die Anzahl der vorhandenen X-Chromosomen ist, desto größer ist auch der Schweregrad der
geistigen Behinderung und der körperlichen Beeinträchtigung. Die zusätzlichen
Geschlechtschromosomen betonen nicht die sexuellen Charakteristika.
Mosaizismus: Mosaizismus resultiert aus einem Zygoten (einer befruchteten Eizelle), der Zellen
mit zwei oder mehr verschiedenen Genotypen (Erbbildern) besitzt. Es können entweder die
Autosomen oder die Geschlechtschromosomen beteiligt sein. Mosaizismus entsteht normalerweise
durch "non-disjunction" während der frühen Spaltung der Zygoten. Mosaizismus aufgrund des
Verlustes eines Chromosoms durch die sogenannte Anaphasen(Kernteilungs)-Isolierschicht ist
auch bekannt. Die Chromosomen trennen sich normal, aber ein Chromosom ist in seiner
Wanderung verschoben oder eventuell verloren.
Polyploidie: Polyploide Zellen beinhalten ein Vielfaches der haploiden Anzahl von Chromosomen
(z.B. 69, 92 usw.). Polyploidie ist ein signifikanter Grund für spontane Abortationen. Der häufigste
Typus von Polyploidie bei menschlichen Embryonen ist die Triploidie (69 Chromosomen).
Das Cri-du-Chat-Syndrom
10
Triploidien treten in über 2% der Embryonen auf, aber die meisten von ihnen abortieren spontan
(Connor & Ferguson-Smith, 1991).
3. 1. 4
Strukturelle Chromosomenaberrationen
Strukturelle Chromosomenaberrationen entstehen durch Umbauten innerhalb eines Chromosoms
(intrachromosomal) oder zwischen verschiedenen Chromosomen (interchromsomal). Die meisten
strukturellen Abnormitäten der Chromosomen ergeben sich aus Chromosomenbrüchen, die durch
verschiedene Umweltfaktoren hervorgerufen werden können, wie z.B. Radioaktivität, Drogen,
Chemikalien und Viren (Connor & Ferguson-Smith, 1991). Verlust oder Zugewinn von
Chromosomensegmenten führt zu unbalancierten Genverhältnissen. Strukturumbauten ohne
Verlust oder Zugewinn chromosomalen Materials werden als balanciert bezeichnet. Sie haben
meist keinen Einfluß auf den Phänotyp und können über mehrere Generationen vererbt werden
(Murken & Cleve, 1996).
Unbalancierte autosomale Strukturaberrationen (partielle Monosomien und/oder partielle
Trisomien) haben immer eine Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Konstitution zur
Folge. Zu diesen Aberrationen gehört auch das Cri-du-Chat-Syndrom. Unter den strukturellen
Aberrationen unterscheidet man z.B. Deletionen, Duplikationen, Inversionen, Translokationen (vgl.
u.a. Moore, 1991; Pschyrembel, 1994).
Deletion: Als Deletionen werden Mutationen bezeichnet, bei denen ein bestimmter
Chromosomenabschnitt fehlt, entweder innerhalb des Chromosoms (interstitial) oder am Ende
(terminal). So verursacht z.B. eine partielle terminale Deletion am kurzen Armende des
Chromosoms Nr. 5 das Cri-du-Chat-Syndrom. Für Beschreibungen anderer durch Deletionen verursachter Konditionen sei an dieser Stelle auf Thoene (1995) verwiesen.
Ein Ringchromosom ist ein Typus von Deletionschromosomen, bei dem beide Enden verloren gegangen sind und die Bruchenden sich wieder zu einem ringförmigen Chromosom verbinden. Diese
abnormen Chromosomen sind beschrieben worden bei Personen mit Turner-Syndrom, Trisomie 18
und anderen Abnormitäten (Moore, 1991).
Duplikation: Duplikationen sind Verdoppelungen eines DNA-Abschnittes in gleicher
Orientierung (Tandem) oder inverser Lage (Palindrom) auf Kosten des homologen Chromosoms.
Diese Abnormität kann beschrieben werden als eine duplizierte Portion eines Chromosoms (1) innerhalb eines Chromosoms, (2) an ein Chromosom angebunden oder (3) als ein separates
Fragment. Duplikationen sind häufiger als Deletionen, und da es keinen Verlust von genetischem
Material gibt, haben sie weniger Auswirkungen (Thompson, 1986). Sie können einen Teil eines
Genes betreffen, ganze Gene oder eine Serie von Genen.
Inversion: Diese Chromosomenaberration ist die Umkehr eines Chromosomen-Teilstücks um 180°,
vermutlich nach schleifenartigem Überkreuzen eines Chromosoms und falschem Verwachsen an
der Kontaktstelle. Da kein Genverlust eintritt, wirken sich Inversionen meist nur dann phänotypisch erkennbar aus, wenn ihre Grenzen innerhalb von Genen liegen. Parazentrische Inversionen
sind auf einen einzelnen Arm des Chromosoms begrenzt, wobei perizentrische Inversionen beide
Arme betreffen und den Zentromer einschließen (Körner et al., 1983).
Translokation: Unter einer Translokation ist die Verlagerung von Chromosomenstücken an nichthomologe Chromosomen zu verstehen. Während die erstgenannten Aberrationen im allgemeinen
zu einer Imbalance des genetischen Materials führen, können Translokationen auch balanciert sein.
Das chromosomale Material ist nur anders geordnet, ohne daß etwas verloren oder hinzugefügt ist.
Unbalancierte Translokationstypen, die entweder zu einer Störung der Genbalance oder zu di- und
azentrischen Fragmenten führen, die bei der Mitose verlorengehen, sind meist letal.
3. 2
Chromosomenanomalien beim Cri-du-Chat-Syndrom
Die grundlegende Anomalie beim Cri-du-Chat-Syndrom ist das Fehlen von genetischem Material
aus dem kurzen Arm eines Chromosoms Nr. 5. An dieser Stelle sollen die verschiedenen grundlegenden Formen der Chromosomenanomalie beim Cri-du-Chat-Syndrom behandelt werden.
Terminale Deletionen: In 85-90% der Fälle mit Cri-du-Chat-Syndrom fehlt das genetische Material
am Ende ("terminal region") des kurzen Arms eines Chromosoms Nr. 5.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
11
Die Menge des fehlenden Chromosomenmaterials kann stark variieren, von einem minimalen
Stück bis zu beinahe dem ganzen kurzen Arm. Wenn die elterlichen Chromosomen normal sind,
bezeichnet man die Deletion als "sporadisch" oder "einfach". "Sporadisch" bedeutet, daß die
Deletion ein Zufallsereignis war, dessen Wiederholungsrisiko das allgemeine Risiko von 1:50.000
nicht übersteigt. Der Ausdruck "einfach" besagt, daß nur ein einziger Bruch in einem Chromosom
zu der Störung geführt hat.
Interstitielle Deletionen: Mit zunehmender Genauigkeit der zytogenetischen Analyse wurde auch
die Entdeckung möglich, daß die Deletion von genetischem Material in einigen Fällen des Cri-duChat-Syndroms aus zwei Brüchen resultiert, die dann zum Verlust eines Segmentes aus der Mitte
des kurzen Arms des Chromosoms Nr. 5 führt. Diese Bedingung ist sehr selten.
Vererbte unbalancierte Translokationen: Bei 10-15% der Kinder mit Cri-du-chat-Syndrom ist der
Verlust des genetischen Materials bedingt durch die Übertragung eines unvollständigen Satzes von
Genen durch einen Elternteil mit einer balancierten Translokation des Chromosoms Nr. 5.
Die von den Eltern gebildeten Keimzellen können in solchen Fällen balanciert oder unbalanciert
sein. Letzteres gestaltet sich derart, daß entweder spezifisches Chromosomenmaterial fehlt, im
Übermaß vorhanden oder beides der Fall ist. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf den
vorhergehenden Abschnitt über Chromosomenaberrationen verwiesen. Wenn das Cri-du-ChatSyndrom durch eine unbalancierte Translokation bedingt ist, bestehen zwei Defekte: eine Deletion
am kurzen Arm des einen Chromosoms Nr. 5 und ein Überschuß an Chromosomenmaterial an einem anderen Chromosom. Nicht alle Chromosomenkombinationen führen zu einer Lebendgeburt.
Infertilität (Unfruchtbarkeit) und Fehlgeburten können gehäuft auftreten, wenn einer der Eltern
Translokationsträger ist.
De novo (neu aufgetretene) unbalancierte Translokationen: Eine "de novo"- unbalancierte
Translokation bezieht sich auf das erste, spontane Auftreten einer Translokation, die im
Chromosomenmaterial unbalanciert ist und die, anders als bei den oben besprochenen balancierten
Translokationen, gleich beim ersten Auftreten zu einem klinisch abnormen Kind führt.
Eine "de novo"- unbalancierte Translokation entsteht dann, wenn zwei Chromosomen gleichzeitig
gebrochen sind und bei Wiederzusammensetzen der Chromosomenstücke eines verlorengeht.
Beim Cri-du-Chat-Syndrom tritt eine derartige Translokation gewöhnlich zwischen dem kurzen
Arm des Chromosoms Nr. 5 einerseits und einem Chromosom Nr. 13, 14, 15, 21 oder 22 andererseits auf. Da sich oft ein vollständiges Chromosom an den beschädigten kurzen Arm des
Chromosoms Nr. 5 hängt, sieht es so aus, als hätten die Kinder nur 45 Chromosomen. Ganz selten
wurden beim Cri-du-Chat-Syndrom Formen von Ringchromosomen und Chromosomenmosaiken
beobachtet (Neuhäuser et al., 1968; Sachsse, 1969).
3. 3
Zytogenetik beim Cri-du-Chat-Syndrom
Die Zytogenetik ist eine Forschungsrichtung, die sich mit der Analyse der genetischen Probleme
befaßt, die auf einer Korrelation zwischen erblichen Veränderungen und zytologischen, chromosomalen Verhältnissen beruhen. Zum besseren Verständnis der einzelnen Beschreibungen sei
der/die Leser/in an dieser Stelle gebeten, die im Anhang befindliche Darstellung einzelner
Segmente des Chromosoms Nr. 5 zur Hilfe zu nehmen (Anhang A7).
Postnatale zytogenetische Untersuchungen haben ihren Schwerpunkt in der möglichst frühzeitigen
Erfassung chromosomal bedingter Defekte. Die Zytogenetik ist eine grundlegende Voraussetzung
für eine spätere genetische Beratung der Eltern. Man muß davon ausgehen, daß auf etwa 200
Neugeborene ein Kind mit einer Chromosomenstörung entfällt. Wesentlich ist die Tatsache, daß
ein großer Teil der chromosomalen Fehlbildungen mit bestimmten Syndromen verknüpft ist
(Knörr, 1974; Murken & Cleve, 1996).
Schon 1972 beschrieb Niebuhr, sich auf Untersuchungen von Lejeune et al. (1964) und Breg et al.
(1970) beziehend, zytogenetische Untersuchungen an PatientInnen mit Cri-du-Chat-Syndrom, die
die Lokalisation des pathogenetischen Segmentes auf einem spezifischen Abschnitt (Band) des
kurzen Arms vom Chromosom Nr. 5 ermöglichten (Niebuhr, 1972a).
Dabei betrafen die Deletionen, sind sie nun terminal oder interstitiell, von 15 - 80% der gesamten
Länge des kurzen Arms variierend und alle PatientInnen zusammen berücksichtigend, die Bänder
5p13, p14 und p15. In anderen Fällen betrifft/betraf die Deletion mindestens das p15-Band und
einen kleineren oder größeren distalen (von der Mitte weiter entfernten) Teil des p14-Bandes.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
12
Daraus folgte die berechtigte Annahme, daß der Verlust dieses Segments verantwortlich für die
Entwicklung der Hauptsymptome beim Cri-du-Chat-Syndrom ist. Trotz der Variabilität im
Ausmaß der Deletion gab es eine erstaunliche Übereinstimmung in den klinischen Merkmalen.
Dies ist gleichbedeutend mit den Befunden von Miller et al. (1969). Weiterhin blieb jedoch die
Möglichkeit offen, daß einige der geringfügigeren klinischen Symptome durch den Verlust unterschiedlicher Segmente entstehen. Und letztlich ist es vielleicht möglich zu zeigen, daß jeder autonome Karyotyp beim Cri-du-Chat-Syndrom zytogenetisch oder wenigstens genetisch einmalig ist.
In weiteren Untersuchungen waren die kleinsten Deletionen, die gefunden wurden, del (5) (pterp15.1), die größte war del (5) (pter-q11). Wahrscheinlich wurden auch interstitielle Deletionen beobachtet, wobei alle mindestens den proximalen (zur Mitte hin liegenden) Teil 5p15 beinhalteten.
Niebuhr (1978a) schloß daraus, daß die Deletion von 5p15.1 - 5p15.3 in erster Linie für die klinischen Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms verantwortlich ist. Fälle von Ringchromosomen mit
Brüchen in 5p15, die alle den Phänotyp des Cri-du-Chat-Syndroms zeigen, unterstützen diese
Hypothese, ebenso die molekulare Charakterisierung von PatientInnen mit 5p - Deletionen durch
Overhauser et al. (1986). Overhauser lokalisierte die kritische Region für das Cri-du-Chat-Syndrom
noch genauer auf 5p15.2 - 5p15.3. Seine Arbeit gipfelte in der Darstellung zweier chromosomaler
Regionen, die eine Rolle in der Ätiologie des Cri-du-Chat-Syndroms zu spielen scheinen
(Overhauser et al. 1994).
Während die Deletion der chromosomalen Region 5p15.3 mit dem katzenähnlichen Schrei korreliert, ist es der Verlust einer schmalen Region innerhalb von 5p15.2, der die anderen
Hauptsymptome des Cri-du-Chat-Syndroms bestimmt. Diese zweite Region ist als die "cri-du-chat
critical region" (CDCCR) beschrieben worden. Eine nähere Beschreibung dieser und anderer
Untersuchungsergebnisse (Smith et al., 1990; Overhauser et al., 1994; Goodart et al., 1994; Gersh et
al., 1995; Church et al., 1995 u.v.m.) wird in einem späteren Teil dieses Abschnittes vorgenommen.
Zunächst soll jedoch auf einzelne mit unterschiedlichen Aberrationsformen verbundene zytogenetische Befunde eingegangen werden.
Deletionen, die diese beiden chromosomalen Regionen (5p15.2 und 5p15.3) nicht einschließen, zeigen variierende Phänotypen von schwerer geistiger Behinderung und Mikrozephalie
(Kleinköpfigkeit) bis hin zu einem klinisch normalen Erscheinungsbild.
In "de novo"-Aberrationen kann der Bruchpunkt selten mit Sicherheit definiert werden, denn es
kann ein Segment eines anderen Chromosoms an das Bruchende von 5p angegliedert sein. Dies
könnte auch Fälle mit scheinbar normalen Chromosomen und dem Cri-du-Chat-Phänotyp erklären.
Interstitielle Deletionen, die nicht 5p15 einschließen, sind beim Chromosom Nr. 5 nie beobachtet
worden. Carlin et al. (1978) nehmen an, daß Verluste größerer Segmente mit geringerem Gewicht,
geringerer Größe und einem höheren Grad geistiger Behinderung verbunden sind. Hingegen fand
Niebuhr (1978b) keine derartige Korrelation.
In Translokationsfällen wurden Bruchpunkte weiter als 5p14 nie beobachtet. Manchmal wurde eine
de novo-Duplikation-Deletion mit einem (5p+)-Chromosom und dem Cri-du-Chat-Phänotyp
gesehen. Komplexere Veränderungen mit drei oder mehr Brüchen wurden zuweilen beobachtet
(Catti & Schmid, 1971; Francesconi et al., 1978).
Ebenso wurde bei PatientInnen die Kombination einer Deletion eines Segments von 5p und einer
Duplikation oder Deletion verschiedener Segmente anderer Autosomen festgestellt. Die meisten
PatientInnen zeigen Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms und andere Kennzeichen, welche mit
der Imbalance des anderen Segments verbunden werden können. Das Leben ist oft verkürzt, körperliche und geistige Entwicklung eingeschränkter als beim "reinen" (5p-)-Syndrom, und zusätzliche Mißbildungen sind häufig, welche weniger mit dem klassischen Cri-du-Chat-Phänotyp gemein
sind.
Deletionen von 5p wurden in Kombination mit Geschlechtschromosomenaberrationen beobachtet:
Der Karyotyp eines 22 Monate alten Jungen mit Cri-du-Chat-Syndrom brachte z.B. eine (45,X,5p-)Konstitution zum Vorschein (Tolksdorf et al., 1980). Ähnliche Karyotypen diagnostizierten Seidel
et al. (1981) und Vignetti et al. (1977).
Magenis et al. (1975) berichteten u.a. von Fällen, bei denen sich durch Verbinden der Bruchstellen
der distalen Bänder 5p15 und 5q35 Ringchromosomen bildeten. Da diese und alle anderen dokumentierten r(5)-Fälle das klinische Bild des Cri-du-Chat-Syndroms ohne zusätzliche Merkmale zei-
Das Cri-du-Chat-Syndrom
13
gen, ist es wahrscheinlich, daß in allen Fällen ein größeres Segment von 5p15 in der Ringformation
verlorengegangen ist (Schinzel, 1984).
Wie bereits erwähnt, gelang es Overhauser et al. 1994, sowohl die mit dem katzenähnlichen Schrei
korrelierende Region 5p15.3 als auch die "cri-du-chat-critical region" (CDCCR) 5p15.2 zu lokalisieren. In diesem Zusammenhang soll nun auf verschiedene Untersuchungen näher eingegangen
werden.
Die Mehrheit der beobachteten Deletionen am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 ergeben den
klassischen Cri-du-Chat-Phänotyp. Dabei ist oft der katzenähnliche Schrei der grundlegende diagnostische Indikator für einen Verlust von 5p-Material (Jones, 1988). Kehren wir noch einmal zu
den Untersuchungen von Niebuhr (1978a) zurück. Zytogenetische Analysen ergaben eine kritische
Region für das Cri-du-Chat-Syndrom im Chromosomenband 5p15.2. Diese Erkenntnis wurde unterstützt durch Berichte über einzelne Fälle mit Deletionen, die nicht 5p15.2 umfassen und auch
nicht den klassischen Cri-du-Chat-Phänotyp aufweisen (Baccichetti, 1982; Walker et al., 1984;
Overhauser et al., 1986; Baccichetti et al., 1988). 1994 beschrieben Overhauser et al. aufgrund detaillierter molekularer Analysen von 49 Einzelfällen mit Translokationen und Deletionen bzgl. 5p die
"cri-du-chat-critical region" (CDCCR) 5p15.2. Einer dieser Fälle wies eine Deletion auf, die nicht die
CDCCR umfaßte, zeigte aber den typischen katzenähnlichen Schrei.
Aufgrund dessen wurde vermutet, daß die Region 5p15.3 mit diesem Merkmal in Verbindung stehen muß. Untermauert wird diese Hypothese durch den Bericht einer Familie, in der eine terminale Deletion der distalen Hälfte von 5p15.3 über drei Generationen vererbt wurde, ohne daß eines
der Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms oder der Katzenschrei auftrat (Bengtsson et al., 1990).
Diese Berichte zusammen suggerieren, daß eine Region distal von der "cri-du-chat-critical region"
in dem proximalen Teil von 5p15.3 ein Gen enthalten könnte, welches in die Erscheinung des
Katzenschreis involviert ist.
Da das Cri-du-Chat-Syndrom wahrscheinlich ein Syndrom aneinandergrenzender Gene ist, ist die
Hypothese berechtigt, daß eine haploide Insuffizienz (Unzulänglichkeit) von nur einem bzw. einer
Teilmenge dieser Gene, die in dem Gesamtsyndrom involviert sind, in der Manifestation nur eines
Merkmals des Syndroms resultiert. So zeigen Gersh et al. (1995) in ihrer Untersuchung den
Unterschied zwischen 5p-Deletionen, die eine starke Entwicklungsstörung nach sich ziehen, wie
sie bei den meisten PatientInnen mit Cri-du-Chat-Syndrom beobachtet wurde, und den Deletionen,
die nur das isolierte Katzenschrei-Merkmal aufweisen. Damit wurde nochmals bestätigt, daß es
eine "cat-like cry critical region" gibt, die das proximale Drittel von 5p15.3 umfaßt, welche separat
und distal zur CDCCR von Overhauser liegt.
Nachdem die kritische Gesamtregion für das Cri-du-Chat-Syndrom lokalisiert worden ist, stellt
sich natürlich für die Gentechnik die Frage, welche speziellen Gene zu den auslösenden Faktoren
zählen bzw. inwieweit zumindest bestimmte Regionen isoliert werden können, die speziell mit bestimmten Erscheinungsbildern des Syndroms korrelieren. Bis heute sind keine mit diesen
Fehlbildungen verbundenen einzelnen Gene identifiziert worden. Verschiedene Möglichkeiten der
Abbildung von genetischem Material sind vielleicht der erste Schritt dahin, die verursachenden
Gene zu isolieren. In diesem Zusammenhang sei u.a. auf Gersh et al. (1994) verwiesen. Derweilen
sind einige Gene in 5p gekennzeichnet worden, einschließlich des Dopamin-Transport-Gens und
Gene, die für die Rezeptoren der Wachstumshormone, Prolactin und LeukämieHemmungsfaktoren kodieren. Aber jene für derartige Fehlbildungen verantwortlichen Gene sind
weiterhin unbekannt. Es ist jedoch anzunehmen, daß im Zuge der Genforschung auch diese Fragen
beantwortet werden. An dieser Stelle sei auf die Arbeiten von Simmons et al. (1995) hingewiesen,
die durch direkte cDNA-Selektion die ersten Gene der "cri-du-chat critical region" (CDCCR) isolieren konnten.
Wenn man auch nicht davon sprechen kann, daß einzelne Gene lokalisiert werden können, so gibt
es doch Untersuchungen, die Regionen zu determinieren versuchen, die mit bestimmten
Symptomen zusammenhängen. In einem Versuch, Regionen im kurzen Arm des Chromosoms Nr.5
zu definieren, welche die mit dem Cri-du-Chat-Syndrom verbundenen Erscheinungsbilder hervorrufen, haben Church et al. (1995) verschiedene Deletionen von 17 PatientInnen analysiert. Das
Ziel dieser Untersuchung war es, eine beginnende Identifikation von Genen zu ermöglichen,
welche mit variierenden phänotypischen Merkmalen von distalen 5p-Deletionen verbunden sind.
Ausgehend davon, daß trotz häufig auftretender und als typisch geltender Merkmale bei
Individuen mit 5p-Deletionen eine doch relativ hohe Spanne phänotypischer Heterogenität zu be-
Das Cri-du-Chat-Syndrom
14
obachten ist (Breg et al., 1970; Niebuhr, 1978b; Wilkens et al. 1980, 1983), versuchten Church et al.
(1995), diesen Tatbestand zytogenetisch zu erklären. Es wurde angestrebt, die Subphänotypen des
Cri-du-Chat-Syndroms zu lokalisieren, um ein besseres Verständnis der Heterogenität zu erlangen.
Dabei wurden frühere Vermutungen bestätigt, daß die Lokalisation der Deletionsbruchstellen mit
dem Vorhandensein bzw. der Abwesenheit verschiedener klinischer Merkmale korreliert.
Molekulare und phänotypische Analysen der einzelnen Individuen machten es möglich, spezifische Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms auf bestimmte Subregionen von 5p zu übertragen, insbesondere solche Kennzeichen wie dem Katzenschrei, den facialen Dysmorphien Neugeborener
und/oder Erwachsener und der Sprachverzögerung.
Obwohl in früherer Literatur die tiefgreifende Sprachverzögerung nie als Cri-du-Chat-klassisch
bezeichnet wurde, zeigt die Untersuchung von Church et al., daß die Sprachverzögerung wahrscheinlich das häufigste Merkmal von Personen mit terminalen Deletionen von 5p ist.
Anhand der Analyse aller klinischen Daten, vor allem dem jeweils konkreten Ausmaß der Deletion
sowie der beobachteten Symptome, konnte ein Ideogramm vom Chromosom Nr.5 erstellt werden
mit einer ungefähren Lokalisation von Bruchstellen und den damit verbundenen Phänotypen.
Damit ist es möglich, die Erscheinungsbilder von Sprachverzögerung und Katzenschrei zu lokalisieren, sowie eine Region, die mit den typischen facialen Dysmorphien von Neugeborenen und
Erwachsenen korreliert. Genauere Erläuterungen der Ergebnisse sind bei Overhauser et al. (1994)
und Church et al. (1995) zu finde.
15.3
15.2
15.1
Katzenschrei
CDCCR
leichte geistige
Behinderung
keine Symptome
14
5p
13
leichte bis schwere
geistige Behinderung
Microcephalie
12
11
5q
5
Abb.3:
Ideogramm des Chromosoms Nr.5 mit ungefährer Lokalisation der mit bestimmten
Bruchstellen verbundenen Phänotypen (Overhauser et al., 1994, S.251)
Dieses Resultat ist nicht nur ausschlaggebend für ein besseres Verständnis der Heterogenität der
Symptome beim Cri-du-Chat-Syndrom. Eine weitere Konsequenz dieser Daten liegt im Bereich der
genetischen Beratung und der pränatalen Diagnostik. Um dies zu verdeutlichen, sei noch einmal
auf die vielen Arten von 5p-Deletionen und ihre entsprechend unterschiedlichen
Erscheinungsbilder hingewiesen.
Zudem haben Wilkens et al. (1983) festgestellt, daß es keine Korrelation zwischen dem Ausmaß der
Deletion und der Schwere der Entwicklungsstörung gibt. Es ist also aufgrund dieser und anderer
Untersuchungen offensichtlich, daß ein del(5p)-Karyotyp nicht notwendigerweise die Diagnose
"Cri-du-Chat-Syndrom" indiziert. Ebenso können Deletionen in 5p15.2 (Smith et al., 1990;
Overhauser et al., 1994) unterschiedliche Phänotypen zur Folge haben, so daß es schwierig ist, diesen Personen eine adäquate Prognose zu geben.
Damit wird deutlich, daß sich trotz genauer medizinischer Symptombeschreibung und präziser
zytogenetischer Untersuchungsmöglichkeiten keine manifesten Merkmale für die persönliche
Entwicklung eines einzelnen Individuums ergeben. Viele HumangenetikerInnen gehen davon aus,
Das Cri-du-Chat-Syndrom
15
daß die wesentlichen Kennzeichen für die Entwicklung des Menschen genetisch vorprogrammiert
sind und dementsprechend ein Defekt innerhalb der genetischen Struktur unweigerlich zu bestimmten Fehlentwicklungen führen muß.
Dem widersprechen jedoch die vielen verschiedenen Fallbeschreibungen von Kindern mit Cri-duChat-Syndrom. Trotz ähnlicher genetischer Fehler können sich diese Kinder unterschiedlich entwickeln. Das bedeutet, daß mit einer rein klinischen Aussage über den Entwicklungsstand bzw.
seine etwaige Behinderungsform die Zukunft eines Kindes nicht vorhersagbar wird. Im Kapitel 4
wird dem/der Leser/in erläutert, inwiefern medizinische Befunde einerseits zwar bestimmte psycho-soziale Auswirkungen haben, andererseits jedoch keine konkreten Aussagen über die
Entwicklung im einzelnen bieten, wie sie im übrigen auch bei nichtbehinderten Kindern unmöglich
ist. Wie bei jedem anderen Kind spielen auch bei einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom die
verschiedensten Faktoren bei der Entwicklung eine Rolle, d.h. ein Kind mit einem derartigen
Syndrom wird nicht nur von seinem "Syndrom" bestimmt.
3. 4
Epidemiologie
Wie zu Beginn des Kapitels beschrieben, kann davon ausgegangen werden, daß das Cri-du-ChatSyndrom die häufigste unbalancierte strukturelle Chromosomenaberration ist. Es dürfte etwa
doppelt bis dreifach so häufig sein wie das (18p-)-Syndrom (das zweithäufigste
Deletionssyndrom), aber 50mal seltener als die Trisomie 21 (Schinzel, 1979).
Seit das Cri-du-Chat-Syndrom 1963 das erste Mal beschrieben wurde, sind bis 1990 weltweit insgesamt 758.310 Fälle erfaßt worden (National Organization for Rare Disorders, 1996). An der
Gesamtpopulation gemessen tritt das Syndrom relativ selten auf, die Häufigkeit (Inzidenz) wird
mit 1:50.000 angegeben, das Vorkommen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung
(Prävalanz) mit 1:350 (Thoene, 1995 u.v.m.).
Auffallend ist das Geschlechterverhältnis: Während Mädchen unter früh erfaßten Fällen etwa im
Verhältnis 3:1 überwiegen, so ist das Geschlechterverhältnis unter Erwachsenen, bei denen das Cridu-Chat-Syndrom später diagnostiziert wurde, annähernd ausgewogen. Dieser Unterschied kann
Differenzen in der diagnostischen Methodologie widerspiegeln. Vielleicht liegt der Grund in dem
typischen Katzenschrei, der das wichtigste diagnostische Zeichen bei Kindern darstellt und bei
Jungen mehrfach fehlen bzw. sich schon sehr früh verändern kann.
3. 5
Symptomatik
Der klinische Verdacht auf eine unbalancierte Autosomenaberration stützt sich in erster Linie auf
vier Hauptkriterien: (1) körperliche und geistige Entwicklungsverzögerung, (2)
Dysmorphiezeichen, insbesondere an Kopf, Händen und Füßen, (3) Auffälligkeiten der Hautleisten
und -furchen und (4) Fehlbildungen der inneren Organe (Murken & Cleve, 1996). Es sei nochmals
darauf hingewiesen, daß Personen mit 5p-Deletionen ein großes Maß an phänotypischer
Heterogenität aufweisen (Breg et al., 1970; Wilkens et al., 1980, 1983). Viele als typisch geltende
Merkmale treten in variierender Häufigkeit auf. Jones legt in Smith´s Recognizable Patterns of
Human Malformation sogar dar, daß nur vier Charakteristika in fast allen Fällen von Cri-du-ChatSyndrom präsent sind: der katzenähnliche Schrei, geringes Wachstum, Mikrozephalie und geistige
Behinderung (Jones, 1988). Trotzdem soll im folgenden Absatz versucht werden, eine Übersicht
über das mögliche Erscheinungsbild beim Cri-du-Chat-Syndrom zu geben.
3. 5. 1
Klinische Merkmale bei Kindern mit Cri-du-Chat Syndrom
Säuglinge mit Cri-du-Chat-Syndrom sind meist kleiner als andere Neugeborene. Das
Geburtsgewicht liegt in der Regel unterhalb der Norm, auch dann, wenn die Größe des
Neugeborenen fast normal ist (durchschnittlich 2.600g). Dabei verläuft die Schwangerschaft unauffällig, und die Kinder werden fast immer termingerecht geboren. Auffallend ist eine kraniofaciale
Dysmorphie mit Veränderungen von Kopf und Gesicht: Fast alle Säuglinge mit diesem Syndrom
haben einen abnorm kleinen Kopf (Mikrozephalie mit einem durchschnittlichen Kopfumfang von
31,7cm) mit einer meist länglichen Form.
Oft weisen diese Kinder starke Entwicklungsschwierigkeiten auf. Sie gedeihen nur sehr langsam
und bleiben auch in der späteren Entwicklung zurück. So benötigen einige der Neugeborenen nach
der Entbindung eine Atemhilfe. Fast die Hälfte von ihnen hat in den ersten Lebensjahren Probleme
Das Cri-du-Chat-Syndrom
16
mit dem Herzen und der Atmung. Gerade in diesem Bereich treten häufig Infektionen auf.
Bültmann et al. (1982) vermuten die Ursache in einer Granulozytendysfunktion (Dysfunktion der
weißen Blutkörperchen). Diese Hypothese bleibt jedoch umstritten. Ebenso häufig treten in den ersten Tagen Ernährungsprobleme auf. Neben der Wachstumsretardierung ist in allen Fällen eine
psychomotorische und geistige Entwicklungsverzögerung verschiedenen Ausmaßes beobachtet
worden. Auch wenn in vielen Berichten als nicht Cri-du-Chat-klassisch beschrieben, so ist doch die
tiefgreifende Sprachverzögerung eines der häufigsten Merkmale (Church et al., 1995).
Kennzeichnend für das Cri-du-Chat-Syndrom ist das eigenartige Schreien, welches besonders beim
Neugeborenen und Säugling dem Miauen einer Katze täuschend ähnelt. Die Stimme des Kindes ist
hoch und klingt gepreßt, die Ausatmung ist verlängert und unterbrochen, die Einatmung behindert.
Während beim normalen Säuglingsschreien die Tonhöhe fast immer absinkt bzw. Abschnitte mit
schnelleren Tonschwankungen zu beobachten sind, ist der Schrei beim Cri-du-Chat-Syndrom
überwiegend monoton mit zum Teil mehrere Sekunden unverändert bleibender Tonhöhe und zeigt
nur eine geringe Melodiebewegung und damit eine ausgesprochene Ausdrucksarmut. Auch im
spektrographischen Bild wird die Ähnlichkeit mit dem Miauen von Katzen deutlich.
Der Grundton liegt um eine Oktave höher (600 - 1.200 Hz) mit einer zusätzlich starken Ausprägung
der Formanten bei 4.000 Hz. Die Latenzzeit beträgt im Mittel 2,0 Sek.. Die Schreidauer ist deutlich
verlängert (in der Regel über 5 Sek.) (Luchsinger et al., 1967; Schroeder et al., 1967; Bauer, 1968;
Granoff & Preston, 1971; Zeskind & Lester, 1978; Rothgänger & Ueberschär, 1980; Frodi & Senchak,
1990; Sohner & Mitchell, 1991).
Letztlich ist die Ursache der Stimmveränderung aber noch unklar. Eine Veränderung des
Kehlkopfes (Laryngomalazie), so wie sie u.a. von Castresana et al. (1994) angenommen wird, ist
nicht immer nachzuweisen, so daß wohl auch funktionelle Störungen durch zentrale Dysregulation
in Frage kommen. Aufgrund der wenigen Untersuchungen läßt sich dabei jedoch nicht entscheiden, ob eine entsprechende morphologisch (der Form, der Struktur nach) faßbare Hirnschädigung
vorliegt oder ob es sich um eine, auf dem Boden des bestehenden Chromosomendefektes genetisch
bedingte, cerebrale (das Gehirn betreffende) Funk-tionsstörung im Sinne einer gesteigerten neuromuskulären Erregbarkeit bestimmter Zentren handelt.
Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom sehen aufgrund der kraniofacialen Störungen einander recht
ähnlich.
Sie haben neben der bereits erwähnten Mikrozephalie oft ein rundes Gesicht mit ungewöhnlich
weit auseinander liegenden Augen (Hypertelorismus) sowie eine verbreiterte und abgeflachte
Nasenwurzel, die in einen beidseitigen Epikanthus (sichelförmige Hautfalte am inneren Rand des
oberen Augenlides) übergeht. Weiterhin findet sich häufig eine von medial (mittig) nach lateral
(seitwärts) abfallende (antimongoloide) Lidachsenstellung.
Über die Hälfte der Kinder wiesen bei Untersuchungen Augenprobleme auf, wie Nystagmus
(Augenzittern), konvergenten oder divergenten Strabismus (Einwärts- und Auswärtsschielen),
Myopia (Kurzsichtigkeit), Augennervenmißbildungen oder ausgeblichene Netzhaut.
Andere Symptome können sein: tiefsitzende und/oder mißgebildete Ohren, ein schmales Kinn
(Mikrognathia), häufig Zahnstellungsanomalien, hoher Gaumen, eine vorstehende Nase und weitere faciale Merkmale, die asymmetrisch sind. Die Hände weisen oft eine Vierfingerfurche auf.
Ebenso findet man kennzeichnende Veränderungen der Hautleisten.
Am Skelettsystem fällt ein Ossifikationsrückstand (Knochenbildungsrückstand) auf. Abgesehen
von einer häufigen Verkürzung und Abwinkelung des kleinen Fingers (Klinodaktylie) wurden gröbere Fehlstellungen der Gelenke (Klumpfuß, Hüftgelenksluxation), Anomalien der Wirbelsäule
(Skoliose, Kyphoskoliose) sowie Syndaktylien nur in Einzelfällen beschrieben. Hingegen haben
über drei Viertel der Säuglinge Anzeichen von Schlaffheit und geringem Muskeltonus (Hypotonie)
mit ungenügender Kopfkontrolle und schlaffen, überstreckbaren Gelenken an den Gliedmaßen.
Colover et al. (1972) nehmen an, daß die Hypotonie, ähnlich den Vermutungen beim Katzenschrei
(siehe oben), ihren Ursprung in einer genetisch bedingten, cerebralen Funktionsstörung hat.
Körperliche und statomotorische Entwicklung verlaufen langsam. Die Kopfkontrolle wird etwa mit
einem Jahr, das selbständige Sitzen mit zwei Jahren erreicht.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
17
Kognitive Einschränkungen sind relativ häufig bei PatientInnen mit Chromosomenanomalien zu
beobachten. Inwieweit dies für das Cri-du-Chat-Syndrom zutrifft, ist bisher nur ungenau beschrieben, zumal zwischen Chromosomenaberration und geistiger Behinderung kein notwendiger
Zusammenhang besteht. Gerade minimale Anomalien autosomaler Chromosomen sind oft mit einer normalen Intelligenz kompatibel (vereinbar).
Seltener wurde bei dem Cri-du-Chat-Syndrom eine Oberlippen- und/oder eine Gaumenspalte
oder eine abnorme Öffnung/Spalte im hinteren Rachenraum (Bifida uvula) beobachtet. Außerdem
können in Einzelfällen folgende Symptome auftreten: Inguinalhernien (Leistenbrüche),
Rektusdiastase (Auseinanderweichen der geraden Bauchmuskeln), unvollständige Entwicklung
einer Seite der Spinalspalte (des Rückenmarks), Kryptorchismus (Hodenhochstand), Hypoplasie
(Unterentwicklung) der äußeren Genitalien, fehlende Niere und/oder Milz. Zuweilen wurden
Fälle mit ungewöhnlichen und schweren Mißbildungen wie Oligo-Syndaktylie (mangelnde
Ausbildung einzelner Fingerstrahlen), Malrotation des Darms (fehlerhafte Drehung während der
Entwicklung ) und andere beobachtet (Taylor & Josifek, 1981).
Mißbildungen der inneren Organe scheinen insgesamt relativ selten zu sein, die bekanntesten sind
Herzfehler und Darmanomalien. Ungefähr ein Drittel der Kinder mit terminalen Deletionen und
drei Fünftel der Kinder mit unbalancierten Translokationen haben irgendeine Form eines angeborenen Herzfehlers.
Gastrointestinale (Magen und Darm betreffende) Mißbildungen schließen die Malrotation des
Darms und die Hirschsprungsche Krankheit (Dickdarmerweiterung) ein, bei der eine schwere
Verstopfung oder Darmverlegung durch das Fehlen von Nerven im Dickdarm hervorgerufen wird.
Bei mehr als der Hälfte der Kinder waren Verstopfungen ein chronisches Problem (vgl. Anhang
A1; Abb. X-XII).
Diese klinischen Erscheinungen wurden von zahlreichen AutorInnen beschrieben (z.B. Macintyre
et al., 1964; Bergmann et al., 1965; Bettecken et al., 1965; McCracken & Gordon, 1965; Neuhäuser &
Lother, 1966; Vasella et al., 1967; Reinwein, 1967; Wolf & Reinwein, 1967; Zernahle, 1967; Fiehring
et al., 1968; Mennicken et al., 1968; Zizka, 1969; Altrogge et al., 1971; Maaz & Döring, 1971;
Bechthold, 1973; Pichler & Scheibenreiter, 1973; Schwingshackl & Ganner, 1973; Steinbicker, 1973;
Schinzel, 1979; Wilkens et al., 1980, 1982 & 1983; Schinzel, 1984; Jones, 1988; Neuhäuser, 1988;
Neuhäuser & Steinhausen, 1990; Stykes & Christie, 1994).
3. 5. 2
Klinische Merkmale bei Erwachsenen mit Cri-du-Chat-Syndrom
Beim Cri-du-Chat-Syndrom kommt es mit der Entwicklung zu einem ausgeprägten Wandel im
klinischen Bild. So werden bei vielen PatientInnen mit Annäherung an die Pubertät entwicklungsbedingte Veränderungen beobachtet. Das auffallendste Symptom, der katzenähnliche Schrei, verschwindet in fast allen Fällen bereits in früher Kindheit, wobei die Stimme jedoch oft abnorm
bleibt. So sind die charakteristischen Neugeborenenbefunde für die klinische Diagnosestellung im
Adoleszenten- und Erwachsenenalter unbrauchbar.
Typische Merkmale junger PatientInnen mit Cri-du-Chat-Syndrom, wie Mondgesicht,
Hypertelorismus, Mikrognathia und tiefsitzende Ohren, werden bei älteren Personen mit diesem
Syndrom weniger beobachtet. Während der späten Kindheit und in der Adoleszenz bewirkt das
größere Wachstum der Gesichtsstruktur im Vergleich zu dem der Schädelwölbung einen engen
und groben Gesichtsausdruck.
Vorherrschende supraorbitale (über der Augenhöhle liegende) Kanten, tiefliegende Augen, ein hoher, aber hypoplastischer (unterentwickelter) Nasenrücken und ein kleiner, herunterhängender
Unterkiefer, dessen Kleinwuchs häufig zu Zahnfehlstellungen, starkem Überbiß und damit verbundenen Problemen führt, charakterisieren die Gesichter der Erwachsenen mit Cri-du-ChatSyndrom (z.B. Breg et al., 1970; Niebuhr, 1978b). Die Untersuchung von Fotografien der einzelnen
PatientInnen in bestimmten zeitlichen Abständen erlaubte das klare Erkennen der
Entwicklungsstadien vom kindlichen zum erwachsenen Phänotyp (Niebuhr, 1978b). Typisch ist
das relativ früh einsetzende Ergrauen der Haare.
In den meisten Fällen bleibt die Körpergröße und der Kopfumfang deutlich unter dem normalen
Durchschnitt (Fehlow & Tennstedt, 1989). Häufig wurde bei älteren PatientInnen ein bilateral
wechselnder Strabismus festgestellt, ebenso häufig eine optische Atrophie (Schwinden der
Sehkraft).
Das Cri-du-Chat-Syndrom
18
Muskuläre Hypotonie, ein typisches Kennzeichen von Säuglingen mit Cri-du-Chat-Syndrom,
wurde im Erwachsenenalter nicht gefunden, allerdings wiesen die meisten Erwachsenen
Anhaltspunkte einer schwachen Muskelentwicklung vor. Vermehrt wurde eine Hyperreflexie
(Steigerung und Verbreiterung der Reflexe) beobachtet (Niebuhr, 1972b). In mehr als der Hälfte der
Fälle treten Skoliosen (seitliche Krümmungen der Wirbelsäule) auf, typisch sind weiterhin kurze
Mittelhand- und/oder Mittelfußknochen und Plattfuß.
Obwohl eine signifikante Anzahl von PatientInnen mit Cri-du-Chat-Syndrom bekannt ist, welche
die Pubertät erreicht haben , ist bisher relativ wenig über die Sexualentwicklung und
Zeugungsfähigkeit dieser Personen bekannt. (11,5% der 331 von Niebuhr (1978b) untersuchten
Fälle waren älter als 14 Jahre.) Ebenso brachte die Untersuchung von Breg et al. (1970) keine
Informationen über Fortpflanzungsfähigkeit, zeigte aber, daß betroffene Frauen die Pubertät erreichen, sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickeln und im normalen Pubertätsalter das erste Mal
menstruieren. Auch männliche Personen mit Cri-du-Chat-Syndrom entwickeln in der Regel normale sekundäre Geschlechtsmerkmale. In Einzelfällen kann es zu bereits beschriebenen Störungen
kommen. Martinez et al. berichteten 1993 von einem ersten Fall, in dem eine Mutter mit Cri-duChat-Syndrom eine Tochter zur Welt brachte, die ebenfalls die typischen Merkmale des Cri-duChat-Syndroms aufwies.
3. 6
Ursachen der Deletion beim Cri-du-Chat-Syndrom
Die primären Ursachen für eine Deletion am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 sind bis heute
nicht eindeutig geklärt. Neuhäuser und Lother (1966) vermuteten, daß die Deletion wahrscheinlich
während der Reduktionsteilung entsteht. Möglicherweise stellen sekundäre Konstriktionen
(Abbindungen), wie sie bevorzugt an den kurzen Armen des Chromosoms Nr.5 vorkommen, eine
entsprechende Prädilektionsstelle (bevorzugte Stelle) dar.
Diesen Verdacht bestärken die Befunde von Mennicken et al. (1968), daß der kurze Arm dieses
Chromosoms spät repliziert; ein Verhalten, welches für heterochromatisches Material charakteristisch ist. Derartige Abschnitte zeigen in nativen (erblichen) Chromosomen sogenannte sekundäre
Konstriktionen, welche nach Einwirkung toxischer (giftiger) Substanzen zu Frakturen (Brüchen)
neigen.
In den meisten Fällen resultiert der Chromosomenbruch aus einer scheinbar zufälligen Schädigung
des Chromosoms Nr.5 (Zernahle, 1967; Mennicken et al., 1968; Wilkens, Brown, Nance & Wolf,
1983), in 10-15% hingegen wird die Deletion durch eine Translokation eines Elternteils vererbt
(Pfeiffer & Simon, 1965; Reichelt & Voigt, 1966; Wolf, Reinwein, Gey & Klose, 1966; Zernahle, 1967;
Mennicken et al., 1968; Kramer, 1975; Dev, Byrne & Bunch, 1979; Wilkens, Brown, Nance & Wolf,
1983).
Chernos et al. (1992) beschreiben einen Fall von Cri-du-Chat-Syndrom aufgrund der meiotischen
Rekombination bei einem Träger einer perizentrischen Inversion des Chromosoms Nr.5. Selten ereignet sich der Bruch erst in der Entwicklung des Föten, wobei ein Teil der weiblichen Zellen das
defizitäre Chromosom enthält und die verbleibenden Zellen zwei normale Nr.5-Chromosomen. Es
entsteht ein Chromosomenmosaik (Zernahle, 1967; Sachsse et al., 1969; Wilkens, Brown, Nance &
Wolf, 1983).
Bisher konnten die Untersuchungen keinen eindeutigen Aufschluß über die Entstehung der "einfachen" Deletion beim Cri-du-Chat-Syndrom geben. Genauere Untersuchungen an Eltern von
Kindern mit diesem Syndrom haben bei der Ursachensuche bisher keinen Hinweis auf direkte
Umwelteinflüsse, wie z.B. X-Strahlen, Medikamente oder spezifische Krankheiten, ergeben. Es sind
jedoch viele, sich aus Chromosomenbrüchen ergebende, strukturelle Abnormitäten der
Chromosomen bekannt, die durch verschiedene Umweltfaktoren hervorgerufen werden.
Zu derartigen Umweltfaktoren zählen z.B. Radioaktivität, Drogen, Chemikalien und Viren
(Cagianut, 1968; Obe & Natarajan, 1990; Murken & Cleve, 1996).
So fanden z.B. schon Hampel et al. bei Untersuchungen der Toxizität von Cyclophosphamid für
Chromosomen unter anderem auch eine statistisch signifikante Häufung der Brüche in den kurzen
Armen der B-Chromosomen (Hampel, Fritzsche & Stopik, 1969). Strukturelle
Chromosomenaberrationen konnten bei Personengruppen mit verschiedenen Strahlenexpositionen
nachgewiesen werden, so z.B. nach externer diagnostischer und therapeutischer Bestrahlung sowie
nach medizinischer Radioisotopenanwendung. Weitere Befunde liegen von Überlebenden der
Das Cri-du-Chat-Syndrom
19
Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki, nach Strahlenunfällen (wie z.B.
Tschernobyl) und bei beruflicher Strahlenexposition vor.
Auch für eine Reihe chemischer Substanzen konnte nachgewiesen werden, daß sie strukturelle
Chromosomendefekte auslösen können. Ebenso ist diese Wirkung von verschiedenen Viren,
Schimmelpilzen und Mykoplasmen (sehr kleine, zellwandlose Organismen, welche den Bakterien
zugerechnet werden) bekannt. Ob jedoch einer dieser Faktoren in direktem Zusammenhang zur
Deletion am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 steht, ist bis heute unbekannt.
Im Gegensatz zum Down-Syndrom (Trisomie 21) konnte zwischen dem Auftreten einer Deletion
am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 und dem erhöhten Alter der Mutter bei der
Schwangerschaft keine Korrelation festgestellt werden (vgl. Anhang A1; Abb. IV).
Wie bereits erwähnt, resultiert das Cri-du-Chat-Syndrom in 10-15% aus einer unbalancierten
Segretion einer elterlichen balancierten Translokation, d.h. die Translokation führt je nach Größe
der beteiligten Chromosomenabschnitte und der daraus folgenden Paarungsfigur in der Meiose
zur ungleichen Verteilung der Chromosomenabschnitte und damit der Erbanlagen (Pfeiffer &
Simon, 1965; Zernahle, 1967; Mennicken et al., 1968; Wilkens et al., 1982).
Nicht immer sind derartige Translokationen bei einem Elternteil konkret nachzuweisen, so daß
diese als einfache Deletionen imponieren. Für diese Fälle sind nachstehende Möglichkeiten als
eventuelle Ursachen vorstellbar:
1. Bruchstückverlust als einmaliges Meioseereignis bei einem Elternteil.
2. Die Keimzellen eines Elternteiles tragen alle oder teilweise den Bruchstückverlust.
3. Die Keimzellen eines Elternteiles tragen alle oder teilweise eine balancierte
Translokation.
4. Bruchstückverlust bei einer sehr frühen postzygotischen Teilung.
Es gibt von Seiten der MedizinerInnen und GenetikerInnen eine Reihe von Ursachenhypothesen.
Welche der Möglichkeiten jedoch im Einzelfall die tatsächliche Ursache ist, kann in der Regel noch
nicht eindeutig geklärt werden.
3. 7
Diagnostik
In erster Linie stützt sich die Diagnostik natürlich auf die Hauptmerkmale eines Syndroms. Da bei
der Geburt bereits grundlegende Symptome manifestiert sein können, ist eine erste Diagnose anhand der oben beschriebenen klinischen Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms zu diesem
Zeitpunkt schon möglich (vgl. Anhang A1; Abb. IX).
Im ersten Lebensjahr ist der eigentümliche katzenähnliche Schrei das wichtigste diagnostische
Zeichen. Kommen dann Untergewicht, Mikrozephalie und die typischen Dysmorphien dazu, ist
die Diagnose praktisch sicher (Schinzel, 1984). Allerdings sei an dieser Stelle davor gewarnt, sich
übermäßig auf diesen Schrei zu verlassen, da dieses Symptom manchmal fehlt.
Wie unterschiedliche Zahlen bzw. die steigende Population in den Jahren nach der Entdeckung des
Cri-du-Chat-Syndroms vermuten lassen, ist die Diagnose dieses Syndroms nicht immer eindeutig.
Ursachen hierfür liegen u.a. wahrscheinlich überwiegend in der Unkenntnis verbunden mit der
relativen Seltenheit. Um dies noch einmal zu verdeutlichen, sei allein auf die unterschiedlichen
Ergebnisse bzgl. der Epidemiologie in Deutschland und den USA hingewiesen (vgl. Kapitel 2).
Eine genaue Diagnostik erfordert dann im Falle einer ersten (sich auf Symptome stützenden)
Diagnose eine anschließende Chromosomenanalyse mittels der bekannten Methoden der
Humangenetik. Eine solche Untersuchung erst kann zuverlässige Aussagen für die genetische
Beratung der Eltern liefern.
Es sei jedoch an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, daß die Diagnose "Cri-du-ChatSyndrom", sei sie noch so präzise und durch modernste Chromosomenanalysen "untermauert",
keine Diagnose in dem Sinne ist, daß nun ÄrztInnen und andere Fachleute sowie die Eltern aufgrund eines medizinisch definierten Befundes damit auch um die konkrete Entwicklung des
Kindes wissen. Diese ist ihrer Natur nach nicht allein an ein definierbares Syndrom gebunden.
Jedoch wird die Entwicklung oft genug nicht nur durch das Syndrom an sich behindert, sondern
ebenso durch dessen Diagnose.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
3. 8
20
Therapien
Der therapeutische Bereich soll in diesem Absatz nur kurz erwähnt werden. In einem späteren
Kapitel wird dieses Thema ausführlicher erörtert. Da jedoch viele therapeutische Maßnahmen im
medizinischen Bereich liegen, soll an dieser Stelle ein erster Überblick gegeben werden. Außerdem
muß man davon ausgehen, daß auf dem Gebiet der humangenetischen Forschung im Zuge einer
genaueren Kennzeichnung und Untersuchung der menschlichen Gene auch nach neuen möglichen
Therapien gesucht wird.
Es gibt für das Cri-du-Chat-Syndrom keine spezifische Therapie. Vielmehr jedoch können einzelne
Symptome therapeutisch behandelt werden. Darüber hinaus sind verschiedene, die Entwicklung
unterstützende Fördermaßnahmen präventiven Charakters bekannt. Man unterteilt den Bereich
der Therapien in Standard-Therapien und in sogenannte "investigational therapies".
Standard-Therapien: Die Behandlung des Cri-du-Chat-Syndroms ist symptomatisch und unterstützend. Physikalische Therapie und ähnliche Angebote können für diese Kinder nützlich sein.
Die Chirurgie kann z.B. einen Augenfehler wie Strabismus korrigieren oder einige kosmetische
Verbesserungen ermöglichen. Bei Skoliose und Deformationen der Füße sollte auf jeden Fall ein/e
Orthopäd/e/in konsultiert werden. Durch eine Reihe von chirurgischen Eingriffen können gegebenenfalls Lippen- und Gaumenspalte korregiert werden. In fast allen Fällen ist eine
Sprachtherapie ratsam bzw. sogar notwendig. Ebenso ist eine frühe präventive dentale Behandlung
von großer Bedeutung. Inzwischen weiß man um die Verschiedenheit der
Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom. Das Entwicklungspotential
hängt dabei von unterschiedlichsten Faktoren ab, auf die hier nicht weiter eingegangen werden
soll.
"Investigational therapies": Wissenschaftliche Techniken in der Determinierung chromosomaler
Abnormitäten werden immer mehr verfeinert. Dies bedeutet, daß auch diagnostische Techniken
verbessert wurden und noch werden. Dadurch können vielleicht genauere Aussagen zum Ausmaß
der Schädigung und zum jeweiligen Entwicklungspotential möglich werden, wobei an diesem
Punkt die Forschung noch relativ weit am Anfang steht. Je konkreter Aussagen über die Art und
das Ausmaß primärer Schwierigkeiten machbar sind, desto detailierter kann ein frühes
Förderprogramm entwickelt werden.
Ein anderer Bereich umfaßt die aus verschiedenen Forschungen und Studien über das Cri-du-ChatSyndrom resultierenden Ergebnisse, die auf einer statistischen Grundlage und praktischen
Erfahrungen basieren. So haben z.B. einzelne Fallberichte gezeigt, daß eine frühe spezielle
Förderung, eine häusliche Umgebung (eher als eine institutionelle) und familiäre Unterstützung
den Kindern helfen kann, die Fähigkeiten zu erreichen, die etwa einem nichtbehinderten fünf- bis
sechsjährigen Kind entsprechen.
Auf einzelne Therapieformen und deren Konsequenzen soll in dieser Arbeit noch in einem anderen
Zusammenhang näher eingegangen werden.
3. 9
Zusammenfassung
Seitdem die genaue Chromosomenzahl beim Menschen bekannt ist, hat die
Chromosomenforschung, und damit verbunden die Zytogenetik, eine enorme Entwicklung vollzogen. In diesem Kapitel wurden die wichtigsten Formen chromosomaler Abnormitäten erläutert,
insbesondere jene, die beim Cri-du-Chat-Syndrom auftreten können. Es handelt sich hierbei um ein
Deletionssyndrom, welches den kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 betrifft.
Zytogenetische Forschungen haben es zudem ermöglicht, die für das Cri-du-Chat-Syndrom kritischen Regionen 5p15.2 und 5p15.3 zu lokalisieren. Darüberhinaus reichen die neuesten
Untersuchungen soweit, eine ungefähre Lokalisation von Bruchstellen mit den damit verbundenen
Phänotypen vorzunehmen.
Einerseits können wir mit dem Cri-du-Chat-Syndrom bestimmte klinische Merkmale verbinden,
wie den katzenähnlichen Schrei, Mikrozephalie, geringes Wachstum, geistige Retardierung und
Sprachverzögerung, andererseits ist eindeutig eine stark variierende klinische Heterogenität zu erkennen. Ebenso wenig läßt sich eine Korrelation zwischen Ausmaß der Deletion und der Schwere
der Entwicklungsstörung feststellen. Das bedeutet, daß weder mit einem del(5)-Karyotyp notwendigerweise die Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" verbunden ist, noch von einer konkreten
Das Cri-du-Chat-Syndrom
21
Deletion ein konkreter Phänotyp abgeleitet werden kann. Damit bleiben trotz genauer medizinischer Beschreibung Aussagen über das konkrete Entwicklungspotential dieser Kinder offen.
Daraus läßt sich schlußfolgern, daß einerseits die medizinische Definition eines Syndroms hilfreich
sein kann für ein besseres Verständnis seines Erscheinungsbildes, jedoch nicht gleichzeitig die damit verbundene Entwicklung definiert. Andererseits fällt bzgl. des Cri-du-Chat-Syndroms ein
ebenso großes Gewicht auf die psycho-sozialen und pädagogischen Aspekte .
Das Cri-du-Chat-Syndrom
4
22
PSYCHO-SOZIALE AUSWIRKUNGEN
Die meisten Berichte über das Cri-du-Chat-Syndrom stammen von medizinischen ForscherInnen.
Deshalb liegen verständlicherweise die Schwerpunkte hauptsächlich auf Gebieten wie physikalische Charakteristika und Befunden aus zytogenetischen und dermatologischen Studien.
Unglücklicherweise werden Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der psycho-sozialen
Auswirkungen selten im Detail dokumentiert.
Aufgrund dessen soll im folgenden Kapitel zum einen auf die spezifische Situation der Kinder mit
Cri-du-Chat-Syndrom selbst eingegangen werden, zum anderen werden Belastungsfaktoren aus
der Situation der Eltern beschrieben. Eine Absicht liegt darin, das Wissen um die generellen
Verhaltenscharakteristika durch die Präsentation detaillierter Informationen über physische, soziale und kognitive Fähigkeiten sowie Verhaltensmuster zu erweitern. Weiterhin sollen die unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten unter der Bedingung des Cri-du-Chat-Syndroms erläutert
werden.
Zu Beginn dieser Arbeit wurde dem/der Leser/in die Geschichte von Dennis, einem 11jährigen
Jungen mit Cri-du-Chat-Syndrom, geschildert. Anhand dieser eigenen Erfahrungen und
Beobachtungen sowie mittels zweier anderer Fallstudien soll das unterschiedliche
Entwicklungspotential dieser Kinder dokumentiert werden. In den einzelnen Abschnitten dieses
Kapitels werde ich immer wieder auf diese zurückgreifen, um die verschiedenen Aspekte
dem/der Leser/in deutlich zu machen.
Eine weitere umfangreiche Informationsgrundlage stellt die derzeitige internationale
Untersuchung zum Cri-du-Chat-Syndrom von Frau Dr. Carlin dar. Da diese Untersuchung zur
Zeit noch nicht abgeschlossen ist, stehen konkrete Daten bisher nur aus dem Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung, an deren Auswertung ich gegenwärtig mitarbeite.
Zum Vergleich wird der/die Leser/in im Anhang dieser Arbeit eine Gegenüberstellung dieser
Resultate mit einer Vorauswertung aus den USA (Carlin, 1995) finden. Dieser Fragebogen wurde
an Eltern von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom verschickt. In der Bundesrepublik Deutschland
liegen uns derzeit insgesamt 38 beantwortete Bögen zur Auswertung vor, in denen Daten von
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Cri-du-Chat-Syndrom unterschiedlichen Alters enthalten sind. Von den 38 betroffenen Personen sind 18 im Alter zwischen 1,0 und 6,0 Jahren, 14 zwischen 6,1 und 12,0 Jahren und fünf im Alter zwischen 16,0 und 30,0 Jahren, davon 14 männlichen
Geschlechts und 24 weiblichen Geschlechts (vgl. Anhang A1; Abb. I-III). Die daraus resultierenden
Ergebnisse werden in den einzelnen entsprechenden Absätzen dieser Arbeit erörtert (vgl. Anhang
A1 und A3).
Die Untersuchung basiert auf einem Fragebogen mit 14 Fragenkomplexen, die folgende Punkte
umfassen: (I) Hintergrund, (II) Schwangerschaftshistorie, (III) Geburtsverlauf, (IV) Medizinische
Befunde, (V) Entwicklungsmeilensteine, (VI) Sprachmeilensteine, (VII) Fördermaßnahmen, (VIII)
Berufs(ausbildungs)möglichkeiten, (IX) Neurologische Probleme, (X) Verhaltensauffälligkeiten,
(XI) Medikationen, (XII) Altern, Langlebigkeit, (XIII) Leben im Erwachsenenalter, (XIV)
Verschiedenes.
Ein Ziel dieser Untersuchung ist es, zuverlässige Daten von einer großen Gruppe Betroffener zu
erhalten, um die große Verschiedenartigkeit des Syndroms und seiner Auswirkungen aufzuzeigen,
so daß sich Entscheidungen auf Wissen und nicht auf Spekulationen stützen können.
Erste Ergebnisse der Studie und Einzeluntersuchungen anderer AutorInnen sowie eigene
Beobachtungen zeigen die Notwendigkeit, daß sich ÄrztInnen, beruflich Betroffene und Eltern des
Entwicklungspotentials von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom bewußt sind, so daß informierte
Entscheidungen über ihre Betreuung und Förderung getroffen werden können.
4. 1
Zur Situation von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom
Kinder, die mit dem Cri-du-Chat-Syndrom zur Welt kommen, erleben von Anfang an eine Welt,
die ihnen in erster Linie aufgrund ihrer genetischen Andersartigkeit Schwierigkeiten bereitet.
Bereits in den ersten Lebensmonaten haben viele dieser Kinder, wie schon im vorangegangenen
Kapitel beschrieben, mit Problemen der Atmung und des Herzens zu kämpfen. Außerdem wird ihnen, oft unbewußt, mit der Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" eine zusätzliche Bürde auferlegt, die
aufgrund der Tatsache, daß es sich bei dem Basisdefekt um einen genetischen Fehler handelt,
scheinbar nur eine "genetisch festgelegte Fehl"-Entwicklung zuläßt.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
23
Es ist offensichtlich, daß bestimmte typische Merkmale dieser Kinder mit ihrem genetischen Defekt
korrelieren. Jedoch kommt es trotzdem zu sehr unterschiedlichen Ausprägungen und zu recht unterschiedlich zu beurteilenden Prognosen der verschiedenen Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom.
Dies hängt zum einen von der Art des Zustandekommens dieser Chromosomenanomalie ab, zum
anderen ist eine eindeutige Abhängigkeit von dem Beginn einer Frühförderung erkennbar.
Ein weiterer Punkt, der eine optimale Entwicklung dieser Kinder erschweren kann, liegt darin, daß
dieses Syndrom derart selten ist, daß viele Fachleute nur vage über Formen und
Entwicklungsmöglichkeiten informiert sind. Das wiederum führt oft zu einem falschen Verständis
ihres Erscheinungsbildes. Hinzu kommt, daß es Kindern mit diesem Syndrom einerseits aufgrund
ihrer massiven Wahrnehmungsstörungen schwerfällt, ihre Umwelt adäquat zu verarbeiten und zu
verstehen. Andererseits sind sie durch die starke Diskrepanz zwischen ihrer aktiven und passiven
Sprachfähigkeit auf vielen Gebieten stark behindert. So ist es vorstellbar, daß Frustrationen, die
hieraus resultieren, zum Teil für die verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich sind.
Wir sehen also, daß Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom nicht nur von dieser Behinderungsform allein bestimmt werden, sondern daß vielfältigste Faktoren hinzukommen. Um so wichtiger ist es,
Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren in der Entwicklung dieser Kinder zu erkennen und
zu verstehen. In den folgenden Abschnitten soll dies eines der Wesensmerkmale der Arbeit sein.
4. 2
Weitere Fallstudien
Zunächst möchte ich der zu Beginn dieser Arbeit beschriebenen Geschichte von Dennis zwei weitere Fallstudien hinzufügen, um zum einen die unterschiedliche Entwicklung dieser Kinder zu dokumentieren, zum anderen dem/der Leser/in einen ersten Einblick in die Situation der Kinder zu
ermöglichen.
Im ersten Fall berichtet eine Mutter über ihre 7_jährige Tochter, der zweite Fall entstammt einer
Fallstudie von Stykes & Christie (1994). Zur besseren Übersicht werden beide
Entwicklungsgeschichten zusätzlich in Tabellenform angegeben.
4. 2. 1
Fallstudie über ein 7 1/2 jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom
Bericht einer Mutter:
Krankengeschichte:
"K. wurde am 15.08.1988 als zweites Kind einer 24jährigen Mutter und eines 28jährigen
Vaters geboren. Die Schwangerschaft verlief normal. K. kam in der 36.
Schwangerschaftswoche zur Welt. Das Neugeborene wog bei der Geburt 2560g und war
48cm lang, sie wurde als unausgereift mit einem hohen, cerebralen Schrei beschrieben. Die
sofort eingeleiteten Chromosomenuntersuchungen bestätigten, daß das Neugeborene am
Cri-du-Chat-Syndrom litt.
Sie war häufig von Infektionen der oberen Atemwege und von
Mundschleimhautentzündungen betroffen. Der Zahndurchbruch begann mit vier Monaten
und verlief ganz normal. Verdauungsstörungen sind vom 3. Lebensmonat bis zum 2.
Lebensjahr aufgetreten. Das Kopfschlagen, welches mit einem Jahr begann, hat sich auf
Phasen im Bett (teilweise mehrere Stunden nachts) beschränkt.
K. ist sehr empfindlich gegen laute Maschinengeräusche, z.B. Mixer, Bohrmaschinen usw..
Außerdem mag sie sehr hohe Pfeiftöne nicht.
Bei der Geburt wurde ein Sichelfuß festgestellt, der im Alter von acht Wochen eingegipst
wurde; danach mußte sie eine Schiene tragen, und bis zur heutigen Zeit trägt sie
Antivariusschuhe. Vor kurzem wurde eine beginnende Skoliose (seitliche Verbiegung der
Wirbelsäule) festgestellt.
Äußerliche Merkmale:
Sehr weiter Augenabstand mit der breiten, tiefsitzenden Nasenansatzstelle, eine auffällige
Augenfalte (Epicanthus) und eine auffällige Muskelschlaffheit. Kleine tiefsitzende Ohren,
kleiner Kopf, der Umfang betrug bei der Geburt 31cm, mit sechs Monaten 39cm und mit 12
Monaten 40cm. Ihre Körperlänge, in den selben Altersabschnitten, betrug 48cm, 67cm, und
Das Cri-du-Chat-Syndrom
24
77cm. Das runde Gesicht wird im Alter von drei Jahren sehr schmal, dabei wird der Gaumen
hochgewölbt und sehr eng. Dadurch stehen die Schneidezähne vor.
Entwicklungsgeschichte:
Die Entwicklung in allen Bereichen ist generell langsam und etwas unregelmäßig gewesen.
Es kam auch vor, daß sie Rückschritte machte. Besonders in der Sprachentwicklung ist ein
sehr langer Stillstand eingetreten.
K.´s frühe physische und sensorische Entwicklung wurde ständig gefördert durch variantenreiches Spiel und physische Aktivitäten. Sie bekam reichlich Gelegenheit, neue Geschmäcker,
Geräusche und Materialien zu erforschen und mit stimulierenden Spielzeugen zu spielen.
Eine Frühförderung durch die Lebenshilfe wurde im Alter von sechs Monaten begonnen.
Während dies alles relativ früh begann, konnte ich bis heute in der Sprachentwicklung keine
Unterstützung finden. Mir wurde empfohlen, mit Gebärdensprache zu
beginnen."(Meierdierks, 1996, S. 1-2)
4. 2. 2
Fallstudie über ein 14jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom
Bericht von Stykes & Christie:
Krankengeschichte:
"M. wurde geboren als erstes Kind einer 18jährigen Mutter und eines 20jährigen Vaters am
17.11.1971. Die Schwangerschaft, erschwert durch Präeklampsie und Harnwegsinfektionen
wurde durch einen Kaiserschnitt des unteren Segmentes beendet. Das weibliche
Neugeborene wog bei der Geburt 4210g, war 53,5cm lang und wurde als unausgereift und
zittrig beschrieben, mit einem hohen, cerebralen Schrei. Chromosomenuntersuchungen bestätigten, daß das Neugeborene am Cri-du-Chat-Syndrom litt.
Während der Kindheit litt das Kind unter Erkältungen, bronchitischen Schüben und erkrankte im Alter von 12 Monaten an einer schweren Grippe. Sie war häufig betroffen von
Infektionen der oberen Atemwege und Allergien. Der Zahndurchbruch begann mit 13
Monaten und während viele Milchzähne sich nicht voll entwickelten, ist nur ein bleibender
Backenzahn überhaupt nicht hervorgekommen. Verdauungsstörungen sind vom 9.
Lebensmonat bis zur Gegenwart, besonders in Aufregungssituationen, aufgetreten.
Selbstverstümmelung in Form des Hautaufkratzens hat fortgedauert von der Kleinkindzeit
bis zur Gegenwart, während das Kopfschlagen bei Erreichen des zweiten Lebensjahres aufhörte. M. war sehr empfindlich gegen hochfrequente Geräusche und eine audiometrische
Untersuchung im 4. Lebensjahr zeigte einen Verlust der Hörfähigkeit für niedrige
Frequenzen von ungefähr 10% pro Jahr. Eine markante Augenachsenfehlstellung wurde
durch Patchen im Alter von fünf Jahren behandelt, mit deutlicher Verbesserung im
Aussehen. Mit sechs Jahren wurde bei ihr eine Kurzsichtigkeit festgestellt. Ihre Sicht ist stets
schlecht geblieben, mit fehlerhaftem räumlichen Sehen.
Äußerliche Merkmale:
Bei der Geburt traten schwach ausgebildete Moro-, Greif- und Schluckreflexe zutage. M´s
physische Charakteristika beinhalten eine Mikrozephalie, Rundgesichtigkeit im Babyalter
und Schmalgesichtigkeit im Jugendalter. Ihr Kopfumfang betrug 36cm bei der Geburt,
40,5cm im Alter von 6 Monaten und 43,8cm mit 12 Monaten. Ihre Körperlänge, in denselben
Altersabschnitten, betrug respektive 53,5cm, 67,4cm und 77,5cm.
Der Nasenrücken war breit und flach im Kleinkindalter, während er im
Heranwachsendenalter hoch und vorstehend ist. Sie hat Epicanthus, Strabismus, eine einfache Ohrform, einen engen, hochgewölbten Gaumen, vorstehende Schneidezähne, überlange
Hand- und Fußgelenke und baumelnde Arme beim Gehen und Laufen. Ihre Stimme klingt
hoch und atemlos und sie hat Schwierigkeiten, beim Essen und Sprechen ihren Atem zu
kontrollieren.
Der Beginn von Pubertät und Menstruation lag zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr und ihr
Haar begann mit 13 Jahren vorzeitig zu ergrauen. Im Alter von 14,5 Jahren betrug ihr
Kopfumfang 51cm und sie war 167cm groß.
Tab. 1:
Mmh, aah
Kaut schlecht, schlingt Essen
hinunter, ständig in Bewegung, schläft
schlecht, lange Wachphasen
Mama, Papa, dau-da;
Spielt mit Ball oder wirft ihn zu einer
Person
schnalzen mit der Zunge;
Sprachverständnis gut, gibt
den Ball, An- und
Ausziehen usw.
Kann Treppe allein steigen
(sie hält sich fest)
Findet Verstecktes wieder und
erinnert sich auch nach einiger
Zeit daran; steckt nach wie
vor alles in den Mund
Ist neugierig, untersucht alles
mit dem Mund
Steckt alles in den Mund
Wahrnehmung
Ißt Brot selbständig und trinkt aus
Schnabeltasse; kann Löffel halten und
ihn zum Mund führen, bekommt aber
kein Essen auf den Löffel; zieht
Pullover, Hemd, Strümpfe usw. alleine
aus, hilft beim Anziehen
Untersucht nach wie vor mit
dem Mund; guckt viel ab, ahmt
nach; hilft gern im Haushalt
(Abtrocknen, Abwaschen,
Fegen, Tisch abräumen, am
Kochen, Backen, Kneten und
Basteln hat sie viel Spaß);
kann alleine spielen (im
begrenzten Raum); ist sehr
neugierig, paßt genau auf;
kann sich nach längerer Zeit
an Dinge oder bestimmte
Abläufe erinnern
Sieht Bilderbücher, Fotos usw.
an und erkennt die Personen
oder Gegenstände wieder;
zeigt auf gefragte Sachen; kann
Duplosteine aufeinander set
zen (2-3)
Ordnet Geräusche zu, z.B.
klingelt es, geht sie zur Tür;
wenn es dunkel wird, macht
sie Licht an; erinnert sich an
gewohnte Abläufe
Sie kennt alle ihre Körperteile
und zeigt diese auf Anfrage; ist
neugierig und an allem
interessiert; spielt mit dem
Ball, versteckt Sachen, sieht
Bilderbücher an
Spielt allein, erkennt
Ißt brot, Äpfel selbständig; kaut we
nig, verschluckt sich oft; hilft beim Aus- Singspiele wieder und macht
die Gesten dazu
und Anziehen, kann Nase putzen
Ißt gereichte Brothappen allein und
beißt vom Brot ab
Läuft fast selbständig, aber Hama-hama (Essen)
Zieht immer noch in den Haaren; kannMit Toilettentraining begonnen, will
noch keine langen Strecken; Ba (Baden oder Ball); zeigt, durch Mimik zeigen, ob sie lustig oder aber nicht auf Toilette sitzen
traurig
ist
kann an einer Hand Treppen was sie möchte
steigen
Läuft häufiger einige Schritte
frei; verfällt aber immer zum
Krabbeln; kann Leiter von
Rutsche allein hochklettern,
rutscht selbständig hinunter
Ma-ma, du-du, da-da;
Krabbelt sicher, auch über
Ahmt nach; mag Kinder, beißt, kneift
Hindernisse; spielt im Knie- versteht sehr viel mehr;
oder zieht an den Haaren; etwas
stand; zieht sich an Möbeln kommt Aufforderungen nachbesser beim Schlafen - phasenweise
hoch; geht seitlich einige
Schritte am Tisch abgestützt
Klettert auf Möbel; läuft
Sprachverständnis wird
Nimmt Kontakt zu Kindern auf durch
immer besser
einige Meter allein
Haare ziehen usw.; nimmt Spielzeug
von anderen Kindern weg
Robbt; kann sich selbst
hinsetzen
Selbsthilfe
Lacht; erkennt bekannte Personen;
Wird mit Löffel gefüttert; trinkt aus
Hände und Füße ständig in Bewegung;gehaltener Schnabeltasse
schläft schlecht
Sozial/Emotional
Wendet ihre paar Wörter
Schlichtet, hält lieb, wenn man mit ihr Ißt selbständig alles alleine, schmiert
gezielt an; versucht durch
dabei; zeigt zeitweise an, wenn sie zur
geschimpft hat; wird rot, wenn sie
Gesten, Gebärden und
etwas Verbotenes getan hat
Toilette muß; hilft beim Zähneputzen,
Körpersprache, sich mitzuKämmen usw.; zieht sich aus, bis auf
tei-len; sehr gutes
Knöpfe, Schnallen usw.
Sprachverständ-nis; bejaht
oder verneint durch
Kopfnicken oder -schütteln
7 1/2 Jahre Läuft mit breitem Gang, die Sagt Mama und Papa
Ist gern unter Kindern; zieht immer
Trinkt aus Glas, Tasse; zieht Pullover,
Hände hält sie dabei nach
deutlich; hat für ihre
noch an den Haaren (hauptsächlich
Hemd allein an; kann Reißverschluß
oben; fährt Fahrrad mit
Schwester einen bestimmten kleineren Kindern oder die Angst vor hoch- oder herunterziehen
Stützrädern, wobei man sie Laut; es kommen u.a. Wörter ihr haben); hat ihren eigenen Willen,
wir Hallo, mehr, Anna usw. setzt ihn auch durch; schläft besser,
beim Lenken unterstüt-zen
muß; kann Rolle vor- und
vor, sind aber noch nicht so aber immer noch Wachphasen;
rückwärts gekonnt und
deutlich und oft noch Zufall; Toilettentraining wird fortgesetzt, oft
setzt Gebärden ein für
sauber ausführen; dribbelt
mit Erfolg; sie ist sehr schmusig und
liebebedürf -tig; sie ist ein frohes und
Essen, Trinken, Warte,
Ball, wirft und rollt ihn
gezielt
Fahrrad fahren, Turnen,
heiteres Kind und weint selten; zeigt
Arbeit, Geld; versteht fast
an, wie und was gespielt werden soll;
al -les; kommt
kommt ohne Probleme mit neuen
Aufforderungen nach
Situationen (Einschulung) klar
6 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
3 Jahre
2 Jahre
14 Mon.
Dreht sich von Rückenlage in Schnalzt mit der Zunge
Bauchlage
8 Mon.
Sprache
Motorik
Alter
Das Cri-du-Chat-Syndrom
25
K´s Entwicklung zu bestimmten Lebensaltern (Meierdierks, 1996, S.3-4)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
26
Entwicklungsgeschichte:
Eine Zusammenfassung von M´s Entwicklung zu bestimmten Lebensaltern findet sich in der
anschließenden Tabelle. Die Entwicklung in allen Bereichen ist generell langsam und etwas
unregelmäßig gewesen, wie die Ergebnisse formeller Tests, Beobachtungen und
Kommentare zeigen."(Stykes & Christie, 1994, S. 2)
Die Ausführungen zur Entwicklung bleiben in diesem Fall auf die Tabelle beschränkt. Für
eine ausführlichere Beschreibung sei der Leser auf den Anhang A2 verwiesen.
Sowohl die eigenen Beobachtungen als auch diese beiden Fallberichte zeigen eine Reihe von übereinstimmenden Merkmalen und Entwicklungsmustern. Andererseits wird deutlich, daß trotz gleicher Behinderungsform das jeweilige Ausmaß und die individuelle Entwicklung sehr unterschiedlich sein können. Jedoch wird bereits anhand dieser Beispiele sichtbar, daß es sich in jedem Fall um
eine gravierende Entwicklungsverzögerung handelt, die verschiedene Bereiche umfaßt. Inwieweit
die einzelnen Bereiche betroffen sind, ist individuell unterschiedlich. Daher fällt es schwer, eindeutige Entwicklungsmerkmale bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom zu manifestieren. Trotzdem
möchte ich versuchen, bestimmte Merkmale und Muster zu beschreiben.
4. 3
Allgemeine Entwicklungsverzögerung
Da das Cri-du-Chat-Syndrom so selten ist, haben viele Personen, die für diese Kinder sorgen und
sie unterrichten, nur begrenztes Wissen über die Chromosomenstörung, seine vielfältigen
Ausprägungen und die Entwicklungsschritte, die erreicht werden können. Deshalb ist es für alle,
die für die medizinische Versorgung und die Erziehung dieser Kinder verantwortlich sind, notwendig, genaue Angaben über den Fortschritt und die medizinische Vorgeschichte der einzelnen
Kinder zu erhalten.
In den folgenden Abschnitten sollen die verschiedenen Entwicklungsmuster und die einzelnen
Meilensteine der Entwicklung dieser Kinder anhand unserer Untersuchung (Carlin, 1995/96) erläutert werden. Gleichzeitig werde ich diese Ergebnisse durch meine eigenen Beobachtungen an
Dennis ergänzen.
4. 3. 1
Psychomotorische und kognitive Entwicklungsverzögerung
Für die meisten durch Chromosomenanomalien verursachten Störungen ist die verzögerte
Entwicklung des Kindes charakteristisch. Folglich ist eine kognitive Entwicklungshemmung fast
unvermeidlich. Der Grad der Entwicklungshemmung ist jedoch variabel und kann während der
Kindheit nicht genau vorausgesagt werden.
Eine erste umfangreiche Untersuchung der Entwicklung von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom
führten 1980/83 Wilkens et al. durch. Diese basierte in erster Linie auf standardisierten Tests sowie
auf Befragungen der Eltern, wobei individuelle Entwicklungswege weniger berücksichtigt wurden
(Wilkens et al., 1980/83).
In ihrer Studie von 80 zu Hause aufgewachsenen Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom lag der
Development (Entwicklungs-) Quotient (nach "Vineland Maturity Scale") zwischen 6% und 88%
der Norm (Durchschnitt = 43%), und der Intelligenzquotient (nach "Slosson IQ-Test") lag zwischen
7% und 98% der Norm (Durchschnitt = 35%). In der Gruppe von durchschnittlich 6,5 Jahre alten
Kindern entsprach das Entwicklungs- und Intelligenzalter dem Lebensalter von 2,6 und 2,5 Jahren
bei normal entwickelten Kindern (Wilkens et al., 1983).
Beispiele der verschiedenen Fertigkeiten, die von den Kindern der Studie von Wilkens et al. (1980)
erreicht wurden (Tab. 3), zeigen den weiten Spielraum der Fähigkeiten von Kindern und
Jugendlichen mit Cri-du-Chat-Syndrom.
Tab. 2:
14 Jahre
12-13
Jahre
9-11
Jahre
Sprache
Erstes Wort da-da
Gurgelt
Erkennt Familienmitglieder; fremdelt
Sozial/Emotional
Lächelt & lacht
Springt ohne Hilfe auf
Trampolin
Kommt nicht mit Klumpen im Essen
zurecht; Schluckstörungen
Füttern sehr schwierig, trinkt aus
gehaltener Tasse
Selbsthilfe
Prä-akademisch
Worte unklar, aber
gleichlautend; macht sich
verständlich durch Zeigen
Ausdrucksvolle Sprache auf 33,5-Jahr-Niveau; spricht ständig;
liebt Konversation;
Artikulation verbessert; aber
immer noch schlecht
Einige 4-5 Wortsätze; keine
Artikel; verwirrt durch
Pronomen und
Positionsbezeichnungen
Artikulation klarer; mehr 3-4
Wortsätze
Viele 2-3 Wortsätze mit 3-4
Wortäußerungen
Vokabular ca. 170-200 Worte;
meist Einzelworte, aber
manchmal Paare
Ißt selbständig; Sauberkeit macht
Fortschritte; wenig Darmkontrolle
Ißt gut; kaut immer noch nicht gut;
nicht sauber, aber nachts trocken;
hilft beim Anziehen
Kann Gabel und Löffel benutzen,
nicht sauber
Kritzelt; schnipselt mit
Schere
Benutzt große Tafeln
Fädelt große Perlen auf;
kritzelt; malt Kleckse
Generell gut mit Eßgerät, kann aber
kein Fleisch schneiden; ißt schnell,
ohne zu kauen; ißt ungewöhnliche
Dinge; zieht sich gut an, hat aber
Probleme mit Schuhen und
Schnürsenkeln; wäscht und badet
sich; sauber, aber "Unfälle"; kann
einfache Hausarbeit ausführen; hilft
beim Einkaufen
Stimmungsschwankungen; Ängste höchst
ausgeprägt
Verhalten verbessert unter Medikation;
spielt gerne mit Spielzeugtieren (hält sie
für lebendig); spielt noch rauh mit
Kindern; liebt Gesellschaft; grüßt höflich
und reagiert auf Abschied; hat kein
Verständnis für Raum und Privatsphäre
anderer; sehr schüchtern und schnell
beleidigt; starke
Kennt Alter und Schule,
Farben im Groben; liebt
Zeichnungen; mag
einfache Geschichten;
kann ein paar Buchstaben
benennen, kann ein paar
vertraute Worte erkennen; zählt bis 7
Schneidet schlecht mit
Schere, mo- delliert mit
Knetmasse; malt Kreise;
fädelt kleine Perlen auf
Verfolgt Linien; malt
Beginnt zu teilen; spielt immer noch nichtVerschluckt sich immer noch an
bewußt Li- nien; zählt
ko-operativ mit Kindern; sucht
einigen
Nahrungsmitteln;
kann
nicht
richtig kauen
allein
bis 5; zählt mit bis
erwachsene Anerkennung für gutes
10
Benehmen; fasziniert von kleinen Dingen
Schneidet besser mit
Benutzt Löffel und Gabel gut;
Spielt und mischt besser mit Kindern;
Schere; malt Buchstaben
sehr anspruchsvoll; versucht,
schneidet Nahrung; schüttet
und Zahlen ab; zählt bis
Flüssigkeiten ein; schält und
Aufmerksamkeit zu erregen; Ängste
stärker; häufig Alpträume
schneidet Obst; macht Sand- wiches 6; Klebebasteleien gut
Spielt konstruktiv allein; spielt gern mit
Sand, Wasser, Spielzeugtieren; spielt
nicht
gut mit anderen Kindern - leicht
beleidigt
Angst vor Waschmaschinen und
Staubsaugern (laute Maschinen)
Spielt allein in Gesellschaft anderer
Kinder (Parallelspiel)
Alleinspiel
wird phantasievoll; Angst
vor
Maschinen
Vokabular ca. 20 Wörter Fordernd, zappelig und aufgeregt, sehr Ißt, kommt mit Klumpen zurecht und Sieht in Bücher; kritzelt
versteht mehr; viele Gesten und erregbar; Angst vor Menschen und Orten kaut ein wenig; versucht, Löffel zu
einfache Ausdrücke
benutzen, trinkt aus Glas
Geht schneller mit kleinen
Artikulation verbessert sich;
Schritten; rennt unter
wiederholt vorgegebene Worte;
häufigem Fallen; springt mit Schnattert viel; kann einfache
Hilfe auf Trampolin
Anweisungen befolgen
Geht stabiler mit flatternden
Armen; fällt noch oft; steigt
ohne Hilfe Treppen
Geht ein paar Schritte;
plaziert Klötzchen auf
anderes; kann Ball werfen
Aktiv & bewegt sich schnell; Plappert viel; neue Worte bu-bu, Lächelt zurück
kriecht unter
mu-mu, bye-bye; benutzt Gestik
Ellbogenbenutzung,; dreht
sich und sitzt; kann stehen
Sitzt kurz, wenn plaziert;
rollt über Boden
Motorik
7-8 Jahre Generell langsame
Entwicklung von
Grobmotorik und Balance
5-6 Jahre
4 Jahre
3 Jahre
2 Jahre
4 Mon.
10 Mon.
Alter
Das Cri-du-Chat-Syndrom
27
M´s Entwicklung zu bestimmten Lebensaltern (Stykes & Christie, 1994, S.5-6))
Das Cri-du-Chat-Syndrom
28
Entwicklungsschritte von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom in unterschiedlichem Alter:
Fertigkeiten:
[Anzahl der Kinder]
1
Jahr
[8]
1-3
Jahre
[9]
3-5
Jahre
[14]
5-7
Jahre
[12]
Kann bekannte Personen wiedererkennen
6
alle
alle
alle
alle
alle
Zieht sich zum Stehen hoch
-
6
12
alle
18
alle
Trinkt aus einer Tasse mit Hilfe anderer
-
7
12
alle
17
alle
Kann bekannte Gegenstände auf
Wunsch holen
-
1
6
8
16
12
Findet sich zu Hause zurecht mit nur gelegentlicher Beaufsichtigung
*
2
10
8
14
11
Ißt mit der Gabel
*
*
5
4
13
10
Trocknet sich die Hände ab, nachdem
beim Waschen geholfen wurde
*
*
5
2
13
11
Badet sich allein mit Beaufsichtigung
*
*
1
2
11
10
Geht ohne Hilfe zu Bett
*
*
1
2
10
6
Benötigt selten Hilfe beim Ankleiden
*
*
-
-
5
5
Hat eine festgelegte Aufgabe im
Haushalt
*
*
-
-
4
6
Tab.3:
7-10
Jahre
[19]
10
Jahre
[16]
Fertigkeiten von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom aus der Untersuchung von
Wilkens et al., 1980; entnommen
aus Wilkens et al., 1982, S. 21)
* - nicht anwendbar
Auch in der Entwicklung von Dennis ist eine deutliche psychomotorische Retardierung zu erkennen, wobei diese wahrscheinlich durch die auffällige taktil-kinästhetische Wahrnehmungsstörung,
seine Hypotonie und die damit zusammenhängende Hyperreflexität maßgebend mitbestimmt
wird. Nimmt man diese Vielfalt behindernder Konditionen zusammen mit der ebenso starken
Sprachverzögerung, so verwundert es nicht, daß sich eine geistige Behinderung resultierend ergibt.
Das bedeutet, daß die oft als notwendig mit dem Cri-du-Chat-Syndrom beschriebene geistige
Behinderung bzgl. der Entwicklung als sekundäre Erscheinungsform betrachtet werden muß.
Um das Ausmaß und die Art der Entwicklungsverzögerung sowie die individuellen
Entwicklungsschritte bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom vergleichen zu können, wurde in unserer Untersuchung nach dem Alter bei Erreichen bestimmter Entwicklungsschritte gefragt.
Derartige "Meilensteine" der Entwicklung sind Indikatoren für den Fortschritt der Kinder. Indem
man bestimmte markante Stadien als Maßstab einer Entwicklungsbeurteilung zugrunde legt, wird
ein Vergleich der Entwicklung von Kindern untereinander möglich. Dies ist insofern von Vorteil,
da nicht nur ein Entwicklungsdefizit gegenüber anderen Kindern gleichen Alters erkennbar wird,
sondern in erster Linie die individuelle Entwicklung an sich. Diese Vorgehensweise geht jedoch
von einer entsprechenden Sichtweise des/der Betrachter/s/in aus, die jede Entwicklung als einzigartig anerkennt. Aufgrunddessen soll an dieser Stelle auf derartige Entwicklungsmeilensteine
Bezug genommen werden. In folgender Tabelle wird zwischen den einzelnen Kindern unserer
Studie die Entwicklung verglichen, um deutlich zu machen, wie groß die Spanne innerhalb der untersuchten Gruppe ist und inwieweit diese sich insgesamt von der Entwicklung anderer Kinder
unterscheidet. Ebenso lassen die Ergebnisse die Vermutung zu, daß sich entsprechende
Fördermöglichkeiten verbessert haben, bzw. wie wichtig eine frühzeitige Förderung ist.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
Entwicklungs- meilensteine
29
Durchschnitts Minialter
mum
Rollen
Maximum
Anteil
1,0 - 6,0
Jahre
(ges. 18)
Anteil
6,1 - 12,0
Jahre
(ges. 14)
Anteil
16,0 - 31,0
Jahre
(ges. 5)
3 Jahre
18
10
3
4 Jahre
16
14
4
4 Jahre
16
13
4
11 Monate
2 Monate
1 Jahr
10 Monate
9 Monate
1 Jahr
11 Monate
8 Monate
Gehen an der Hand
3 Jahre
5 Monate
1 Jahr
10 Jahre
3 Monate
11
13
4
Freies Gehen
4 Jahre
4 Monate
1 Jahr
12 Jahre
7 Monate
9
10
4
Ißt mit der Hand
2 Jahre
8 Monate
1 Jahr
8 Jahre
11
12
2
Ißt mit Löffel/ Gabel
4 Jahre
6 Monate
2 Jahre
8 Jahre
8
11
3
Trinkt aus der Tasse
2 Jahre
11 Monate
1 Jahr
7 Jahre
12
13
3
Trinkt mit dem Stroh- halm 3 Jahre
11 Monate
2 Jahre
7 Jahre
9
12
1
Toilettentraining (Urin
tagsüber)
5 Jahre
2 Monate
2 Jahre
10 Jahre
6
7
3
Toilettentraining (Stuhl
tagsüber)
5 Jahre
3 Monate
3 Jahre
10 Jahre
4
6
3
Nachts trocken
7 Jahre
2 Monate
5 Jahre
15 Jahre
2
1
2
Zieht sich überwiegend
selbst an
6 Jahre
5 Monate
4 Jahre
10 Jahre
3 Monate
3
1
1
Alleine sitzen
Krabbeln
Tab. 4:
Entwicklungsmeilensteine
(Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1995/96)
(vgl. Anhang A1; Abb. XIII-XVIII)
In der Untersuchung von Wilkens et al. (1980) war das Alter, in dem sich die Kinder umdrehen, alleine sitzen und gehen konnten, durchschnittlich acht Monate, 18 Monate und drei Jahre. Die
großen Unterschiede untereinander und die Entwicklungsverzögerung gegenüber nichtbehinderten Kindern sowie die verlangsamte Entwicklung an sich verdeutlicht die Abbildung 4.
Normale Kinder
Kinder mit 5pUmdrehen
Alleine sitzen
Alleine gehen
Alter der Kinder
1
Abb. 4:
2
3
4
5
6
7
8
Entwicklungsmeilensteine (Wilkens et al., 1982, S. 22)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
30
Aus den Ergebnissen unserer Fragebogenuntersuchung ergibt sich, daß 58% aller Kinder gehen
können. Berücksichtigt man die Altersverteilung, kann man davon ausgehen, daß fast alle laufen
lernen.
Meist geschieht dies stark verspätet (entsprechend einer gesamten Entwicklungsverzögerung), besonders bei Hypotonie und/oder orthopädischen Deformitäten unterhalb des Knies. Ebenfalls verzögert ist das Erlernen des selbständigen Essens und Trinkens, zumal dies häufig durch
Schwierigkeiten beim Schlucken und Kauen erschwert wird (vgl. Anhang A1; Abb. XXX, XXXI,
XXXIII, XXXIVS.). Nach Hochrechnung erlernt etwa ein Drittel aller Kinder vollständige
Toilettenfähigkeiten.
Es handelt sich in beiden Untersuchungen (Wilkens et al., 1983; Carlin, 1995/96) nur um einzelne,
aber markante Entwicklungsstufen. Noch deutlicher wird die Heterogenität der einzelnen Kindern
beim Betrachten weiterer Fähigkeiten, ebenso ihre möglichen Entwicklungspotentiale. In den
Studien finden sich dazu nur in Einzelfällen ausführlichere Angaben. Einige Beispiele möchte ich
an dieser Stelle anführen:
"...mit Duplosteinen bauen, leichte Puzzle, Ringe aufeinandersetzen (3 J.); aus drei
Holzsteinen einen Turm bauen (3.2 J.); Cremedose aufdrehen (3.75 J.)..."
"...C. versteht uns sehr gut und kann vieles auch umsetzen, z.B. macht er das Licht an,
wäscht sich die Hände, macht die Tür auf usw.; schwierig wird es immer nur, weil wir oft
nicht wissen oder verstehen, was C. von uns will. Dann reagiert er aggressiv. Er kann konzentriert spielen (Wasser, Knete, Sand)..."
"...fährt Dreirad (4 J.); erkennt die Grundfarben (4 J.); benennt die Grundfarben (7 J.); erkennt
alle Buchstaben und benennt diese (7 J.); kann rechts und links sicher unterscheiden (7 J.);
kennt ihre Körperteile (5 J.); benennt ihre Körperteile (7 J.); Unterscheidung: oben/unten groß/klein - lang/kurz (7 J.)"(Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1996).
Wir können zusammenfassend feststellen, daß in allen Fällen eine mehr oder minder stark ausgeprägte Entwicklungsverzögerung präsent ist, die sich jedoch in Art und Ausmaß unterscheiden
kann. Aufgrund verschiedenster behindernder Konditionen ist eine kognitive
Entwicklungshemmung fast unvermeidlich. Die psychomotorische Entwicklung bei Kindern mit
Cri-du-Chat-Syndrom ist in den meisten Fällen gekennzeichnet durch Hypotonie und einer damit
zusammenhängenden Hyperreflexität, auffällige Wahrnehmungsstörungen, insbesondere taktilkinästhetische und Gleichgewichtsstörungen und teilweise durch orthopädische Deformitäten.
4. 3. 2
Verzögerung in der Sprachentwicklung
Wie bereits im Kapitel "Medizinische Aspekte" beschrieben wurde, gehört die gravierende
Sprachverzögerung wohl zu den häufigsten Merkmalen des Cri-du-Chat-Syndroms, sei es nun
aufgrund einer Veränderung des Kehlkopfes oder einer Dysfunktion im Zentralen Nervensystem.
Ähnlich der Untersuchung der psychomotorischen Entwicklung wurden auch bei der
Sprachentwicklung bestimmte Entwicklungsschritte zugrunde gelegt.
Unsere Untersuchung zeigt, daß 61% (75%) aller Kinder mindestens ein Wort benutzen. 32% (48%)
sprechen mehrere Wörter und 11% (30%) benutzen einfache Sätze. (Die Zahlen innerhalb der
Klammern entsprechen der Hochrechnung aufgrund der Altersverteilung.) Die meisten, die überhaupt Wörter benutzen, beginnen damit vor dem vollendeten 5. Lebensjahr. In diesem
Zusammenhang sei auch auf die Fallstudien zu Beginn dieses Kapitels hingewiesen. Die folgende
Tabelle zeigt die Ergebnisse unserer Untersuchung bezüglich der Sprachentwicklung dieser
Kinder.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
Sprach-meilensteine
31
Durchschnittsalter
Minimum
3 Jahre
1 Monate 6 Monate
16,00
14
4
7 Monate
Lacht
1 Jahr
5 Monate
4 Jahre
3 Monate 6 Monate
18
14
3
Lernt/Benutzt ein erstes
Zeichen
2 Jahre
3 Monate
6 Jahre
11
7
2
9 Monate
Nutzt mehrere Zeichen
3 Jahre
10 Monate
1 Jahr
10 Jahre
7
5
2
Zeigt auf Körperteile
2 Jahre
9 Monate
1 Jahr
6 Jahre
9 Monate
14
9
3
Zeigt auf Bilder
3 Jahre
7 Monate
1 Jahr
10 Jahre
11
10
3
Befolgt Anweisungen
3 Jahre
7 Monate
1 Jahr
10 Jahre
6 Monate
13
10
3
Zeigt Wünsche (durch
Gesten)
3 Jahre
10 Monate
1 Jahr
10 Jahre
12
11
3
Zeigt Wünsche (durch
Zeichen)
3 Jahre
6 Monate
1 Jahr
8 Jahre
11
9
2
Zeigt Wünsche (durch
Worte)
4 Jahre
3 Monate
2 Jahre
9 Jahre
6 Monate
8
3
1
Erstes Wort
2 Jahre
7 Monate
1 Jahr
6 Jahre
12
8
3
Spricht mehrere Worte
4 Jahre
2 Monate
2 Jahre
9 Jahre
8
3
1
Benutzt (einfache) Sätze
7 Jahre
3 Monate
4 Jahre
15 Jahre
3
-
1
Lächelt
Maximum
Anteil Anteil
Anteil
1-6 J
6,1 - 12 J 16 - 31 J
(ges. 18) (ges. 14) (ges. 5)
Benutzt Heft oder Tafel zur 6 Jahre
Kommunikation
3 Monate
4 Jahre
9 Jahre
6 Monate
1
3
-
Benutzt den Computer
9 Jahre
9 Jahre
9 Jahre
-
1
-
Videospiele
-
-
-
-
-
-
Verfahren zur erleichterten 6 Jahre
Kommunikation
4 Monate
(Piktogramme, Zeichen der
Gebärdensprache)
4 Jahre
9 Jahre
-
4
-
Singt Lieder
5 Jahre
9 Monate
4 Jahre
9 Jahre
2
1
1
Rezitiert Worte aus der
Erinnerung
5 Jahre
4 Monate
3 Jahre
7 Jahre
3
2
1
Schreibt Buchstaben
-
-
-
-
-
-
Malt (Zeichnet)
4 Jahre
7 Monate
3 Jahre
6 Jahre
5
1
1
Tab. 5:
Meilensteine der Sprachentwicklung
(Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1995/96)
(vgl. Anhang A1; Abb. XIX-XXVI)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
32
In allen untersuchten Fällen wurde eine nicht vorhandene bzw. stark verzögerte
Sprachentwicklung beschrieben. Untersuchungen der frühen Phonation (Stimm- und Lautbildung)
und der phonetischen Entwicklung von Sohner & Mitchell (1991) zeigen, daß die hohe Stimme, die
häufig bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom dokumentiert wird, auch für die Vokalisation
(Formung der Vokale) dieser Kinder charakteristisch ist. Eine Analyse der Intonations-(Tonansatz)muster ergab ein Überwiegen der fallenden Intona-tionskonturen und eine begrenzte Variation
der fundamentalen Frequenz. Die Ergebnisse suggerieren, daß signifikante kognitive und/oder
motorische Verzögerungen auf die Integrität der frühen Stimmentwicklung einen Einfluß haben
können. Im Zusammenhang mit dem generellen Muster der phonetischen Funktionsstörung beim
Cri-du-Chat-Syndrom gibt es eine Reihe von Berichten über erhebliche Verschiebungen im Erwerb
gesprochener Wörter.
So scheinen, wie bei einigen anderen Behinderungsformen, auch beim Cri-du-Chat-Syndrom klinische Veränderungen den Erwerb der Sprache zu erschweren. Somit werden alternative
Kommunikationsmöglichkeiten erforderlich. An dieser Stelle möchte ich nochmals auf die
Sprachentwicklung von Dennis eingehen.
Dennis besitzt einen relativ begrenzten aktiven Wortschatz, der sich vor allem auf Einzelwörter beschränkt. Nur wenige dieser Wörter kann er für jeden verständlich ausdrücken, wobei er bei
Korrekturversuchen von außen oft reges Interesse zeigt. Die meisten Wörter hat er in seiner eigenen Sprache "abgewan- delt". Ein Teil seiner aktiven Sprache wird von ihm nahestehenden
Personen auch verstanden. Doch oft genug kann Dennis sich nicht verständlich machen, dann unterstützt er seine verbalen Äußerungen entweder durch Gesten oder führt sein Gegenüber dorthin,
wo der Ursprung seines Bedürfnisses zu finden ist.
Ebensooft scheitert er aber auch am Unverständnis anderer, so daß es aufgrund der bestehenden
Diskrepanz zwischen seiner aktiven Sprache und seinem passiven Sprachverständnis häufig zu
Frustrationen kommt, auf die er nicht selten mit Aggression reagiert.
Dennis hat ein großes Mitteilungsbedürfnis, vor allem wenn er vorher Erlebtes erzählen oder in
Spannungssituationen seine Gefühle äußern möchte. Er hat ein ausgeprägtes Gefühl für
Stimmungen. Dennis zeigt ein sehr großes Interesse an der Kommunikation mit anderen, erkennbar an seinen häufigen verbalen Äußerungen. Doch oft scheitert er an seinem momentanen
Unvermögen, spezielle Laute zu erzeugen. Er ist jedoch bereits für eine spezielle Sprachtherapie
angemeldet.
Trotz der Defizite in der aktiven Sprache scheinen viele der Betroffenen eine adäquat funktionale
Sprache für ihre Bedürfnisse zu haben. Jantzen (1986) weist im Zusammenhang zum DownSyndrom diesbezüglich auf das erforderliche Ausweichen auf alternative Zeichenkörpersprache im
Sinne einer totalen Kommunikation hin.
Viele Befragte in unserer Untersuchung schildern den Einsatz der Gebärdensprache, um für ihr
Kind Möglichkeiten der Kommunikation zu schaffen. In den meisten Fällen zeigt sich, daß diese
Kinder, unabhängig davon, ob sie sprechen können oder nicht, in mehr oder minder großem Maß
Gebärden, Mimik, Gesten und andere Zeichen einsetzen, oft durch eigenständige Imitation. So berichten 53% (62%) die Benutzung von Zeichen. (Die Zahl innerhalb der Klammern entspricht der
Hochrechnung.) Etwa 45% (50%) aller Kinder lernen/benutzen ihr erstes Zeichen vor dem vollendeten 3. Lebensjahr. In der Untersuchung aus den USA von Frau Dr.Carlin (Aug. 1995) findet sich
eine Frau, die 45 Zeichen regelmäßig nutzt und insgesamt 120 Zeichen kennt.
Ebenso zeigen die beiden Fallstudien von Meierdierks und Stykes & Christie die unterschiedlichen
Formen der Kommunikation. Während M. (zweiter Fall) ein umfangreiches Repertoire an
Vokabular entwickelt hat, kann K. (erster Fall) einerseits eine Reihe von Wörtern gezielt einsetzen,
weicht aber für andere Äußerungen auf Gesten und Gebärden aus.
Sowohl die Ergebnisse unserer Untersuchung als auch die einzelnen Fallberichte zeigen die
Notwendigkeit und die Möglichkeiten der verschiedensten Kommunikationsmöglichkeiten für
Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom. Es wird deutlich, wie wichtig die Unterstützung und Förderung
einer geeigneten Sprachform im Sinne der totalen Kommunikation für diese Kinder ist.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
4. 4
33
Aussagen zum Entwicklungspotential
An dieser Stelle soll die Frage nach dem Entwicklungspotential von Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom aufgegriffen werden. Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich mich auf die
bisherigen Ausführungen beziehen.
Chromosomal bedingte Behinderungsformen wie das Cri-du-Chat-Syndrom werden bis heute von
vielen Fachleuten als genetisch determinierte Fehlentwicklungen angesehen und ebenso als solche
behandelt. Das bedeutet, daß den betroffenen Kindern allzuoft nur eine bestimmte, durch ihr
Defizit beschränkte Entwicklung zugestanden wird.
Unsere Untersuchung sowie eine Reihe anderer Entwicklungsberichte zeigen, daß die Entwicklung
von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom keineswegs festgelegt, geschweige denn konkret vorhersagbar ist. Alle Kinder weisen eine mehr oder minder erhebliche Entwicklungsverzögerung auf,
die einzelne Bereiche unterschiedlich stark betreffen kann. Doch im Gegensatz zu dem gewöhnlich
gezeichneten Bild von starker intellektueller und physischer Behinderung, nicht-existenter oder
stark limitierter Sprache, finden wir zahlreiche Betroffene, die wie viele der älteren zu Hause aufgewachsenen Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom in den Studien von Wilkens et al. (1980) beweglich
sind, einen vernünftigen Grad der Unabhängigkeit in Selbstpflegefähigkeit besitzen und in der
Lage sind, verbal oder durch Gesten zu kommunizieren.
Bisherige Studien lassen anhand statistischer Hochrechnungen erkennen, in welchem Ausmaß einzelne Entwicklungsschritte verzögert sind. Doch bleiben diese Werte ausschließlich statistische
Mittel- bzw. Extremwerte.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Heterogenität der individuellen
Entwicklungsgeschichten keine konkreten Prognosen über das Entwicklungspotential einzelner
Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom zuläßt. Mit relativ großer Sicherheit kann in allen Fällen von einer umfangreichen Entwicklungsverzögerung ausgegangen werden. Diese kann wiederum, abhängig von vielen verschiedenen äußeren Bedingungen, unterschiedliche sekundäre Konditionen
bewirken. Deutlich erkennbar wird auch, wie sehr das individuelle Entwicklungspotential von äußerer Unterstützung und Förderung abhängig ist.
Es ist also notwendig, daß alle an der Entwicklung dieser Kinder Beteiligten sich des möglichen
Entwicklungspotentials bewußt sind sowie ihre Arbeit weg von einem genetisch festgelegten
Defizit, hin zu einem besseren Verständnis einzelner sekundärer Zusammenhänge und äußerer
behindernder Konditionen lenken.
4. 5
Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom
Mehrere Untersuchungen zum Entwicklungsmuster von Kindern mit dem Cri-du-Chat-Syndrom
ergaben eine Reihe typischer Verhaltensauffälligkeiten. Diese Verhaltensweisen, seien sie auch
vielfältigster Art, zeigen doch eine prägnante Häufigkeit bei diesen Kindern. Aufgrund dessen
stellt sich schlußfolgernd die Frage, inwieweit humangenetische Aspekte eine Rolle in der psychischen, insbesondere der behavioristischen Entwicklung dieser Kinder spielen, oder ob derartige
Kennzeichen nicht doch vielmehr sekundäre Erscheinungsformen sind im Sinne einer Reaktion auf
behindernde Konditionen.
Eine ähnliche Problematik findet sich bei Zerbin-Rüdin (1983) wieder, der sich ebenfalls auf häufige Verhaltensmerkmale bei genetisch bedingten Krankheiten und Behinderungen bezieht. In unserem Fall soll die Signifikanz anhand der zuvor in diesem Kapitel beschriebenen Untersuchung
gezeigt werden.
Zunächst wird jedoch auf einige andere Studien und Beobachtungen Bezug genommen. Die bereits
erwähnte Untersuchung von insgesamt 80 zu Hause aufgewachsenen Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom (Wilkens et al., 1983) ergab, daß bei über _ der Kinder Formen von "Selbst-Stimulation"
und hyperaktives Verhalten, sowie Kopfschlagen, Handflattern und Handlutschen zu beobachten
war. Etwa ein Drittel zeigte typisches Körperschaukeln. Hyperaktivität und selbststimulierendes
Verhalten, das meist mit unterbrochenem Schlafverhalten während der Säuglingszeit begann,
entwickelten sich zu großen Problemen. Die meisten dieser Kinder beschränkten diese
Verhaltensweisen auf Frustrations- und Spannungsperioden. Ungefähr 20%, nach Wilkens et al.
hauptsächlich Kinder mit einem IQ unter 40, stimulierten sich konstant selbst, zeigten oft Verhalten
von Rückzug, umherschweifende Augenbewegungen und eine offensichtlich sinkende
Wahrnehmung ihrer Umgebung.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
34
"...diese hatten eine geringe Konzentrationsspanne, waren leicht irritierbar und manchmal
gereizt und aggressiv, sie versagten Augenkontakt und erschienen oft insgesamt sehr in sich
zurückgezogen." (Wilkens et al., 1982, S. 14)
Bei den Kindern mit einem IQ über 40 kennzeichnete sich die Hyperaktivität durch ruhelose
Affektivität und eine kurze Konzentrationsfähigkeit, wobei intensive Verhaltensmodifikation die
effektivste Methode zur Kontrolle der Hyperaktivität war.
Auch Schinzel (1979) spricht bzgl. der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom von motorischer Unruhe
(Hyperaktivität) und von besonderer Verhaltensauffälligkeit in Spannungssituationen;
"...wenn Mitmenschen Schmerzen, physisch oder psychisch, erleiden, leidet sie fast immer
noch mehr." (Schinzel, 1979, S. 120)
Ansonsten seien sie meist sehr fröhliche Kinder, die selten verstimmt und fast immer gut aufgelegt
sind. Viele der beschriebenen Verhaltensweisen findet man in den verschiedensten Fallberichten
wieder. So schreibt Davies (1993) in einem Bericht über einen 7jährigen Jungen mit Cri-du-ChatSyndrom von:
"...einem unregelmäßigen Schlafmuster seit der Geburt, einer geringen
Konzentrationsspanne und dem Hang, seinen Kopf gegen Wände, Gegenstände und
Personen zu schlagen. Diese Probleme verursachten bei den Eltern große
Besorgnis...Beobachtungen zufolge trat das Kopfschlagen vor allem dann auf, wenn er
Aufmerksamkeit erlangen wollte, insbesondere wenn die Mutter in der Nähe war." (Davies,
1993, S. 28)
In einem Fallbericht von Berridge (1989) wird ebenfalls das Problem der Hyperaktivität, verbunden
mit einer daraus resultierenden geringen Konzentrationsfähigkeit, einem gestörten Schlaf-WachRhythmus und dem Kopfschlagen gegen das Bett oder die Wand, genannt. Zudem wird ein stark
verzögertes Schmerzempfinden beschrieben, welches immer wieder zu gefährlichen Situationen
führt. Interessant ist auch die besondere Art, mit anderen in Kontakt zu kommen; "...sie ziehen an
den Haaren, beißen oder kneifen gern, und vornehmlich Kinder..." (Meierdierks, 1995a, S. 25).
Weiterhin werden die Kinder oft als zufriedene und glückliche Kinder beschrieben, die sehr oft
herzhaft lachen und sehr anhänglich und liebebedürftig sind.
In einem Fallbericht von Stykes & Christie (1994) über ein 14jähriges Mädchen ist zu lesen:
"Selbstverstümmelung in Form des Hautaufkratzens hat fortgedauert von der Kleinkindzeit
bis zur Gegenwart, während das Kopfschlagen bei Erreichen des zweiten Lebensjahres aufhörte....M. war sehr empfindlich gegen hochfrequente Geräusche....Sie ist oft fröhlich und cooperativ und zeigt einen herrlichen Sinn für Humor und Spaß. Seit der Kindheit ist M. ein
extrem aktives Kind gewesen, durchsetzungsfähig, erfinderisch und an ihrer Umgebung interessiert. Sie ist neugierig und stellt ständig Fragen. Es trifft sich unglücklich, daß die
Diskrepanz zwischen ihrer aktiven und passiven Sprachfähigkeit ihre Entwicklung auf
vielen Gebieten stark behindert hat, und es ist vorstellbar, daß Frustrationen, die hieraus resultieren, zum Teil für ihr schwieriges Verhalten verantwortlich sind."(Stykes & Christie,
1994, S. 2)
Das Phänomen der besonderen Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom ist
auch ein Bestandteil unserer Studie (Carlin, 1996). U.a. wurden die Eltern nach bestimmten
Verhaltensweisen ihrer Kinder befragt: (1.01) Kopfschlagen, (1.02) Schaukeln, (1.03) Haut zwicken/knibbeln, (1.04) Flapping (Flattern), (1.05) Herumwirbeln, (1.06) Schlagen, (1.07) Finger/Hand
nuckeln, (1.08) Sich selbst beißen, (1.09) Andere beißen, (1.10) Andere Selbst-Stimulationen, (1.11)
Kurze Aufmerksamkeitsspanne, (1.12) Schlechter Augenkontakt, (1.13) Hyperaktivität, (1.14)
Geringe Frustrationstoleranz, (1.15) Schreikrämpfe, (1.16) Werfen von Gegenständen, (1.17) Andere
Wutanfälle, (1.18) Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu, (1.19) Aggressiv gegen andere,
(1.20) Kann nicht alleine bleiben, (1.21) Zähneknirschen, (1.22) Ständig trotzig/gehorcht nicht,
(1.23) Wiederholt Verhaltensweisen ständig, (1.24) Echolalie und (1.25) Autismusähnliche
Verhaltensweisen.
Eine genaue Aufschlüsselung der Häufigkeit der verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten ist in
dem folgenden Diagramm zu sehen.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
35
Störende oder ständig wiederholte Verhaltensweise.
Autismusähnliche Verhaltensweisen
wiederholt Geräusche, Wörter, Sätze; (Echolalie)
Wiederholt Verhaltensweisen ständig (perseveration)
Ständig trotzig / gehorcht nicht
Knirscht mit den Zähnen
Kann nicht alleine bleiben
Aggressiv gegen andere
Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu
Andere Wutanfälle (bitte beschreiben)
Werfen / zerbrechen von Gegenständen
Schreikrampfe (-anfälle)
Geringe Frustrationstoleranz
Hyperaktiv
Schlechter Augenkontakt
Kurze Aufmerksamkeitsspanne
Andere Selbst-Stimulationen
Beißt andere
Beißt sich selbst
Finger / Hand Nuckeln
Bouncing" : “gegen etwas schlagen”
Herumwirbeln
Schlagen (mit Flügel), flattern, lose herunterhängen
Haut zwicken / knibbeln
Schaukeln
Kopfschlagen
Gesamt
0
Abb. 5:
5
10
15
20
25
30
35
40
Verhaltensauffälligkeiten
(Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1996)
(vgl. Anhang A1; Abb. XXXII)
Die Auswertung ergibt, daß etwa 80% der 38 untersuchten Kinder als hyperaktiv beschrieben werden und eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, eine verminderte Frustrationstoleranz und aggressives Verhalten zeigen. Zudem sind bei etwa 90% der Kinder Selbststimulation und
Verhaltensweisen wie Kopfschlagen und Finger/Hand nuckeln zu beobachten. Ungefähr die
Hälfte weisen folgende Verhaltensweisen auf: Haut zwicken/knibbeln, Sich selbst beißen, Andere
beißen, Nicht alleine bleiben können und die ständige Wiederholung derartiger Verhaltensweisen.
Unter den Punkten "Andere Selbst-Stimulation" und "Autismusähnliche Verhaltensweisen" sind
verschiedenste Formen beschrieben; hier soll nur ein Auszug genannt werden:
"...Haare mit den Fingern eindrehen, Fingernägel abreißen, Haare raufen, Schmatzen,
Gegenstände gegen den Mund schlagen, Zunge und Wangentaschen aufbeißen, schnelle
Atmung mit Schweißausbrüchen, vor Freude oder Aufregung mit den Händen wedeln, sich
einigeln, Angstzustände bei Maschinengeräuschen, sporadisch auftretendes nächtliches
Schreien ..." (Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1996)
Eigene Beobachtungen an Dennis bekräftigen die Vermutung, daß einige Verhaltensauffälligkeiten
typisch für Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom zu sein scheinen.
Vor allem in Spannungs- und Frustrationssituationen, insbesondere wenn er seine Bedürfnisse
nicht verständlich machen kann und unweigerlich miß- oder nicht verstanden wird, treten bei
Dennis Verhaltensweisen auf wie das Kopfschlagen auf den Boden bzw. gegen Personen und
Gegenstände. Gleichzeitig schaukelt er mit seinem Körper hin und her und wirft seinen Kopf nach
hinten. Verbunden wird dieses Szenarium oft mit Beißen in seine Kleidung und Kratzen anderer.
Wenn er an einer Sache ein besonderes Interesse gefunden hat, kann er sich für kurze Zeit sehr
darauf konzentrieren, jedoch ist seine Aufmerksamkeitsspanne insgesamt deutlich begrenzt.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
36
Dennis ist sehr lebhaft und ebenso neugierig. Er geht auf fremde Menschen ohne Scheu zu, hat jedoch vor sehr lauten Geräuschen, wie z.B. Traktoren und anderen Maschinengeräuschen, Angst.
Dennis freut sich über jede Art von groben taktil-kinästhetischen Angeboten, wie z.B. starkem
Druck. In Ruhephasen schaukelt er oft noch in Kauerstellung hin und her und reibt dabei häufig
seinen Kopf auf dem Boden. Ebenso markant ist sein Kopfschlagen bzw. sein Wippen im
Vierfüßlerstand, wenn er müde ist und im Bett liegt, sitzt oder kniet.
Wohl am kennzeichnendsten für ihn ist seine typische und nahezu einzigartige Vorliebe für Stöcke,
die er in ständig pendelnder Bewegung in einer seiner Hände hält.
Es wird deutlich, daß bestimmte Verhaltensweisen relativ häufig bei Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom zu beobachten sind. Zuweilen sind sie bei unterschiedlichen Kindern annähernd gleich,
andere hingegen nur ähnlich. Läßt sich daraus auf einen direkten Zusammenhang zwischen einer
derartigen Auffälligkeit und dem konkreten genetischen Defekt schließen, oder handelt es sich
vielmehr um sekundäre Folgeerscheinungen im Sinne multivalenter Zusammenhänge, bei denen
verschiedenste Faktoren die Verhaltensmuster beeinflussen? Um diese Frage endgültig beantworten zu können, bedarf es einer intensiveren Untersuchung, die auf wahrscheinliche Korrelationen
in der zeitlichen Entwicklungsabfolge näher eingeht. Interessant ist diese Frage für unsere
Überlegungen jedoch bereits jetzt schon, denn sie wirft gleichzeitig die Frage nach dem
Verständnis dieser Verhaltensweisen und dem Umgang mit ihnen auf.
Gehen wir z.B. davon aus, daß eine Wahrnehmungsstörung im Sinne des stark verzögerten
Schmerz- empfindens (wie ich sie auch bei Dennis beobachten konnte), vielleicht aus den
Konsequenzen der anfänglichen Hypotonie resultierend, bedeutet, daß weder eine adäquate
Eigenwahrnehmung des Körpers noch ein eigenständiges Körperbild besteht, dann müssen wir
davon ausgehen, daß diese Störung tiefgreifende Auswirkungen auf alle anderen Bereiche der
Entwicklung haben kann.
Außerdem ist diesbezüglich die, in fast allen Fällen beschriebene, allgemeine
Entwicklungsverzögerung ein grundlegendes Problem. Die gesamte Entwicklung wird wiederum
deutlich von dem allgemeinen Merkmal von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom, der Hypotonie,
beeinflußt. Der Muskeltonus selbst ist zudem dann niedriger und ungünstiger, wenn eine angeborene Herzkrankheit (was häufig der Fall ist) vorliegt.
Wir sehen also, daß sich bereits im Vorfeld der beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten verschiedene Zusammenhänge und Korrelationen auftun. Ein weiterer Punkt liegt natürlich auch in der
Bewältigungsfähigkeit der Eltern und ihrer eigenen Handlungsperspektive. Das bedeutet nicht,
daß bestimmte Verhaltensweisen mit der Un- bzw. Fähigkeit von Eltern direkt korrelieren. Aber
um diesen Punkt einmal zu verdeutlichen, sei auf eine Pfadanalyse früher
Entwicklungszusammenhänge bei Trisomie 21 von Pueschel (1986) hingewiesen, in der u.a. eine
deutliche Korrelation zwischen dem Muskeltonus und der Fähigkeit der Eltern, empfohlene
Verhaltensmaßregeln durchzuführen, erkennbar wird: Mit nicht hypotonen Kindern finden sich
die Eltern besser zurecht und können Empfehlungen besser umsetzen. Selbstverständlich kann
diese Analyse nicht ebenso für das Cri-du-Chat-Syndrom übernommen werden, aber zum einen
läßt sie Parallelen erkennen, zum anderen macht sie auf die Notwendigkeit einer genaueren
Untersuchung im Sinne der Pfadanalyse aufmerksam.
Viele Untersuchungen bestätigen, daß gerade anfänglich hypotone Kinder mit zunehmendem
Alter den Drang nach Außenreizen und damit verbundener Eigenwahrnehmung entwickeln, woraus sich wiederum die beschriebene Hyperaktivität und Selbst-Stimulation erklären ließen.
Man muß sich vorstellen, daß diese Kinder sozusagen auf der Suche nach ihrem eigenen Körper
und ihren eigenen Grenzen sind. Das würde bedeuten, daß gerade solche Auffälligkeiten wie
Kopfschlagen, Schaukeln, Herumwirbeln, Schlagen, Sich beißen und andere Formen von SelbstStimulation Folgen dessen sein könnten. Immer wieder wird beschrieben, daß gerade beim
Einschlafen diese Kinder im Bett schaukeln bzw. mit dem Kopf auf das Bett schlagen. Es gibt in
diesem Zusammenhang verschiedene Aussagen, die darauf hinweisen, daß der Mensch für den
Schlafzustand einen gewisses Ruhepotential benötigt, d.h. notwendigerweise auch einen gewissen
Grad an befriedigter Eigenwahrnehmung.
Weiterhin wird dem/der Leser/in einleuchten, daß Kinder, die sich selbst nur wenig spüren, von
einer ähnlichen Situation bei anderen ausgehen, wenn sie sich bei diesen Aufmerksamkeit verschaffen wollen.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
37
"...K. liebt es, unter Kindern zu sein. Sie geht neugierig auf sie zu. Es ist dabei nur das
Problem, daß sie zur Kontaktaufnahme an den Haaren zieht, beißt oder kneift. Dies führt
immer wieder zu Konflikten, wobei die Kinder damit sehr gut umgehen können, den
Erwachsenen fällt dies aber mitunter schwer. Da sie mit zunehmendem Alter auch Kraft hat,
muß ständig eine Person bei ihr sein und aufpassen, daß sie andere Kinder, vornehmlich
kleinere, nicht zu sehr in die Mangel nimmt..."(Meierdierks, 1995b, S. 296)
Dennis reagiert oft mit Unverständnis oder gar verbittert auf die Reaktionen anderer, wenn er z.B.
seiner kleineren Schwester in den Haaren zieht.
Er kann nicht begreifen, welche Schmerzen dies bereiten kann, wo er doch eigentlich "nur" die
Aufmerksamkeit seiner Schwester für sich beanspruchen möchte. Gleichzeitig legt er sehr viel Wert
darauf, die somit entstandene Spannung wieder zu schlichten und seine Schwester zu trösten.
Inzwischen weiß er um diese Reaktion von Erwachsenen und setzt dies manchmal auch als
Druckmittel ein, damit andere seinem Anspruch auf Aufmerksamkeit gerecht werden.
Wenn sich außerdem derartig hyperaktive Kinder stets in ihrer "notwendigen" Bewegung befinden, verwundert es nicht, wenn sie nicht gleichzeitig in der Lage sind, sich längeren Zeitraum auf
eine Sache zu konzentrieren. Einschränkend muß gesagt werden, daß diese Überlegungen
zunächst noch mehr oder minder spekulativen Charakter in sich tragen, jedoch gehe ich davon aus,
daß man in entsprechenden Untersuchungen auf ähnliche Ergebnisse kommen wird/würde.
4. 6
Das Erwachsenenalter
Gegenüber früheren Aussagen konnte in keiner der bisher beschriebenen Untersuchungen eine signifikante Einschränkung der Lebenserwartung von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom festgestellt
werden. Hingegen sind in den meisten Fällen deutliche Anzeichen eines frühen Alterns erkennbar,
z.B. frühes Ergrauen der Haare, Haarverlust, frühzeitiger Verschleiß von Gelenken und allgemeines Nachlassen der Kräfte. Allerdings muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden, daß es
hierzu noch keine repräsentativen Untersuchungsergebnisse gibt, da bisher relativ wenige
Erwachsene mit diesem Syndrom bekannt sind.
Dies hängt vermutlich damit zusammen, daß das Cri-du-Chat-Syndrom erst 1963 als solches erkannt wurde. Auch in unserer Untersuchung sind nur 13% älter als 15 Jahre, in der Untersuchung
in den USA 28%. Dadurch muß die Aussagekraft der Ergebnisse relativ betrachtet werden.
Einerseits verändern sich bestimmte klinische Merkmale mit dem Erreichen des Erwachsenenalters
(wie in Kapitel "Medizinische Aspekte" beschrieben), andererseits scheinen sich eine Reihe von
Merkmalen, insbesondere der Verhaltenscharakteristika und der psychomotorischen und kognitiven Fähigkeiten im Erwachsenenalter zu manifestieren. Festzustellen ist auf jeden Fall, daß alle
Betroffenen auch im Alter aufgrund ihrer Behinderung auf eine Betreuung bzw. Unterstützung
angewiesen sind, wobei der Umfang durchaus variieren kann. Die Frage nach Unterbringung bzw.
Wohnform im Erwachsenenalter wurde in unserer Studie häufig nicht beantwortet. Allerdings läßt
sich aus dem Kontext des Fragebogens vielfach erschließen, daß die meisten zu Hause leben. Bei
denen, die diese Frage beantwortet haben, leben 85% der Kinder auch als Erwachsene zu Hause
(Carlin, Aug. 1995).
Interessant ist die Beobachtung, daß sich Formen des betreuten Wohnens, in denen sich die soziale
Umwelt verändert, im Vergleich zum Leben im Elternhaus auf die Entwicklung im
Erwachsenenalter anscheinend positiver auswirkt. Jedoch gibt es auch hierzu noch keine aussagekräftigen Untersuchungen, allerdings verschiedene Erklärungsmodelle, die sich auf die allgemeine
Problematik der Loslösung vom Elternhaus beziehen und auf die aber nicht näher eingegangen
werden soll.
In diesem Kontext sei aber auch die schwierige Situation der Eltern bedacht: Aufgrund der oftmals
eingeschränkten Sprache der Kinder besteht vielfach ein symbiotisches Verhältnis zwischen dem
Kind und seinen Bezugspersonen. Sie sind häufig die einzigen, die das Kind in seiner eigenen
Sprache verstehen können. Nicht selten entwickelt sich daraus ein erhöhtes Verantwortungsgefühl
dahingehend, daß diesen Kindern die selbständige Bewältigung von veränderten
Lebensumständen nur begrenzt zugetraut wird.
"... Die Angst von Eltern, daß nach dem eigenen Tod niemand mehr da ist, der des Kindes
Wünsche und Bedürfnisse erkennen kann, wird mit zunehmendem Alter größer." (Bsp. aus
der Untersuchung, Carlin, 1996)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
38
Aus der Untersuchung von Carlin (USA, Aug. 1995) wird ersichtlich, daß der Großteil der
Erwachsenen irgendeiner Art der Berufsausbildung bzw. -ausübung nachgeht. Jedoch soll auf diesen Aspekt des Erwachsenenalters im Kapitel 5 näher eingegangen werden.
4. 7
Zur Situation von Eltern mit Cri-du-Chat-Kindern
Das Cri-du-Chat-Syndrom ist eine Behinderung, die für Eltern dieser Kinder, aber auch für
Einrichtungen, in denen sie leben und lernen, eine große Herausforderung darstellt. Dieses
Syndrom ist derart selten, daß Eltern in der Regel das erste Mal mit dieser Behinderungsform konfrontiert werden. Angesichts dessen, daß dieses Syndrom auch unter Fachleuten oft nicht bzw. nur
vage bekannt ist und es zu einzelnen medizinischen Problemen sowie Behandlungsmethoden unterschiedliche Auffassungen gibt (sofern sie überhaupt existieren), werden Eltern vor eine Reihe
von Problemen gestellt.
Eltern, die dann auch noch unter Gebrauch des eigenen Verstandes entscheiden wollen, sind erst
einmal überfordert und geraten, wenn auch widerwillig und mit geheimen Zweifeln, in
Abhängigkeit von einzelnen SpezialistInnen. Diese Abhängigkeit "steigert" sich insofern, daß
Eltern selbst kaum bzw. gar nicht die Möglichkeit haben, sich über die Störung ihres Kindes eigenständig zu informieren und eventuelle Prognosen zu wagen, da es fast keine ausführlichen
Informationsquellen gibt. Die Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" verrät ihnen zwar den Namen und
den Hauptdefekt der Behinderung ihres Kindes, ansonsten müssen sie sich aber zunächst allein auf
die Aussagen des Arztes / der Ärztin verlassen. Diese können, wie wir noch sehen werden, sehr
realitätsfremd sein.
Immer wieder zeigt sich ganz deutlich, daß zunächst nicht Fragen der Integration der behinderten
Kinder und der sozialen Eingliederung zu entscheiden sind, sondern rein medizinische Probleme,
von einer genetischen Untersuchung und Beratung mit all ihren Konsequenzen (vor allem psychischer Natur) ganz zu schweigen.
Neben dem ersten, vor allem emotionalen Erleben und Umgang mit der Situation, ein behindertes
Kind zu haben, stehen gerade am Anfang viele Untersuchungen und entsprechende "therapeutische Weichenstellungen" an (Aly et al., 1991). Dazu kommt nach der ersten Verarbeitung der
Situation im Zuge von Zukunftsplanungen der Druck, ja auch rechtzeitig die richtigen Maßnahmen
für die Entwicklung des behinderten Kindes in Gang zu setzen. Selbstverständlich sind es nicht die
ÄrztInnen, die diese Entscheidungen zu treffen haben. Nicht sie tragen die tatsächliche
Verantwortung, sondern die Eltern. Für sie stellen sich u.a. die Fragen:
-
Welche Risiken haben die einzelnen Untersuchungen und Eingriffe?
-
Sind sie überhaupt nötig?
-
Was ist zu tun, damit körperliche Fehlbildungen bzw. -stellungen sich nicht zu sehr manifestieren?
-
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
-
Welche Hilfsmittel sind gegebenenfalls für das Kind zu beschaffen?
Es gibt in Deutschland, wie bei vielen anderen Behinderungsformen auch, nicht ein einziges Buch,
das alle Probleme, die ein Kind mit einer derartigen Chromosomenanomalie wie dem Cri-du-ChatSyndrom hat, im Gang seiner Entwicklung aufzeigt und die einzelnen therapeutischen
Maßnahmen, die alternativen oder sich ausschließenden Möglichkeiten miteinander vergleicht und
diskutiert. Im deutschsprachigen Raum scheitert man schon bei der Suche nach Literatur, die über
das Phänomen des Cri-du-Chat-Syndroms an sich eine adäquate Aufklärung liefern könnte.
Wesentlich besser sieht es hingegen in den USA aus.
"... Der Arzt konnte uns aber nur Materialien von 1963 geben. Ansonsten hatte er gar nichts.
... Auch unser Kinderarzt hatte keine anderen Unterlagen darüber. ... Meine Freundin hatte
einen Cousin in den USA, der mir dann alle notwendigen Unterlagen über das KatzenschreiSyndrom geschickt hat. So konnte ich eben den Ärzten hier selber unter die Arme greifen,
ich konnte ihnen alles genau schildern und wurde selbst auch beruhigt."(Dennis´ Mutter)
Dieser Mangel in der Literatur spiegelt nur die alltägliche Praxis wider, in der es weder ÄrztInnen
noch TherapeutInnen gibt, die für ein solches Kind rundum zuständig wären. Vielmehr werden
Eltern von einem Spezialisten/einer Spezialistin zum/zur nächsten "gejagt".
Das Cri-du-Chat-Syndrom
39
Darüber hinaus werden Eltern, "wenn sie das in solchen Momenten keulenartiger Aufklärung noch
können." (Aly et al., 1991) und sofern von professioneller Seite überhaupt ein
Entwicklungspotential zugestanden wird, ...
"... und da hat er uns dann erzählt, daß Dennis ein Katzenschrei-Syndrom hätte und daß das
Kinder sind, die nie laufen und nie sprechen lernen, und diese Kinder könnte man ja gleich
einschläfern lassen. ..."(Dennis´s Mutter)
... daran erinnert, daß ihr Kind ständig frühbehandelt und frühgefördert werden müsse, da sonst
wertvolle Zeit verloren gehe. Es sei denn, wie bereits angedeutet, die Eltern werden fälschlicherweise vor die "Tatsache" gestellt, daß es sich ja um einen genetisch determinierten Fehler handle
und die körperliche und auch geistige Behinderung von vornherein festgeschrieben sei..
Diese Behinderung (bzw. Behinderung allgemein), so heißt die verschlüsselte Botschaft, welche die
Eltern aus dem Verhalten und den Aussagen der ÄrztInnen herauslesen müssen, ist schrecklich,
untragbar, ist eine Katastrophe; eine Aufklärung, die jede Hoffnung raubt und sich nicht scheut,
Katastrophenbilder an die Wand zu malen, für die es keine begründeten Erkenntnisse gibt (Beys,
1993).
"Im Umgang mit Ärzten verleugne ich total meine Persönlichkeit. Ich werde unsicher und
hilflos. Ich wage keine Fragen zu stellen. Ich fühle mich schuldig, weil ich ein behindertes
Kind habe." (eine Mutter in: Beys, 1993, S. 29)
So ist viel zu wenig (in Deutschland) über Verhalten, Entwicklungspotential und andere Bereiche
von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom bekannt. Offensichtlich gibt es, vor allem in den ersten
Jahren, einen Mangel an Unterstützungsangeboten, der nicht selten zu Konfusion, Entmutigung
und Frustration der Eltern beiträgt. Dabei wird die Anleitung und Unterstützung durch ÄrztInnen,
BeraterInnen und das betreffende Personal in Krankenhäusern generell als von kritischer
Wichtigkeit für Eltern beim Verständnis, der Akzeptanz und der Behandlung ihres behinderten
Kindes angesehen.
Während frühe medizinische Anleitung und Unterstützung entscheidend ist, ist die Rolle von
PsychologInnen, SprachtherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und ExpertInnen in frühkindlicher
Entwicklung genauso wichtig zur Sicherstellung der Verfügbarkeit von Hilfen, speziell in den
Bereichen Elternschaft, Kindes- entwicklung und relevanter Unterstützungsinstitutionen und dienste. Eine derartige Unterstützung von professioneller Seite hilft im Managment/Engagement
der Eltern (Stykes & Christie, 1994).
Eine besonders wichtige Quelle der Unterstützung ist oft der Kontakt zu Eltern in einer vergleichbaren Situation. Darauf wird an späterer Stelle noch näher eingegangen.
4. 7. 1
Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Beratung beim Cri-du-ChatSyndrom
Wie bereits bei den medizinischen Aspekten erwähnt wurde, wird den Eltern in jedem Fall
empfohlen, eine humangenetische Beratung in Anspruch zu nehmen. Im Falle einer Translokation
kann diese somit bestätigt, der/die in Frage kommende Translokationsträger/in ermittelt und ein
Wiederholungsrisiko für weitere Schwangerschaften abgeschätzt werden. Welche Folgen eine derartige Beratung für die Eltern haben kann, soll im folgenden Absatz diskutiert werden. Es soll also
weniger um die genetische Beratung als medizinisches Instrument gehen, sondern vielmehr um die
damit verbundenen psychischen und sozialen Belastungsfaktoren.
Angesichts der rasch fortschreitenden Entwicklung auf dem Gebiet genetischer Methoden und
Techniken werden derzeit die Ziele genetischer Beratung auf allen gesellschaftlichen Ebenen intensiv diskutiert. Dabei richten sich die Fragen der sozialen, psychischen und gesellschaftlichen
Konsequenzen genetischer Diagnostik und Beratung heute insbesondere auf ihre ethischen und
moralischen Implikationen.
So wird auch in dieser Arbeit die grundlegende Diskussion um das Für und Wider von genetischer
Beratung und der damit verbundenen pränatalen Diagnostik eine wichtige Rolle spielen. Doch
möchte ich schon im Vorfeld darauf hinweisen, daß dieses Problem in bezug zum Cri-du-ChatSyndrom nur angeschnitten werden kann, da dies die Grenzen meiner Arbeit sprengen würde.
Im Vordergrund humangenetischer Zielsetzungen steht das Prinzip der Freiwilligkeit und der individuellen Entscheidung bei der Inanspruchnahme genetischer Diagnostik und Beratung.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
40
"Allein die Aufklärung von Ratsuchenden über ihr individuelles genetisches Risiko mit dem
Ziel selbstverantwortlicher Familienplanung oder individueller Krankheitsvorsorge ist
Aufgabe genetischer Beratung." (Murken & Cleve, 1996, S. 151)
Bereits 1975 wurden vom Committee on Genetic Counselling folgende Zielvorstellungen für die
genetische Beratung entwickelt: "Genetische Beratung soll dem Individuum oder der Familie helfen,
(1)
die medizinischen Fakten einschließlich der Diagnose, dem mutmaßlichen Verlauf der
Erkrankung und der zur Verfügung stehenden Behandlung zu erfassen,
(2)
den erblichen Anteil der Erkrankung und das Wiederholungsrisiko für bestimmte
Verwandte zu begreifen,
(3)
die verschiedenen Möglichkeiten, mit dem Wiederholungsrisiko umzugehen, zu verstehen,
(4)
eine Entscheidung zu treffen, die ihrem Risiko, ihren familiären Zielen, ihren ethischen
und religiösen Wertvorstellungen entspricht und in Übereinstimmung mit dieser
Entscheidung zu handeln, und
(5)
sich so gut wie möglich auf die Behinderung des betroffenen Familienmitgliedes
und/oder auf ein Wiederholungsrisiko einzustellen." (Murken & Cleve, 1996, S. 151)
Was bedeutet das für die genetische Beratung bei einem Fall von Cri-du-Chat-Syndrom?
Selbstverständlich lassen sich in einer solchen Beratung die medizinischen Fakten, vor allem jene
sichtbaren Symptome, die mit diesem Dysmorphiesyndrom einhergehen, und jene Befunde, die
anhand der Chromosomenanalysen gemacht werden können, eindeutig beschreiben. Jedoch treten
schon bei den Fragen nach dem Verlauf der Schädigung und dem Entwicklungspotential dieser
Kinder die ersten Probleme auf, da anhand der medizinischen und zytogenetischen Befunde allein
keine sicheren Prognosen möglich sind. Ebensowenig sind zur Verfügung stehende
Behandlungsmöglichkeiten kaum präsent. Und eben dieses Unwissen auf seiten von Fachleuten
beeinflußt auch die Punkte (2)-(5) entscheidend.
Im Hinblick auf die Fragen der genetischen Diagnostik bedeutet die konsequente Anwendung der
oben beschriebenen Richtlinien für die Handhabung genetischer Beratung:
-
die Inanspruchnahme genetischer Beratung muß freiwillig sein;
-
vor Anwendung genetischer Diagnostik (prä- bzw. postnatal) sollte eine individuelle
Beratung erfolgen;
-
die Inanspruchnahme der pränatalen Diagnostik präjudiziert (entscheidet vorweg) im
Falle eines pathologischen Befundes keinesfalls einen Schwangerschaftsabbruch;
-
die Entscheidungskompetenz hinsichtlich weiterer Familienplanung liegt ausschließlich
bei den Ratsuchenden.
Die genetische Beratung hat zwei Schwerpunkte. Zum einen beinhaltet sie die genetische
Familienberatung, als Vorsorgemaßnahme gedacht, welche auf Stammbaumanalyse und genauer
klinischer Diagnostik beruht, einschließlich genetischer Untersuchungen (Dysmorphiezeichen,
Chromosomenanalyse) und zuzüglich pränataler Diagnostik (Chorionzottenbiopsie,
Amniozentese). Andererseits gibt es die individuelle genetische Beratung, die ganzheitlich erfassen, aufgrund der Früherkennung genetischer Risikofaktoren die Erstellung einer genauen
Prognose ermöglichen und ein breites Spektrum therapeutischer Ansätze bieten soll.
Die Frage, inwieweit gerade die beiden letzteren Faktoren auf den Fall von Cri-du-Chat-Syndrom
zutreffen, weist uns wiederum darauf hin, wie ungewiß jene Prognosen sind, die aufgrund einer
einfachen Chromosomenanalyse gemacht werden könnten und inwiefern Kenntnisse über
Entwicklung und Förderung von Cri-du-Chat-Kindern vorliegen. "... das sind Kinder, die nie laufen und nie sprechen lernen ..."(ein Humangenetiker, 1984)
Nicht nur der Nachweis der Art der Chromosomenabnormität ist beim Cri-du-Chat-Syndrom von
Bedeutung, sondern auch die präzise Charakterisierung dieser Anomalie. Auch wenn bisherige
Berichte gezeigt haben, daß trotz zytogenetischer Befunde keine sicheren Prognosen abgegeben
werden können, so hilft die genaue Beschreibung der Deletion beim Cri-du-Chat-Syndrom, das zu
Das Cri-du-Chat-Syndrom
41
erwartende Ausmaß der Behinderung zumindest in bestimmten Fällen zu umschreiben
(Overhauser et al., 1994).
Ein wesentlicher Teil der genetischen Beratung besteht natürlich darin, durch eine genaue
Diagnose festzustellen, ob tatsächlich ein genetisches Risiko vorliegt, oder ob eine teratogene
(Mißbildungen bewirkende) Umweltschädigung ursächlich für die Behinderung wirksam war.
Bleibt die Beratung jedoch auf diesen Teil beschränkt, sehen sich Eltern oft mit der Mächtigkeit eines Befundes konfrontiert, der sie nur selten alleine gewachsen sind. Genetische Beratung muß also
darüber hinaus Perspektiven schaffen und die Eltern in ihrer Entscheidungs- und
Handlungsfähigkeit unterstützen (Zerres et al., 1993; Krebs, 1992).
In diesem Zusammenhang sei nochmals die Notwendigkeit für ÄrztInnen, PsychologInnen etc. erwähnt, sich über das Entwicklungspotential von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom bewußt zu
sein und mit einer positiven Einstellung an eine Zukunftsplanung heranzugehen.
Ansonsten kommt die genetische Beratung trotz genauer Diagnostik schnell an einen Punkt, an
dem sie ihren beratenden Charakter verliert. Ebenso sei davor gewarnt, mit einer genetischen
Beratung alle in Frage kommenden Faktoren eines genetischen Risikos, sowie die damit verbundenen Konsequenzen 100%ig überschaubar machen zu wollen (Zerres, 1993).
In welchem Ausmaß Behinderung von den Ratsuchenden als solche wahrgenommen und definiert
wird, bestimmen eine Reihe psychischer, psycho-sozialer und soziokultureller Faktoren. Nicht nur
Schwere der Behinderung und Entwicklungsmöglichkeiten spielen hier eine entscheidende Rolle,
sondern auch die Frage, ob bereits Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Die besondere Familienkonstellation, individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit
Behinderungen sowie das Ausmaß gesellschaftlicher Akzeptanz und Unterstützung sind ausschlaggebend dafür, welche Bedeutung die Mitteilung von Risikozahlen und medizinischen Fakten
für die Entscheidungsfindung der Ratsuchenden hat.
Eine wesentliche Aufgabe der Beratung sollte es sein, den Eltern Schuldgefühle zu nehmen, die
sich fast immer einstellen, wenn bei einer/einem oder beiden eine genetische Belastung festgestellt
wird. Es ist wichtig, solchen Eltern klarzumachen, daß im Erbgut eines jeden Menschen es zu
nachteiligen Bestandteilen kommen kann und die Kategorie "Schuld" völlig fehl am Platz ist.
Das Gespräch sollte natürlich dem Wissensstand der Ratsuchenden entsprechen. Grundsätzlich
darf aber die Wahrheit über das Risiko nicht vorenthalten werden. Die Aspekte fordern auf seiten
der/des Beratenden einerseits eine hohe Sensibilität und andererseits psycho-soziale und psychotherapeutische Grundkenntnisse.
4. 7. 2
Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften
Die genetische Diagnostik schließt natürlich die möglichst genaue Beantwortung der Frage nach
genetischen Risikofaktoren für Schwangerschaften im allgemeinen ein. Beim Cri-du-Chat-Syndrom
besteht dann ein Risikofaktor, wenn ein oder beide Elternteile TrägerIn einer Translokation sind.
Da gerade auch beim Cri-du-Chat-Syndrom die Chromosomenaberration vereinzelt auf der Basis
einer balancierten Chromosomentranslokation über Generationen übertragen wird, bedeutet das,
daß bei einem Neugeborenen mit Cri-du-Chat-Syndrom die Chromosomenanalyse notwendig ist.
Bei Nachweis einer Translokation ist die zytogenetische Untersuchung auch bei den Eltern erforderlich, um eventuell den/die Überträger/in und unabhängig von dessen/deren Geschlecht das
Wiederholungsrisiko zu ermitteln (Knörr, 1974).
Wenn die Chromosomen der Eltern untersucht worden sind und die Möglichkeit ausgeschlossen
ist, daß ein Elternteil TrägerIn einer solchen Translokation oder eines Mosaiks ist, so ist das Risiko
für die Eltern, nochmals ein Kind mit einer 5p-Deletion zu bekommen, nicht größer als für jedes
andere Elternpaar in der Bevölkerung (1:50.000).
Personen mit einer balancierten Translokation haben ein erhöhtes Risiko, weitere behinderte
Kinder zur Welt zu bringen. Unabhängig davon, ob der Vater oder die Mutter Träger/in der
Veränderung ist, können zukünftige Schwangerschaften chromosomal normal sein, chromosomal
balanciert (wie beim Elternteil) oder chromosomal unbalanciert. Die Häufigkeit jeder Kategorie
hängt von den spezifischen Chromosomen ab, die an der Veränderung beteiligt sind.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
42
Wenn also das Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom eine unbalancierte Translokation hat, sollten die
Eltern und andere mögliche TrägerInnen einer Translokation in der Familie eine genetische
Beratungsstelle aufsuchen, um gegebenenfalls Informationen über ihr Risiko, behinderte Kinder zu
bekommen, zu erhalten.
Allerdings sollte eine Elternpaar mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom darauf hingewiesen
werden, daß das Wiederholungsrisiko für eine derartig bedingte Behinderung unabhängig davon
ist, ob und wieviel Kinder mit dieser Behinderung bereits geboren sind. Das Risiko ist, auch wenn
bereits Kinder geboren wurden, für das nächste Kind immer wieder gleich (vgl. Anhang A5).
4. 7. 3
Möglichkeiten und Grenzen der pränatalen Diagnostik
Die pränatale Diagnostik ist ein Spezialbereich und Hilfsmittel der genetischen Beratung. Man unterscheidet nicht-invasive und invasive Untersuchungen. Nicht-invasive Untersuchungen beziehen
sich vor allem auf Ultraschall und mütterliche Blutentnahme. Vielversprechend sind dabei auch die
Forschungen bei dem Versuch, aus dem mütterlichen Blut kindliche Zellen, die bei der aktuell
bestehenden Schwangerschaft durch die Plazentaschranke (biologische Barriere zwischen mütterlichem und fetalem Blut) in das mütterliche Blut übergetreten sind, zu gewinnen. Es wäre ein großer
Erfolg, wenn man ohne die Risiken, die die invasiven Methoden bedeuten, kindliche Zellen untersuchen könnte.
Invasive Untersuchungen, d.h. Untersuchungen, bei denen auf direktem Wege, sei es transabdominal (durch die Bauchdecken der Mutter) oder transzervikal (am Beginn der Geburt durch den
Gebärmutterhalskanal), fetale Zellen, fetales Serum oder Fruchtwasser gewonnen wird, dürfen nur
bei definiert bestehendem Risiko durchgeführt werden. Dazu gehören Chorionzottenbiopsie
(Gewebsentnahme durch Scheide und Muttermund oder transabdominal), Amniozentese
(transabdominale Punktion durch das Bauchfell in die Fruchtblase) und Nabelschnurpunktion.
Eine vorgeburtliche Untersuchung ist auch nur dann sinnvoll, wenn ein Risiko für ein definiertes
genetisches Leiden besteht, das sich entweder in den fetalen Zellen, in der Amnionflüssigkeit
(Fruchtwasser), im Blut, in der Morphogenese (Formentwicklung) oder der Haut des Föten manifestiert.
Nach Knörr (1974) kommt die Chromosomenanalyse der Zellen des Fruchtwassers nur in Frage:
(1)
bei familiärem Vorkommen einer vererbbaren Chromosomentranslokation,
(2)
bei Frauen, die bereits ein Kind mit einer Chromosomenanomalie geboren haben,
(3)
bei höherem mütterlichen Alter (wobei beim Cri-du-Chat-Syndrom keine derartige
Korrelation gefunden werden konnte),
(4)
bei familiärem Vorkommen geschlechtsgebundener Erkrankungen (für das Cri-duChat-Syndrom nicht relevant). (Knörr, 1974, S. 79)
Die vorgeburtliche Diagnose des Cri-du-Chat-Syndroms ist heute möglich. Die
Fruchtwasseruntersuchung ist ein Verfahren, welches Chromosomenstörungen, falls vorhanden, in
der 14.-16. Schwangerschaftswoche beim Föten feststellt. Bei der Amniozentese wird ein geringer
Teil des Fruchtwassers entnommen, die fetalen Zellen werden kultiviert, und die Chromosomen
werden mit Methoden ähnlich denen untersucht, die zuvor im Kapitel "Medizinische Aspekte" beschrieben wurden - durch Sichtbarmachen der Chromosomen in den weißen Blutzellen.
Jedoch gibt es eine Reihe von Faktoren, die bei dieser Art von Diagnose bedacht sein wollen. Zum
einen besteht die Tatsache, daß bisher kaum Therapien zur Behandlung genetisch bedingter
Erkrankungen und Behinderungen vorhanden sind, zum anderen die Notwendigkeit einer
Betreuung vor und nach einem derartigen Eingriff. Im Vorfeld sollten Möglichkeiten, Risiken sowie verschiedene Konsequenzen der pränatalen Diagnostik besprochen werden. Oftmals ist zu beobachten, daß Verunsicherungen mit dem Näherrücken des Untersuchungstermins eher wachsen
als abnehmen. Der Eingriff kann von Schwangeren als körperliche Bedrohung und als Gefährdung
des Kindes (der Realität entsprechend) erlebt werden (Murken & Cleve, 1996).
Der pränatalen Diagnostik wird von vielen Seiten eine bedeutende Rolle in der Prävention von
Behinderungen zugesprochen. Aber was bedeutet Prävention in diesem Zusammenhang?
Prävention im Sinne von Vorsorge wäre wohl nur in bezug auf einen Verzicht einer
Das Cri-du-Chat-Syndrom
43
Schwangerschaft zu verstehen, es sei denn, man setze Prävention mit "rechtzeitiger" Abtreibung
der behinderten Föten/Embryonen gleich. Natürlich liegt die Argumentation in der Realität viel
verborgener. So könnte z.B. ein genetisches Register, wie es Burn et al. (1983) vorschlagen, Eltern
der nächsten Generation mit einem genetischen Risiko auf dieses hinweisen. Die "Prävention" ließe
letztendlich aber doch nur die beiden oben genannten Möglichkeiten zu (vgl. Thimm et al, 1990).
4. 7. 4
Der nichtalltägliche Alltag
Die Verarbeitung der Situation, ein behindertes Kind zu haben, verläuft bei Eltern (d.h. sowohl bei
Müttern als auch bei Vätern) individuell verschieden. Nach Phasen wie Schock, Wut, Suche nach
Schuldigen, Verzweiflung etc. dauert es oft sehr lange (manchmal ein Leben lang), bis Eltern ihr
Leben neu organisieren können und sich ein neuer Alltag einstellt, der Alltag mit einem behinderten Kind. Wie "nichtalltäglich" dieser Alltag mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom sein kann,
möchte ich in diesem Abschnitt anhand von Dennis etwas näher beschreiben. Allerdings werde ich
mich dabei nur auf spezifische Momente beschränken, da es zur allgemeinen Situation von Eltern
mit behinderten Kindern bereits viele Beiträge in der Literatur gibt.
Zuvor möchte ich dem/der Leser/in jedoch einige grundlegende Überlegungen zum Alltag eines
Kindes mit Cri-du-Chat-Syndrom und seiner Eltern erläutern, die meiner Meinung nach in diesem
Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden sollten. Im Rahmen der persönlichen
Auseinandersetzung mit dieser Thematik, in gemeinsamen Gesprächen mit Eltern, KollegInnen
und FreundInnen und nicht zuletzt durch meinen Kontakt zu Dennis und seiner Familie stellten
sich mir immer wieder die beiden gleichen Fragen: Gibt es den Alltag mit einem Kind mit Cri-duChat-Syndrom und was ist in diesem Alltag alltäglich und was "nichtalltäglich"?
(1) Davon ausgehend, daß jedes Individuum einzigartig ist, auch im sozialen Umgang mit
anderen, kann auch jede individuelle Familienkonstellation und ihr Alltag als solches
gesehen werden. Der Alltag mit einem behinderten Kind wird immer durch dessen
Behinderung mitbestimmt. Doch spielen, wie in allen anderen sozialen Gemeinschaften
auch, eine Reihe anderer Faktoren ebenfalls eine wichtige Rolle, wie z.B. Sozialisation
des einzelnen, Erziehungsstil, soziale Umwelt, Anzahl der Kinder, finanzielle und
räumliche Gegebenheiten, Engagement der Eltern, etc.. Das bedeutet: Es gibt nicht den
Alltag mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom. Vielmehr ist dieser ebenso individuell
unterschiedlich wie der Alltag mit einem nichtbehinderten Kind.
(2) In diesem Zusammenhang stellt sich die zweite Frage: Was ist alltäglich und was
nichtalltäglich? Gerade für Außenstehende ist das Leben mit einem behinderten Kind
(z.B. mit Cri-du-Chat-Syndrom) in erster Linie nichtalltäglich. Für Eltern jedoch wird
dieses Leben mit ihrem behinderten Kind notwendigerweise zur Normalität, um nicht in
permanenter "Extremsituation" leben zu müssen. Daher fällt es vielen Eltern schwer, das
"nichtalltägliche" in ihrem Alltag zu beschreiben, denn viele Besonderheiten werden für
sie "alltäglich".
Ein wesentlicher Aspekt im Umgang mit Dennis war für seine Eltern lange Zeit die Ungewißheit,
welche Auswirkungen dieses Syndrom auf die Entwicklung ihres Kindes haben würde.
"Nachdem wir das Ergebnis der Untersuchung erfahren hatten, begann die Zeit der
Erklärungen - das Erklären einer Sache, die wir uns selbst nicht erklären und über deren
Fortgang wir nichts und niemand anderes auch etwas sagen konnten."(Dennis´ Vater in:
Kallenbach, 1994, S. 28)
Während lange Zeit die Aussage des "beratenden" Humangenetikers, daß Dennis weder laufen
noch sprechen lernen würde, jede Hoffnung lähmte, so änderte sich dies durch andere
Erfahrungsberichte (vgl. Kapitel 1: Die Geschichte von Dennis).
Gleichzeitig mit neuen Hoffnungen wuchs auch die Kraft im Engagement der Eltern, Dennis möglichst optimal zu fördern. Das bedeutete, dreimal Therapie pro Woche. Die Therapiesituation übertrug sich natürlich auch auf die häusliche Situation, was letztendlich zu einer permanenten
Überforderung führte. Dennis´ Eltern mußten, wie viele andere, lernen, daß therapeutische
Ansprüche im Alltag nicht haltbar sind. Leben ist keine Therapie.
"Irgendwann war es mir dann auch zu viel, ich konnte einfach nicht mehr. So haben wir
dann auch erstmal eine 1_jährige Therapiepause gemacht." (Dennis´Mutter)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
44
Auch wenn das Verständnis seiner Behinderung heute ein anderes ist, so bleiben immer noch viele
Fragen offen, die seine Entwicklung, seinen Platz in dieser Gesellschaft und seine persönliche
Zukunft betreffen. Hinzu kommen viele Eigenheiten von Dennis, die das momentane Leben seiner
Familie gravierend bestimmen. Auch wenn es nur ein Bruchteil des Ganzen ist, so möchte ich doch
versuchen, einen kleinen Einblick zu geben.
Der gestörte Wach-Schlaf-Rhythmus von Dennis, seine häufigen Perioden, in denen er nachts
stundenlang wach ist, haben entsprechend oft ihre Auswirkungen auf den Schlaf seiner Eltern. Bei
seinen nächtlichen Aktivitäten wird das Schlafen für seine Eltern oft unmöglich. Da er in der Regel
unweigerlich in solchen Momenten wieder ins Bett gebracht wird (mit unterschiedlichem Erfolg),
hat er zwar für sich gelernt, nachts leise zu sein, jedoch hat das zur Folge, daß sein Handeln nicht
mehr "kontrollierbar" ist. So kam es wiederholt dazu, daß die Eltern nicht von Dennis erwachten,
sondern vom Wasser, welches gerade die Wohnung überflutete.
Dennis fordert oft sehr hartnäckig die Aufmerksamkeit anderer, insbesondere seiner Eltern für sich
ein und dies häufig mit Verhaltensweisen, wie sie bereits beschrieben wurden. So bleibt den Eltern
oft nicht nur zu wenig Zeit für die Geschwisterkinder, sondern auch für sich selbst. Zudem sind
seine Eltern meist die einzigen, die seine Äußerungen und seine Wünsche erkennen und verstehen
können (oder auch nicht). Das bedeutet, daß die Eltern im Wissen um die eingeschränkten
Kommunikationsmöglichkeiten von Dennis sich auch hier in eine Art besonderer
Abhängigkeit/Verantwortung begeben.
Ein weiterer Belastungsfaktor besteht darin, daß Dennis viele seiner Verhaltensweisen ständig
wiederholt und diese auch vermehrt als Druckmittel einsetzt (wenn er z.B. seiner Schwester in den
Haaren zieht, mit seinem Kopf auf den Boden schlägt, sich beißt oder Dinge kaputtschlägt).
Außerdem kann Dennis oft in solchen Momenten Grenzen und Gefahren nicht einschätzen.
Aufgrund seiner gestörten Wahrnehmung und seines stark verzögerten Schmerzempfindens entstehen immer wieder Situationen, die für Dennis eine Verletzungsgefahr darstellen (wenn er z.B.
mit Gegenständen seine Augen untersucht oder auf der Suche nach einem neuen Stock auch mit einem Küchenmesser vorlieb nimmt). Um derartigen Gefahrensituationen entgegenzuwirken, ist oft
die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern gefordert.
Durch seine besondere Art, mit anderen in Kontakt zu treten, wenn er z.B. in den Haaren zieht,
kneift oder schlägt, kommt es unweigerlich zu Reaktionen der anderen, die Dennis nicht verstehen
kann und auf die er mit Frustration und Wut in Form der beschriebenen Verhaltensweisen reagiert.
Auch hier ist dann die Intervention der Eltern gefragt. Wohl am kennzeichnendsten für den Alltag
mit Dennis ist die permanent notwendige Aufmerksamkeit, die parallel zu allen anderen
Alltagshandlungen vorhanden ist.
Trotz vieler Belastungsfaktoren im Umgang mit Dennis beschreiben seine Eltern ihn als sehr liebebedürftig und anhänglich. Es gibt viele Momente im Alltag, in denen Dennis durch seinen Sinn für
Humor und seinen Frohsinn diesen auch auf seine Umgebung überträgt. Zudem hat er ein ausgeprägtes Gefühl für Stimmungen. So leidet er oft mit, wenn es jemandem schlecht geht. Er zeigt
dann ein Bedürfnis, andere zu trösten. (Während einer Theaterprobe wurde eine Szene eingeübt, in
der sein Betreuer von jemand anderes geschlagen wird. Für Dennis war es sehr schwer, die
Situation zu ertragen, zumal er nicht begreifen konnte, daß in Wirklichkeit keine Gefahr für seinen
Betreuer bestand.)
Bei diesen Ausführungen handelt es sich natürlich nur um einen begrenzten Teil des alltäglichen
Lebens mit Dennis. Jedoch möchte ich mich gerade im Zusammenhang mit den Überlegungen im
Vorfeld dieses Abschnittes auf diese Auswahl beschränken.
Es bleibt zu sagen, daß der Alltag mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom gewiß nicht so alltäglich ist, zumal es immer wieder Momente gibt, in denen sowohl Eltern als auch die Kinder selbst
vor völlig veränderten Situationen stehen, aber...
"...Es geht darum, auf einer selbst definierten Lebensebene eine neue Qualität zu erreichen,
die Glück, Freude und Hoffnung wieder in das tägliche Leben zurückbringt..."(Dennis´ Vater
in: Kallenbach, 1994, S. 30)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
4. 8
45
Zusammenfassung
Anhand von Ergebnissen einer Fragebogenuntersuchung (Carlin, 1995/96), eigener Beobachtungen
und zweier zusätzlicher Fallberichte wurde die Heterogenität des Syndroms verdeutlicht und seine
unterschiedlichen Auswirkungen aufgezeigt.
Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren in der
Entwicklung zu erkennen und zu verstehen, da die psycho-sozialen Auswirkungen sich nicht alleine auf die primäre Behinderungsform reduzieren lassen.
Betrachten wir die Situation der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom, so ist festzustellen, daß es bzgl.
der Auswirkungen eine Reihe von übereinstimmenden Merkmalen und Entwicklungsmustern
gibt. Andererseits können das jeweilige Ausmaß und die individuelle Entwicklung sehr unterschiedlich sein. In allen Fällen ist eine gravierende Entwicklungsverzögerung zu beobachten, deren
Grad jedoch variabel ist und während der Kindheit nicht genau vorausgesagt werden kann.
Aufgrund verschiedenster behindernder Konditionen ist eine kognitive Entwicklungshemmung
fast unvermeidlich, wobei diese oft als notwendig mit dem Cri-du-Chat-Syndrom verbunden beschriebene, geistige Retardierung bzgl. der Entwicklung als sekundäre Erscheinungsform betrachtet werden muß.
Die psychomotorische Entwicklung bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom ist in den meisten
Fällen gekennzeichnet durch Hypotonie und einer damit zusammenhängenden Hyperreflexität,
auffällige Wahrnehmungsstörungen, insbesondere taktil-kinästhetische und
Gleichgewichtsstörungen und teilweise durch orthopädische Deformitäten.
Die gravierende Sprachverzögerung mit den damit verbundenen Auswirkungen gehört wohl zu
den häufigsten Merkmalen des Cri-du-Chat-Syndroms. Sie kann jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt sein.
Trotz der Defizite in der aktiven Sprache scheinen viele eine adäquat funktionale Sprache für ihre
Bedürfnisse zu haben. Außerdem ist das passive Sprachverständnis in der Regel wesentlich umfangreicher.
Die Untersuchungsergebnisse zeigen, daß die verzögerte Entwicklung von Kindern mit Cri-duChat-Syndrom keineswegs festgelegt, geschweige denn konkret vorhersagbar ist. Die
Heterogenität der individuellen Entwicklungsgeschichten läßt derartige Prognosen nicht zu.
Mit zu den bedeutendsten Auswirkungen für die Situation der Kinder gehören die beim Cri-duChat-Syndrom relativ häufig auftretenden Verhaltensauffälligkeiten, wobei diese wahrscheinlich
als sekundäre Folgeerscheinungen im Sinne multivalenter Zusammenhänge betrachtet werden
können.
Im Erwachsenenalter verändern sich einerseits bestimmte klinische Merkmale, andererseits ist zu
beobachten, daß sich eine Reihe von Merkmalen, insbesondere der Verhaltenscharakteristika und
der psychomotorischen und kognitiven Fähigkeiten, im Erwachsenenalter zu manifestieren scheinen. Das bedeutet, daß alle Betroffenen auch im Alter aufgrund ihrer Behinderung auf eine
Betreuung bzw. Unterstützung angewiesen sind.
Für die Eltern dieser Kinder stellt das Cri-du-Chat-Syndrom eine große Herausforderung dar. Zum
einen stellen die mit dem Syndrom unmittelbar verbundenen genetischen Untersuchungen und
Beratungen samt ihrer Konsequenzen einen bedeutenden Belastungsfaktor dar, zum anderen die
Situation mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom an sich.
In der Situation, ein Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom zu haben, sind Eltern verschiedensten
Belastungen ausgesetzt. Einerseits spielen die unterschiedlichen Konsequenzen der genetischen
Beratung eine Rolle, da derartige Untersuchungen nicht nur Aufklärung über die mögliche
Entstehung des individuellen Falls bieten und Aussagen zum Wiederholungsrisiko ermöglichen
können, sondern zudem in viele andere Bereiche hineinreichen, z.B. Familienplanung,
Situationsverarbeitung, Schuldzuweisung, etc..
Außerdem sei zu betonen, daß in diesem Zusammenhang die mit genetischer Beratung möglichweise verbundene pränatale Diagnostik keine Präventionsmöglichkeit im klassischen Sinne ist.
Im alltäglichen Umgang mit dem betroffenen Kind spielt die Ungewißheit, welche konkreten
Auswirkungen dieses Syndrom auf die Entwicklung des Kindes haben wird, eine große Rolle. Eine
Das Cri-du-Chat-Syndrom
46
Reihe von Besonderheiten, die unmittelbar mit der Behinderung zusammenhängen, bestimmen
den Alltag mit einem solchen Kind. Jedoch muß in diesem Zusammenhang betont werden, daß es
den Alltag mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom nicht gibt, da dieser, wie bei nichtbehinderten
Kindern auch, individuell sehr unterschiedlich sein kann. Zudem wird für viele Eltern dieser
Kinder die besondere Situation zur Normalität, um nicht in permanenter Extremsituation leben zu
müssen.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
5
47
PÄDAGOGISCHE ASPEKTE
Nachdem die medizinischen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms und die psycho-sozialen
Auswirkungen dieser Behinderung erläutert wurden, sollen im folgenden Kapitel die pädagogischen Aspekte betrachtet werden. Dabei geht es in erster Linie um die Frage, welche
Förderangebote beim Cri-du-Chat-Syndrom hilfreich und notwendig sein können, um eine optimale Entwicklung zu ermöglichen und zu unterstützen. Entsprechend soll im Anschluß an einige
grundlegende pädagogische Überlegungen zum Cri-du-Chat-Syndrom zunächst auf allgemeine
Fördermöglichkeiten eingegangen werden, danach speziell auf psychomotorische und sprachliche.
Wie wichtig eine solche Förderung für die Entwicklung dieser Kinder ist, wurde bereits in den
vorangegangenen Kapiteln angedeutet bzw. beschrieben. Die Untersuchungsergebnisse von
Wilkens et al. (1983) und Carlin (1995/96) verdeutlichen diesen Aspekt nochmals. In diesem
Zusammenhang sei jedoch darauf hingewiesen, daß es entsprechend der Heterogenität der individuellen Entwicklungen bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom auch kein einheitliches
Förderkonzept gibt. Vielmehr kommt es darauf an, jedes Kind in seiner Einzigartigkeit zu betrachten und deshalb ein für das jeweilige Kind adäquates Konzept der Förderung und Unterstützung
zu entwickeln.
Aufgrund dessen möchte ich betonen, daß die folgenden Ausführungen nicht als allgemeingültige
Förder- und Behandlungsmethode zu sehen sind, sondern einen Versuch darstellen, aufgrund verschiedener Berichte und Untersuchungen und anhand eigener Beobachtungen und Überlegungen
unterschiedliche Möglichkeiten der Förderung aufzuzeigen. Neben psychomotorischen und
sprachlichen Fördermaßnahmen werden verschiedene Therapieangebote genannt, die beim Cri-duChat-Syndrom angewendet werden/ wurden.
Da offensichtlich die relativ häufig auftretenden Verhaltensauffälligkeiten ein Wesensmerkmal
darstellen, spielt die Verhaltensmodifikation eine ebenso wichtige Rolle. Auch hier werden verschiedene Möglichkeiten genannt und erörtert. Ferner soll auch auf die Förderung im
Erwachsenenalter eingegangen werden.
Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit einigen Aussagen zur Rolle von Elternarbeit und
Selbsthilfegruppen.
5. 1
Pädagogische Überlegungen zum Cri-du-Chat-Syndrom
In der, wenn auch dünn gesäten, Literatur zum Cri-du-Chat-Syndrom findet man immer wieder
Debatten über das unterschiedliche Entwicklungspotential dieser Kinder.
Schinzel (1979) versucht z.B., die unterschiedliche Entwicklung von Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom an eigenen Beobachtungen zu verdeutlichen.
"Ein 10jähriger Knabe ist nicht imstande, frei zu sitzen und spricht noch kein Wort. Eine zusätzliche starke Geburtsasphyxie (Sauerstoffmangel), ein Krampfleiden oder irgendeine andere Ursache außer der Chromosomenaberration für seinen so schweren
Entwicklungsrückstand liegt nicht vor. Er reagiert offensichtlich auf optische und akustische
Reize, aber selbst seine langjährigen Pflegerinnen verneinen irgendeinen persönlichen
Kontakt mit ihm.
Er beschäftigt sich fast ausschließlich mit sich selbst, mit dem Ausführen stereotyper
Bewegungen durch Stunden wie Schütteln der Hände und bevorzugt, den Kopf in
Bauchlage mit aufgerichtetem Oberkörper abwechselnd nach vorne und hinten fallen zu lassen. Sein Schrei, der nie katzenähnlich war, ist jetzt hoch und langgezogen."(Schinzel, 1979,
S. 119-120)
"Ein 3jähriges Mädchen lernte mit acht Monaten, frei zu sitzen und mit 18 Monaten, ohne
Führung zu gehen. Sie spricht bereits einige Worte und versteht einfache Aufforderungen
auf Deutsch und Italienisch. Sie verständigt sich vornehmlich durch Zeichensprache, ist immer in Bewegung, nimmt alles in den Mund und beansprucht gerne die volle
Aufmerksamkeit ihrer Umgebung. Untertags trägt sie keine Windeln mehr, was oft gut geht.
Sie hilft ihrer Mutter beim Aufräumen und Staubwischen, sucht in der Handtasche nach
dem Hausschlüssel, drückt den richtigen Liftknopf und ißt selbständig mit den Händen,
wobei allerdings einiges daneben geht. Sie ist eine ausgezeichnete Nachahmerin, auch im
Spielen, vollbringt aber kaum selbständige Leistungen." (Schinzel, 1979, S. 120-121)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
48
Diese und eigene Beobachtungen sowie verschiedenste Entwicklungsberichte von Kindern mit Cridu-Chat-Syndrom zeigen, wie unterschiedlich die individuelle Entwicklung und auftretende
Probleme sein können. Bereits diese Überlegungen/Beobachtungen lassen erkennen, daß es sich
hier um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung handelt, die adäquater Pädagogik zu ihrer
Überwindung (Förderung) bedarf. Ein erster Schritt in diese Richtung ist das Bemühen um ein besseres Verständnis des Erscheinungsbildes des Cri-du-Chat-Syndroms und der inneren
Zusammenhänge im spezifischen Entwicklungsprozeß. Hier möchte ich nochmals auf die
Pfadanalyse von Pueschel (1986) verweisen, der einen derartigen entwicklungspsychologischen
Prozeß bei der Trisomie 21 nachzuweisen versucht hat.
Außerdem stellt sich die Frage, wieviel durch Schädigung vorgegeben bzw. wieviel Resultat früher
sensorischer Deprivation oder späterer Isolation durch Überbehütung bzw. durch erlernte
Inkompetenz ist. Dies ist eine Frage, die vor allem auch durch veränderte pädagogische Praxis zu
beantworten ist (Jantzen, 1990).
Vielleicht können diese Ausführungen dazu anregen, wie künftig über spezifische Syndrome neu
nachzudenken ist, "um sie auch in biologischer Hinsicht historisch zu entschlüsseln, sie nicht statisch zu betrachten, sondern als Prozeß der Selbstorganisation zu rekonstruieren" (Jantzen, 1990, S.
151).
In den folgenden Abschnitten möchte ich die verschiedenen pädagogischen Felder beleuchten und
entsprechende Handlungsperspektiven aufzeigen. Es ist zudem ein Versuch, vor allem Eltern, aber
auch beruflich betroffenen Fachleuten, neue bzw. grundsätzliche Wege zu zeigen, mit dieser Art
von Behinderung umzugehen, wobei ich einen Anspruch auf Vollkommenheit nicht für angemessen halte, da in jedem Fall individuelle Aspekte zum Tragen kommen.
5. 2
Allgemeine Entwicklungsförderung beim Cri-du-Chat-Syndrom
Wie sich gezeigt hat, gibt es sehr wohl Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom, die sich entgegen früherer Erwartungen wesentlich positiver entwickeln. Für den jeweils individuellen Fall ist eine solche
Prognose selbstverständlich nicht mit Sicherheit zu stellen, andererseits berechtigt dies jedoch, eine
intensive Förderung durchzuführen, um auf eine möglichst weitgehende Entwicklung zu hoffen.
Ein wesentlicher Einflußfaktor auf das Ausmaß der Entwicklungsverzögerung und auf den jeweiligen Entwicklungsstand liegt im Beginn, im Umfang und in der Art der speziellen Förderung.
Wie entscheidend das Alter ist, in welchem die spezielle Förderung begonnen wurde, zeigen die
Ergebnisse der Untersuchung von Wilkens et al. (1980), die in Abbildung 6 dargestellt sind.
90
60
30
Developmental Quotient
Kinder, die eine Frühförderung erhalten hatten bzw. frühzeitig eine entsprechende
Fördereinrichtung besuchten, hatten einen signifikant höheren Development (Entwicklungs-)
Quotient als die anderen Kinder, deren Förderung später anfing. Studien über Kinder mit Trisomie
21 zeigen ähnliche Relationen zwischen früher spezieller Förderung und dem Entwicklungsniveau
(Pueschel, 1986).
<1 Jahre
1-3 Jahre
>3 Jahre
Alter bei Beginn einer speziellen Förderung
Abb. 6:
Relation zwischen Development Quotient und Beginn der Förderung (Wilkens et
al., 1980, S. 404)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
49
Diese Ergebnisse zeigen nicht nur, wie ausschlaggebend eine frühe Förderung für das zu erreichende Entwicklungspotential ist, sondern implizieren damit auch, daß die
Entwicklungsmöglichkeiten und das Potential an Fähigkeiten bei Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom keineswegs genetisch festgelegt sind bzw. allein durch die Art und das Ausmaß dieser
Behinderung bestimmt werden.
Wenn sich Fachleute, seien es nun ÄrztInnen, TherapeutInnen, LehrerInnen oder andere beruflich
Betroffene, über diese Tatsache im klaren sind, dann wird jene "Ohnmacht" überwindbar, die aufgrund einer scheinbar genetisch bedingten Abhängigkeit der Entwicklungschancen von einer statischen Betrachtungsweise chromosomaler Syndrome ausgeht.
Allerdings ist unter ÄrztInnen, PädagogInnen und anderen Fachleuten bis heute das Wissen um
die Auswirkung und die Förder- und Hilfsmöglichkeiten relativ gering, so daß aus Unwissenheit
die notwendige Hilfe und Förderung, wenn überhaupt, oft sehr spät erfolgt. Dazu kommt, daß die
notwendigen Hilfsangebote oft nicht in ausreichender Zahl vorhanden bzw. daß sie für viele Eltern
mit immensen organisatorischen und finanziellen Aufwendungen verbunden sind. Diese
Beobachtung wird von vielen Befragten in unserer Untersuchung bestätigt.
Von den Kindern unserer Untersuchung haben 84% (aktuell: 10%) Frühförderung erhalten. In der
Untersuchung von Carlin (Aug. 1995) berichten nur 68% über Frühförderung. Dabei umfaßte das
entsprechende Angebot verschiedenste Behandlungen, Konzepte und Therapien. In den meisten
Fällen ging es vor allem um die Behandlung bestimmter klinischer Symptome und um die therapeutische Aufarbeitung der allgemeinen Entwicklungsverzögerung. Um konkrete
Handlungsperspektiven aufzuzeigen, halte ich es für notwendig, entsprechend der einzelnen
Aspekte im Erscheinungsbild sowie der verschiedenen psycho-sozialen Auswirkungen in unterschiedliche Förderbereiche zu unterteilen.
5. 2. 1
Psychomotorische Entwicklungsförderung
Wie bereits beschrieben, treten in fast allen Fällen gravierende Verzögerungen bzw. Störungen in
der psychomotorischen Entwicklung auf. In unserer Untersuchung (Carlin, 1996) wird deutlich,
daß eine Reihe verschiedener neurologischer Probleme die psychomotorische Entwicklung dieser
Kinder mitbestimmt.
Ausschlaggebend sind Probleme wie schwacher Muskeltonus, schlechte Koordination bzw.
Koordina-tionsstörungen, ungeschickte Bewegungen, breitbeiniger, unsicherer Gang, beim Gehen
einwärts gerichtete Zehen, Wahrnehmungs- und Gleichgewichtsstörungen sowie Schwierigkeiten
beim Kauen und Schlucken (vgl. Anhang A1; Abb. XXX, XXXI, XXXIII, XXXIV).
Da viele dieser neurologischen Probleme die Entwicklung in ihrer Gesamtheit bestimmen/behindern, d.h. als Ursachen für viele Entwicklungsmerkmale des Cri-du-Chat-Syndroms
angesehen werden können, ist es notwendig, im Sinne multivalenter Zusammenhänge in erster
Linie die Auswirkungen der primären Störungen zu verringern. Dabei spielt die psychomotorische
Entwicklungsförderung eine wesentliche Rolle.
Von den Kindern unserer Untersuchung erhielten alle irgendeine (oder mehrere) Form(en) von
Physikalischer Therapie, sei es Krankengymnastik, Ergotherapie oder eine andere Form. Die
Ergebnisse aus den USA bestätigen diese Beobachtung. Auch dort erhielten bis auf wenige
Ausnahmen alle eine Kombination aus Krankengymnastik, Beschäftigungs- und Sprachtherapie.
Allgemein ist für die Entwicklung psychomotorischer Kompetenzen wichtig, das Kind zu befähigen, sich Informationen und Reize durch Bewegungshandlungen selbstbestimmt, zielgerichtet und
sinnhaft zu holen. D.h. für den/die Therapeut/en/in, verschiedene Informationsquellen und
Handlungsmöglichkeiten anzubieten (Brand et al., 1988).
Im Folgenden möchte ich verschiedene Möglichkeiten der psychomotorischen Förderung aufzeigen, die ich aufgrund verschiedener Entwicklungsberichte und vor allem aufgrund eigener
Erfahrungen für sinnvoll und notwendig halte. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß dies nur ein
Ausschnitt verschiedener Möglichkeiten sein kann, da individuelle Besonderheiten den Rahmen
dieser Arbeit sprengen würden.
Einerseits umfaßt die psychomotorische Förderung die individuelle Einzelförderung des Kindes,
andererseits sollte sie aber auch die Förderung innerhalb der Gruppe einschließen.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
50
Gerade beim Cri-du-Chat-Syndrom darf die Förderung keine mechanistische Übungsreihe darstellen. Vielmehr muß sie ganzheitlich orientiert sein, d.h. sie soll das Kind als Gesamtpersönlichkeit
ansprechen und fördern. Wichtig ist dabei das Ausnützen des kindlichen Bewegungsdranges, das
Ansetzen an den momentanen Bedürfnissen des Kindes und das Aufgreifen des kindlichen
Neugierverhaltens.
Die individuelle psychomotorische Förderung bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom beinhaltet in
erster Linie Tonusregulierung der Muskulatur, Koordinations- und Gleichgewichtsschulung,
Wahrnehmungstraining, Förderung des Körperschemas und betrifft gleichermaßen auch das sozial-emotionale Verhalten und die Entwicklung der Sprache. Auf die Sprachentwicklung wird jedoch im nächsten Abschnitt noch näher eingegangen. Aus der ganzheitlichen Orientierung in der
psychomotorischen Förderung ergibt sich, daß sich viele Bereiche in einzelnen Maßnahmen überschneiden.
Konkrete Maßnahmen der individuellen Einzelförderung können u.a. sein:
-
allgemein: taktil-kinästhetische, vestibuläre und propriozeptive Stimulation
-
Reizaufnahme über den gesamten Körper/Kennenlernen verschiedener Materialien
-
bewußte Wahrnehmung von Körperspannung und -entspannung
-
Grenzerfahrungen
-
Berühren und Benennen von Körperteilen
-
Spiele, die Stell-, Stütz- und Gleichgewichtsreaktionen erfordern und provozieren
-
Einzelreize im optischen, akustischen und taktilen Bereich getrennt geben, um
Differenzierung zu erleichtern/zu erlernen
-
Fortführung der Stimulation im Bereich der Verknüpfung von zwei
Wahrnehmungsbereichen
-
Sprachanbahnung durch handelndes Umgehen mit und Erleben von Umwelt
-
Raumerfahrung über unterschiedliche Positionen und veränderte
Fortbewegungsmöglichkeiten.
Meines Erachtens spielt neben der individuellen psychomotorischen Einzelförderung die
Förderung innerhalb einer Gruppe eine ebenso wichtige Rolle für die Entwicklung dieser Kinder.
Diese Form der Förderung beinhaltet zwar im Wesentlichen auch Anteile aus der Einzelförderung,
jedoch bietet sich hier eine Situation für die Kinder, in der sie selbstbestimmt Erfahrungen sammeln, ihre Frustrationen auf verschiedene Art und Weise abbauen und sich entsprechend ihrem
Entwicklungsstand Bewegungsangebote suchen können. Ein weiterer Aspekt dieser Form beinhaltet den Bereich des sozial-emotionalen Verhaltens. Diese Art der psychomotorischen Förderung ist
speziell für Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom deshalb so bedeutend, da sie hier u.a. Grenzen kennen- sowie einhalten lernen, Regeln beachten müssen, sprachlich gefordert werden sowie im
Umgang mit anderen Kindern Anregungen finden (z.B. Imitationen, funktionales Spielen).
Wichtig ist bei beiden Formen, eine Verbindung von Bewegung, Sprache und Kognition herzustellen.
5. 2. 2
Unterstützung der Sprachentwicklung
Lange Zeit ist die Sprachentwicklung beim Cri-du-Chat-Syndrom vernachläßigt worden. Aufgrund
dessen gibt es bis heute nur vereinzelte Versuche, eine adäquate Sprachtherapie für dieses
Syndrom zu entwickeln. Zwar ist die Ursache für die Sprachstörung noch nicht eindeutig geklärt,
jedoch gibt es eine Reihe typischer Merkmale in der Stimmentwicklung sowie in der Verzögerung
der Sprachentwicklung, auf die eine entsprechende Sprachtherapie aufbauen kann.
In unserer Untersuchung erhielten 60% aller Kinder eine Form von Sprachtherapie. Allerdings gibt
es keine Angaben darüber, wie diese Sprachtherapien aufgebaut sind/waren. Daher greife ich in
diesem Abschnitt auf die Arbeiten von Sparks & Hutchinson (1980) und Sohner & Mitchell (1991)
sowie auf eigene Beobachtungen zurück.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
51
Welchen Einfluß Sprachtherapie auf die Sprachanbahnung und -entwicklung hat, zeigen die
Ergebnisse unserer Untersuchung. Es besteht eine beachtliche Korrelation zwischen
Sprachtherapie und der Fähigkeit, mehrere Wörter sprachlich zu verwenden. Zwar läßt die
Auswertung diesbezüglich nicht den Schluß zu, daß Sprachtherapie in jedem Fall den aktiven
Spracherwerb garantiert, aber es ist festzustellen, daß alle Kinder, deren Sprachumfang mindestens
mehrere Wörter umfaßt, Sprachtherapie erhalten/erhalten haben.
In bezug auf die logopädische Unterstützung in der Sprachentwicklung beim Cri-du-ChatSyndrom lassen sich meines Erachtens zwei Schwerpunkte in der sprachtherapeutischen Arbeit
konstatieren. Ein Bereich bezieht sich dabei auf die (1) phonetische Entwicklung und die
Stimmcharakteristik, z.B. auf Volumen- und Atemkontrolle, der andere Bereich konzentriert sich
auf (2) zunehmende Sprachbegriffe (expressiv und rezeptiv).
(1) Sohner & Mitchell stellten in ihrer Längsschnittuntersuchung eines Kindes mit Cri-du-ChatSyndrom fest, daß die hohe Stimme mit einem Überwiegen der fallenden Intonationskonturen und
einer begrenzten Variation der fundamentalen Frequenz auch für die Vokalisation des Kindes charakteristisch ist. Die Ergebnisse suggerieren, daß signifikante kognitive und/oder motorische
Verzögerungen einen Einfluß auf die Integrität (Unversehrtheit) der frühen Stimmentwicklung haben können.
Bei Dennis ist auffallend, daß er oft eine telegraphische Sprache verwendet, welche jedoch in
Zusammenhang mit seiner begrenzten Möglichkeit zu stehen scheint, die Phonation (Stimm- und
Lautbildung) aufrechtzuerhalten. Diese Befunde und Beobachtungen lassen annehmen, daß für die
Sprachentwicklung und daraus resultierend für die sprachtherapeutische Arbeit eine zunehmende
Volumen- und Atemkontrolle von Bedeutung ist. Für diesen Bereich bieten sich verschiedene
Methoden in der Sprachtherapie an, so z.B. Pustespiele mit Seifenblasen, Watte, Windrädchen etc.,
die eigene Stimme in Tonhöhe und Lautstärke bei Ansprache je nach Situation verändern (laut leise, schnell - langsam) u.v.m..
Ein weiterer Teil dieses Bereiches umfaßt die kognitive Förderung der Sprachklang- und
Sprachbewegungsvorstellung sowie bzgl. kinästhetischer Wahrnehmung die Förderung von
Stellungs-, Spannungs-, Kraft-, Lage-, Berührungs- und Drucksinn. Hierzu möchte ich nur einige
Möglichkeiten nennen:
-
intensiver Blickkontakt bei verbalen Äußerungen
-
Verstärkung dieses Blickkontakts durch taktile Erfahrungen über die Hand
-
variierende mimische Äußerungen vor dem Spiegel
-
Stimulation durch Mundmassage
-
Mund-, Lippen- und Zungentraining
-
Körperkontakt beim Sprechen, um übertragene Vibrationen spürbar werden zu lassen
etc..
(2) Ein weiteres Ziel der Sprachtherapie sollte sich auf zunehmende Sprachbegriffe konzentrieren.
Auch hier bieten sich eine Reihe verschiedenster Möglichkeiten an, z.B.:
-
Anbahnung von Imitationen durch Aufgreifen und Verändern sprachlicher Äußerungen
des Kindes
-
tägliche Verrichtungen verbal erklären
-
Körperspiele mit verbaler Begleitung
-
auf Geräusche der Umgebung aufmerksam machen
-
positive Verstärkung beim Lautieren
-
Lieder, Geschichten, Bildkarten und Sprachspiele mit übertriebener Gesichtsmimik
-
ständige Konversation, Fragen, Wiederholungen und Bestehen auf Antworten etc..
An einzelnen Ausführungen läßt sich bereits erkennen, daß rein logopädische Maßnahmen alleine
nicht ausreichend wirken können. Wie schon bei einigen Maßnahmen angedeutet, muß die
sprachliche Förderung auch Bereiche der verschiedenen sensorischen Systeme, der Motorik sowie
die Planungsfähigkeit von Bewegungsabläufen und kognitive Fähigkeiten einschließen. Da bei
Das Cri-du-Chat-Syndrom
52
Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom oft die taktil-kinästhetische Wahrnehmung gestört ist, kommt
es entsprechend zu einer mangelhaften Bewegungsplanung und -ausführung, die wiederum bei
der Artikulation große Probleme aufwirft. In Zusammenhang mit der psychomotorischen
Entwicklungsförderung benötigen diese Kinder für ihre Sprachentwicklung neben logopädischen
Maßnahmen ebenso eine nicht-sprachliche Integrationsförderung im taktil-kinästhetischen, propriozeptiven und vestibulären Bereich.
5. 2. 3
Weitere Therapieangebote
Im Folgenden möchte ich nun beispielhaft einige Therapieangebote nennen und kurz beschreiben,
die beim Cri-du-Chat-Syndrom ihre Anwendung finden/gefunden haben. Zum größten Teil beziehe ich mich dabei auf Ergebnisse unserer Untersuchung.
Hippo-/Reittherapie/Voltigieren:
Das "Heilpädagogische Reiten" wirkt kreislaufstabilisierend, stoffwechselstimulierend, regt
die Eigenwahrnehmung an und ist deshalb besonders förderlich für antriebsgebremste und
bewegungsarme Kinder. Die angstmindernde Wirkung eines Therapiepferdes (das nichts
bemängelt und keinen Erwartungsdruck erzeugt) ist die Grundlage für den Erfolg der
Maßnahmen.
Manuelle Medizin/Therapie:
Manuelle Medizin (Manualtherapie) basiert auf manueller Manipulation an Gelenken und
Muskulatur zur Behebung funktioneller Bewegungsstörungen (Schneider et al., 1989).
Elektrotherapie:
Elektrotherapie basiert entweder auf Reizreaktionen durch niederfrequente und mittelfrequente Ströme oder auf Erwärmung der Körpergewebe durch Hochfrequenz. Angewandt
wird diese Form der physikalischen Therapie u.a. zur Tonusregulierung (Gillert et al., 1995).
Orofaziale Regulationstherapie nach Castillo Morales:
Diese Therapie gliedert sich in drei Teilkomponenten: das krankengymnastisch-logopädische Übungsprogramm, die apparative Stimulation mit der Gaumenplatte sowie eine detaillierte, funtionelle Befunderhebung zu Therapiebeginn und in regelmäßigen Abständen während der Therapie (Limbrock & Castillo-Morales, 1986a & 1986b). Ziel ist die Beeinflussung
der orofazialen Dysfunktionen und findet u.a. Anwendung bei behinderten Kindern mit
Kau-, Schluck- und Sprechstörungen. Die Übungen, basierend auf physiotherapeutischen
Prinzipien, wirken unmittelbar auf den Mund-Gesicht-Bereich und stehen in direkter
Beziehung zum Gesamtkörper. Ziel der Gaumenplatte ist die direkte und indirekte
Beeinflussung der oralen Sensomotorik (Castillo-Morales et al., 1985).
Musiktherapie:
Die Behandlung erfolgt in drei Phasen. In der ersten, der sogenannten regressiven
(rückschreitenden) Phase, wird das Kind Klangformen ausgesetzt, die seinem rückentwickelten Zustand voll und ganz entsprechen. Sobald wie möglich versucht der/die
Therapeut/in, die zweite - kommunikative - Phase einzuleiten, indem er/sie die in der ersten Phase geöffneten Kommunikationskanäle zu einer direkten Kontaktaufnahme nutzt. In
der dritten, der integrativen Phase, wird versucht, die zuvor entwickelte
Kommunikationsbasis zu erweitern und den Kontakt des Kindes zu seiner Umwelt, vor allem zu seiner Familie, zu fördern (Benenzon, 1983).
Audovokales Training nach Tomatis:
In vorbereitenden passiven Sitzungen werden dem Kind gefilterte Klangreize vom Tonband
über einen Hörsimulator, ein aus Kopfhörer und Vibrator bestehendes "Elektronisches Ohr"
vorgespielt. Vorzugsweise verwendet werden dazu Mozartmusik oder die hohen
Frequenzen der Mutterstimme, so wie sie bei einem Fötus durch das Fruchtwasser hindurch
ankommen. Schrittweise erfolgt dann die Übertragung von gefilterten zu ungefilterten
Tönen, entsprechend der (angenommenen) Veränderung des Hörens durch Fruchtwasser gegenüber dem Hören durch Luft. In der darauffolgenden vorsprachlichen Phase werden dem
Kind die hohen Frequenzanteile von Musik, Gesang und seine eigene Stimme über
Kopfhörer und den Vibrator zugeführt. Falls eine sprachliche Phase erreicht wird, sind
Das Cri-du-Chat-Syndrom
53
Stimm- und Sprechübungen (mit Hilfe von Mikrophon, Kopfhörer und Vibrator) vorgesehen. Auf jeden Fall ist es möglich, mit dem Horchtraining das Interesse an akustischen
Reizen zu fördern (Tomatis, 1987).
Patterning nach Doman/Delacato:
Vermehrte Sinneseindrücke sollen die Funktionstüchtigkeit des Zentralen Nervensystems
verbessern. Bewegungsfunktionen, die ein Kind nicht selbst ausführen kann, werden nach
der Doman-Delacato-Methode gepatternt. Patterning (Musterentwicklung) bedeutet im
Verständnis der Erfinder, daß drei Erwachsene die koordinierten Bewegungen des Kriechens
oder Krabbelns für ein Kind, sozusagen stellvertretend, ausführen. Auf diese Weise sollen
Körper und Gehirn Bewegungsmuster erlernen, die dem Kind sonst vorenthalten blieben.
Erfolgsaussichten sollen mit Frequenz, Intensität und Dauer häuslicher (den Eltern
auferlegter) Förderprogramme steigen. Gleichzeitig erhöht sich dadurch aber auch das
Risiko der Überforderung und Beziehungsbelastung.
Festhaltetherapie (Forced Holding):
Bei dieser einschneidenden, schwierigen und dramatischen Maßnahme soll die Mutter das
Kind körperlich an sich halten, auch gegen den Widerstand des Kindes. Der Mutter ist es
nicht erlaubt aufzugeben, bis das Kind so erschöpft ist, daß es sich entspannt. Ähnlich wie
bei verhaltenstherapeutischen Techniken der Reizüberflutung wird das Kind mit
Angststimuli überhäuft, erlebt eine Zeit intensiver Angst, bis zur Erschöpfung, bis eine
Löschung der Angst erfolgt (Kane & Kane, 1986).
Als weitere Formen werden in unserer Untersuchung genannt: Adaptive Spieltherapie, Theraplay,
Mund- und Eßtherapie, Massagen, Bäder, Krankengymnastik, Ergotherapie u.a.m..
An der Auflistung der unterschiedlichen Therapieangebote, welche von verschiedensten
AutorInnen und Befragten unserer Untersuchung in Zusammenhang mit dem Cri-du-ChatSyndrom genannt wurden, wird deutlich, daß zwar mit vielen Angeboten der Anspruch verbunden wird, das Cri-du-Chat-Syndrom therapeutisch behandeln zu können, jedoch betrifft dies in der
Regel nur einzelne Symptome.
Wir können also zusammenfassend feststellen, daß es kein spezifisches und umfassendes
Therapiekonzept für das Cri-du-Chat-Syndrom gibt. Das bedeutet, daß bei der therapeutischen
Behandlung dieses Syndroms zum einen auf spezielle Symptome bzw. Merkmale eingegangen
wird, um diese (oft isoliert von anderen) zu therapieren. Andererseits greifen spezielle Therapien
einzelne oder mehrere Erscheinungsmerkmale des Cri-du-Chat-Syndroms (wie bereits erwähnt)
auf, die der jeweils bestehenden Therapieform entsprechen. So komplex die verschiedenen Aspekte
des Cri-du-Chat-Syndroms sind, so komplex ist auch die Frage der therapeutischen Behandlung.
Selbstverständlich haben viele dieser Therapien ihre Berechtigung. Ich möchte hier in keiner Weise
die therapeutische Wirkung einzelner Maßnahmen an sich in Frage stellen. Aber wir müssen uns
fragen, welche Formen und in welchem Umfang diese bzgl. eines therapeutischen Erfolges wirklich effektiv sein können. Meines Erachtens sollte auf jeden Fall Beachtung finden, daß das Cri-duChat-Syndrom eine Behinderung ist, die durch multivalente Zusammenhänge unterschiedlicher
Kennzeichen geprägt ist. Somit muß auch in der therapeutischen Arbeit diese Behinderung, in erster Linie jedoch der betroffene Mensch, in der Gesamtheit gesehen werden. Welche
Einzelkomponenten dabei ihre Anwendung finden, ist in jedem individuellen Fall zu entscheiden.
Es muß das Ziel von Therapie sein, die/den Betroffene/n in ihrer/seiner Entwicklung zu unterstützen, ihr/ihm zu helfen, konkrete behindernde Konditionen zu überwinden und ihr/sein mögliches Potential an lebensnotwendigen Fähigkeiten zu erreichen. Geschieht dies nicht, so lassen sich
alle Therapieangebote darauf reduzieren, daß sie nur einzelne Defizite beseitigen wollen, nicht aber
das Individuum als Ganzes unterstützen.
Dazu kommt, daß keine der zum Cri-du-Chat-Syndrom gemachten Untersuchungen bisher einen
direkten Zusammenhang zwischen einer konkreten Therapieform und dem erreichten
Entwicklungspotential feststellen konnte. Die bestehenden Korrelationen betreffen vielmehr eine
allgemeine Entwicklungsförderung. Inwieweit sich also spezielle Therapieangebote im Gegensatz
zu umfassender Förderung im Rahmen der Familie, der Schule etc. als hilfreicher oder sinnvoller
erweisen, bleibt ungeklärt.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
5. 3
54
Verhaltensmodifikation
Im Kapitel "Psycho-soziale Auswirkungen" wurden eine Reihe von typischen
Verhaltensauffälligkeiten beim Cri-du-Chat-Syndrom beschrieben. Ausgehend davon, daß diese
Auffälligkeiten als sekundäre Folgeerscheinungen der primären Behinderung betrachtet werden
können, sich also auch erst mit der Zeit als solche entwickeln, ist es naheliegend, daß eine sinnvolle
Verhaltensmodifikation nur möglich ist, wenn ein entsprechendes Verständnis der genannten
Zusammenhänge vorhanden ist. Andererseits ist festzustellen, daß derartige
Verhaltensauffälligkeiten nicht nur aus behindernden Konditionen in der Entwicklung resultieren,
sondern wiederum die Entwicklung an sich behindern. Daher ist es notwendig, diesbezüglich zu
intervenieren.
In unserer Untersuchung wurden die Eltern danach gefragt, was im Umgang mit unerwünschtem
Verhalten hilfreich gewesen ist. In der Auswertung dieser Frage stellten sich folgende Aussagen als
die grundlegendsten heraus: (1) Ablenkung und Zuwendung, (2) Konsequentes Verhalten, (3)
Beruhigen und selbst Ruhe bewahren, (4) Festhalten (vergleichbar mit der Festhaltetherapie) und
Kombinationen dieser vier. Auch in der Untersuchung aus den USA berichteten die meisten Eltern,
daß Ablenkung, Unterbrechung, sofortige Belohnung und strenges Bestehen auf Regeln die erfolgreichsten Methoden zur Verhaltensbeeinflussung sind. Unsere Aussagen sind im Wesentlichen
identisch. Von fast allen wurde aber auch gesagt, daß sich Verhaltensbeeinflussung eher schwierig
und langwierig gestaltet.
Ich möchte mich an dieser Stelle auf die Arbeit mit Dennis beziehen. Aus meinem eigenen Erleben
mit Dennis kann ich einige dieser Möglichkeiten unterstützen. Ein entscheidender Faktor liegt in
der Konsequenz des Verhaltens gegenüber Dennis, so daß es für ihn möglich wird, sich an Regeln
zu orientieren, die sowohl für ihn als auch für sein Gegenüber gelten - auch als
Orientierungspunkt in der Suche nach Grenzen. In einer Fallbeschreibung von Davies (1993), in der
Interventionstechniken entsprechend einer Verhaltenstherapie erläutert werden, wird ebenfalls die
Notwendigkeit der Konsequenz im Verhalten von seiten der Eltern (oder anderer Bezugspersonen)
betont. Weiterhin wird auf die Möglichkeit hingewiesen, daß sich einige unerwünschte
Verhaltensweisen verstärken können, bevor sie abnehmen oder durch andere
Verhaltensauffälligkeiten ersetzt werden.
Als einen weiteren wichtigen Punkt habe ich erlebt, daß Ruhe bewahren Dennis hilft, besser mit
Unruhe, Frustration und Unverständnis umzugehen. Damit kann nicht nur eine Eskalation der jeweiligen Situation verhindert werden, vielmehr bietet sich dadurch für Dennis erst die
Möglichkeit, das eigentliche Problem zu sehen und vielleicht zu verstehen. Fehlt ihm in einer derartigen Spannungssituation ein derartiger Orientierungspunkt, so verliert er sich häufig in seinen
Aggressionen.
Bezüglich der Ablenkung und Zuwendung gibt es meines Erachtens zwei Seiten: Zum einen macht
Dennis mit vielen Verhaltensweisen auf sich bzw. seine Bedürfnisse aufmerksam. Dies ist ein Indiz
dafür, daß er damit sein Gegenüber dazu bewegen möchte, sich ihm bzw. seinen Bedürfnissen
auch zuzuwenden. Andererseits kann Ablenkung bewirken, daß zwar vom eigentlichen Problem
(zumindest in Dennis´ Augen) abgelenkt, dieses aber nicht gelöst wird. Vielmehr wird die geringe
Aufmerksamkeitsspanne "ausgenutzt", um unerwünschtes Verhalten zu vermeiden.
Hier kommt deutlich das Dilemma im Umgang mit diesen Kindern zum Ausdruck. Einerseits sollen Verhaltensweisen, die selbst oft als behindernde Konditionen gesehen werden können, vermieden werden, andererseits versperrt man damit aber den Kindern auch eine Möglichkeit, ihre
Bedürfnisse, ihre Emotionen und Frustrationen zu äußern. Dies wird dadurch bestätigt, daß bei
Intervention bestimmte Verhaltensweisen zwar verschwinden, jedoch aber auch durch andere ersetzt werden können (Davies, 1993).
Die Notwendigkeit einer Verhaltensmodifikation ist gewiß nicht von der Hand zu weisen, jedoch
birgt eine Prioritätensetzung diesbezüglich die Gefahr der Vernachlässigung von psychomotorischer, sprachlicher und anderer Förderung. Leider ist dies vielerorts der Fall (z.B. in Schulen und
anderer Institutionen). Aber auch im alltäglichen Umgang mit Dennis besteht die Gefahr, ihm
(wenn auch oft unbewußt) zugunsten einer Verhaltensmodifikation Möglichkeiten zu versperren,
auf sich aufmerksam zu machen.
In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals die Frage aufgreifen, in welchem Umfang
Behinderung z.B. aus späterer Isolation durch erlernte Inkompetenz resultiert. Wenn
Das Cri-du-Chat-Syndrom
55
Verhaltensmodifikation auch neue Möglichkeiten eröffnen mag, so ist sie gleichzeitig aber auch
eine Festschreibung von Inkompetenz und in vielen Fällen eine Form der sich automatisierenden
Konditionierung. Ich möchte dies dem/der Leser/in an einem Beispiel verdeutlichen.
In der Geschichte von Dennis wurde seine außerordentliche Vorliebe für Stöcke beschrieben. Diese
Vorliebe hat meines Erachtens jedoch zwei verschiedene Seiten. Zum einen sind Stöcke für ihn
wahrlich von großem Interesse. So ist er in dieser Beziehung z.B. sehr wählerisch, modifiziert sie
gegebenenfalls, damit sie für ihn im wahrsten Sinne des Wortes handlich werden. Andererseits
wird diese Vorliebe von seinen Bezugspersonen nur allzuoft dazu genutzt (bewußt oder unbewußt), ihn zu bestimmten Aktionen zu bewegen bzw. Spannungs- und Konfliktsituationen auf das
Nichtvorhandensein seiner Stöcke zu reduzieren. Damit bleibt Dennis vielfach nur eine
Möglichkeit, seinen Unmut, seinen Ärger etc. zu äußern. Er greift zurück auf die Forderung nach
seinen Stöcken, da dies eine Äußerung darstellt, die in der Regel verstanden wird. Macht aber dies
nicht gerade seine "Inkompetenz" aus?
Zum Festhalten sei noch erwähnt, daß es zwar Situationen gibt, in denen nur noch diese Lösung
die einzig vernünftige zu sein scheint, es aber letztendlich auf einen Willensbruch von seiten
der/des Festhaltenden hinausläuft. So sehr diese Aussage auch umstritten ist, es soll an dieser
Stelle nicht näher darauf eingegangen werden.
Bei einem sehr geringen Teil werden Beruhigungsmittel oder bestimmte homöopathische Mittel
eingesetzt, um die Verhaltensauffälligkeiten zu beeinflussen. Auch auf diesen Aspekt möchte ich
nicht näher eingehen, sondern nur auf die bisherigen Überlegungen verweisen.
5. 4
Eine Herausforderung für LehrerInnen und andere beruflich Betroffene
Eigentlich ist die Überschrift dieses Abschnittes etwas irreführend, denn eine Herausforderung im
ursprünglichen Sinne stellt wohl jede Art pädagogischer Arbeit dar. Trotzdem ergeben sich durch
die spezielle Behinderungsform spezifische Momente. Da die meisten bisherigen Ausführungen
auch für den Schulalltag bzw. für die Arbeit von LehrerInnen und anderen beruflich Betroffenen
gelten, möchte ich auf eine nochmalige Auflistung einzelner Aspekte verzichten. Hingegen sollen
nur die wichtigsten Anforderungen zusammenfassend genannt werden.
Die pädagogische Arbeit erfordert grundsätzlich eine Aufklärung über das Syndrom und seine
Erscheinungsbilder, das Bewußtmachen der unterschiedlichen Entwicklungspotentiale, das
Verständnis von Zusammenhängen zwischen primär behindernden Konditionen und seinen
Folgeerscheinungen sowie ein Loslösen von einer Sichtweise der genetischen Determinierung einer
Entwicklung und den damit verbundenen Prognosen.
An dieser Stelle möchte ich einige spezifische Momente der pädagogischen Arbeit an dem Beispiel
von Dennis aufzeigen, die mir grundlegend als wichtig und sinnvoll erscheinen. Dabei handelt es
sich weder um Maßnahmen, die speziell nur auf das Cri-du-Chat-Syndrom zutreffen, noch können
diese Überlegungen selbstverständlich auf alle Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom gleichermaßen
übertragen werden, wobei dies den/die Leser/in nach der bisherigen Lektüre auch nicht verwundern dürfte.
Aufgrund der motorischen Beeinträchtigung, der verzögerten Sprachentwicklung und der
Störungen in der Perzeption (Wahrnehmung) mit der damit verbundenen Einschränkung des
Erfahrungsvolumens wird verständlich, daß in fast allen Lernbereichen größere Anstrengungen
unternommen werden müssen. Da es Dennis besonders schwerfällt, sich längere Zeit auf eine
Sache/einen Lerninhalt zu konzentrieren, ist es erforderlich, ihm diesbezüglich Hilfestellungen zu
bieten. Dazu ist es notwendig, den Lernstoff entsprechend auf wesentliche Vorgänge und logischen
Aufbau abzugrenzen, unterschiedliche Erfahrungen und Interessen zu nutzen sowie
Konzentrationsphasen zu begrenzen.
Es sollten bereits vorhandene Fähigkeiten und Vorlieben aufgegriffen werden, die dann mit neuen
Möglichkeiten verbunden werden können bzw. mit deren Hilfe ein Interesse an anderen
Aktionsformen (als die zum Teil stereotypen Handlungsmuster) geweckt und zu diesen übergeleitet werden kann. Dabei ist es notwendig, neue Eindrücke und Reizerfahrungen zu differenzieren,
um einer Reizüberflutung entgegenzuwirken. Die einzelnen Aktionsformen sollten ausgerichtet
sein auf die Verarbeitungsmöglichkeiten und die motorischen Fähigkeiten von Dennis. Ähnlich der
Situation zu Hause wird auch die Schulsituation gekennzeichnet von typischen
Verhaltensauffälligkeiten.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
56
Vergleichbar mit den Ausführungen zur Verhaltensmodifikation wird auch im Schulalltag eine
entsprechende Intervention notwendig, d.h. Dennis benötigt entsprechende Hilfestellungen wie
z.B. feste Regeln, um somit eine gewisse Orientierung zu finden.
Wie bei allen anderen Förderangeboten auch, kommt es jedoch in erster Linie darauf an, Dennis´
Möglichkeiten in ihrer Gesamtheit zu betrachten und innere Zusammenhänge zu erkennen.
5. 5
Förderung im Erwachsenenalter
In den vorangegangenen Abschnitten zum Erwachsenenalter wurde deutlich, wie wenig bis heute
über Erwachsene mit Cri-du-Chat-Syndrom bekannt ist. Ebenso gibt es diesbezüglich relativ wenig
Erfahrungen im Bereich der Erwachsenenförderung. Aufgrunddessen stehen mir nur die begrenzten Aussagen aus der Fragebogenuntersuchung zur Verfügung. Ich möchte an dieser Stelle trotzdem versuchen, einige dieser Aussagen näher zu beleuchten.
Spezifische Angaben werden allein dadurch begrenzt, daß nur vier Personen in unserer
Fragebogen-aktion älter als 18 Jahre sind. Drei davon arbeiten in einer Beschützenden Werkstatt
oder Fördergruppe. Alle haben (laut Fragebogen) aber beschränkte Fähigkeiten und benötigen eine
entsprechende Einzelbetreuung.
Die Ergebnisse der amerikanischen Untersuchung zeigen, daß zwar zwei Drittel der über
18jährigen irgendeine Art von berufsbildendem Training bekommen haben, ihre Fähigkeiten aber
meist beschränkt bleiben. Ihre Verhaltensauffälligkeiten stören die Leistungsfähigkeit.
Ob und inwieweit sich also spezifische Momente für die Förderung im Erwachsenenalter aus der
speziellen Behinderungsform des Cri-du-Chat-Syndroms ergeben, bleibt offen, da es dazu bisher
keine signifikanten Kenntnisse und vor allem keine Erfahrungen gibt.
Natürlich sollten allgemeine Prinzipien der Erwachsenenbildung eine grundsätzliche Orientierung
bieten, auch wenn sich gewisse Einschränkungen aufgrund der Behinderung ergeben können. Für
Erwachsene mit Cri-du-Chat-Syndrom läßt sich auf jeden Fall feststellen (vgl. Punkt 4. 6), daß alle
Betroffenen auch im Alter aufgrund ihrer Behinderung auf eine Betreuung bzw. Unterstützung
angewiesen sind, wobei der Umfang durchaus variieren kann.
Auch wenn sich beim Cri-du-Chat-Syndrom im Erwachsenenalter eine Reihe von Merkmalen, insbesondere der Verhaltenscharakteristika und der psychomotorischen und kognitiven Fähigkeiten
zu manifestieren scheinen (vgl. Punkt 4. 6), sollte grundsätzlich im Vordergrund stehen, die im
Kindes- und Jugendalter begonnenen Förder- und Therapiemaßnahmen auch im Erwachsenenalter
fortzuführen und zu spezifizieren.
Spezifizierung bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Fördermaßnahmen natürlich veränderte Schwerpunkte haben sollten als im Kindesalter. So ist es sinnvoll, nicht nur rein lebenspraktische Fähigkeiten zu fördern, sondern auch bzgl. der Berufsfindung, -ausbildung und -förderung
entsprechende Angebote zu schaffen. Unabhängig vom Alter und dem Grad der
Sprachbehinderung sollte in jedem Fall die Förderung in Sprache und Kommunikation fortgeführt
werden.
Grundsätzlich sollten alle Betroffenen (auch im Erwachsenenalter!) dahingehend unterstützt werden, daß sie mobil sind/werden, einen bestimmten Grad der Unabhängigkeit in
Selbstpflegefähigkeit/Selbständigkeit besitzen/erreichen und in der Lage sind, verbal oder durch
andere Kommunikationsmöglichkeiten auf ihre Bedürfnisse und Wünsche aufmerksam zu machen.
5. 6
Häusliche Pflege oder Heim- bzw. Wohngruppenunterbringung
Die Frage, ob und wann ein Kind in ein Heim oder eine betreute Wohngruppe gegeben werden
soll, ist eine quälende Entscheidung, der sich Eltern behinderter Kinder manchmal stellen müssen.
In diesem Punkt macht das Cri-du-Chat-Syndrom keinen Unterschied zu anderen schweren
Formen von körperlicher und geistiger Behinderung, und es gibt keine richtige oder falsche
Antwort.
Sowohl die Untersuchung von Wilkens et al. (1983) als auch unsere Fragebogenstudie beziehen
sich fast nur auf Kinder, die zu Hause aufgewachsen sind. Deshalb scheidet sich die Schwere der
Behinderung und der Grad des Erlernens von Fähigkeiten der Kinder dieser Berichte etwas von
Das Cri-du-Chat-Syndrom
57
denen früherer Studien, die in erster Linie auf Heimkinder basierten. Obwohl es vielleicht gut sein
könnte, daß die am schwersten betroffenen Kinder vorrangig in einer Institution (sei es nun ein
Heim oder eine andere Form des betreuten Wohnens) untergebracht werden, ist es meines
Erachtens wahrscheinlicher, daß eine unterstützende häusliche Umgebung einem behinderten
Kind hilft, sein volles Potential auszuschöpfen, wie auch bei einem nichtbehinderten Kind. Leider
gibt es zu diesen Überlegungen bisher nur Vermutungen aufgrund von einzelnen Fallberichten.
Demnach scheint sich während des Kindesalters eine häusliche Umgebung für die Entwicklung
dieser Kinder positiver auszuwirken. Für das Erwachsenenalter hingegen kann eine Form des betreuten Wohnens günstiger sein, da sich hier das soziale Umfeld für die Betroffenen verändert und
sich daraus neue Möglichkeiten ergeben können.
Die Entscheidung über eine Heim- bzw. Wohngruppenunterbringung bedarf vieler Erwägungen.
Geeig- nete Einrichtungen müssen vorhanden sein. Die Kosten können in vielen Fällen ausschlaggebend sein oder auch die emotionale Belastung für die Familie. Der Schweregrad der
Behinderung und die damit verbundenen medizinischen Komplikationen müssen ebenfalls berücksichtigt werden.
Dieses Thema sollte nicht vorschnell verurteilt werden, noch sollten Entscheidungen als nicht
rückgängig zu machen betrachtet werden. ÄrztInnen, Krankenschwestern und -pfleger,
PsychologInnen, GenetikerInnen und AutorInnen von Broschüren mögen viel Wissen über das Cridu-Chat-Syndrom haben, letztendlich aber sind und bleiben die Eltern die führenden ExpertInnen
bei ihrem eigenen Kind.
Die Frage nach der Unterbringung der Kinder wurde in der amerikanischen Untersuchung nur
von zwei Drittel der Antwortenden beantwortet. Bei denen, die geantwortet haben, leben 85% der
Kinder auch als Erwachsene zu Hause. In unserer Untersuchung wurde diese Frage ebenfalls häufig nicht beantwortet. Allerdings läßt sich aus dem Kontext des Fragebogens häufig erschließen,
daß die Kinder zu Hause leben. Nur vier Kinder leben nicht ständig zu Hause.
5. 7
Elternarbeit - Selbsthilfegruppen
In diesem Abschnitt möchte ich mich auf die Ausführungen zur Situatuion der Eltern von Kindern
mit Cri-du-Chat-Syndrom beziehen (vgl. Punkt 4. 7) und mich bezüglich der Elternarbeit auf eine
Zusammenfassung beschränken. Zudem wird eine konkrete Form der Elternarbeit am Beispiel der
Selbsthilfegruppe "Cri-du-Chat-Syndrom" beschrieben.
Wie bereits bzgl. der Elternsituation erwähnt wurde, ist Elternarbeit in Form von Unterstützung,
Aufklärung und Beratung von großer Bedeutung. Dies bezieht sich auf die verschiedensten
Personengruppen. Während die Anleitung und Unterstützung durch ÄrztInnen, BeraterInnen und
das betreffende Personal in Krankenhäusern für Eltern entscheidend ist, so ist die Rolle von anderen Fachleuten in frühkindlicher Entwicklung genauso wichtig zur Sicherstellung der
Verfügbarkeit von Hilfe, insbesondere im Bereich Elternschaft. Dies setzt allerdings voraus, daß
diese Fachleute über die notwendigen Kenntnisse bzgl. des Cri-du-Chat-Syndroms verfügen. Eine
derartige Unterstützung von professioneller Seite kann nicht nur eine unmittelbare Entlastung der
Eltern ermöglichen, sondern bietet ebenso eine Unterstützung im eigenen Managment und
Engagement der Eltern.
Während all diese Hilfsangebote wertvoll und notwendig sind, darf die unterstützende Rolle von
FreundInnen und Familie nicht unterschätzt werden. Eine besonders wichtige Quelle der
Unterstützung kann der Kontakt mit Eltern anderer behinderter Kinder sein. Solche Elterngruppen
fungieren als Forum zur Verteilung von Informationen und zur Mitteilung von Problemen und
Erfahrungen und können so zur Reduzierung des Gefühls der Isolation dienen.
Eine derartige Elterninitiative finden betroffene Eltern z.B. in der Selbsthilfegruppe "Cri-du-ChatSyndrom". Im Mai 1993 wurde diese Selbsthilfegruppe gegründet, die später einmal vielleicht verschiedene Regionalgruppen bilden könnte. Im Vordergrund steht als Ziel zunächst der persönliche
Erfahrungsaus- tausch und die Notwendigkeit, die Behinderung bekannt zu machen und sich für
bessere Bedingungen in Kindergärten und Schulen einzusetzen. Ein weiterer Beweggrund dieser
Einrichtung ist es, als Gruppe für andere Eltern da zu sein, die meist in ihrer Situation mit einem
Cri-du-Chat-Kind zunächst alleine dastehen.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
58
Im Umgang mit Behörden und Krankenkassen brauchen Eltern immer wieder viel Unterstützung.
Deshalb sollten Krankenhäuser, KinderärztInnen, humangenetische Beratungsstellen und
Behinderteneinrichtungen von der Selbsthilfegruppe wissen und an sie weiterleiten können.
Mit Unterstützung der Spastikerhilfe Bremen organisierte Frau Ute Meierdierks am 08.10.1994 das
erste bundesweite Treffen betroffener Familien in Bremen, auf dem in erster Linie ein
Erfahrungsaustausch zwischen den Eltern stattfand. In Diskussionen wurden viele Fragen der täglichen Fürsorge und der unterschiedlichsten Entwicklungsverzögerungen und Lernschritte debattiert.
Diese Form der Elternarbeit spielt meines Erachtens nicht nur eine bedeutende Rolle in der gegenseitigen Unterstützung der Eltern, sondern sie bietet eine ebenso wichtige Möglichkeit, gemeinsam
auf diese Form der Behinderung aufmerksam zu machen und sich sowohl für eine umfangreichere
Aufklärung unter Fachleuten als auch für bessere Möglichkeiten der Unterstützung und Förderung
der Kinder einzusetzen. (Die Adresse dieser Selbsthilfegruppe findet der/die Leser/in im Anhang
A4 .)
5. 8
Zusammenfassung
Bereits an den Ausführungen zu den medizinischen Aspekten und den psycho-sozialen
Auswirkungen läßt sich erkennen, daß es sich beim Cri-du-Chat-Syndrom um eine tiefgreifende
Entwicklungsstörung handelt, die zu ihrer Förderung einer adäquaten Pädagogik bedarf.
Eine Voraussetzung hierfür ist es, dieses Syndrom auch in seiner biologischen Hinsicht historisch
zu entschlüsseln, es nicht statisch zu betrachten, sondern als Prozeß der Selbstorganisation zu rekonstruieren (Jantzen, 1990).
Einerseits wurde deutlich, wie ausschlaggebend Beginn, Umfang und Art der speziellen Förderung
für das zu erreichende Entwicklungspotential ist, andererseits offenbart sich auch, daß die
Entwicklungsmöglichkeiten und das Potential an Fähigkeiten bei Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom keineswegs genetisch festgelegt sind bzw. allein durch die Art und das Ausmaß der
Behinderung bestimmt werden.
Neben der allgemeinen Entwicklungsförderung spielen insbesondere die psychomotorische und
sprachliche Unterstützung eine wichtige Rolle. Verschiedene Maßnahmen diesbezüglich wurden
aufgezeigt und näher betrachtet. Im Rahmen einer umfangreichen Förderung muß auch eine
Verhaltensmodifikation bedacht werden. Ausgehend davon, daß die typischen
Verhaltensauffälligkeiten in der Regel als sekundäre Folgeerscheinungen der primären
Behinderung angesehen werden können, setzt eine sinnvolle Verhaltensmodifikation ein entsprechendes Verständnis der genannten Zusammenhänge voraus.
Eine spezifische Therapieform für das Cri-du-Chat-Syndrom gibt es nicht, jedoch eine Reihe von
Therapieangeboten, die einzelne oder mehrere Symptome bzw. Merkmale des Syndroms behandeln können. Die verschiedenen Therapien, die beim Cri-du-Chat-Syndrom ihre Anwendung finden/gefunden haben, wurde dem/der Leser/in in diesem Kapitel vorgestellt.
Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom sollten umfangreiche Kenntnisse dieser Behinderungsform sein, damit verbunden ein Bewußtsein über das mögliche
Entwicklungspotential sowie ein Verständnis der multivariaten Zusammenhänge verschiedenster
Konditionen. Anhand der Arbeit mit Dennis wurden einige spezifische Momente der pädagogischen Arbeit erläutert.
Für das Erwachsenenalter können wir feststellen, daß sich die Schwerpunkte der Förderung zwar
verändern können, es jedoch in jedem Fall darauf ankommt, die im Kindes- und Jugendalter begonnenen Maßnahmen fortzuführen.
Abgeschlossen wurde das Kapitel der pädagogischen Aspekte mit einigen Ausführungen zur
Elternarbeit, insbesondere mit der Vorstellung der Selbsthilfegruppe "Cri-du-Chat-Syndrom".
Das Cri-du-Chat-Syndrom
6
59
ABSCHLIEßENDE ÜBERLEGUNGEN
An dieser Stelle soll meine Arbeit über das Cri-du-Chat-Syndrom zu einem Abschluß kommen.
Mein Ziel war es, auf eine Behinderungsform aufmerksam zu machen, die aufgrund ihrer
Seltenheit vielerorts nur begrenzt bzw. gar nicht bekannt ist und oft wenig Beachtung findet. Dies
bestätigte sich immer wieder in den verschiedenen Recherchen zum Thema. In Gesprächen mit
Eltern und beruflich Betroffenen zeigte sich, daß es gerade im deutschsprachigen Raum an
Aufklärung und erster Orientierung für Betroffene, aber auch für Behörden und Institutionen,
mangelt.
In dieser Arbeit wurde versucht, Erkenntnisse aus der Literatur mit eigenen Erfahrungen und
Beobachtungen zu verknüpfen. Dabei wurde deutlich, daß der Großteil der Berichte über das Cridu-Chat-Syndrom von medizinischen Forschern stammt und somit die Schwerpunkte verständlicherweise hauptsächlich auf Gebieten wie physikalische Charakteristika und Befunden aus zytogenetischen und dermatologischen Studien liegen. Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der
psycho-sozialen Auswirkungen werden hingegen nur selten im Detail dokumentiert.
Jedoch sind diese Aussagen für betroffene Eltern sehr wichtig, da die Ungewißheit, welche
Auswirkungen diese Behinderung haben kann bzw. welche Entwicklung möglich ist, eine nicht zu
unterschätzende Belastung darstellt. Andererseits sind es hauptsächlich medizinische Fakten, welche die Eltern in der Regel als erstes erfahren.
Gewiß kann diese Arbeit nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verbunden werden, doch
habe ich versucht, mit Hilfe der existierenden Literatur, eigener Erfahrungen und Beobachtungen
und anhand der Auswertung der Untersuchung von Frau Dr. Carlin eine möglichst umfassende
Beschreibung der verschiedenen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms zu geben.
Zunächst war es mir wichtig, im Kapitel 3 den/die Lerser/in mit den medizinischen (genetischen)
Grundlagen vertraut zu machen. Auch wenn dieser Abschnitt nur schwer zu durchdringen scheint,
so hoffe ich, daß die Arbeit an dieser Stelle trotz des vielfältigen medizinischen Vokabulars
verständlich geblieben ist. Die einzelnen Ausführungen haben gezeigt, daß es sich beim Cri-duChat-Syndrom um eine charakteristische Kombination von körperlicher und geistiger Behinderung
handelt, deren primäre Ursache in dem Verlust von genetischem Material am kurzen Arm des
Chromosoms Nr. 5 liegt. Welcher Art und in welchem Umfang dieser Verlust sein kann, welche
Ursachen dafür zugrunde liegen, wurde in den Abschnitten 3. 2 und 3. 3 sowie 3. 6 erläutert. Wir
konnten feststellen, daß einerseits Personen mit 5p-Deletionen ein großes Maß an phänotypischer
Heterogenität aufweisen - viele Merkmale treten in variierender Häufigkeit auf, andererseits lassen
sich eine Reihe klinischer Symptome beschreiben, die als syndromtypisch angesehen werden können.
Zytogenetische Forschungen haben es inzwischen ermöglicht, nicht nur die für das Cri-du-ChatSyndrom kritischen Regionen 5p15.2 und 5p15.3 zu lokalisieren, sondern darüberhinaus eine ungefähre Lokalisation von Bruchstellen mit den damit verbundenen Phänotypen vorzunehmen.
Hingegen konnte eine Korrelation zwischen Ausmaß des Chromosomenschadens und der Schwere
der Entwicklungsverzögerung nicht festgestellt werden.
Das bedeutet, daß trotz fortgeschrittener zytogenetischer Untersuchungsmöglichkeiten weder mit
einem del(5)-Karyotyp notwendigerweise die Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" verbunden ist,
noch von einer konkreten Deletion ein konkreter Phänotyp abgeleitet werden kann.
Damit bleiben trotz genauer medizinischer Beschreibung Aussagen über das konkrete
Entwicklungspotential dieser Kinder offen. Spätestens hier wird deutlich, daß die medizinische
Auseinandersetzung mit diesem Thema allein nicht ausreichend sein kann, sondern eine genauere
Betrachtung von Entwicklungsmöglichkeiten und psycho-sozialen Auswirkungen notwendig ist.
So wurde im Kapitel 4 versucht, diese Aspekte näher zu beleuchten. Da es allerdings kaum
Literatur gibt, die diesbezüglich ins Detail geht, beziehen sich meine Ausführungen in erster Linie
auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen. Als hilfreich erwiesen sich in diesem Kapitel zwei
weitere Fallbeschreibungen und die Mitarbeit an der Untersuchung von Frau Dr. Carlin. Somit
wurde es möglich, detaillierte Informationen über physische, soziale und kognitive Fähigkeiten
sowie Verhaltensmuster zu präsentieren. Dabei war es das Ziel, die unterschiedlichen
Entwicklungsmöglichkeiten unter der Bedingung des Cri-du-Chat-Syndroms zu erläutern und das
Wissen um die generellen Verhaltenscharakteristika zu erweitern.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
60
Die hier angeführten Ergebnisse zeigen einerseits die Heterogenität des Syndroms, andererseits die
verschiedenen Auswirkungen. Somit wird verständlich, wie wichtig es ist, Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren in der Entwicklung der Kinder zu erkennen und zu verstehen. Betrachten
wir die Situation der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom, so ist festzustellen, daß eine Reihe von
übereinstimmenden Merkmalen und Entwicklungsmustern gibt. Andererseits können das
jeweilige Ausmaß und die individuelle Entwicklung sehr unterschiedlich sein. Damit wird die
Anregung von Jantzen (1990) berechtigt, wie künftig über spezifische Syndrome neu nachzudenken ist, "um sie auch in biologischer Hinsicht historisch zu entschlüsseln, sie nicht statisch zu betrachten, sondern als Prozeß der Selbstorganisation zu rekonstruieren." (Jantzen, 1990, S. 151)
In meiner Arbeit habe ich versucht zu zeigen, daß die verschiedenen psycho-sozialen
Asuwirkungen und Entwicklungsmerkmale sowie Verhaltensmuster nicht allein auf die primäre
Störung zurückzuführen sind, d.h. daß sich die Behinderung beim Cri-du-Chat-Syndrom nicht allein auf einen genetischen Defekt reduzieren läßt. Vielmehr handelt es sich bzgl. der Verhaltensund Entwicklungsmuster häufig um sekundäre Erscheinungsformen, die im Sinne multivalenter
Zusammenhänge von unterschiedlichsten Faktoren abhängen. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, daß die verzögerte Entwicklung von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom keineswegs genetisch
festgelegt geschweige denn konkret vorhersagbar ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß
sich ÄrztInnen, beruflich Betroffene und Eltern des möglichen Entwicklungspotentials bewußt
sind, so daß informierte Entscheidungen über ihre Betreuung und Förderung getroffen werden
können. Allerdings sei der Hinweis erlaubt, daß (nach bisherigen Beobachtungen und
Erfahrungen) alle Betroffenen auch im Alter aufgrund ihrer Behinderung auf eine Betreuung bzw.
Unterstützung angewiesen sind.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Untersuchung von Frau Dr. Carlin zurückkommen. Mit Hilfe dieser Studie konnten wir eine Reihe von Fragen beantworten und aus den verschiedenen Ergebnissen entsprechende Schlußfolgerungen ableiten, die sich in den unterschiedlichen Abschnitten wiederfinden. Doch bleibt kritisch zu bemerken, daß auch diese Untersuchung in
weiten Teilen auf einer Betrachtungsweise stehen bleibt, die sich in erster Linie an beobachtbaren
Merkmalen orientiert.
Es fehlen hingegen Fragen, die z.B. die verschiedenen Bereiche der Entwicklung, der
Verhaltensauffälligkeiten, der genetischen Störung, der neurologischen Probleme etc. auf eventuelle Zusammenhänge hin untersuchen. Dies gelingt in der Untersuchung nur ansatzweise, wobei
natürlich die Schwierigkeit einer empirischen Erhebung diesbezüglich nicht von der Hand zu weisen ist. Daran wird deutlich, daß in diesem Zusammenhang weitere Forschungsarbeiten notwendig sind.
Eine große Herausforderung stellt das Cri-du-Chat-Syndrom insbesondere für die Eltern dieser
Kinder dar. Es wurde aufgezeigt, daß einerseits die medizinische Aufklärung und die genetische
Beratung und Diagnostik einen Belastungsfaktor ausmachen können, da hier nicht nur Aufklärung
über mögliche Entstehung des individuellen Falls geboten und Aussagen zum
Wiederholungsrisiko ermöglicht werden können, sondern zudem auch viele andere Bereiche einbezogen werden, z.B. Familienplanung, Situationsverarbeitung, Schuldzuweisung, etc..
Andererseits spielen natürlich jene Besonderheiten eine Rolle, die unmittelbar mit der Behinderung
zusammenhängen und den Alltag mit einem solchen Kind bestimmen.
In diesem Zusammenhang möchte ich im Hinblick darauf, daß der/die Leser/in eventuell die
Erwartung hatte, eine allgemeingültige Beschreibung der Alltagssituation bzw. des alltäglichen
Umgangs mit dem Cri-du-Chat-Kind vorzufinden, betonen, daß es meines Erachtens den Alltag mit
einem solchen Kind nicht gibt, da dieser, wie bei nichtbehinderten Kindern auch, individuell sehr
unterschiedlich sein kann. Zudem kann davon ausgegangen werden, daß für viele Eltern dieser
Kinder die besondere Situation zur Normalität wird, um nicht in permanenter Extremsituation leben zu müssen. Das heißt nicht, daß damit auch die Belastungen an sich geringer werden.
Die in den Kapiteln 3 und 4 beschriebenen Erkenntnisse erfordern Handlungsansätze. Deshalb war
es mir wichtig, auf den Umgang mit Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom einzugehen und verschiedene Förder- und Hilfsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Auseinandersetzung mit der Thematik hat
gezeigt, daß es in diesem Bezug eine Reihe von Lücken gibt. Das Kapitel 5 stellt einen Versuch dar,
aufgrund verschiedener Berichte und Untersuchungen und anhand eigener Beobachtungen und
Überlegungen unterschiedliche Möglichkeiten zu beschreiben. Die psychomotorische und sprachliche Förderung scheint mir dabei am wichtigsten zu sein. Außerdem wurden verschiedene
Das Cri-du-Chat-Syndrom
61
Therapieangebote genannt, die beim Cri-du-Chat-Syndrom angewendet werden/wurden.
Allerdings sollte auch hier Beachtung finden, daß das Cri-du-Chat-Syndrom eine
Behinderungsform ist, die durch multivalente Zusammenhänge unterschiedlicher Kennzeichen
geprägt ist. Somit muß auch in der therapeutischen Arbeit diese Behinderung bzw. der behinderte
Mensch in der Gesamtheit gesehen werden. Es muß das Ziel von Therapie sein, die/den
Betroffene/n in ihrer/seiner Entwicklung zu unterstützen, ihr/ihm zu helfen, konkrete behindernde Konditionen zu überwinden und ihr/sein mögliches Potential an Fähigkeiten zu erreichen.
Dies gilt ebenso für die Verhaltensmodifikation und die Förderung im Erwachsenenalter.
Ich hoffe, daß durch diese Arbeit für die Praxis wichtige Informationen vermittelt werden konnten
und sie als Anregung für die weitere Auseinandersetzung mit derartig spezifischen Syndromen
dienen kann. Auch wenn viele Fragen vielleicht offen geblieben sind, so wünsche ich mir doch, daß
diese Arbeit viele LeserInnen anregen kann, über ihre Sichtweise und ihr Verständnis neu nachzudenken.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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Das Cri-du-Chat-Syndrom
A1
68
ERGEBNISSE DER FRAGEBOGENUNTERSUCHUNG VON CARLIN (1996)
(Graphische Darstellung von Hans Reiner Schulte)
Altersverteilung Kinder
8
6
4
2
0
0.00
Abb. I
5.00
10.00
15.00
20.00
25.00
30.00
25.00
30.00
Altersverteilung Kinder
Altersverteilung Jungen
2
1.5
1
0.5
0
0.00
Abb. II
5.00
10.00
Altersverteilung Jungen
15.00
20.00
Das Cri-du-Chat-Syndrom
69
Altersverteilung Mädchen
5
4
3
2
1
0
0.00
Abb. III
5.00
10.00
15.00
20.00
25.00
30.00
Altersverteilung Mädchen
Altersverteilung Mütter
8
7
6
5
4
3
2
1
0
0.00
Abb. IV
10.00
20.00
Altersverteilung Mütter
30.00
40.00
50.00
Das Cri-du-Chat-Syndrom
70
Altersverteilung Väter
5
4
3
2
1
0
0.00
Abb. V
10.00
20.00
30.00
40.00
50.00
Altersverteilung Väter
Geburtsgewicht/Dauer der Schwangerschaft
5000.00
4000.00
3000.00
2000.00
1000.00
34.00
Abb. VI
36.00
38.00
Geburtsgewicht/Dauer der Schwangerschaft
40.00
42.00
Das Cri-du-Chat-Syndrom
71
Kopfumfang/Dauer der Schwangerschaft
45.00
40.00
35.00
30.00
25.00
34.00
Abb. VII
36.00
38.00
40.00
42.00
4000.00
5000.00
Kopfumfang/Dauer der Schwangerschaft
Körperlänge/Geburtsgewicht
55.00
50.00
45.00
40.00
35.00
1000.00
Abb. VIII
2000.00
Körperlänge/Geburtsgewicht
3000.00
Das Cri-du-Chat-Syndrom
72
Bei der Geburt erkannte Anzeichen
Andere
Keine
Mekonium (Kindspech) Verfärbung
Hautfalten oder Hautsenkungen
Hypotonie (zu niedrige Muskelspannung)
Tief sitzende Ohren
Vierfingerfurche
Weite runde Augen
Kleines Kinn
Ausladende Liedfalten
Mikrozephalie [kleiner Kopf]
Katzenähnlicher Schrei
Abb. IX
Bei der Geburt erkannte Anzeichen
Andere Angeborene Anomalien
Andere
Keine
Scoliosis (Wirbelsäulenverkrümmung)
Andere orthopädische Probleme
Klumpfuß
(Probleme mit) Niere/Blase
Tumore [wo]
Gehörlos
Probleme / Fehlfunktionen des Magen-Darmtraktes
Herzfehler
Schielen (Strabismus)
Herzgeräusche
Luftröhren/Speiseröhrenfisteln
Gaumenspalte
Abb. X
Andere angeborene Anomalien
Das Cri-du-Chat-Syndrom
73
Sekundäre Funktionsstörungen
Andere
Keine
Ständiger Durchfall
Chronische Verstopfung
Anfälle (epileptische)
Allergien
Geschwüre / Ekzeme
Asthma
Rückfluß / Aufstoßen
Schwacher Saugreflex / Fütterungsschwierigkeiten
Abb. XI
Sekundäre Funktionsstörungen
Infektionen
Andere
Keine
Haut (Zellulitis)
Bronchiolitis / Bronchitis
der Nieren / der Blase
der Gelenke
Magenschleimhautentzündung
Lungenentzündung
Krupp
des Rachens / der Mandeln
der Nebenöhle / Mastoiditis (Warzenfortsatzentzündung)
der Ohren
Abb. XII
Infektionen
Das Cri-du-Chat-Syndrom
74
Meilensteine, pessimistisch
1.00
Rollen (84%)
0.90
0.80
Alleine sitzen (89%)
0.70
0.60
0.50
Krabbeln (76%)
0.40
0.30
0.20
Gehen an der Hand (74%)
0.10
0.00
0
5
10
15
20
Lebensalter
Abb. XIII
Freies Gehen (58%)
Meilensteine: Rollen, Alleine sitzen, Krabbeln, Gehen an der Hand, Freies Gehen
Meilensteine, hochgerechnet
1.00
Rollen (84%)
0.90
0.80
Alleine sitzen (89%)
0.70
0.60
0.50
Krabbeln (76%)
0.40
0.30
0.20
Gehen an der Hand (74%)
0.10
0.00
0
5
10
Lebensalter
Abb. XIV
15
20
Freies Gehen (58%)
Meilensteine (hochgerechnet): Rollen, Alleine sitzen, Krabbeln, Gehen an der Hand,
Freies Gehen
Das Cri-du-Chat-Syndrom
75
Meilensteine, pessimistisch
1.00
Ißt mit der Hand (66%)
0.90
0.80
0.70
Ißt mit Löffel / Gabel (58%)
0.60
0.50
0.40
0.30
Trinkt aus der Tasse (74%)
0.20
0.10
0.00
0
5
10
15
20
Lebensalter
Abb. XV
Trinkt mit dem Strohhalm (58%)
Meilensteine: Ißt mit der Hand, Ißt mit Löffel/Gabel, Trinkt aus der Tasse, Trinkt
mit dem Strohhalm
Meilensteine, hochgerechnet
1.00
Ißt mit der Hand (66%)
0.90
0.80
0.70
Ißt mit Löffel / Gabel (58%)
0.60
0.50
0.40
0.30
Trinkt aus der Tasse (74%)
0.20
0.10
0.00
0
5
10
Lebensalter
Abb. XVI
15
20
Trinkt mit dem Strohhalm (58%)
Meilensteine (hochgerechnet): Ißt mit der Hand, Ißt mit Löffel/Gabel, Trinkt aus
der Tasse, Trinkt mit dem Strohhalm
Das Cri-du-Chat-Syndrom
76
Meilensteine, pessimistisch
1.00
Toilettentraining (Urin tagsüber) (39%)
0.90
0.80
0.70
Toilettentraining (Stuhl tagsüber) (32%)
0.60
0.50
0.40
0.30
Nachts trocken (13%)
0.20
0.10
0.00
0
5
10
15
20
Lebensalter
Abb. XVII
Zieht sich überwiegend selbst an (13%)
Meilensteine: Toilettentraining (Urin tagsüber), Toilettentraining (Stuhl tagsüber),
Nachts trocken, Zieht sich überwiegend selbst an
Meilensteine, hochgerechnet
1.00
Toilettentraining (Urin tagsüber) (39%)
0.90
0.80
0.70
Toilettentraining (Stuhl tagsüber) (32%)
0.60
0.50
0.40
0.30
Nachts trocken (13%)
0.20
0.10
0.00
0
5
10
Lebensalter
Abb. XVIII
15
20
Zieht sich überwiegend selbst an (13%)
Meilensteine (hochgerechnet): Toilettentraining (Urin tagsüber), Toilettentraining
(Stuhl tagsüber), Nachts trocken, Zieht sich überwiegend selbst an
Das Cri-du-Chat-Syndrom
77
Meilensteine, pessimistisch
1.00
Lächelt (92%)
0.90
0.80
Lacht (95%)
0.70
0.60
Lernt/benutzt ein erstes Zeichen (53%)
0.50
0.40
0.30
Nutzt mehrere Zeichen (37%)
0.20
0.10
Zeigt auf Körperteile (68%)
0.00
0
5
10
15
20
Lebensalter
Abb. XIX
Zeigt auf Bilder (63%)
Meilensteine: Lächelt, Lacht, Lernt/benutzt ein erstes Zeichen, Nutzt mehrere
Zeichen, Zeigt auf Körperteile, Zeigt auf Bilder
Meilensteine, hochgerechnet
1.00
Lächelt (92%)
0.90
0.80
Lacht (95%)
0.70
0.60
Lernt/benutzt ein erstes Zeichen (53%)
0.50
0.40
0.30
Nutzt mehrere Zeichen (37%)
0.20
0.10
Zeigt auf Körperteile (68%)
0.00
0
5
10
Lebensalter
Abb. XX
15
20
Zeigt auf Bilder (63%)
Meilensteine (hochgerechnet): Lächelt, Lacht, Lernt/benutzt ein erstes Zeichen,
Nutzt mehrere Zeichen, Zeigt auf Körperteile, Zeigt auf Bilder
Das Cri-du-Chat-Syndrom
78
Meilensteine, pessimistisch
1.00
Befolgt Anweisungen (68%)
0.90
0.80
0.70
Zeigt Wünsche [durch Gesten] (68%)
0.60
0.50
0.40
0.30
Zeigt Wünsche [durch Zeichen] (58%)
0.20
0.10
0.00
0
5
10
15
20
Lebensalter
Abb. XXI
Zeigt Wünsche [durch Worte] (32%)
Meilensteine: Befolgt Anweisungen, Zeigt Wünsche (durch Gesten), Zeigt Wünsche
(durch Zeichen), Zeigt Wünsche (durch Worte)
Meilensteine, hochgerechnet
1.00
Befolgt Anweisungen (68%)
0.90
0.80
0.70
Zeigt Wünsche [durch Gesten] (68%)
0.60
0.50
0.40
0.30
Zeigt Wünsche [durch Zeichen] (58%)
0.20
0.10
0.00
0
5
10
Lebensalter
Abb. XXII
15
20
Zeigt Wünsche [durch Worte] (32%)
Meilensteine (hochgerechnet): Befolgt Anweisungen, Zeigt Wünsche (durch
Gesten), Zeigt Wünsche (durch Zeichen), Zeigt Wünsche (durch Worte)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
79
Meilensteine, pessimistisch
1.00
erstes Wort (61%)
0.90
0.80
spricht mehrere Worte (32%)
0.70
0.60
0.50
Benutzt (einfache) Sätze (11%)
0.40
0.30
0.20
Benutzt Heft oder Tafel zur Kommunikation (11%)
0.10
0.00
0
5
10
15
20
Lebensalter
Abb. XXIII
Benutzt den Computer (3%)
Meilensteine: Erstes Wort, Spricht mehrere Worte, Benutzt (einfache) Sätze, Benutzt
Heft oder Tafel zur Kommunikation, Benutzt den Computer
Meilensteine, hochgerechnet
1.00
erstes Wort (61%)
0.90
0.80
spricht mehrere Worte (32%)
0.70
0.60
0.50
Benutzt (einfache) Sätze (11%)
0.40
0.30
0.20
Benutzt Heft oder Tafel zur Kommunikation (11%)
0.10
0.00
0
5
10
Lebensalter
Abb. XXIV
15
20
Benutzt den Computer (3%)
Meilensteine (hochgerechnet): Erstes Wort, Spricht mehrere Worte, Benutzt
(einfache) Sätze, Benutzt Heft oder Tafel zur Kommunikation, Benutzt den
Computer
Das Cri-du-Chat-Syndrom
80
Meilensteine, pessimistisch
1.00
Videospiele (0%)
0.90
Verfahren zur erleichterten Kommunikation (11%)
0.80
0.70
Singt Lieder (11%)
0.60
0.50
Rezitiert Worte aus der Erinnerung (16%)
0.40
Schreibt Buchstaben (0%)
0.30
0.20
Malt (Zeichnet) (bitte beschreiben wie und was) (21%)
0.10
0.00
Andere Meilensteine (45%)
0
5
10
15
20
Lebensalter
Abb. XXV
Andere Kommunikationsmeilensteine (32%)
Meilensteine: Videospiele, Verfahren zur erleichterten Kommunikation, Singt
Lieder, Rezitiert Worte aus der Erinnerung, Schreibt Buchstaben, Malt (Zeichnet),
Andere Meilensteine, Andere Kommunikationsmeilensteine
Meilensteine, hochgerechnet
1.00
Videospiele (0%)
0.90
Verfahren zur erleichterten Kommunikation (11%)
0.80
0.70
Singt Lieder (11%)
0.60
0.50
Rezitiert Worte aus der Erinnerung (16%)
0.40
Schreibt Buchstaben (0%)
0.30
0.20
Malt (Zeichnet) (bitte beschreiben wie und was) (21%)
0.10
0.00
Andere Meilensteine (45%)
0
5
10
Lebensalter
Abb. XXVI
15
20
Andere Kommunikationsmeilensteine (32%)
Meilensteine (hochgerechnet): Videospiele, Verfahren zur erleichterten
Kommunikation, Singt Lieder, Rezitiert Worte aus der Erinnerung, Schreibt
Buchstaben, Malt (Zeichnet), Andere Meilensteine, Andere
Kommunikationsmeilensteine
Das Cri-du-Chat-Syndrom
81
Förderung / Therapie
Keine
Andere
Adaptive Spieltherapie
Musiktherapie
Sprachtherapie
Beschäftigungstherapie (Ergotherapie)
physikalische Therapien (z.B. Bobath, Voitha)
Frühförderung
Auftreten in %
Abb. XXVII
Aktuell in %
Förderung/Therapie
Hilfsmittel
Andere
Kommunikationsgerät
Brillen
Hörhilfen
Rollstuhl
Stützbänder oder Zahnklammern
Gehhilfe
AFO? / andere Orthosen?
Schienen
0%
Abb. XXVIII
Hilfsmittel
10 %
20 %
30 %
40 %
50 %
60 %
70 %
80 %
90 %
100 %
Das Cri-du-Chat-Syndrom
82
Berufsvorbereitende Fähigkeiten
Andere Berufsvorbereitende Fähigkeiten
Kann sicher alleine gelassen werden
Benutzt alleine die Toilette
Benutzt alleine öffentliche Transportmittel
Zählt Geld
Erkennt Münzen
Sagt die Zeit
Erkennt Tageszeiten (z.B.. Zeit zum Mittagessen)
Kann Gegenstände zusammenfügen / zusammengehörige Gegenstände auswählen
Kennt Formen
Kennt Farben
Abb. XXIX
Berufsvorbereitende Fähigkeiten
Neurologische Probleme (alle Fragebogen)
Andere
Verminderte Beweglichkeit von Gelenken / Kontrakturen
Schlechte Koordination, ungeschickte Bewegungen
Ataxie (Koordinationsstörungen)
Ruckartige Augenbewegungen
Tremor (zittern, zucken)
Anfälle
Hemiparesis (einseitig stärker)
Breitbeiniger, unsicherer Gang
Beim Gehen einwärts gerichtete Zehen
Schwierigkeiten beim Schlucken; Erstickungsanfälle
Schwierigkeiten beim Kauen
Achilessehnenverkürzung?
Spastischer / angespannter Muskeltonus (Hypertonie)
Schwächeerscheinungen
Schwacher Muskeltonus (Hypotonie)
Abb. XXX
Neurologische Probleme (alle Fragebogen)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
83
Neurologische Probleme (nur 23 auswertbare)
Andere
Verminderte Beweglichkeit von Gelenken / Kontrakturen
Schlechte Koordination, ungeschickte Bewegungen
Ataxie (Koordinationsstörungen)
Ruckartige Augenbewegungen
Tremor (zittern, zucken)
Anfälle
Hemiparesis (einseitig stärker)
Breitbeiniger, unsicherer Gang
Beim Gehen einwärts gerichtete Zehen
Schwierigkeiten beim Schlucken; Erstickungsanfälle
Schwierigkeiten beim Kauen
Achilessehnenverkürzung?
Spastischer / angespannter Muskeltonus (Hypertonie)
Schwächeerscheinungen
Schwacher Muskeltonus (Hypotonie)
angekreuzt
Abb. XXXI
davon aktuell
Neurologische Probleme (nur 23 auswertbare)
Verhaltensauffälligkeiten (alle Fragebogen)
Störende oder ständig wiederholte Verhaltensweise.
Autismusähnliche Verhaltensweisen
wiederholt Geräusche, Wörter, Sätze; (Echolalie)
Wiederholt Verhaltensweisen ständig (perseveration)
Ständig trotzig / gehorcht nicht
Knirscht mit den Zähnen
Kann nicht alleine bleiben
Aggressiv gegen andere
Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu
Andere Wutanfälle (bitte beschreiben)
Werfen / zerbrechen von Gegenständen
Schreikrampfe (-anfälle)
Geringe Frustrationstoleranz
Hyperaktiv
Schlechter Augenkontakt
Kurze Aufmerksamkeitsspanne
Andere Selbst-Stimulationen
Beißt andere
Beißt sich selbst
Finger / Hand Nuckeln
Bouncing" : “gegen etwas schlagen”
Herumwirbeln
Schlagen (mit Flügel), flattern, lose herunterhängen
Haut zwicken / knibbeln
Schaukeln
Kopfschlagen
Abb. XXXII
Verhaltensauffälligkeiten (alle Fragebogen)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
84
Neurologische Probleme (alle Fragebogen)
17
16
15
14
13
12
11
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
Abb. XXXIII
5
10
15
20
25
30
35
40
30
35
40
Neurologische Probleme (alle Fragebogen)
Neurologische Probleme (nach Alter sortiert)
17
16
15
14
13
12
11
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
Abb. XXXIV
5
10
15
20
25
Neurologische Probleme (nach Alter sortiert)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
Legende zu Streuplot "Neurologische Probleme" Abb. XXXIII und Abb. XXXIV:
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
Schwacher Muskeltonus (Hypotonie)
Schwächeerscheinungen
Spastischer / angespannter Muskeltonus (Hypertonie)
Achilessehnenverkürzung?
Schwierigkeiten beim Kauen
Schwierigkeiten beim Schlucken; Erstickungsanfälle
Beim Gehen einwärts gerichtete Zehen
Breitbeiniger, unsicherer Gang
Hemiparesis (einseitig stärker)
Anfälle
Tremor (zittern, zucken)
Ruckartige Augenbewegungen
Ataxie (Koordinationsstörungen)
Schlechte Koordination, ungeschickte Bewegungen
Verminderte Beweglichkeit von Gelenken / Kontrakturen
Andere
85
Das Cri-du-Chat-Syndrom
86
Verhaltensauffälligkeiten (alle Fragebogen)
Störende oder ständig wiederholte Verhaltensweise.
Autismusähnliche Verhaltensweisen
wiederholt Geräusche, Wörter, Sätze; (Echolalie)
Wiederholt Verhaltensweisen ständig (perseveration)
Ständig trotzig / gehorcht nicht
Knirscht mit den Zähnen
Kann nicht alleine bleiben
Aggressiv gegen andere
Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu
Andere Wutanfälle (bitte beschreiben)
Werfen / zerbrechen von Gegenständen
Schreikrampfe (-anfälle)
Geringe Frustrationstoleranz
Hyperaktiv
Schlechter Augenkontakt
Kurze Aufmerksamkeitsspanne
Andere Selbst-Stimulationen
Beißt andere
Beißt sich selbst
Finger / Hand Nuckeln
Bouncing" : “gegen etwas schlagen”
Herumwirbeln
Schlagen (mit Flügel), flattern, lose herunterhängen
Haut zwicken / knibbeln
Schaukeln
Kopfschlagen
Abb. XXXV
Verhaltensauffälligkeiten (alle Fragebogen)
Legende Streuplot "Verhaltensauffälligkeiten" Abb. XXXVI und Abb.: XXXVII
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
Kopfschlagen
Schaukeln
Haut zwicken / knibbeln
Schlagen (mit Flügel), flattern, lose herunterhängen
Herumwirbeln
Bouncing" : “gegen etwas schlagen”
Finger / Hand Nuckeln
Beißt sich selbst
Beißt andere
Andere Selbst-Stimulationen
Kurze Aufmerksamkeitsspanne
Schlechter Augenkontakt
Hyperaktiv
Geringe Frustrationstoleranz
Schreikrampfe (-anfälle)
Werfen / zerbrechen von Gegenständen
Andere Wutanfälle (bitte beschreiben)
Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu
Aggressiv gegen andere
Kann nicht alleine bleiben
Knirscht mit den Zähnen
Ständig trotzig / gehorcht nicht
Wiederholt Verhaltensweisen ständig (perseveration)
wiederholt Geräusche, Wörter, Sätze; (Echolalie)
Autismusähnliche Verhaltensweisen
Störende oder ständig wiederholte Verhaltensweise.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
87
Verhaltensauffälligkeiten (nach Alter sortiert)
27
26
25
24
23
22
21
20
19
18
17
16
15
14
13
12
11
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
5
Abb. XXXVI
10
15
20
25
30
35
40
Verhaltensauffälligkeiten (nach Alter sortiert)
Häufigkeit (nach Alter)
20.00
15.00
10.00
5.00
0.00
0.00
5.00
10.00
15.00
Neurological Problems
Abb. XXXVII
20.00
25.00
30.00
35.00
Behavioural Problems
Häufigkeit von neurologischen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten (nach
Alter)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
A2
88
ERGÄNZUNG ZUR FALLSTUDIE 2 (14JÄHRIGES MÄDCHEN MIT CRI-DUCHAT-SYNDROM):
Entwicklungsgeschichte:
"M.´s frühe physische und sensorische Entwicklung wurde ständig gefördert durch variantenreiches Spiel und physische Aktivitäten. Sie bekam reichlich Gelegenheit, neue Geschmäcker,
Geräusche und Materialien zu erforschen und mit leuchtenden, stimulierenden Spielzeugen zu
spielen. An formellen Sitzungen unter Beschäftigungs- und Physiotherapie wurden regelmäßig
teilgenommen, und diese Aktivitäten wurden in ihren täglichen Zeitplan integriert. Als sie älter
wurde, kamen Schwimm-, Schlittschuhlauf- und Trampolinunterricht hinzu, um ihre grobmototrische Koordination und Balance zu verbessern.
Während physische und perzeptual-motorische Entwicklungsprogramme relativ früh begonnen
wurden, wurden Sprachtherapie und Sprachentwicklungsprogramme nicht vor dem 3_. bis 4.
Lebensjahr aufgenommen. Trotz früher Bitten um Anleitung und Information über entsprechende
Unterstützungsmaßnahmen wurde erst, nachdem M.´s Mutter zufällig über die Gerätschaften und
Dienstleistungen, die durch einen speziellen Spielverleih zur Verfügung standen, gelesen hatte,
professionelle Unterstützung geleistet. Dieser Kontakt führte zu M.´s Aufnahme an einem
Spezialzentrum, das einer Universität angegliedert war. Hier wurde besonderer Wert auf die
sprachliche Entwicklung gelegt und M.´s Mutter wurde angeleitet, M.´s Sprechfähigkeit zu stimulieren und zu erweitern.
Vorgeschriebene Übungen wurden täglich durchgeführt, unter ständiger Ermunterung durch die
Erwachsenen, die an ihrer Betreuung beteiligt waren, ein Verfahren, das in täglichen verbalen
Interaktionen zur Gewohnheit geworden ist. Lieder, Geschichten, Bildkarten und Sprachspiele mit
übertriebener Gesichtsmimik und unter Festhalten ihres Gesichtes zur Aufmerksamkeits- und
Augenkontaktgewinnung waren einige der Methoden, die seit der Kleinkindzeit angewandt wurden, um die Sprachentwicklung, die als ernstes Problemfeld dieser Erkrankung bekannt ist, zu fördern. Ständige Konversation, Fragen, Wiederholungen und Bestehen auf Antworten trotz ihrer
häufigen Proteste "Ich kann (das) nicht..." resultierten in Versuchen, neue Worte und Ausdrücke
nachzuahmen und zu dem Begehr, ungewohnte Sprache zu verstehen. M. ist nun in der Lage, ihre
Grundbedürfnisse den Erwachsenen ihrer Umgebung, besonders den mit ihrer Sprache vertrauten,
mitzuteilen, und sie genießt erwachsene Konversation, an der sie ab und zu aktiv oder durch ihre
Mutter teilnimmt.
In den Bereichen der Selbsthilfe und unabhängiger Lebensfähigkeiten und auch sozialer
Fähigkeiten scheint Potential für eine zukünftige Entwicklung zu liegen. Obwohl Schwierigkeiten
beim Kauen und Schlucken fortbestehen, sind die frühen Schlafschwierigkeiten jetzt unter guter
medikamentöser Kontrolle. Die Berichte aus der Schule bestätigen, daß M. mehr und mehr unabhängig und verantwortungsbewußt wird, sich gut in ihre Gruppe einfügt, besser an
Gruppenaktivitäten teilnimmt und gesteigerte Reife im Umgang mit neuen sozialen Situationen
zeigt.
M. brauchte stets feste Kontrolle und starke Ermutigung. Während sich dies im Hinblick auf die
meisten Aktivitäten nicht geändert hat, ist sie generell mit- und zusammenarbeitsfreudiger als sie
es in ihrer Kindheit war, besonders auf jenen Gebieten, in denen sie Zutrauen zu ihren Fähigkeiten
und Geschicklichkeiten gewinnen konnte. Sie hilft oft im Haus bei solchen Aufgaben wie
Geschierrabwaschen und -abtrocknen, Bettenmachen, Bodenfegen, mit einem Teppichroller arbeiten, den Tisch auf- und abdecken, Lebensmittel aus Kühlschrank und Schränken holen und
Spielsachen aufräumen.
M.´s generelles Verhalten bessert sich trotz unruhiger und schwieriger Perioden, in denen sie sehr
viele Ansprüche stellt. Trotzdem ist sie oft fröhlich und co-operativ und zeigt einen herrlichen Sinn
für Humor und Spaß. Seit der Kindheit ist M. ein extrem aktives Kind gewesen, durchsetzungsfähig, erfinderisch und an ihrer Umgebung interessiert. Sie ist sehr neugierig und stellt ständig
Fragen. Es trifft sich unglücklich, daß die Diskrepanz zwischen ihrer aktiven und passiven
Sprachfähigkeit ihre Entwicklung auf vielen Gebieten stark behindert hat, und es ist vorstellbar,
daß Frustrationen, die hieraus resultieren, zum Teil für ihr schwieriges Verhalten verantwortlich
sind."(Stykes, 1994)
Das Cri-du-Chat-Syndrom
A3
89
GEGENÜBERSTELLUNG DER ERGEBNISSE AUS DEN USA MIT DEN DATEN
AUS DER BRD
(Carlin, 1995/96)
Frage nach:
Ergebnisse aus der BRD
(Frühjahr 1996)
Ergebnisse aus den USA (Carlin,
August 1995)
Allgemeine Angaben:
Anzahl versandter
Fragebögen
383,00
zurückgesandt/ausgewertet 38,00
105,00
Anzahl Jungen/Mädchen
Jungen: 14, Mädchen: 24
31/74
Altersspanne
Von 1.0 Jahren bis 31.1 Jahren
2 Monate bis 30 Jahre
Altersverteilung (grob)
39% jünger als 6 Jahre, 13% älter 50% jünger als 6 Jahre, 28% älter
als 15 Jahre
als 15 Jahre
Geschwister
82% haben mindestens ein
Geschwister
über 90% haben mindestens ein
Geschwister. Darunter 2
Zwillingspaare mit jeweils nur einem betroffenen Zwilling. Keine
der Familien hatte mehr als ein
betroffenes Kind.
Genetik:
33 (87%) haben terminale
Deletionen. 19 (50%) keine genaueren Angaben. Von den 14
genauer spezifizierten terminalen Deletionen sind 7 5p14 bis
5p15.1. 2 Fälle von Mosaizismus;
2 Fälle von unbalancierten
Translokationen (Chromosomen
8 bzw. 22 betroffen). Einmal
terminale Deletion kombiniert
mit Duplikation des oberen
Teiles von 5p14. In je einem Fall
führten balancierte
Translokationen bei Vater bzw.
Mutter zur
Chromosomenanomalie
90% waren terminale Deletionen.
Im Wesentlichen zwischen 5p15
und 5p14. 14% hatten als
Bruchstelle 5p13, zwei Fälle mit
5p12.5 Translokationen wurden
berichtet, 3 abgeleitet von der
mutter, 2 vom Vater. Wie in früheren Studien bereits vermerkt,
existiert keine direkte Korrelation
zwischen der Größe der Deletion
und dem Schweregrad des klinischen Erscheinungsbildes.
Schwangerschaftsverlauf
und Geburt:
Die Schwangerschaft verlief vielfah normal. (42% ganz ohne
Probleme); 87% wurden zum
Termin geboren (36.-41. Woche).
29% der Geburten wurden mit
Kaiserschnitt durchgeführt.
Die Schwangerschaft verlief
überwiegend normal. 77% wurden zum Termin geboren (36.-41.
Woche). 18% der Geburten wurden mit Kaiserschnitt durchgeführt (entspricht dem normalen
Prozentsatz)
Geburtsgewicht
Mittel: 2727 Gramm
(Standardabweichung: 686
Gramm)
6 lbs, 1 oz, 20% waren für das
Schwangerschaftsalter zu klein.
Länge bei Geburt
Mittel: 48 cm
(Standardabweichung: 4 cm)
19 inches, das ist proportional
zum durchschnittlichen Gewicht
Das Cri-du-Chat-Syndrom
90
Frage nach:
Ergebnisse aus der BRD
(Frühjahr 1996)
Ergebnisse aus den USA (Carlin,
August 1995)
Kopfumfang bei Geburt
Mittel: 32 cm
(Standardabweichung: 2 cm)
(wurde in 95% der Fälle beantwortet)
etwa 30 cm (wurde nur in weniger
als 50% beantwortet)
Häufige medizinische
Befunde:
Charakteristischer, monochromatischer Schrei
92%
>95%
Microcephalie
82%
>95%
Ausladende Lidfalten,
Kleines Kinn, Tiefsitzende
Ohren, Vierfingerfurche
76%
>60%
Verzögertes
Größenwachstum/kleine
Statur
>80%
Strabismus
29%
30%
Herzfehler
16%
20%
Gaumenspalte
13%
15%
Gehörlos
3%
10%
Scoliosis
26%
10%
Verschiedene orthopädische
Deformitäten
29%
10%
Leistenbrüche
26%
10%
Schwacher
Saugreflex/Fütterungsprobl
eme
87%
>95%
Häufige Infektionen
79%
>95%
Verstopfung
58%
84%
Rückfluß/Aufstoßen
45%
50%
Lungenentzündung
21%
28%
Nebenhöhlenentzündung
8%
28%
(epileptische) Anfälle
3%
20%
Rachen- und
Mandelentzündungen
18%
20%
Damit zusammenhängende
oder sekundäre
Funktionsstörungen:
Behandlungen/chirurgische
58%
Eingriffe:
(mindestens eine Operation, einige Kinder sind mehrfach operiert worden)
70%
Belüftungsröhrchen in den
Ohren
35%
5%
Das Cri-du-Chat-Syndrom
91
Frage nach:
Ergebnisse aus der BRD
(Frühjahr 1996)
Künstliche Ernährung
Es wird nur ein Fall berichtet, da
es aber auch keine direkte Frage
nach künstlicher Ernährung gibt,
ist die Liste sicher nicht vollständig.
20%
Mandelentfernung/
Polypenentfernung
5%
20%
Bruchoperationen
und/oder
Hodenoperationen
26%
10%
Andere
24%
lediglich 2 chirurgische
Behandlungen von Strabismus, 3x
Luftröhrenschnitt
Trends in der Entwicklung:
Ergebnisse aus den USA (Carlin,
August 1995)
(viele Familien gaben keine
Altersangaben bei Erreichen eines
Entwicklungsmeilensteines an,
viele (vor allem jetzt noch junge)
Kinder werden auch noch neue
Fähigkeiten erreichen.)
Gehen
58% aller Kinder können gehen.
Berücksichtigt man die
Altersverteilung, werden wohl
fast alle laufen lernen. Erst mit
etwa 4 Jahren kann etwa die
Hälfte aller Kinder laufen.
Die meisten Kinder lernen gehen,
teilweise aber stark verspätet, besonders bei Hypotonie oder mit
orthopädischen Deformationen
unterhalb des Knies. Über 60% der
über 18 Monate alten Kinder
gehen.
Toilettentraining
Toilettentraining: Urin tags: 39%
(68%), Stuhl tags: 32% (55%); Tag
& Nacht: 13% (38%), die meisten
erlernen das Toilettentraining
tagsüber zwischen dem 5. und
10. Lebensjahr. Die Zahlen vor
den Klammern sind bezogen auf
alle Fragebögen, die Zahlen in
Klammern sind eine
Hochrechnung, die die
Altersverteilung der abgegebenen Fragebögen berücksichtigt.
Weniger als ein Drittel haben vollständige Toilettenfähigkeiten erreicht und das erst nach dem
Laufenlernen.
Alleine anziehen
13% können sich alleine anzieWeniger als 20% können sich ohne
hen. Unter Berücksichtigung der Überwachung anziehen.
Altersverteilung könnten letztlich etwa 20% bis 25% lernen,
sich anzuziehen.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
92
Frage nach:
Ergebnisse aus der BRD
(Frühjahr 1996)
Ergebnisse aus den USA (Carlin,
August 1995)
Verwendung von Zeichen
53% (62%) berichten die
Benutzung von Zeichen. Etwa
45% (50%) aller Kinder lernen/benutzen ihr erstes Zeichen
vor dem vollendeten 3.
Lebensjahr. (hochgerechnete
Werte in Klammern)
80% berichten die Benutzung von
Zeichen, 75% davon lernten mindestens 1 Zeichen vor dem 3.
Lebensjahr. Eine Frau nutzt regelmäßig 45 Zeichen und kennt
mehr als 120!
Verwendung von Worten
61% (75%) aller Kinder benutzen 15% nutzen 1-2 Worte, ein 26
mindestens ein Wort. 32% (48%) Jahre alter Mann "spricht viel und
sprechen mehrere Worte. 11%
kennt viele Worte".
(30% unsicher) benutzen einfache Sätze. Die meisten, die überhaupt Worte benutzen, beginnen
damit vor dem vollendeten 5.
Lebensjahr. (hochgerechnete
Werte in Klammern)
Singen
Nur 4 Kinder (11%) singen
Lieder (kann man kaum hochrechnen)
mehr als ein Drittel singen Lieder
Fördermaßnahmen
(allgemein):
84% (aktuell: 10%) haben
Frühförderung erhalten, 100%
(aktuell: 35%) irgendeine Form
von Physikalischer Therapie,
75% (aktuell: 32%) Ergotherapie,
60% (aktuell: 27%)
Sprachtherapie, 18% (aktuell:
3%) Musiktherapie, 14% (aktuell:
0%) adaptive Spieltherapie, 42%
(aktuell: 8%) andere Therapien,
darunter: Therapeutisches
Reiten (8x), Schwimmen (5x),
Kautherapie nach Castillo
Morales (3x)
Nur 69% berichten über
Frühförderung. Bis auf "eine
Handvoll" erhalten/erhielten aber
alle eine Kombination von
Gymnastik, Beschäftigungs- und
Sprachtherapie; die meisten bleiben auch als Erwachsene in
Therapie. Spieltherapie,
Musiktherapie und Reittherapie
werden immer stärker genutzt mit
günstigen Ergebnissen.
Berufsausbildung/
Berufsausübung
Nur 4 Kinder unserer
Fragebogenaktion sind über 18
Jahre alt. 3 davon arbeiten in einer Beschützenden Werkstatt
oder Fördergruppe (alle für
Entgelt). Alle haben aber beschränkte Fähigkeiten und benötigen Betreuung für
Schwerstbehinderte. (evtl. eine
Ausnahme)
Obwohl zwei Drittel der über 18
Jahre alten irgendeine Art von
Berufsbildendem Training bekommen haben, bleiben ihre
Fähigkeiten meist beschränkt. Ihre
Verhaltensauffälligkeiten stören
die Leistungsfähigkeiten. Weniger
als 5% erhalten eine Vergütung
für ihre Arbeit.
Benötigte Hilfsmittel
37% benötigen irgendwelche
Hilfsmittel zur Fortbewegung
(Schuheinlagen mitgerechnet,
aber keine Buggies etc. für kleinere Kinder), wenigstens
manchmal benötigen 16% einen
Rollstuhl; 11% Brillen; keine
Hörgeräte
60% benötigen irgendwelche angepaßten Hilfsmittel, um sich
fortzubewegen; abgesehen davon
berichten 90% über ungeschickten/breitbeinigen Gang. 20% tragen Brillen und/oder Hörgeräte.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
Frage nach:
93
Ergebnisse aus der BRD
(Frühjahr 1996)
Neurologische Probleme
und
Verhaltensauffälligkeiten:
Probleme mit Kauen,
Schlucken,
Erstickungsanfälle
Ergebnisse aus den USA (Carlin,
August 1995)
Vergrößern sich mit dem Alter
82% (davon 60% aktuell)
80%
Selbststimulation und
Autismusähnliche
Verhaltensweisen wie
Kopfschlagen, Beißen, ...
89%
>90%
Aggressives Verhalten,
verminderte
Frustrationstoleranz,
Aufmerksamkeitsprobleme,
Hyperaktivität
79%
Vermehren sich mit dem Alter
Medikation:
Nur 4 nehmen Psychopharmaka,
davon einer gegen epileptische
Anfälle, 2x Mittel gegen
Verstopfung, dazu "normale"
Medikation wie Antibiotika bei
Infektionen, 3x werden homöopathische Mittel eingesetzt, davon 2x gegen syndromtypische
Beschwerden/Verhal- tensstörungen
55% brauchen keine
Medikamente, 1 Versuch mit
Ritalin wird berichtet (nicht
hilfreich). Wenige haben Erfolg
mit Clonidine, Buspar und
Mellaril. 10% nutzen
Beruhigungsmittel, überwiegend
zur Verhaltenskontrolle
Techniken zur Verhaltensbeeinflussung:
Unsere Aussagen sind im
Wesentlichen identisch. Von fast
allen wird aber auch gesagt, daß
Verhaltensbeeinflussung eher
schwierig/langwierig ist.
Die meisten Eltern berichten, daß
Ablenkung, Unterbrechung, sofortige Belohnung und strenges
Bestehen auf Regeln die erfolgreichsten Methoden zur
Verhaltensbeeinflussung sind.
Unterbringung:
Die Frage ist auch bei uns häufig
nicht beantwortet. Allerdings
läßt sich aus dem Kontext des
Fragebogens häufig erschließen,
daß die Kinder zu Hause leben.
Nur 4 Kinder leben nicht ständig
zu Hause.
Die Frage wurde nur von zwei
Drittel der Antwortenden beantwortet. Bei denen, die geantwortet
haben, leben 85% der Kinder auch
als Erwachsene zu Hause.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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ADRESSEN FÜR ERSTKONTAKTE UND WEITERE INFORMATIONEN
SELBSTHILFEGRUPPE CRI-DU-CHAT-SYNDROM
Kurt-Schuhmacher-Alle 48
28327 Bremen
Tel.: 0421/467 54 61
Ansprechpartnerin: Ute Meierdierks
KINDERNETZWERK e.V. FÜR KRANKE UND BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN
DER GESELLSCHAFT
Hanauer Str. 15
63739 Aschaffenburg
Tel.: 06021/ 120 30
Fax.: 06021/ 124 46
5P-SOCIETY
11609 Oakmont
Overland Park, KS 66210
CRI DU CHAT SYNDROME SUPPORT GROUP
7 Penny Lane
Barwell
Leicestershire
LE9 8HJ, United Kingdom
CRI-DU-CHAT SOCIETY
Department of Human Genetics
Medical College of Virginia
Box 33
MCV Station
Richmond, VA 23298
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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WIEDERHOLUNGSRISIKO BEI BALANCIERTER TRANSLOKATION
Folgende Abbildung zeigt eine balancierte Translokation zwischen den Chromosomen Nr. 5 und
Nr. 19. Anhand dieses Beispiels sollen die verschiedenen Möglichkeiten der Vererbung bei einem/einer Träger/in einer unbalacierten Translokation verdeutlicht werden.
5
5
19
t[5 : 19]
t[5:19]
19
5p- : 19q+
Abb. A5-1:
Vererbungsschema einer balancierten Translokation
A6
CHROMOSOMENSATZ VON DENNIS
5p+ : 19q-
Der Karyotyp von Dennis zeigt eine unbalancierte Translokation zwischen dem Chromosom Nr. 5
und dem Chromosom Nr. 21. Dabei fehlt sowohl der terminale Teil des kurzen Arms vom
Chromosom Nr. 5 als auch der terminale Teil des kurzen Arms vom Chromosom Nr. 21. Hingegen
haben sich die anderen Teile der beiden Chromosomen an der entsprechenden Bruchstelle verbunden. So entstand die Translokation t(5;21).
- Foto nicht in dieser Ausgabe -
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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BESCHREIBUNG DER CHROMOSOMENDARSTELLUNG
Beschreibung der Chromosomendarstellung
15.3
15.2
15.1
p 1
1
14
13
12
11
11.1
11.2
12
13
14
15
21
22
q
2
23
31
3
32
33
34
35
5
Die Schreibweise des Karyotyps ist dahingehend vereinheitlicht, daß zunächst
die Chromosomenzahl angeführt und von dieser, durch ein Komma getrennt,
die Geschlechtschromosomenkonstitution durch die Symbole X bzw. Y
vermerkt wird.
Bsp. (46,XX) oder (46,XY)
Autosomen werden nur dann erwähnt, wenn Anomalien vorhanden sind.
Bsp. (46,XY,5p-)
Um die verschiedenen Anomalien bei Autosomen zu beschreiben, werden
hauptsächlich folgende Abkürzungen verwendet:
p = kurzer Arm
(-) = fehlend
q = langer Arm
(+) = zuviel
t = Translokation
f = Fragment
inv = Inversion
r = Ring
i = Isochromosom
mar = Markierer
ter = terminal (vom Ende)
Bsp. für die Beschreibung bestimmter Chromosomen- segmente:
(5p15.1) =
5
- Chromosom Nr. 5
p
- kurzer Arm
15.1 - Abschnitt vgl. Abbildung
(5q11.1) =
Band 11.1 des langen Arms q
vom Chromosom Nr. 5 (vgl. Abbildung)
del (5) (pter-p15.1) =
del (5) - Deletion am Chromosom Nr. 5
p ter - das Ende (terminal) des kurzen Arms
p15.1 - Band 15.1 des kurzen Arms
d.h. die Deletion umfaßt den Bereich vom Ende des kurzen Arms vom
Chromosom Nr. 5 bis zum Band 15.1 des kurzen Arms, dieser Teil fehlt dann.
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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GLOSSAR
Abortation
-
Fehlgeburt, Abtreibung
abortieren
-
abtreiben, abstoßen
Amnionflüssigkeit
-
Fruchtwasser
Amniozentese
-
transabdominale Punktion durch das Bauchfell in die
Fruchtblase
Anaphase
-
Teil der mitotischen Teilung, die Spalthälften der
Chromosomen werden durch die Spindelfasern
auseinandergezogen
Asphyxie
-
Erstickungsgefahr, Scheintod
Atrophie (optisch)
-
Schwinden der Sehkraft
Autosomen
-
alle Chromosomen, die keine Geschlechtschromosomen
sind
Bifida uvula
-
abnorme Öffnung/Spalte im hinteren Rachenraum
Blastomeren
-
erste Furchungszellen, die aus dem Produkt der
Vereinigung von Ei- und Samenzellen entstehen
Blastozyten
-
aus Blastomeren über der Furchung entwickelte
Keimblasen, bei denen sich eine äußere Zellschicht von
den übrigen Zellen absondert
cerebral
-
das Gehirn betreffend
Chorionzottenbiopsie
-
Gewebsentnahme durch Scheide und Muttermund oder
transabdominal
Chromatiden
-
die beiden identischen Hälften, in die sich jedes
Chromosom vor der Reduktionsteilung längsspaltet
Chromosomen
-
sichtbare Träger der Erbmasse, intensiv färbbare, fadenoder schleifenförmige Bestandteile des Zellkerns, auf den
Chromosomen sind die Gene linear angeordnet
Chromosomenaberrationen
-
Abweichungen von der normalen Chromosomenzahl
oder Abweichungen in der Gestalt einzelner
Chromosomen
dermatologisch
-
die Haut betreffend
Desoxyribo(se)nukleinsäure
(DNA)
-
Zellkernbestandteil aller lebenden Organismen
diploid
-
mit vollständigem Chromosomenpaar
distal
-
von der Mitte weiter entfernt
Dopamin
-
biochemische Vorstufe von Adrenalin
Dysmorphie
-
Deformität, Fehlbildung, Mißbildung
Epikanthus
-
angeborene sichelförmige Hautfalte am inneren Rand des
oberen Augenlides
Fraktur
-
(Knochen-)Bruch
gastrointestinal
-
Magen und Darm betreffend
Gen
-
Erbanlage der Keimzelle, funktionelle Einheit des
Genoms
Genom
-
einfacher Chromosomensatz der Keimzelle
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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Genotypus
-
die Gesamtheit der Erbanlagen eines Organismus
Gonosomen
-
Geschlechtschromosomen (X- und Y-Chromosomen)
Granulozytendysfunktion
-
Dysfunktion der weißen Blutkörperchen
haploid
-
mit nur einem (einfachen) Chromosomensatz
Hirschsprungsche Krankheit
-
Dickdarmerweiterung
homolog
-
übereinstimmend
Hüftluxation
-
Verrenkung im Hüftgelenk, wobei der Kopf aus der
Pfanne tritt
hyperdiploid
-
Überschuß an Chromosom
Hyperreflexie
-
Steigerung und Verbreiterung der Reflexe
Hypertelorismus
-
vergrößerter Abstand der Augen
hypodiploid
-
Fehlen von Chromosomen
Hypoplasie
-
Unterentwicklung
hypoplastisch
-
unterentwickelt
Hypotonie
-
schwacher Muskeltonus
Infertilität
-
Unfruchtbarkeit, Zeugungsunfähigkeit
Inguinalhernie
-
Leistenbruch
Insuffizienz
-
Unzulänglichkeit
Integrität
-
Unversehrtheit
Intonation
-
Anstimmung, Tonansatz, Tonstufe
intrauterin
-
in der Gebärmutter, während der Schwangerschaft
invasiv
-
ins umliegende Gewebe eindringend
Karyotyp
-
Chromosomenbestand einer Zelle, eines Gewebes oder
eines Individuums definiert durch Chromosomengröße, form und -zahl
Klinodaktylie
-
Schiefstellung der Finger(glieder)
Klumpfuß
-
Spitzfußstellung des Gesamtfußes
kognitiv
-
das Erkennen betreffend
kompatibel
-
vereinbar, zu einander passend
Konstriktionen
-
Abbindungen
kraniofacial
-
Kopf und Gesicht betreffend
Kryptorchismus
-
Hodenhochstand
Kyphoskoliose
-
Buckelbildung bei gleichzeitiger seitlicher Verkrümmung
Laryngomalazie
-
Kehlkopferweichung
lateral
-
aus-, seitwärts
letal
-
tödlich
Malrotation
-
Fehlbildung des Darms
medial
-
mitten, in der Mitte
Metaphase
-
Teil der mitotischen Teilung, die Chromosomen ordnen
sich in der Äquatorialebene an
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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Mikrognathia
-
abnorm kleiner Oberkiefer, angeborene
Unterentwicklung
Mikrozephalie
-
pathologische Verkleinerung von Umfang und Inhalt des
Schädels im Vergleich zu den altersmäßigen
Größenverhältnissen der übrigen Körperteile
Morphogenese
-
Organentwicklung
morphologisch
-
gestaltlich
Mykoplasmen
-
sehr kleine, zellwandlose Organismen, welche den
Bakterien zugerechnet werden
Myopia
-
Kurzsichtigkeit
nativ
-
erblich, angeboren
Nystagmus
-
Augenzittern
Oglio-Syndaktylie
-
mangelnde Ausbildung einzelner Fingerstrahlen
Oozyten
-
Eizellen
Ossifikation
-
Knochenbildung, Knochenentwicklung,
Knochenwachstum
perinatal
-
um die Zeit der Geburt herum
Perzeption
-
Wahrnehmung, Reizaufnahme
Phonation
-
Stimm- und Lautbildung
Plattfuß
-
Fußfehlstellung, die Fußsohle ist leicht konvex gebogen
Plazenta
-
Mutterkuchen
Plazentaschranke
-
biologische Barriere zwischen mütterlichem und fetalem
Blut
postnatal
-
nach der Geburt
Prädilektionsstelle
-
bevorzugte Stelle
Präimplantationsstadium
-
vor der Plazentaentwicklung
präjudizieren
-
eine Entscheidung vorwegnehmen
pränatal
-
vor der Geburt
Prolactin
-
Milchausscheidung anregendes Hormon
propriozeptiv
-
Lage, Haltung des Körpers betreffend
proximal
-
zur Mitte hin
Rektusdiastase
-
Auseinanderweichen der geraden Bauchmuskeln
Skoliose
-
seitliche Verbiegung der Wirbelsäule mit Drehung der
einzelnen Wirbelkörper
Spinalspalte
-
Wirbelkanal mit Rückenmark
statomotorisch
-
Gleichgewichtsbewegung betreffend
Strabismus (divergent)
-
Auswärtsschielen
Strabismus (konvergent)
-
Einwärtsschielen
supraorbital
-
über der Augenhöhle liegend
Syndaktylie
-
Verwachsungen bzw. Nichttrennung von Zehen- oder
Fingeranlagen
taktil-kinästhetisch
-
Tastsinn und Bewegungsempfindung betreffend
Das Cri-du-Chat-Syndrom
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teratogen
-
Mißwuchs bewirkend
toxisch
-
giftig
Toxizität
-
Giftigkeit
transabdominal
-
durch die Bauchdecken der Mutter
transzervikal
-
durch den Gebärmutterhalskanal
vestibulär
-
das Gleichgewicht betreffend
Vokalisation
-
Formung der Vokale beim Singen
Zentromer
-
Einschnürung am Chromosom, Ansatzstelle der
Spindelfaser am Chromosom
Zytogenetik
-
Erforschung des Zusammenspiels von Vererbung und
Zellenbau
Zygote
-
die befruchtete Eizelle, die einen diploiden
Chromosomensatz enthält und aus der sich das
Individuum der neuen Generation entwickelt

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