Das Cri-du-Chat
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Das Cri-du-Chat
Das Cri-du-Chat-Syndrom Medizinische, psycho-soziale und pädagogische Aspekte Stephan Berger Nachdruck einer wissenschaftlichen Hausarbeit zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Sonderschulen von Stephan Berger vorgelegt am 04.07.1996 bei der Universität Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, Institut für Behindertenpädagogik, Fachrichtung Körperbehindertenpädagogik. Mit freundlicher Genehmigung durch den Autor. Das Cri-du-Chat-Syndrom a Widmung und Danksagungen Für Dennis Mein Dank gilt vor allem meinen KollegInnen und FreundInnen sowie den Eltern von Dennis. Danken möchte ich auch Frau Dr. Carlin und Familie Schulte für ihre Unterstützung. Besonderen Dank an Uwe, der mit großer Ausdauer und Kompetenz diese Arbeit von Viren befreite. Danke an Katja. Vorwort Wenn ich an meine erste Begegnung mit Dennis, einem inzwischen 11jährigen Jungen mit Cri-duChat-Syndrom, zurückdenke, dann erinnere ich mich an meine erste gastweise Unterbringung beim Arbeitskreis "Behindertes Kind". Dabei sehe ich einen Jungen vor mir, der in ständiger Begleitung einer Kuschel-Ente oder einer Handvoll Stöcke (zumindest habe ich ihn nur selten ohne gesehen) über alles hinwegstolperte, was auch nur im geringsten auf seinem Weg lag; der weder mit allen anderen zusammen essen wollte, noch an gemeinsamen Kreisen Gefallen fand, dafür um so lauter gegen alles protestierte, was er nicht für gut heißen wollte. Ich habe noch jene "Kämpfe" vor Augen, die er z.B. beim Essen oder beim Zähneputzen mit seinem Betreuer führte (oder umgekehrt ?). Andererseits sind mir aber auch jene Szenen noch gut in Erinnerung, in denen er mit Begeisterung "Fruchtzwerge verkaufte" oder stundenlang über Eisenbahn-Kataloge "debattieren" konnte. Bereits im Vorfeld hatte ich erfahren, daß Dennis´ Behinderung aus einem Defekt eines Chromosoms resultierte und mit Cri-du-Chat-Syndrom (Katzenschrei-Syndrom) bezeichnet wurde. Jedoch konnte ich mir nur schwerlich etwas darunter vorstellen. Umgekehrt erging es mir allerdings nicht anders. Da stand nun ein Junge vor mir, dessen Behinderung mir ja "bekannt" zu sein schien, doch konnte ich beides nicht miteinander verbinden. Inzwischen hat sich diese Betrachtungsweise grundlegend verändert, mit Unterstützung von Dennis. Heute steht nicht mehr der Junge mit Cri-du-Chat-Syndrom vor mir, sondern in erster Linie Dennis. Ich möchte noch ein zweites Erlebnis nennen, welches dazu führte, mich mit der Behinderung von Dennis näher auseinanderzusetzen. Während eines Gespräches mit der Mutter erfuhr ich von den Prognosen, mit denen Dennis ins Leben startete. Nachdem die Chromosomenuntersuchung die Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" bestätigt hatte, bekamen die Eltern auf die Frage nach Entwicklungsmöglichkeiten vom "beratenden" Humangenetiker die Antwort: "...daß das Kinder sind, die nie laufen und nie sprechen lernen ... und daß man diese Kinder doch gleich einschläfern lassen könnte." Daraus entwickelte sich der Anspruch dieser Arbeit, ein "anderes" Bild dieser Behinderung zu zeigen und dazu anzuregen, neu über spezifische Syndrome nachzudenken. Das Cri-du-Chat-Syndrom Inhaltsverzeichnis 0 Einleitung .............................................................................................................1 1 Die Geschichte von Dennis....................................................................................3 2 Vorbemerkungen zum Cri-du-Chat-Syndrom ........................................................5 3 3. 1 3. 1. 1 3. 1. 2 3. 1. 3 3. 1. 4 3. 2 3. 3 3. 4 3. 5 3. 5. 1 3. 5. 2 3. 6 3. 7 3. 8 3. 9 Medizinische Aspekte ...........................................................................................6 Chromosomen und Chromosomenaberrationen .......................................................6 Die menschlichen Chromosomen ............................................................................6 Chromosomenaberrationen.....................................................................................8 Numerische Chromosomenaberrationen..................................................................8 Strukturelle Chromosomenaberrationen ................................................................ 10 Chromosomenanomalien beim Cri-du-Chat-Syndrom ............................................ 10 Zytogenetik beim Cri-du-Chat-Syndrom................................................................ 11 Epidemiologie...................................................................................................... 15 Symptomatik ....................................................................................................... 15 Klinische Merkmale bei Kindern mit Cri-du-Chat Syndrom .................................... 15 Klinische Merkmale bei Erwachsenen mit Cri-du-Chat-Syndrom............................. 17 Ursachen der Deletion beim Cri-du-Chat-Syndrom ................................................ 18 Diagnostik ........................................................................................................... 19 Therapien ............................................................................................................ 20 Zusammenfassung ............................................................................................... 20 4 4. 1 4. 2 4. 2. 1 4. 2. 2 4. 3 4. 3. 1 4. 3. 2 4. 4 4. 5 4. 6 4. 7 4. 7. 1 4. 7. 2 4. 7. 3 4. 7. 4 4. 8 Psycho-soziale Auswirkungen ............................................................................. 22 Zur Situation von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom............................................. 22 Weitere Fallstudien............................................................................................... 23 Fallstudie über ein 7 1/2 jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom..................... 23 Fallstudie über ein 14jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom .......................... 24 Allgemeine Entwicklungsverzögerung .................................................................. 26 Psychomotorische und kognitive Entwicklungsverzögerung................................... 26 Verzögerung in der Sprachentwicklung................................................................. 30 Aussagen zum Entwicklungspotential ................................................................... 33 Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom ............................ 33 Das Erwachsenenalter........................................................................................... 37 Zur Situation von Eltern mit Cri-du-Chat-Kindern ................................................. 38 Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Beratung beim Cri-du-ChatSyndrom.............................................................................................................. 39 Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften............................................ 41 Möglichkeiten und Grenzen der pränatalen Diagnostik .......................................... 42 Der nichtalltägliche Alltag .................................................................................... 43 Zusammenfassung ............................................................................................... 45 5 5. 1 5. 2 5. 2. 1 5. 2. 2 5. 2. 3 5. 3 5. 4 5. 5 5. 6 5. 7 5. 8 Pädagogische Aspekte ......................................................................................... 47 Pädagogische Überlegungen zum Cri-du-Chat-Syndrom ........................................ 47 Allgemeine Entwicklungsförderung beim Cri-du-Chat-Syndrom ............................ 48 Psychomotorische Entwicklungsförderung ............................................................ 49 Unterstützung der Sprachentwicklung .................................................................. 50 Weitere Therapieangebote .................................................................................... 52 Verhaltensmodifikation ........................................................................................ 54 Eine Herausforderung für LehrerInnen und andere beruflich Betroffene.................. 55 Förderung im Erwachsenenalter............................................................................ 56 Häusliche Pflege oder Heim- bzw. Wohngruppenunterbringung............................. 56 Elternarbeit - Selbsthilfegruppen ........................................................................... 57 Zusammenfassung ............................................................................................... 58 6 Abschließende Überlegungen.............................................................................. 59 I Das Cri-du-Chat-Syndrom Literaturverzeichnis........................................................................................................... 62 A1 Ergebnisse der Fragebogenuntersuchung von Carlin (1996) .................................. 68 A2 Ergänzung zur Fallstudie 2 (14jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom): ....... 88 A3 Gegenüberstellung der Ergebnisse aus den USA mit den Daten aus der BRD....... 89 A4 Adressen für Erstkontakte und weitere Informationen......................................... 94 A5 Wiederholungsrisiko bei balancierter Translokation............................................ 95 A6 Chromosomensatz von Dennis ............................................................................ 95 A7 Beschreibung der Chromosomendarstellung........................................................ 96 A8 Glossar ............................................................................................................... 97 II Das Cri-du-Chat-Syndrom 0 1 EINLEITUNG In der vorliegenden Arbeit werden die verschiedenen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms beschrieben. Es handelt sich um eine Kombination von körperlicher und geistiger Behinderung, deren Ursprung genetisch bedingt ist. Da diese Behinderungsform sehr selten auftritt, existieren vielerorts nur begrenzte bzw. gar keine Kenntnisse über Erscheinungsbilder, Entwicklungsmerkmale, Auswirkungen sowie Förder- und Hilfsmöglichkeiten. Aufgrund dessen sehe ich die Notwendigkeit, diesbezüglich Aufklärungsarbeit zu leisten. In der Vorbereitung dieser Arbeit mußte ich feststellen, daß themenbezogene Literatur ebenso selten ist wie die Behinderung an sich. Zudem stammen die meisten Berichte über das Cri-du-ChatSyndrom von medizinischen Forschern, so daß verständlicherweise deren Schwerpunkte hauptsächlich auf Gebieten wie physikalische Charakteristika und Befunden aus genetischen Studien liegen. Unglücklicherweise werden Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der psycho-sozialen Auswirkungen selten im Detail dokumentiert. Aufgrund dessen beziehe ich mich neben verschiedenster Literaturquellen (hauptsächlich englischsprachiger) zum Großteil auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen aus der Arbeit mit Dennis, einem 11jährigen Jungen mit Cri-du-Chat-Syndrom. Eine weiter Informationsquelle bildet die derzeitige internationale Untersuchung zum Cri-du-Chat-Syndrom von Frau Dr. Carlin aus den USA, an deren Auswertung ich momentan mitarbeite. Angesichts der Komplexität dieser Behinderung halte ich es für sinnvoll, die Arbeit in drei Hauptteile zu gliedern: (1) Medizinische Aspekte, (2) Psycho-soziale Auswirkungen und (3) Pädagogische Aspekte. Um dem/der Leser/in jedoch den Einstieg in die Materie zu erleichtern, werden den einzelnen Ausführungen eine Beschreibung von Dennis und einige Vorbemerkungen zu seiner Behinderung vorangestellt. Im Kapitel 3 sollen die grundlegenden medizinischen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms beschrieben werden. Um ein besseres Verständnis des genetischen Ursprungs dieser Behinderungsform zu ermöglichen, werden die wichtigsten Formen chromosomaler Abnormitäten erläutert, insbesondere jene, die beim Cri-du-Chat-Syndrom auftreten können. Außerdem muß davon ausgegangen werden, daß Eltern als erstes in der Regel gerade jene medizinischen Aspekte erfahren. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels liegt im Bereich der physikalischen Charakteristika. Dabei wird deutlich, daß bestimmte klinische Merkmale weitgehend bei allen Betroffenen zu beobachten sind. Inwieweit jedoch das Ausmaß der genetischen Störung das Erscheinungsbild bestimmt, welche direkten und indirekten Zusammenhänge zwischen klinischen Merkmalen und den betroffenen genetischen Regionen bestehen und ob eine medizinische Definition des Syndroms auch gleichzeitig die damit verbundene Entwicklung definieren kann, das sind Fragen, um die es in diesem Kapitel gehen soll. Hingegen werden im Kapitel 4 die Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der psycho-sozialen Auswirkungen dokumentiert. Dabei soll zwischen der Situation der Kinder und der Situation der Eltern unterschieden werden. Bezüglich der Situation der betroffenen Kinder geht es darum, durch die Präsentation detaillierter Informationen über physische, soziale und kognitive Fähigkeiten sowie Verhaltensmuster die unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten unter der Bedingung des Cri-du-Chat-Syndrom zu erläutern und das Wissen um die generellen Verhaltenscharakteristika zu erweitern. Dabei soll eines der Wesensmerkmale sein, Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren in der Entwicklung dieser Kinder zu erkennen und zu verstehen. Anhand von Ergebnissen der Untersuchung von Carlin, eigener Beobachtungen und zweier zusätzlicher Fallberichte soll die Heterogenität des Syndroms verdeutlicht und seine unterschiedlichen Auswirkungen aufgezeigt werden. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese Auswirkungen auf die primäre Störung zurückzuführen sind oder ob es sich vielmehr bzgl. der Entwicklung um sekundäre Erscheinungsformen handelt. Ergänzt werden diese Ausführungen durch Aspekte des Erwachsenenalters. Für die Eltern dieser Kinder stellt das Cri-du-Chat-Syndrom eine große Herausforderung dar. Sie sind in ihrer Situation verschiedensten Belastungen ausgesetzt. Welche Rolle in diesem Zusammenhang genetische Beratung, pränatale Diagnostik, Ungewißheit der konkreten Auswirkungen sowie alltäglicher Umgang spielen, wird in diesem Kapitel erläutert. Das Cri-du-Chat-Syndrom 2 Nachdem die medizinischen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms und die psycho-sozialen Auswirkungen beschrieben worden sind, folgt anschließend ein Kapitel über die verschiedenen pädagogischen Aspekte. Dabei geht es in erster Linie um die Frage, welche Förderangebote beim Cri-du-Chat-Syndrom hilfreich und notwendig sein können, um eine optimale Entwicklung zu ermöglichen und zu unterstützen. Nach einigen grundlegenden pädagogischen Überlegungen zum Cri-du-Chat-Syndrom soll zunächst auf allgemeine Fördermöglichkeiten eingegangen werden, danach speziell auf psychomotorische und sprachliche. Es sei der Hinweis erlaubt, daß es sich dabei nur um eine Auswahl handelt, da in jedem Fall die Förderung individuell verschieden sein kann. Ergänzend werden einige weitere Therapieangebote beschrieben, die beim Cri-du-Chat-Syndrom ihre Anwendung finden/fanden. Ein Kernpunkt dieses Kapitels wird es sein, die Notwendigkeit aufzuzeigen, dieses Syndrom auch in seiner biologischen Hinsicht historisch zu entschlüsseln und es nicht statisch zu betrachten, sondern als Prozeß der Selbstorganisation zu rekonstruieren (Jantzen, 1990). Neben den einzelnen Fördermöglichkeiten werde ich ebenfalls Bezug nehmen auf Verhaltensmodifikation bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom sowie auf die Förderung im Erwachsenenalter. Abgeschlossen wird das Kapitel 5 mit einigen Ausführungen zur Elternarbeit, insbesondere mit der Vorstellung der Selbsthilfegruppe "Cri-du-Chat-Syndrom". Die Zusammenfassung in Form abschließender Überlegungen weist noch einmal auf die wichtigsten Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms hin und stellt sowohl Ansprüche an weitere Forschungsarbeiten als auch an eine neue Betrachtungsweise spezifischer Syndrome. Sie sollte, und damit erfüllt sie den Sinn dieser Arbeit, zum einen über diese Form der Behinderung aufklären und zum anderen den/die Leser/in anregen, seine/ihre Sichtweise zu hinterfragen und neu zu überdenken. Das Cri-du-Chat-Syndrom 1 3 DIE GESCHICHTE VON DENNIS "... das sind Kinder, die nie laufen und nie sprechen lernen ..." (ein Humangenetiker, 1985) Eigentlich begann alles so, wie es sich viele Eltern wünschen. Nach einer normalen Schwangerschaft und einer schnellen, unkomplizierten Geburt erblickte Dennis am 23.03.1985 zum ersten Mal das Licht der Welt. Was wohl das Wichtigste war, er bekam den erhofften "Status" eines gesunden Kindes. Daß dies ein Irrtum sein sollte und welche Konsequenzen dies für alle Beteiligten nach sich ziehen würde, davon ahnten seine Eltern in dieser Zeit nichts. "Dennis war ein kleiner Schatz, ruhig, bescheiden und ganz lieb ... so breitete sich eine große Zufriedenheit aus, einhellig war die Begeisterung, ... der kleine Dennis war ganz ruhig, recht brav und unauffällig."(Dennis´ Vater in: Kallenbach (Hrsg.), 1994, S. 27) Doch dann bekam der Weg von Dennis eine ganz andere Richtung. Ein erster Verdacht des Kinderarztes, dann die Bestätigung durch die genetische Untersuchung. Die Diagnose stand fest: Cri-du-Chat-Syndrom. Dennis "litt" also an einem "komplexen Fehlbildungssyndrom infolge einer strukturellen Chromosomenaberration" (vgl. Anhang A6). Was aber bedeutet das? Niemand konnte den Eltern von Dennis erklären, was es denn mit diesem Syndrom auf sich hat, welche Auswirkungen sich zeigen würden und welche Prognosen man wagen könnte. Statt dessen bekamen Dennis und seine Eltern nur die Aussage des leitenden Humangenetikers mit auf ihren neuen Weg: "Das sind Kinder, die nie laufen und nie sprechen lernen ... und diese Kinder könnte man doch gleich einschläfern lassen." Mit diesen Worten startete Dennis nun also seine "Syndromlaufbahn". Gleichzeitig versuchten die Eltern, ihr neues Leben zu organisieren und wieder handlungsfähig zu werden. Sie versuchten, alle Quellen von möglichen Informationen über das Syndrom ihres Sohnes auszuschöpfen. "Es gab so gut wie keine Literatur über das Krankheitsbild, zumindest nicht in deutscher Sprache. Freunde besorgten uns amerikanische Fachliteratur, über eine Zeitschrift suchten wir Kontakt zu Eltern mit Kindern gleicher Behinderung. Das Wissen und die Kunst der Ärzte war, zumindest bei einer derart seltenen Krankheit, schnell an Grenzen gelangt. Die Möglichkeiten, die sich eröffneten, waren: Bewegungstherapien, Beschäftigungstherapie und Krankengymnastik."(Dennis´ Vater in: Kallenbach (Hrsg.), 1994, S. 28-29) Derweilen ging Dennis´ Entwicklung langsam voran. Motorisch machte er gute Fortschritte, allerdings nicht ganz altersgemäß. Ausgeprägt waren vor allem Auffälligkeiten in der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung (Tastsinn und Bewegungsempfindung). Mit vier Jahren kam er in ein Kindertagesheim für Mehrfachbehinderte, in dem er sich gut einlebte. Besonders im Sozialverhalten machte er in dieser Zeit gute Fortschritte. Mittlerweile geht er in eine anthroposophische Sonderschule für Geistigbehinderte. Dennis war 7 1/2 Jahre alt, als ich ihn vor 3 1/2 Jahren durch meine Arbeit im Arbeitskreis "Behindertes Kind" kennenlernte. In dieser Zeit hat er enorme Entwicklungsfortschritte gemacht, auch wenn es immer wieder Perioden gab, in denen seine Entwicklung zu stagnieren schien. Dennis ist relativ klein für sein Alter und zeigt die typischen Dysmorphien des Cri-du-ChatSyndroms. Er ist unwahrscheinlich lebhaft und ebenso neugierig. Oft kann er seine Aufmerksamkeit nicht länger als wenige Sekunden auf bestimmte Dinge richten. Dies führte z.B. früher dazu, daß er fast keine Mahlzeit mit anderen zusammen einnehmen konnte, sondern davonlief und immer wieder zwischendurch gefüttert werden mußte. Durch feste Regeln und viel Einfühlungsvermögen konnte dieses Problem zunächst im Arbeitskreis gelöst werden. In vielerlei Hinsicht hat er jedoch eine immense Ausdauer, vor allem, wenn es um die Durchsetzung seines Willens geht. Inzwischen hat er mehrere Strategien dafür entwickelt. Einerseits gibt es Situationen, in denen er mit penetranter Hartnäckigkeit seine Vorhaben/seine Bedürfnisse durchzusetzen versucht, andererseits hat er gelernt, daß er manchmal nur eine Chance auf Erfolg hat, wenn er bestimmte Dinge gekonnt "umschifft" bzw. einfach einen günstigen Moment abwartet, um sein Werk zu vollenden. Oft leidet er unter dem Dilemma seiner Sprachbehinderung, z.B. wenn er spezielle Wünsche nicht verständlich machen bzw. nicht verbal um seine Bedürfnisse streiten kann. So kommt es dann wiederholt zu Frustrationen, in denen er anfängt, in seine Kleidung oder seine Hand zu beißen, zu Das Cri-du-Chat-Syndrom 4 schlagen, andere zu kneifen und, was für sein Gegenüber am schwierigsten ist, mit seinem Kopf auf den Boden bzw. auf Gegenstände zu schlagen. Häufig benutzt er diese Verhaltensweisen auch dazu, um auf sich aufmerksam zu machen. Er fordert dann mit einer ebenso hartnäckigen Ausdauer diese Aufmerksamkeit von anderen ein. Dennis´ aktive Sprache ist relativ begrenzt. Er kann viele Einzelwörter sprechen und anwenden, jedoch ist sein gesamtes Sprachbild gerade für Außenstehende sehr unverständlich. Einzelne Bedürfnisse und Wünsche kann er somit auch verbal äußern. Seine Eltern und seine Geschwister besitzen zudem weitaus größere Kenntnisse seiner "eigenen" Sprache. Dennis hat ein starkes Bedürfnis nach Konversation und erzählt ungemein gern, und oft genug kann man den Inhalt seiner Erzählungen auch verstehen. Seine passive Sprache hingegen ist viel umfangreicher. Er versteht die meisten Fragen und Aufforderungen, die man ihm stellt. Er entwickelt immer mehr ein Verlangen nach neuen Wörtern, denn oft genug merkt er, daß er in "seiner" Sprache nicht verstanden wird. Um das Problem von Dennis, Sprache als Kommunikationsmittel benutzen zu können, von anderen jedoch nicht verstanden zu werden, zu verdeutlichen, möchte ich an dieser Stelle ein Beispiel eines Mitarbeiters anführen: "Als Sarah (eine autistische Jugendliche) sprechen gelernt hat, hat sie Dennis´ Sprache verblüffend genau imitiert, und oftmals sah es so aus, als würden die beiden sich darüber (über diese Sprache) auch austauschen können. Jetzt, wo Sarah "normal" spricht, ist dieses Verständnis nicht mehr so stark." Dennis ist sehr empfindlich gegen laute Geräusche. Maschinengeräusche, Traktoren, Flugzeuge u.a. machen ihm Angst. Entgegen dem begibt sich Dennis oft in Gefahrensituationen, die er nicht abschätzen kann. Aufgrund seiner starken Wahrnehmungsstörung sowie des eingeschränkten bzw. verzögerten Schmerzempfindens findet er vielfach nicht die nötigen Grenzen, so daß er sich nur allzu oft Verletzungen zufügt. Andererseits ist mir aufgefallen, wie sehr er nach derartigen Grenzen sucht und wie stark sein Bedürfnis nach Eigenwahrnehmung ist. So sind häufig selbststimulierende Verhaltensweisen bei Dennis zu beobachten. In jüngster Zeit hat er seine Augen als eine der empfindlichsten Körperstellen entdeckt. Er steckt sich dann manchmal Gegenstände direkt in sein Auge (allerdings sehr vorsichtig). Natürlich birgt diese Situation ungemeine Gefahren, jedoch ist gerade das Auge auch ein Organ, welches Außenreize mit am intensivsten registriert. Eine weitere Art der Selbst-Stimulation ist sein Kopfschlagen bzw. sein Wippen im Vierfüßlerstand, wenn er müde ist und im Bett liegt, sitzt oder kniet. Er zieht sich dann seine Bettdecke über den Kopf und schaukelt solange, bis er eingeschlafen ist. Sein Wach-Schlaf-Rhythmus ist bis heute oft gestört. Das bedeutet, daß er entweder nicht einschläft oder morgens bzw. nachts schon Stunden früher wach ist. Wohl am kennzeichnendsten für ihn ist seine typische und nahezu einzigartige Vorliebe für Stöcke, die er in ständig pendelnder Bewegung in einer seiner Hände hält. Diese Stöcke möchte er in fast jeder Lebensituation bei sich haben. Insgesamt ist Dennis ein sehr freundlicher Junge, der gerne unter Kindern ist und neugierig auf sie zugeht. Aufgrund seiner eigenen eingeschränkten Schmerzempfindung fehlt ihm diesbezüglich jedoch das Einfühlungsvermögen und die Vergleichbarkeit gegenüber anderen und ihrer Verletzbarkeit. So kommt es schon vor, daß Dennis durch Unachtsamkeit andere Kinder einfach umrennt oder ihnen an den Haaren zieht, nicht aus Böswilligkeit, sondern zwecks Kontaktaufnahme. Dies führt natürlich immer wieder zu Konflikten. Gegenüber Erwachsenen zeigt Dennis oft ein ausgeprägtes Nähebedürfnis. Dennis freut sich über jede Art von groben taktil-kinästhetischen Angeboten, wie z.B. starkem Druck. In Ruhephasen schaukelt er oft noch in Kauerstellung hin und her und reibt dabei häufig seinen Kopf auf dem Boden. Die meisten Dinge erforscht er mit dem Mund, heute allerdings längst nicht mehr so ausgiebig wie früher. Sein Muskeltonus ist nach wie vor hypoton und seine Gelenke überdehnbar. Besonders deutlich läßt sich dies an seinem Gang erkennen. Dennis hat gerade in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung vollzogen. In der Zeit, die ich ihn nun kenne, hat er zum einen viele seiner Verhaltensauffälligkeiten abgelegt, andererseits auch neue entwickelt. Insgesamt hat er jedoch sein Repertoire an Fähigkeiten um eine Vielzahl erweitern können. Gerade im Hinblick auf die Prognosen, mit denen er in sein Leben gestartet ist, hat seine bisherige Entwicklung gezeigt, welche Vielfalt an Möglichkeiten trotz eines genetisch determinierten Fehlers gegeben ist. Das Cri-du-Chat-Syndrom 2 5 VORBEMERKUNGEN ZUM CRI-DU-CHAT-SYNDROM Von 100 Neugeborenen kommen zwei bis vier mit zum Teil schwerwiegenden Fehlbildungen zur Welt, für die oft keine spezifischen Ursachen gefunden werden können. Eine bedeutende Gruppe behindernder Konditionen, deren klinische Ursache bekannt ist, besteht aus Funktionsstörungen in Folge chromosomaler Anomalien. Der Verlust oder die Vermehrung von Chromosomenmaterial führt zu einer Reihe bestimmter Symptome, die für eine partielle Chromosomenanomalie charakteristisch sind. Das Cri-du-Chat-Syndrom gehört zu dieser Gruppe von Chromosomenanomalien und bezieht sich auf eine einzigartige Kombination von physischen und psychischen Behinderungen, entstanden durch den Verlust einer variablen Menge genetischen Materials einer besonderen Region, bekannt als kurzer Arm des Chromosoms Nr.5. Es gilt als die häufigste unbalancierte strukturelle Chromosomenaberration (Veränderung von Chromosomen). Dieses charakteristische Dysmorphiesyndrom (Mißbildungssyndrom) wird im deutschen Sprachraum auch als Katzenschrei-Syndrom bezeichnet. Im Englischen spricht man von dem Cat Cry-Syndrom oder Crying Cat-Syndrom. Weiterhin sind u.a. folgende Synonyme bekannt: Lejeune-Syndrom, (5p-)-Syndrom, Partial Deletion of the Short Arm of Chromosome Number 5 Syndrome, Chromosome (5p-)-Syndrom, Partial 5p monosomy oder chromosome five short arm deletion syndrome. Im November 1963 wurde dieses Syndrom durch Jerome Lejeune, demselben französischen Pädiater, der das zusätzliche Chromosom Nr.21 bei PatientInnen mit Down-Syndrom (Trisomie 21) entdeckte, zum ersten Mal vorgestellt. Er beschrieb die Fälle dreier Mädchen, die bestimmte gemeinsame kongenitale (angeborene) Abnormitäten vorwiesen, zusammen mit einem sonderbaren, hohen und wehleidigen Schrei, welchen Lejeune mit dem Schrei einer Katze verglich. Darum nannte er dieses Syndrom "Cri-du-Chat"-Syndrom (Lejeune et al., 1963). Das weitgehend übereinstimmende klinische Erscheinungsbild sowie die gleichartigen zytogenetischen (den Chromosomensatz betreffenden) Befunde ließen eine nosologische Einheit erkennen. Chromosomen- analysen dieser PatientInnen hatten gezeigt, daß in allen Fällen bei einem Chromosom der Gruppe 4-5 ein Stück des kurzen Arms fehlte. Lejeune fand heraus, daß es sich bei dem deletierten Chromosom um das Chromosom Nr.5 handelt. Der Schrei, die typischen Gesichtszüge und andere körperliche Auffälligkeiten der Kinder mit Cridu-Chat-Syndrom sind so charakteristisch, daß diese Diagnose von ÄrztInnen oft vermutet werden kann, bevor sie durch eine Chromosomenanalyse bestätigt wird (Nelson et al., 1970). Es wird geschätzt, daß eines von 50.000 Neugeborenen ein Cri-du-Chat-Syndrom hat. In den USA werden jedes Jahr etwa 50-60 Kinder mit dieser Behinderung geboren (Wilkens et al., 1982). In der Regel sind Mädchen doppelt so häufig betroffen wie Jungen, wobei die Ursachen für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede nicht ganz geklärt sind (Breg et al., 1970; Niebuhr, 1978b). Seit der ersten Beschreibung durch Lejeune et al. wurden bis heute viele solcher Fälle dokumentiert, jedoch ist das Wissen auch unter ÄrztInnen und anderen Fachleuten um die Auswirkungen, das Entwicklungspotential und die Förder- und Hilfsmöglichkeiten gering. Das Cri-du-Chat-Syndrom 3 6 MEDIZINISCHE ASPEKTE Das Cri-du-Chat-Syndrom als häufigste unbalancierte strukturelle Chromosomenaberration (Schinzel, 1984) ist geprägt durch den Verlust genetischen Materials am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5. Kennzeichnend ist für dieses Syndrom, daß bestimmte klinische Merkmale weitgehend bei allen Betroffenen auftreten, insbesondere der charakteristische Schrei. Diese verändern sich wiederum in der Adoleszenz. Inwieweit das Ausmaß der Chromosomenaberration das Erscheinungsbild bestimmt, welche direkten und indirekten Zusammenhänge zwischen klinischen Merkmalen und den betroffenen Regionen des Chromosoms Nr.5 bestehen, das sind Fragen, die die MedizinerInnen, vor allem jedoch die HumangenetikerInnen, bis heute beschäftigen. Im folgenden Absatz sollen die grundlegenden medizinischen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms beschrieben werden, wobei die Schwerpunkte sowohl auf dem Gebiet der physikalischen Charakteristika als auch im Bereich zytogenetischer Studien liegen. 3. 1 Chromosomen und Chromosomenaberrationen 3. 1. 1 Die menschlichen Chromosomen Menschliche Chromosomen wurden erstmals 1874 von Arnold und 1881 von Flemming beobachtet. Waldeyer prägte 1888 dann den Begriff "Chromosomen". Mit der Chromosomentheorie der Vererbung von 1904 erkannten Sutton und Boveri, daß die Chromosomen die Träger der Erbanlagen sind. Klinische Bedeutung bekam die Chromosomenforschung jedoch erst 1956 mit den neu entwickelten Präparationsmethoden von Tijo und Levan. Seither ist bekannt, daß die Chromosomenzahl beim Menschen 46 beträgt (Murken & Cleve, 1996). Die Chromosomen sind die lichtmikroskopisch sichtbaren Untereinheiten des Genoms (einfachen Chromosomensatzes) einer Zelle. Mit spezifischen Farbstoffen behandelt und unter dem Mikroskop betrachtet, erscheinen sie als dunkel gefärbte, fadenähnliche Strukturen. Chromosomen bestehen aus Desoxyribonukleinsäuren (DNA) und befinden sich im Kern jeder Zelle. Die DNAMoleküle arbeiten wie Entwürfe, welche die genetischen Instruktionen für das richtige Funktionieren aller körperlichen Zellen vermitteln sowie Informationen für die Entwicklung jeder einzelnen befruchteten Eizelle enthalten. Jedes Chromosom kann als eine zusammenhängende Einheit, die buchstäblich tausende Gene (Erbanlagen) beinhaltet, verstanden werden. Jedes Gen für sich vermittelt eine spezifische Information für die Entwicklung vor der Geburt und die normalen Zell- und Organfunktionen nach der Geburt. Die Kerne all dieser Körperzellen, ausgenommen Eizellen und Spermien, enthalten 23 Chromosomenpaare, d.h. insgesamt 46 Chromosomen. Diese Paare umfassen 22 Autosomenpaare (ohne Geschlechtschromosomen), eingeteilt in verschiedene Gruppen, die sich durch die Länge der Arme und durch die verschiedene Stellung des Zentromers (Einschnürung am Chromosom) unterscheiden, und ein Gonosomenpaar mit den Geschlechtschromosomen. Jeweils eines der beiden paarigen Chromosomen stammt von der Eizelle der Mutter, das andere von dem Sperma des Vaters. Die spezielle Kombination der aus den 23 mütterlichen und den 23 väterlichen Chromosomen zusammengesetzten Gene bestimmt eine neue, einzigartige Person. Die Darstellung der Chromosomen wird als "Karyotyp" bezeichnet. Im pathologischen Karyotyp kann sowohl die Zahl als auch die Struktur der Chromosomen verändert sein. Die Chromosomen einer weiblichen Person unterscheiden sich im 23. bzw. Geschlechtschromosomenpaar von denen einer männlichen Person insofern, daß die weibliche Zelle zwei X-Chromosomen enthält, die männliche hingegen ein X- und ein Y-Chromosom. Obwohl alle Zellen Chromosomen enthalten, werden diese jedoch meistens in den weißen Blutkörperchen untersucht, da man sie hier am einfachsten lokalisieren kann. "Eine Zelle durchläuft einen Zyklus sowohl im Organismus als auch in der Zellkultur. Die Möglichkeit zur Vermehrung von Zellen in der Kultur hat die methodischen Möglichkeiten und unser Wissen enorm erweitert. Während der Phase der Zellteilung, der Mitose, werden die Chromosomen einer Zelle kurze Zeit sichtbar und damit der Untersuchung zugänglich. Die Chromosomen sind dann stark verdichtet, sie sind "spiralisiert". Dies ist nötig, damit das genetische Material auf die Tochterzellen verteilt werden kann. Die Verdichtung macht es Das Cri-du-Chat-Syndrom 7 auch erst möglich, daß die ansonsten nicht erkennbaren Chromosomen lichtmikroskopisch untersuchbar werden. In der Metaphase der Mitose sind die Chromosomen in einer Ebene, der Äquatorialebene, angeordnet und damit am besten zu beurteilen. Man hat unter dem Mikroskop daher immer Metaphasechromosomen vor sich."(Propping, 1989, S. 83) Nach einer kurzen Phase des Zellwachstums im Teströhrchen können die Chromosomen der sich teilenden weißen Blutzellen angefärbt werden. In dieser Zeit haben sich die Chromosomen ausreichend zusammengezogen und unter dem Mikroskop eine erkennbare Form erreicht. Die Chromosomen werden fotografiert, und ein individueller Schnitt der Abbildung für eine sichere Identifikation und Paarung wird möglich. Die Untersuchung und Aufzählung der Chromosomen vieler Zellen zeigen, ob die richtige Anzahl von Chromosomen vorhanden ist. Die abschließende Untersuchung der Größe und Form eines jeden Chromosoms erlaubt die Beurteilung, ob eventuell ganze Chromosomen oder Teile davon fehlen oder im Überschuß vorliegen. Bei Personen mit dem Cri-du-Chat-Syndrom zeigt die ungewöhnliche Verkürzung eines Teils des fünften Chromosomenpaares, daß genetisches Material fehlt. Ein solcher Verlust wird als "Deletion" bezeichnet. Abb. 1 zeigt per Diagramm ein Chromosom Nr. 5 mit den verschiedenen Strukturteilen. Mikroskopisch erscheint das einzelne Chromosom als ein Chromatidenpaar (d.h. als Paar zweier identischen Hälften, in die sich das Chromosom vor der Reduktionsteilung längsspaltet), das im Zentromer zusammengehalten wird. Das Zentromer ist eine Einschnürung im oberen Drittel des Chromosoms. Das genetische Material oberhalb des Zentromers ist bekannt als "kurzer Arm" oder "p-Region" und der Teil unterhalb als "langer Arm" bzw. "q-Region". Die Unterscheidung von Intensität und Muster der Bänder in den Chromosomen wird durch die Färbeprozesse erleichtert und ermöglicht die eindeutige Identifikation des Chromosoms Nr. 5 sowie auch die aller anderen Chromosomen. Diese Methode benutzt man, um die Bänder in verlängerter Chromosomendarstellung hervorzubringen. Bekannt als "high resolution chromosome analysis" oder "prometaphase banding" gehört diese Darstellung zu den bedeutendsten karyotypen Techniken der Chromosomenanalyse (Murken & Cleve, 1996). Hierbei werden die Chromosomen in einem frühen Stadium der Zellteilung untersucht. Die Chromosomen sind dann so lang, daß eine präzise Bestimmung (Ort/Ausmaß) einer Deletion möglich ist. Ein neuer Durchbruch in der Chromosomendiagnostik gelang durch die Chromosomen-in-situSuppressions-Hybridisie-rung (CISS-Hybridisierung, 1988) bzw. die Fluoreszenz-in situHybridisierung (FISH) (Pettenati et al., 1994; Murken & Cleve, 1996). Der/die Leser/in sei an dieser Stelle für ausführlichere Erläuterungen auf Gersh et al. (1995) verwiesen. Mit diesen Methoden gelingt es, durch molekulargenetische Techniken bestimmte Chromosomen bzw. auch kleinste Chromosomenabschnitte bis hin zu einzelnen Genen in der Metaphase und im Interphasenkern spezifisch zu markieren (Murken & Cleve, 1996). McKusick spricht sogar davon, daß die Fortschritte der Chromosomendarstellung dem klinischen Genetiker sein Untersuchungsorgan zur Verfügung gestellt haben. kurzer Arm (p) 5 4 1 3 2 1 1 2 3 1 4 5 1 Zentromer langer Arm (p) 2 3 2 1 2 3 4 3 5 5 Abb. 1: Struktur des Chromosoms Nr.5 (Schinzel, 1984, S. 221) Das Cri-du-Chat-Syndrom 8 "Heute ist der klinische Genetiker in der gleichen Lage wie der Nephrologe mit der Niere, der Kardiologe mit dem Herz usw. Wir können heute, wie das bei jedem Organ oder Organsystem möglich ist, von der pathologischen Anatomie des menschlichen Genoms sprechen" (McKusick, 1994, S. 54). 3. 1. 2 Chromosomenaberrationen Zahlenmäßig sind die genetischen Faktoren die bedeutendsten Ursachen kongenitaler Mißbildungen. Genetische Faktoren verursachen über ein Drittel aller kongenitaler Störungen, und bei annähernd 85% sind die Ursachen bekannt. Chromosomenaberrationen sind relativ häufig und werden in 6% aller Zygoten (befruchteten Eizellen) angenommen. Viele dieser Zellen durchlaufen nie eine normale Zellteilung und werden Blastozyten (aus Blastomeren über der Furchung entwickelte Keimblasen, bei denen sich eine äußere Zellschicht von den übrigen Zellen absondert). Viele Embryos werden während der ersten drei Wochen spontan abortiert (abgestoßen). Personen mit chromosomalen Abnormitäten haben gewöhnlich charakteristische Erscheinungsbilder (z.B. die physikalischen Charakteristika der Trisomie 21), und sie sehen oft anderen Personen mit der gleichen chromosomalen Abnormität ähnlicher als ihren eigenen Geschwistern. Chromosomenaberrationen werden in numerische und strukturelle Veränderungen eingeteilt. Erstere sind durch zahlenmäßige Abweichungen charakterisiert, letztere durch Besonderheiten der Chromosomenstruktur. Sie können entweder die Geschlechtschromosomen oder die Autosomen betreffen. In seltenen Fällen sind beide Arten von Chromosomen betroffen (Klein, 1974). Als erste numerische Chromosomenaberration beim Menschen wurde 1959 von Lejeune die Trisomie 21 beim Down-Syndrom entdeckt. Noch im gleichen Jahr wurden das Turner-Syndrom (45, X), das Klinefelter-Syndrom (47, XXY) und kurz darauf die beiden autosomalen Trisomien 13 und 18 (1960) bekannt. Die ersten klinisch bedeutsamen strukturellen Chromosomenaberrationen wurden zu Beginn der 60er Jahre beschrieben: Philadelphia-Syndrom und Cri-du-Chat-Syndrom (Murken & Cleve, 1996). 3. 1. 3 Numerische Chromosomenaberrationen Numerische Abnormitäten von Chromosomen entstehen meistens als ein Resultat eines als "nondisjunction" bezeichneten Vorgangs in der Meiose. Aus unbekannten Gründen trennen sich in einer der beiden meiotischen Teilungen die homologen (übereinstimmenden) Chromosomen gelegentlich nicht, so daß die beiden Chromosomen eines Paares in eine Keimzelle gelangen. Die "nondisjunction" kann während der Entstehung der mütterlichen oder väterlichen Geschlechtszellen auftreten. Bei der Trisomie 21 beruhen z.B. 80% der Fälle auf "non-disjunction" in der mütterlichen und 20% in der väterlichen Meiose. Numerische Chromosomenaberrationen sind eine häufige Ursache von Spontanaborten. Mindestens 50% der klinisch erfaßbaren Spontanaborte weisen eine Chromosomenaberration auf. Eine ganze Reihe von neu aufgetretenen, numerischen Aberrationen nehmen mit dem Alter der Mutter zu. Chromosomenaberrationen sind in Keimzellen ungemein häufig nachweisbar, in Eizellen noch häufiger als in Spermien. Jeder 5. Embryo ist im Präimplantationsstadium (vor der Plazentaentwicklung) chromosomal abnorm. Da die meisten Aberrationen keine normale Entwicklung zulassen, stirbt die große Mehrzahl chromosomal abnormer Embryonen intrauterin (in der Gebärmutter) ab. Unter Neugeborenen besitzen noch etwa 0,6% eine Chromosomenanomalie. (Propping, 1989). Das Cri-du-Chat-Syndrom Abb. 2: 9 Abnorme Oozyten (Eizellen) 32% Abnorme Spermien 8% Abnorme Präimplantations-Stadien 20,6% Abnorme Embryonen im 1. Trimester der Schwangerschaft 8-10% Chromosomenaberrationen unter Neugeborenen 0,6% Allgemeines Modell der Selektion gegen Chromosomenaberrationen von den Keimzellen bis zu Neugeborenen. Die Prozentangaben sind empirisch belegt. (Plachot et al., 1987, S. 22) Veränderungen in der Chromosomenanzahl ergeben entweder eine Aneuploidie oder eine Polyploidie. An dieser Stelle sollen die verschiedenen Formen der numerischen Chromosomenaberration erläutert werden (vgl. u.a. Moore, 1991; Pschyrembel, 1994). Aneuploidie: Eine Abweichung von einer diploiden (vollständigen) Anzahl der 46 Chromosomen wird Aneuploidie genannt. Ein Aneuploid ist eine Zelle, die keine exakte multiple haploide (nur einen einfachen Chromosomensatz betreffende) Anzahl von 23 besitzt. Die prinzipielle Ursache einer Aneuploidie ist eine "non-disjunction" während der Zellteilung. Als ein Resultat können die embryonalen Zellen hypodiploid sein (z.B. 45, wie beim Turner-Syndrom) oder hyperdiploid (gewöhnlich 47, wie beim Down-Syndrom). Bei diploiden Organismen wird das Fehlen eines Chromosoms als Monosomie, das zusätzliche Auftreten eines homologen Chromosoms als Trisomie bezeichnet. Monosomie: Die Störung der Genbalance infolge eines fehlenden Chromosoms, die Monosomie eines Autosoms, wirkt sich meistens letal (tödlich) aus oder führt zu schweren Mißbildungen. Mindestens 97% der Embryonen, denen ein Geschlechtschromosom fehlt, sterben (Connor und Ferguson-Smith, 1991), nur wenige überleben und entwickeln die Charakteristika des TurnerSyndroms. Trisomie: Wenn drei Chromosomen anstelle des gewöhnlichen Paares präsent sind, so nennt man diese Störung Trisomie. Die Trisomie von Autosomen ist primär verbunden mit drei Syndromen. Die häufigste Form ist die Trisomie 21 (Down-Syndrom), bei dem drei Chromosomen Nr. 21 vorhanden sind. Trisomie 18 und Trisomie 13 sind weniger häufig. Säuglinge mit letztgenannten Abnormitäten weisen häufig starke Mißbildungen und eine geistige Behinderung auf. Sie sterben meistens in der frühen Kindheit. Autosomale Trisomien erscheinen mit zunehmender Häufigkeit entsprechend des zunehmenden mütterlichen Alters. Trisomie der Geschlechtschromosomen ist eine häufige Kondition. Da es jedoch keine charakteristischen physikalischen Befunde bei Säuglingen oder Kindern gibt, wird diese Form selten entdeckt. Tetrasomie und Pentasomie: Manche Personen, meistens geistig retardiert, haben vier oder fünf Geschlechtschromosomen. Folgende Geschlechtschromosomenkomplexe wurden dokumentiert: bei weiblichen XXXX und XXXXX; und bei männlichen XXXY, XXYY, XXXYY und XXXXY. Je größer die Anzahl der vorhandenen X-Chromosomen ist, desto größer ist auch der Schweregrad der geistigen Behinderung und der körperlichen Beeinträchtigung. Die zusätzlichen Geschlechtschromosomen betonen nicht die sexuellen Charakteristika. Mosaizismus: Mosaizismus resultiert aus einem Zygoten (einer befruchteten Eizelle), der Zellen mit zwei oder mehr verschiedenen Genotypen (Erbbildern) besitzt. Es können entweder die Autosomen oder die Geschlechtschromosomen beteiligt sein. Mosaizismus entsteht normalerweise durch "non-disjunction" während der frühen Spaltung der Zygoten. Mosaizismus aufgrund des Verlustes eines Chromosoms durch die sogenannte Anaphasen(Kernteilungs)-Isolierschicht ist auch bekannt. Die Chromosomen trennen sich normal, aber ein Chromosom ist in seiner Wanderung verschoben oder eventuell verloren. Polyploidie: Polyploide Zellen beinhalten ein Vielfaches der haploiden Anzahl von Chromosomen (z.B. 69, 92 usw.). Polyploidie ist ein signifikanter Grund für spontane Abortationen. Der häufigste Typus von Polyploidie bei menschlichen Embryonen ist die Triploidie (69 Chromosomen). Das Cri-du-Chat-Syndrom 10 Triploidien treten in über 2% der Embryonen auf, aber die meisten von ihnen abortieren spontan (Connor & Ferguson-Smith, 1991). 3. 1. 4 Strukturelle Chromosomenaberrationen Strukturelle Chromosomenaberrationen entstehen durch Umbauten innerhalb eines Chromosoms (intrachromosomal) oder zwischen verschiedenen Chromosomen (interchromsomal). Die meisten strukturellen Abnormitäten der Chromosomen ergeben sich aus Chromosomenbrüchen, die durch verschiedene Umweltfaktoren hervorgerufen werden können, wie z.B. Radioaktivität, Drogen, Chemikalien und Viren (Connor & Ferguson-Smith, 1991). Verlust oder Zugewinn von Chromosomensegmenten führt zu unbalancierten Genverhältnissen. Strukturumbauten ohne Verlust oder Zugewinn chromosomalen Materials werden als balanciert bezeichnet. Sie haben meist keinen Einfluß auf den Phänotyp und können über mehrere Generationen vererbt werden (Murken & Cleve, 1996). Unbalancierte autosomale Strukturaberrationen (partielle Monosomien und/oder partielle Trisomien) haben immer eine Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Konstitution zur Folge. Zu diesen Aberrationen gehört auch das Cri-du-Chat-Syndrom. Unter den strukturellen Aberrationen unterscheidet man z.B. Deletionen, Duplikationen, Inversionen, Translokationen (vgl. u.a. Moore, 1991; Pschyrembel, 1994). Deletion: Als Deletionen werden Mutationen bezeichnet, bei denen ein bestimmter Chromosomenabschnitt fehlt, entweder innerhalb des Chromosoms (interstitial) oder am Ende (terminal). So verursacht z.B. eine partielle terminale Deletion am kurzen Armende des Chromosoms Nr. 5 das Cri-du-Chat-Syndrom. Für Beschreibungen anderer durch Deletionen verursachter Konditionen sei an dieser Stelle auf Thoene (1995) verwiesen. Ein Ringchromosom ist ein Typus von Deletionschromosomen, bei dem beide Enden verloren gegangen sind und die Bruchenden sich wieder zu einem ringförmigen Chromosom verbinden. Diese abnormen Chromosomen sind beschrieben worden bei Personen mit Turner-Syndrom, Trisomie 18 und anderen Abnormitäten (Moore, 1991). Duplikation: Duplikationen sind Verdoppelungen eines DNA-Abschnittes in gleicher Orientierung (Tandem) oder inverser Lage (Palindrom) auf Kosten des homologen Chromosoms. Diese Abnormität kann beschrieben werden als eine duplizierte Portion eines Chromosoms (1) innerhalb eines Chromosoms, (2) an ein Chromosom angebunden oder (3) als ein separates Fragment. Duplikationen sind häufiger als Deletionen, und da es keinen Verlust von genetischem Material gibt, haben sie weniger Auswirkungen (Thompson, 1986). Sie können einen Teil eines Genes betreffen, ganze Gene oder eine Serie von Genen. Inversion: Diese Chromosomenaberration ist die Umkehr eines Chromosomen-Teilstücks um 180°, vermutlich nach schleifenartigem Überkreuzen eines Chromosoms und falschem Verwachsen an der Kontaktstelle. Da kein Genverlust eintritt, wirken sich Inversionen meist nur dann phänotypisch erkennbar aus, wenn ihre Grenzen innerhalb von Genen liegen. Parazentrische Inversionen sind auf einen einzelnen Arm des Chromosoms begrenzt, wobei perizentrische Inversionen beide Arme betreffen und den Zentromer einschließen (Körner et al., 1983). Translokation: Unter einer Translokation ist die Verlagerung von Chromosomenstücken an nichthomologe Chromosomen zu verstehen. Während die erstgenannten Aberrationen im allgemeinen zu einer Imbalance des genetischen Materials führen, können Translokationen auch balanciert sein. Das chromosomale Material ist nur anders geordnet, ohne daß etwas verloren oder hinzugefügt ist. Unbalancierte Translokationstypen, die entweder zu einer Störung der Genbalance oder zu di- und azentrischen Fragmenten führen, die bei der Mitose verlorengehen, sind meist letal. 3. 2 Chromosomenanomalien beim Cri-du-Chat-Syndrom Die grundlegende Anomalie beim Cri-du-Chat-Syndrom ist das Fehlen von genetischem Material aus dem kurzen Arm eines Chromosoms Nr. 5. An dieser Stelle sollen die verschiedenen grundlegenden Formen der Chromosomenanomalie beim Cri-du-Chat-Syndrom behandelt werden. Terminale Deletionen: In 85-90% der Fälle mit Cri-du-Chat-Syndrom fehlt das genetische Material am Ende ("terminal region") des kurzen Arms eines Chromosoms Nr. 5. Das Cri-du-Chat-Syndrom 11 Die Menge des fehlenden Chromosomenmaterials kann stark variieren, von einem minimalen Stück bis zu beinahe dem ganzen kurzen Arm. Wenn die elterlichen Chromosomen normal sind, bezeichnet man die Deletion als "sporadisch" oder "einfach". "Sporadisch" bedeutet, daß die Deletion ein Zufallsereignis war, dessen Wiederholungsrisiko das allgemeine Risiko von 1:50.000 nicht übersteigt. Der Ausdruck "einfach" besagt, daß nur ein einziger Bruch in einem Chromosom zu der Störung geführt hat. Interstitielle Deletionen: Mit zunehmender Genauigkeit der zytogenetischen Analyse wurde auch die Entdeckung möglich, daß die Deletion von genetischem Material in einigen Fällen des Cri-duChat-Syndroms aus zwei Brüchen resultiert, die dann zum Verlust eines Segmentes aus der Mitte des kurzen Arms des Chromosoms Nr. 5 führt. Diese Bedingung ist sehr selten. Vererbte unbalancierte Translokationen: Bei 10-15% der Kinder mit Cri-du-chat-Syndrom ist der Verlust des genetischen Materials bedingt durch die Übertragung eines unvollständigen Satzes von Genen durch einen Elternteil mit einer balancierten Translokation des Chromosoms Nr. 5. Die von den Eltern gebildeten Keimzellen können in solchen Fällen balanciert oder unbalanciert sein. Letzteres gestaltet sich derart, daß entweder spezifisches Chromosomenmaterial fehlt, im Übermaß vorhanden oder beides der Fall ist. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf den vorhergehenden Abschnitt über Chromosomenaberrationen verwiesen. Wenn das Cri-du-ChatSyndrom durch eine unbalancierte Translokation bedingt ist, bestehen zwei Defekte: eine Deletion am kurzen Arm des einen Chromosoms Nr. 5 und ein Überschuß an Chromosomenmaterial an einem anderen Chromosom. Nicht alle Chromosomenkombinationen führen zu einer Lebendgeburt. Infertilität (Unfruchtbarkeit) und Fehlgeburten können gehäuft auftreten, wenn einer der Eltern Translokationsträger ist. De novo (neu aufgetretene) unbalancierte Translokationen: Eine "de novo"- unbalancierte Translokation bezieht sich auf das erste, spontane Auftreten einer Translokation, die im Chromosomenmaterial unbalanciert ist und die, anders als bei den oben besprochenen balancierten Translokationen, gleich beim ersten Auftreten zu einem klinisch abnormen Kind führt. Eine "de novo"- unbalancierte Translokation entsteht dann, wenn zwei Chromosomen gleichzeitig gebrochen sind und bei Wiederzusammensetzen der Chromosomenstücke eines verlorengeht. Beim Cri-du-Chat-Syndrom tritt eine derartige Translokation gewöhnlich zwischen dem kurzen Arm des Chromosoms Nr. 5 einerseits und einem Chromosom Nr. 13, 14, 15, 21 oder 22 andererseits auf. Da sich oft ein vollständiges Chromosom an den beschädigten kurzen Arm des Chromosoms Nr. 5 hängt, sieht es so aus, als hätten die Kinder nur 45 Chromosomen. Ganz selten wurden beim Cri-du-Chat-Syndrom Formen von Ringchromosomen und Chromosomenmosaiken beobachtet (Neuhäuser et al., 1968; Sachsse, 1969). 3. 3 Zytogenetik beim Cri-du-Chat-Syndrom Die Zytogenetik ist eine Forschungsrichtung, die sich mit der Analyse der genetischen Probleme befaßt, die auf einer Korrelation zwischen erblichen Veränderungen und zytologischen, chromosomalen Verhältnissen beruhen. Zum besseren Verständnis der einzelnen Beschreibungen sei der/die Leser/in an dieser Stelle gebeten, die im Anhang befindliche Darstellung einzelner Segmente des Chromosoms Nr. 5 zur Hilfe zu nehmen (Anhang A7). Postnatale zytogenetische Untersuchungen haben ihren Schwerpunkt in der möglichst frühzeitigen Erfassung chromosomal bedingter Defekte. Die Zytogenetik ist eine grundlegende Voraussetzung für eine spätere genetische Beratung der Eltern. Man muß davon ausgehen, daß auf etwa 200 Neugeborene ein Kind mit einer Chromosomenstörung entfällt. Wesentlich ist die Tatsache, daß ein großer Teil der chromosomalen Fehlbildungen mit bestimmten Syndromen verknüpft ist (Knörr, 1974; Murken & Cleve, 1996). Schon 1972 beschrieb Niebuhr, sich auf Untersuchungen von Lejeune et al. (1964) und Breg et al. (1970) beziehend, zytogenetische Untersuchungen an PatientInnen mit Cri-du-Chat-Syndrom, die die Lokalisation des pathogenetischen Segmentes auf einem spezifischen Abschnitt (Band) des kurzen Arms vom Chromosom Nr. 5 ermöglichten (Niebuhr, 1972a). Dabei betrafen die Deletionen, sind sie nun terminal oder interstitiell, von 15 - 80% der gesamten Länge des kurzen Arms variierend und alle PatientInnen zusammen berücksichtigend, die Bänder 5p13, p14 und p15. In anderen Fällen betrifft/betraf die Deletion mindestens das p15-Band und einen kleineren oder größeren distalen (von der Mitte weiter entfernten) Teil des p14-Bandes. Das Cri-du-Chat-Syndrom 12 Daraus folgte die berechtigte Annahme, daß der Verlust dieses Segments verantwortlich für die Entwicklung der Hauptsymptome beim Cri-du-Chat-Syndrom ist. Trotz der Variabilität im Ausmaß der Deletion gab es eine erstaunliche Übereinstimmung in den klinischen Merkmalen. Dies ist gleichbedeutend mit den Befunden von Miller et al. (1969). Weiterhin blieb jedoch die Möglichkeit offen, daß einige der geringfügigeren klinischen Symptome durch den Verlust unterschiedlicher Segmente entstehen. Und letztlich ist es vielleicht möglich zu zeigen, daß jeder autonome Karyotyp beim Cri-du-Chat-Syndrom zytogenetisch oder wenigstens genetisch einmalig ist. In weiteren Untersuchungen waren die kleinsten Deletionen, die gefunden wurden, del (5) (pterp15.1), die größte war del (5) (pter-q11). Wahrscheinlich wurden auch interstitielle Deletionen beobachtet, wobei alle mindestens den proximalen (zur Mitte hin liegenden) Teil 5p15 beinhalteten. Niebuhr (1978a) schloß daraus, daß die Deletion von 5p15.1 - 5p15.3 in erster Linie für die klinischen Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms verantwortlich ist. Fälle von Ringchromosomen mit Brüchen in 5p15, die alle den Phänotyp des Cri-du-Chat-Syndroms zeigen, unterstützen diese Hypothese, ebenso die molekulare Charakterisierung von PatientInnen mit 5p - Deletionen durch Overhauser et al. (1986). Overhauser lokalisierte die kritische Region für das Cri-du-Chat-Syndrom noch genauer auf 5p15.2 - 5p15.3. Seine Arbeit gipfelte in der Darstellung zweier chromosomaler Regionen, die eine Rolle in der Ätiologie des Cri-du-Chat-Syndroms zu spielen scheinen (Overhauser et al. 1994). Während die Deletion der chromosomalen Region 5p15.3 mit dem katzenähnlichen Schrei korreliert, ist es der Verlust einer schmalen Region innerhalb von 5p15.2, der die anderen Hauptsymptome des Cri-du-Chat-Syndroms bestimmt. Diese zweite Region ist als die "cri-du-chat critical region" (CDCCR) beschrieben worden. Eine nähere Beschreibung dieser und anderer Untersuchungsergebnisse (Smith et al., 1990; Overhauser et al., 1994; Goodart et al., 1994; Gersh et al., 1995; Church et al., 1995 u.v.m.) wird in einem späteren Teil dieses Abschnittes vorgenommen. Zunächst soll jedoch auf einzelne mit unterschiedlichen Aberrationsformen verbundene zytogenetische Befunde eingegangen werden. Deletionen, die diese beiden chromosomalen Regionen (5p15.2 und 5p15.3) nicht einschließen, zeigen variierende Phänotypen von schwerer geistiger Behinderung und Mikrozephalie (Kleinköpfigkeit) bis hin zu einem klinisch normalen Erscheinungsbild. In "de novo"-Aberrationen kann der Bruchpunkt selten mit Sicherheit definiert werden, denn es kann ein Segment eines anderen Chromosoms an das Bruchende von 5p angegliedert sein. Dies könnte auch Fälle mit scheinbar normalen Chromosomen und dem Cri-du-Chat-Phänotyp erklären. Interstitielle Deletionen, die nicht 5p15 einschließen, sind beim Chromosom Nr. 5 nie beobachtet worden. Carlin et al. (1978) nehmen an, daß Verluste größerer Segmente mit geringerem Gewicht, geringerer Größe und einem höheren Grad geistiger Behinderung verbunden sind. Hingegen fand Niebuhr (1978b) keine derartige Korrelation. In Translokationsfällen wurden Bruchpunkte weiter als 5p14 nie beobachtet. Manchmal wurde eine de novo-Duplikation-Deletion mit einem (5p+)-Chromosom und dem Cri-du-Chat-Phänotyp gesehen. Komplexere Veränderungen mit drei oder mehr Brüchen wurden zuweilen beobachtet (Catti & Schmid, 1971; Francesconi et al., 1978). Ebenso wurde bei PatientInnen die Kombination einer Deletion eines Segments von 5p und einer Duplikation oder Deletion verschiedener Segmente anderer Autosomen festgestellt. Die meisten PatientInnen zeigen Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms und andere Kennzeichen, welche mit der Imbalance des anderen Segments verbunden werden können. Das Leben ist oft verkürzt, körperliche und geistige Entwicklung eingeschränkter als beim "reinen" (5p-)-Syndrom, und zusätzliche Mißbildungen sind häufig, welche weniger mit dem klassischen Cri-du-Chat-Phänotyp gemein sind. Deletionen von 5p wurden in Kombination mit Geschlechtschromosomenaberrationen beobachtet: Der Karyotyp eines 22 Monate alten Jungen mit Cri-du-Chat-Syndrom brachte z.B. eine (45,X,5p-)Konstitution zum Vorschein (Tolksdorf et al., 1980). Ähnliche Karyotypen diagnostizierten Seidel et al. (1981) und Vignetti et al. (1977). Magenis et al. (1975) berichteten u.a. von Fällen, bei denen sich durch Verbinden der Bruchstellen der distalen Bänder 5p15 und 5q35 Ringchromosomen bildeten. Da diese und alle anderen dokumentierten r(5)-Fälle das klinische Bild des Cri-du-Chat-Syndroms ohne zusätzliche Merkmale zei- Das Cri-du-Chat-Syndrom 13 gen, ist es wahrscheinlich, daß in allen Fällen ein größeres Segment von 5p15 in der Ringformation verlorengegangen ist (Schinzel, 1984). Wie bereits erwähnt, gelang es Overhauser et al. 1994, sowohl die mit dem katzenähnlichen Schrei korrelierende Region 5p15.3 als auch die "cri-du-chat-critical region" (CDCCR) 5p15.2 zu lokalisieren. In diesem Zusammenhang soll nun auf verschiedene Untersuchungen näher eingegangen werden. Die Mehrheit der beobachteten Deletionen am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 ergeben den klassischen Cri-du-Chat-Phänotyp. Dabei ist oft der katzenähnliche Schrei der grundlegende diagnostische Indikator für einen Verlust von 5p-Material (Jones, 1988). Kehren wir noch einmal zu den Untersuchungen von Niebuhr (1978a) zurück. Zytogenetische Analysen ergaben eine kritische Region für das Cri-du-Chat-Syndrom im Chromosomenband 5p15.2. Diese Erkenntnis wurde unterstützt durch Berichte über einzelne Fälle mit Deletionen, die nicht 5p15.2 umfassen und auch nicht den klassischen Cri-du-Chat-Phänotyp aufweisen (Baccichetti, 1982; Walker et al., 1984; Overhauser et al., 1986; Baccichetti et al., 1988). 1994 beschrieben Overhauser et al. aufgrund detaillierter molekularer Analysen von 49 Einzelfällen mit Translokationen und Deletionen bzgl. 5p die "cri-du-chat-critical region" (CDCCR) 5p15.2. Einer dieser Fälle wies eine Deletion auf, die nicht die CDCCR umfaßte, zeigte aber den typischen katzenähnlichen Schrei. Aufgrund dessen wurde vermutet, daß die Region 5p15.3 mit diesem Merkmal in Verbindung stehen muß. Untermauert wird diese Hypothese durch den Bericht einer Familie, in der eine terminale Deletion der distalen Hälfte von 5p15.3 über drei Generationen vererbt wurde, ohne daß eines der Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms oder der Katzenschrei auftrat (Bengtsson et al., 1990). Diese Berichte zusammen suggerieren, daß eine Region distal von der "cri-du-chat-critical region" in dem proximalen Teil von 5p15.3 ein Gen enthalten könnte, welches in die Erscheinung des Katzenschreis involviert ist. Da das Cri-du-Chat-Syndrom wahrscheinlich ein Syndrom aneinandergrenzender Gene ist, ist die Hypothese berechtigt, daß eine haploide Insuffizienz (Unzulänglichkeit) von nur einem bzw. einer Teilmenge dieser Gene, die in dem Gesamtsyndrom involviert sind, in der Manifestation nur eines Merkmals des Syndroms resultiert. So zeigen Gersh et al. (1995) in ihrer Untersuchung den Unterschied zwischen 5p-Deletionen, die eine starke Entwicklungsstörung nach sich ziehen, wie sie bei den meisten PatientInnen mit Cri-du-Chat-Syndrom beobachtet wurde, und den Deletionen, die nur das isolierte Katzenschrei-Merkmal aufweisen. Damit wurde nochmals bestätigt, daß es eine "cat-like cry critical region" gibt, die das proximale Drittel von 5p15.3 umfaßt, welche separat und distal zur CDCCR von Overhauser liegt. Nachdem die kritische Gesamtregion für das Cri-du-Chat-Syndrom lokalisiert worden ist, stellt sich natürlich für die Gentechnik die Frage, welche speziellen Gene zu den auslösenden Faktoren zählen bzw. inwieweit zumindest bestimmte Regionen isoliert werden können, die speziell mit bestimmten Erscheinungsbildern des Syndroms korrelieren. Bis heute sind keine mit diesen Fehlbildungen verbundenen einzelnen Gene identifiziert worden. Verschiedene Möglichkeiten der Abbildung von genetischem Material sind vielleicht der erste Schritt dahin, die verursachenden Gene zu isolieren. In diesem Zusammenhang sei u.a. auf Gersh et al. (1994) verwiesen. Derweilen sind einige Gene in 5p gekennzeichnet worden, einschließlich des Dopamin-Transport-Gens und Gene, die für die Rezeptoren der Wachstumshormone, Prolactin und LeukämieHemmungsfaktoren kodieren. Aber jene für derartige Fehlbildungen verantwortlichen Gene sind weiterhin unbekannt. Es ist jedoch anzunehmen, daß im Zuge der Genforschung auch diese Fragen beantwortet werden. An dieser Stelle sei auf die Arbeiten von Simmons et al. (1995) hingewiesen, die durch direkte cDNA-Selektion die ersten Gene der "cri-du-chat critical region" (CDCCR) isolieren konnten. Wenn man auch nicht davon sprechen kann, daß einzelne Gene lokalisiert werden können, so gibt es doch Untersuchungen, die Regionen zu determinieren versuchen, die mit bestimmten Symptomen zusammenhängen. In einem Versuch, Regionen im kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 zu definieren, welche die mit dem Cri-du-Chat-Syndrom verbundenen Erscheinungsbilder hervorrufen, haben Church et al. (1995) verschiedene Deletionen von 17 PatientInnen analysiert. Das Ziel dieser Untersuchung war es, eine beginnende Identifikation von Genen zu ermöglichen, welche mit variierenden phänotypischen Merkmalen von distalen 5p-Deletionen verbunden sind. Ausgehend davon, daß trotz häufig auftretender und als typisch geltender Merkmale bei Individuen mit 5p-Deletionen eine doch relativ hohe Spanne phänotypischer Heterogenität zu be- Das Cri-du-Chat-Syndrom 14 obachten ist (Breg et al., 1970; Niebuhr, 1978b; Wilkens et al. 1980, 1983), versuchten Church et al. (1995), diesen Tatbestand zytogenetisch zu erklären. Es wurde angestrebt, die Subphänotypen des Cri-du-Chat-Syndroms zu lokalisieren, um ein besseres Verständnis der Heterogenität zu erlangen. Dabei wurden frühere Vermutungen bestätigt, daß die Lokalisation der Deletionsbruchstellen mit dem Vorhandensein bzw. der Abwesenheit verschiedener klinischer Merkmale korreliert. Molekulare und phänotypische Analysen der einzelnen Individuen machten es möglich, spezifische Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms auf bestimmte Subregionen von 5p zu übertragen, insbesondere solche Kennzeichen wie dem Katzenschrei, den facialen Dysmorphien Neugeborener und/oder Erwachsener und der Sprachverzögerung. Obwohl in früherer Literatur die tiefgreifende Sprachverzögerung nie als Cri-du-Chat-klassisch bezeichnet wurde, zeigt die Untersuchung von Church et al., daß die Sprachverzögerung wahrscheinlich das häufigste Merkmal von Personen mit terminalen Deletionen von 5p ist. Anhand der Analyse aller klinischen Daten, vor allem dem jeweils konkreten Ausmaß der Deletion sowie der beobachteten Symptome, konnte ein Ideogramm vom Chromosom Nr.5 erstellt werden mit einer ungefähren Lokalisation von Bruchstellen und den damit verbundenen Phänotypen. Damit ist es möglich, die Erscheinungsbilder von Sprachverzögerung und Katzenschrei zu lokalisieren, sowie eine Region, die mit den typischen facialen Dysmorphien von Neugeborenen und Erwachsenen korreliert. Genauere Erläuterungen der Ergebnisse sind bei Overhauser et al. (1994) und Church et al. (1995) zu finde. 15.3 15.2 15.1 Katzenschrei CDCCR leichte geistige Behinderung keine Symptome 14 5p 13 leichte bis schwere geistige Behinderung Microcephalie 12 11 5q 5 Abb.3: Ideogramm des Chromosoms Nr.5 mit ungefährer Lokalisation der mit bestimmten Bruchstellen verbundenen Phänotypen (Overhauser et al., 1994, S.251) Dieses Resultat ist nicht nur ausschlaggebend für ein besseres Verständnis der Heterogenität der Symptome beim Cri-du-Chat-Syndrom. Eine weitere Konsequenz dieser Daten liegt im Bereich der genetischen Beratung und der pränatalen Diagnostik. Um dies zu verdeutlichen, sei noch einmal auf die vielen Arten von 5p-Deletionen und ihre entsprechend unterschiedlichen Erscheinungsbilder hingewiesen. Zudem haben Wilkens et al. (1983) festgestellt, daß es keine Korrelation zwischen dem Ausmaß der Deletion und der Schwere der Entwicklungsstörung gibt. Es ist also aufgrund dieser und anderer Untersuchungen offensichtlich, daß ein del(5p)-Karyotyp nicht notwendigerweise die Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" indiziert. Ebenso können Deletionen in 5p15.2 (Smith et al., 1990; Overhauser et al., 1994) unterschiedliche Phänotypen zur Folge haben, so daß es schwierig ist, diesen Personen eine adäquate Prognose zu geben. Damit wird deutlich, daß sich trotz genauer medizinischer Symptombeschreibung und präziser zytogenetischer Untersuchungsmöglichkeiten keine manifesten Merkmale für die persönliche Entwicklung eines einzelnen Individuums ergeben. Viele HumangenetikerInnen gehen davon aus, Das Cri-du-Chat-Syndrom 15 daß die wesentlichen Kennzeichen für die Entwicklung des Menschen genetisch vorprogrammiert sind und dementsprechend ein Defekt innerhalb der genetischen Struktur unweigerlich zu bestimmten Fehlentwicklungen führen muß. Dem widersprechen jedoch die vielen verschiedenen Fallbeschreibungen von Kindern mit Cri-duChat-Syndrom. Trotz ähnlicher genetischer Fehler können sich diese Kinder unterschiedlich entwickeln. Das bedeutet, daß mit einer rein klinischen Aussage über den Entwicklungsstand bzw. seine etwaige Behinderungsform die Zukunft eines Kindes nicht vorhersagbar wird. Im Kapitel 4 wird dem/der Leser/in erläutert, inwiefern medizinische Befunde einerseits zwar bestimmte psycho-soziale Auswirkungen haben, andererseits jedoch keine konkreten Aussagen über die Entwicklung im einzelnen bieten, wie sie im übrigen auch bei nichtbehinderten Kindern unmöglich ist. Wie bei jedem anderen Kind spielen auch bei einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom die verschiedensten Faktoren bei der Entwicklung eine Rolle, d.h. ein Kind mit einem derartigen Syndrom wird nicht nur von seinem "Syndrom" bestimmt. 3. 4 Epidemiologie Wie zu Beginn des Kapitels beschrieben, kann davon ausgegangen werden, daß das Cri-du-ChatSyndrom die häufigste unbalancierte strukturelle Chromosomenaberration ist. Es dürfte etwa doppelt bis dreifach so häufig sein wie das (18p-)-Syndrom (das zweithäufigste Deletionssyndrom), aber 50mal seltener als die Trisomie 21 (Schinzel, 1979). Seit das Cri-du-Chat-Syndrom 1963 das erste Mal beschrieben wurde, sind bis 1990 weltweit insgesamt 758.310 Fälle erfaßt worden (National Organization for Rare Disorders, 1996). An der Gesamtpopulation gemessen tritt das Syndrom relativ selten auf, die Häufigkeit (Inzidenz) wird mit 1:50.000 angegeben, das Vorkommen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung (Prävalanz) mit 1:350 (Thoene, 1995 u.v.m.). Auffallend ist das Geschlechterverhältnis: Während Mädchen unter früh erfaßten Fällen etwa im Verhältnis 3:1 überwiegen, so ist das Geschlechterverhältnis unter Erwachsenen, bei denen das Cridu-Chat-Syndrom später diagnostiziert wurde, annähernd ausgewogen. Dieser Unterschied kann Differenzen in der diagnostischen Methodologie widerspiegeln. Vielleicht liegt der Grund in dem typischen Katzenschrei, der das wichtigste diagnostische Zeichen bei Kindern darstellt und bei Jungen mehrfach fehlen bzw. sich schon sehr früh verändern kann. 3. 5 Symptomatik Der klinische Verdacht auf eine unbalancierte Autosomenaberration stützt sich in erster Linie auf vier Hauptkriterien: (1) körperliche und geistige Entwicklungsverzögerung, (2) Dysmorphiezeichen, insbesondere an Kopf, Händen und Füßen, (3) Auffälligkeiten der Hautleisten und -furchen und (4) Fehlbildungen der inneren Organe (Murken & Cleve, 1996). Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß Personen mit 5p-Deletionen ein großes Maß an phänotypischer Heterogenität aufweisen (Breg et al., 1970; Wilkens et al., 1980, 1983). Viele als typisch geltende Merkmale treten in variierender Häufigkeit auf. Jones legt in Smith´s Recognizable Patterns of Human Malformation sogar dar, daß nur vier Charakteristika in fast allen Fällen von Cri-du-ChatSyndrom präsent sind: der katzenähnliche Schrei, geringes Wachstum, Mikrozephalie und geistige Behinderung (Jones, 1988). Trotzdem soll im folgenden Absatz versucht werden, eine Übersicht über das mögliche Erscheinungsbild beim Cri-du-Chat-Syndrom zu geben. 3. 5. 1 Klinische Merkmale bei Kindern mit Cri-du-Chat Syndrom Säuglinge mit Cri-du-Chat-Syndrom sind meist kleiner als andere Neugeborene. Das Geburtsgewicht liegt in der Regel unterhalb der Norm, auch dann, wenn die Größe des Neugeborenen fast normal ist (durchschnittlich 2.600g). Dabei verläuft die Schwangerschaft unauffällig, und die Kinder werden fast immer termingerecht geboren. Auffallend ist eine kraniofaciale Dysmorphie mit Veränderungen von Kopf und Gesicht: Fast alle Säuglinge mit diesem Syndrom haben einen abnorm kleinen Kopf (Mikrozephalie mit einem durchschnittlichen Kopfumfang von 31,7cm) mit einer meist länglichen Form. Oft weisen diese Kinder starke Entwicklungsschwierigkeiten auf. Sie gedeihen nur sehr langsam und bleiben auch in der späteren Entwicklung zurück. So benötigen einige der Neugeborenen nach der Entbindung eine Atemhilfe. Fast die Hälfte von ihnen hat in den ersten Lebensjahren Probleme Das Cri-du-Chat-Syndrom 16 mit dem Herzen und der Atmung. Gerade in diesem Bereich treten häufig Infektionen auf. Bültmann et al. (1982) vermuten die Ursache in einer Granulozytendysfunktion (Dysfunktion der weißen Blutkörperchen). Diese Hypothese bleibt jedoch umstritten. Ebenso häufig treten in den ersten Tagen Ernährungsprobleme auf. Neben der Wachstumsretardierung ist in allen Fällen eine psychomotorische und geistige Entwicklungsverzögerung verschiedenen Ausmaßes beobachtet worden. Auch wenn in vielen Berichten als nicht Cri-du-Chat-klassisch beschrieben, so ist doch die tiefgreifende Sprachverzögerung eines der häufigsten Merkmale (Church et al., 1995). Kennzeichnend für das Cri-du-Chat-Syndrom ist das eigenartige Schreien, welches besonders beim Neugeborenen und Säugling dem Miauen einer Katze täuschend ähnelt. Die Stimme des Kindes ist hoch und klingt gepreßt, die Ausatmung ist verlängert und unterbrochen, die Einatmung behindert. Während beim normalen Säuglingsschreien die Tonhöhe fast immer absinkt bzw. Abschnitte mit schnelleren Tonschwankungen zu beobachten sind, ist der Schrei beim Cri-du-Chat-Syndrom überwiegend monoton mit zum Teil mehrere Sekunden unverändert bleibender Tonhöhe und zeigt nur eine geringe Melodiebewegung und damit eine ausgesprochene Ausdrucksarmut. Auch im spektrographischen Bild wird die Ähnlichkeit mit dem Miauen von Katzen deutlich. Der Grundton liegt um eine Oktave höher (600 - 1.200 Hz) mit einer zusätzlich starken Ausprägung der Formanten bei 4.000 Hz. Die Latenzzeit beträgt im Mittel 2,0 Sek.. Die Schreidauer ist deutlich verlängert (in der Regel über 5 Sek.) (Luchsinger et al., 1967; Schroeder et al., 1967; Bauer, 1968; Granoff & Preston, 1971; Zeskind & Lester, 1978; Rothgänger & Ueberschär, 1980; Frodi & Senchak, 1990; Sohner & Mitchell, 1991). Letztlich ist die Ursache der Stimmveränderung aber noch unklar. Eine Veränderung des Kehlkopfes (Laryngomalazie), so wie sie u.a. von Castresana et al. (1994) angenommen wird, ist nicht immer nachzuweisen, so daß wohl auch funktionelle Störungen durch zentrale Dysregulation in Frage kommen. Aufgrund der wenigen Untersuchungen läßt sich dabei jedoch nicht entscheiden, ob eine entsprechende morphologisch (der Form, der Struktur nach) faßbare Hirnschädigung vorliegt oder ob es sich um eine, auf dem Boden des bestehenden Chromosomendefektes genetisch bedingte, cerebrale (das Gehirn betreffende) Funk-tionsstörung im Sinne einer gesteigerten neuromuskulären Erregbarkeit bestimmter Zentren handelt. Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom sehen aufgrund der kraniofacialen Störungen einander recht ähnlich. Sie haben neben der bereits erwähnten Mikrozephalie oft ein rundes Gesicht mit ungewöhnlich weit auseinander liegenden Augen (Hypertelorismus) sowie eine verbreiterte und abgeflachte Nasenwurzel, die in einen beidseitigen Epikanthus (sichelförmige Hautfalte am inneren Rand des oberen Augenlides) übergeht. Weiterhin findet sich häufig eine von medial (mittig) nach lateral (seitwärts) abfallende (antimongoloide) Lidachsenstellung. Über die Hälfte der Kinder wiesen bei Untersuchungen Augenprobleme auf, wie Nystagmus (Augenzittern), konvergenten oder divergenten Strabismus (Einwärts- und Auswärtsschielen), Myopia (Kurzsichtigkeit), Augennervenmißbildungen oder ausgeblichene Netzhaut. Andere Symptome können sein: tiefsitzende und/oder mißgebildete Ohren, ein schmales Kinn (Mikrognathia), häufig Zahnstellungsanomalien, hoher Gaumen, eine vorstehende Nase und weitere faciale Merkmale, die asymmetrisch sind. Die Hände weisen oft eine Vierfingerfurche auf. Ebenso findet man kennzeichnende Veränderungen der Hautleisten. Am Skelettsystem fällt ein Ossifikationsrückstand (Knochenbildungsrückstand) auf. Abgesehen von einer häufigen Verkürzung und Abwinkelung des kleinen Fingers (Klinodaktylie) wurden gröbere Fehlstellungen der Gelenke (Klumpfuß, Hüftgelenksluxation), Anomalien der Wirbelsäule (Skoliose, Kyphoskoliose) sowie Syndaktylien nur in Einzelfällen beschrieben. Hingegen haben über drei Viertel der Säuglinge Anzeichen von Schlaffheit und geringem Muskeltonus (Hypotonie) mit ungenügender Kopfkontrolle und schlaffen, überstreckbaren Gelenken an den Gliedmaßen. Colover et al. (1972) nehmen an, daß die Hypotonie, ähnlich den Vermutungen beim Katzenschrei (siehe oben), ihren Ursprung in einer genetisch bedingten, cerebralen Funktionsstörung hat. Körperliche und statomotorische Entwicklung verlaufen langsam. Die Kopfkontrolle wird etwa mit einem Jahr, das selbständige Sitzen mit zwei Jahren erreicht. Das Cri-du-Chat-Syndrom 17 Kognitive Einschränkungen sind relativ häufig bei PatientInnen mit Chromosomenanomalien zu beobachten. Inwieweit dies für das Cri-du-Chat-Syndrom zutrifft, ist bisher nur ungenau beschrieben, zumal zwischen Chromosomenaberration und geistiger Behinderung kein notwendiger Zusammenhang besteht. Gerade minimale Anomalien autosomaler Chromosomen sind oft mit einer normalen Intelligenz kompatibel (vereinbar). Seltener wurde bei dem Cri-du-Chat-Syndrom eine Oberlippen- und/oder eine Gaumenspalte oder eine abnorme Öffnung/Spalte im hinteren Rachenraum (Bifida uvula) beobachtet. Außerdem können in Einzelfällen folgende Symptome auftreten: Inguinalhernien (Leistenbrüche), Rektusdiastase (Auseinanderweichen der geraden Bauchmuskeln), unvollständige Entwicklung einer Seite der Spinalspalte (des Rückenmarks), Kryptorchismus (Hodenhochstand), Hypoplasie (Unterentwicklung) der äußeren Genitalien, fehlende Niere und/oder Milz. Zuweilen wurden Fälle mit ungewöhnlichen und schweren Mißbildungen wie Oligo-Syndaktylie (mangelnde Ausbildung einzelner Fingerstrahlen), Malrotation des Darms (fehlerhafte Drehung während der Entwicklung ) und andere beobachtet (Taylor & Josifek, 1981). Mißbildungen der inneren Organe scheinen insgesamt relativ selten zu sein, die bekanntesten sind Herzfehler und Darmanomalien. Ungefähr ein Drittel der Kinder mit terminalen Deletionen und drei Fünftel der Kinder mit unbalancierten Translokationen haben irgendeine Form eines angeborenen Herzfehlers. Gastrointestinale (Magen und Darm betreffende) Mißbildungen schließen die Malrotation des Darms und die Hirschsprungsche Krankheit (Dickdarmerweiterung) ein, bei der eine schwere Verstopfung oder Darmverlegung durch das Fehlen von Nerven im Dickdarm hervorgerufen wird. Bei mehr als der Hälfte der Kinder waren Verstopfungen ein chronisches Problem (vgl. Anhang A1; Abb. X-XII). Diese klinischen Erscheinungen wurden von zahlreichen AutorInnen beschrieben (z.B. Macintyre et al., 1964; Bergmann et al., 1965; Bettecken et al., 1965; McCracken & Gordon, 1965; Neuhäuser & Lother, 1966; Vasella et al., 1967; Reinwein, 1967; Wolf & Reinwein, 1967; Zernahle, 1967; Fiehring et al., 1968; Mennicken et al., 1968; Zizka, 1969; Altrogge et al., 1971; Maaz & Döring, 1971; Bechthold, 1973; Pichler & Scheibenreiter, 1973; Schwingshackl & Ganner, 1973; Steinbicker, 1973; Schinzel, 1979; Wilkens et al., 1980, 1982 & 1983; Schinzel, 1984; Jones, 1988; Neuhäuser, 1988; Neuhäuser & Steinhausen, 1990; Stykes & Christie, 1994). 3. 5. 2 Klinische Merkmale bei Erwachsenen mit Cri-du-Chat-Syndrom Beim Cri-du-Chat-Syndrom kommt es mit der Entwicklung zu einem ausgeprägten Wandel im klinischen Bild. So werden bei vielen PatientInnen mit Annäherung an die Pubertät entwicklungsbedingte Veränderungen beobachtet. Das auffallendste Symptom, der katzenähnliche Schrei, verschwindet in fast allen Fällen bereits in früher Kindheit, wobei die Stimme jedoch oft abnorm bleibt. So sind die charakteristischen Neugeborenenbefunde für die klinische Diagnosestellung im Adoleszenten- und Erwachsenenalter unbrauchbar. Typische Merkmale junger PatientInnen mit Cri-du-Chat-Syndrom, wie Mondgesicht, Hypertelorismus, Mikrognathia und tiefsitzende Ohren, werden bei älteren Personen mit diesem Syndrom weniger beobachtet. Während der späten Kindheit und in der Adoleszenz bewirkt das größere Wachstum der Gesichtsstruktur im Vergleich zu dem der Schädelwölbung einen engen und groben Gesichtsausdruck. Vorherrschende supraorbitale (über der Augenhöhle liegende) Kanten, tiefliegende Augen, ein hoher, aber hypoplastischer (unterentwickelter) Nasenrücken und ein kleiner, herunterhängender Unterkiefer, dessen Kleinwuchs häufig zu Zahnfehlstellungen, starkem Überbiß und damit verbundenen Problemen führt, charakterisieren die Gesichter der Erwachsenen mit Cri-du-ChatSyndrom (z.B. Breg et al., 1970; Niebuhr, 1978b). Die Untersuchung von Fotografien der einzelnen PatientInnen in bestimmten zeitlichen Abständen erlaubte das klare Erkennen der Entwicklungsstadien vom kindlichen zum erwachsenen Phänotyp (Niebuhr, 1978b). Typisch ist das relativ früh einsetzende Ergrauen der Haare. In den meisten Fällen bleibt die Körpergröße und der Kopfumfang deutlich unter dem normalen Durchschnitt (Fehlow & Tennstedt, 1989). Häufig wurde bei älteren PatientInnen ein bilateral wechselnder Strabismus festgestellt, ebenso häufig eine optische Atrophie (Schwinden der Sehkraft). Das Cri-du-Chat-Syndrom 18 Muskuläre Hypotonie, ein typisches Kennzeichen von Säuglingen mit Cri-du-Chat-Syndrom, wurde im Erwachsenenalter nicht gefunden, allerdings wiesen die meisten Erwachsenen Anhaltspunkte einer schwachen Muskelentwicklung vor. Vermehrt wurde eine Hyperreflexie (Steigerung und Verbreiterung der Reflexe) beobachtet (Niebuhr, 1972b). In mehr als der Hälfte der Fälle treten Skoliosen (seitliche Krümmungen der Wirbelsäule) auf, typisch sind weiterhin kurze Mittelhand- und/oder Mittelfußknochen und Plattfuß. Obwohl eine signifikante Anzahl von PatientInnen mit Cri-du-Chat-Syndrom bekannt ist, welche die Pubertät erreicht haben , ist bisher relativ wenig über die Sexualentwicklung und Zeugungsfähigkeit dieser Personen bekannt. (11,5% der 331 von Niebuhr (1978b) untersuchten Fälle waren älter als 14 Jahre.) Ebenso brachte die Untersuchung von Breg et al. (1970) keine Informationen über Fortpflanzungsfähigkeit, zeigte aber, daß betroffene Frauen die Pubertät erreichen, sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickeln und im normalen Pubertätsalter das erste Mal menstruieren. Auch männliche Personen mit Cri-du-Chat-Syndrom entwickeln in der Regel normale sekundäre Geschlechtsmerkmale. In Einzelfällen kann es zu bereits beschriebenen Störungen kommen. Martinez et al. berichteten 1993 von einem ersten Fall, in dem eine Mutter mit Cri-duChat-Syndrom eine Tochter zur Welt brachte, die ebenfalls die typischen Merkmale des Cri-duChat-Syndroms aufwies. 3. 6 Ursachen der Deletion beim Cri-du-Chat-Syndrom Die primären Ursachen für eine Deletion am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Neuhäuser und Lother (1966) vermuteten, daß die Deletion wahrscheinlich während der Reduktionsteilung entsteht. Möglicherweise stellen sekundäre Konstriktionen (Abbindungen), wie sie bevorzugt an den kurzen Armen des Chromosoms Nr.5 vorkommen, eine entsprechende Prädilektionsstelle (bevorzugte Stelle) dar. Diesen Verdacht bestärken die Befunde von Mennicken et al. (1968), daß der kurze Arm dieses Chromosoms spät repliziert; ein Verhalten, welches für heterochromatisches Material charakteristisch ist. Derartige Abschnitte zeigen in nativen (erblichen) Chromosomen sogenannte sekundäre Konstriktionen, welche nach Einwirkung toxischer (giftiger) Substanzen zu Frakturen (Brüchen) neigen. In den meisten Fällen resultiert der Chromosomenbruch aus einer scheinbar zufälligen Schädigung des Chromosoms Nr.5 (Zernahle, 1967; Mennicken et al., 1968; Wilkens, Brown, Nance & Wolf, 1983), in 10-15% hingegen wird die Deletion durch eine Translokation eines Elternteils vererbt (Pfeiffer & Simon, 1965; Reichelt & Voigt, 1966; Wolf, Reinwein, Gey & Klose, 1966; Zernahle, 1967; Mennicken et al., 1968; Kramer, 1975; Dev, Byrne & Bunch, 1979; Wilkens, Brown, Nance & Wolf, 1983). Chernos et al. (1992) beschreiben einen Fall von Cri-du-Chat-Syndrom aufgrund der meiotischen Rekombination bei einem Träger einer perizentrischen Inversion des Chromosoms Nr.5. Selten ereignet sich der Bruch erst in der Entwicklung des Föten, wobei ein Teil der weiblichen Zellen das defizitäre Chromosom enthält und die verbleibenden Zellen zwei normale Nr.5-Chromosomen. Es entsteht ein Chromosomenmosaik (Zernahle, 1967; Sachsse et al., 1969; Wilkens, Brown, Nance & Wolf, 1983). Bisher konnten die Untersuchungen keinen eindeutigen Aufschluß über die Entstehung der "einfachen" Deletion beim Cri-du-Chat-Syndrom geben. Genauere Untersuchungen an Eltern von Kindern mit diesem Syndrom haben bei der Ursachensuche bisher keinen Hinweis auf direkte Umwelteinflüsse, wie z.B. X-Strahlen, Medikamente oder spezifische Krankheiten, ergeben. Es sind jedoch viele, sich aus Chromosomenbrüchen ergebende, strukturelle Abnormitäten der Chromosomen bekannt, die durch verschiedene Umweltfaktoren hervorgerufen werden. Zu derartigen Umweltfaktoren zählen z.B. Radioaktivität, Drogen, Chemikalien und Viren (Cagianut, 1968; Obe & Natarajan, 1990; Murken & Cleve, 1996). So fanden z.B. schon Hampel et al. bei Untersuchungen der Toxizität von Cyclophosphamid für Chromosomen unter anderem auch eine statistisch signifikante Häufung der Brüche in den kurzen Armen der B-Chromosomen (Hampel, Fritzsche & Stopik, 1969). Strukturelle Chromosomenaberrationen konnten bei Personengruppen mit verschiedenen Strahlenexpositionen nachgewiesen werden, so z.B. nach externer diagnostischer und therapeutischer Bestrahlung sowie nach medizinischer Radioisotopenanwendung. Weitere Befunde liegen von Überlebenden der Das Cri-du-Chat-Syndrom 19 Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki, nach Strahlenunfällen (wie z.B. Tschernobyl) und bei beruflicher Strahlenexposition vor. Auch für eine Reihe chemischer Substanzen konnte nachgewiesen werden, daß sie strukturelle Chromosomendefekte auslösen können. Ebenso ist diese Wirkung von verschiedenen Viren, Schimmelpilzen und Mykoplasmen (sehr kleine, zellwandlose Organismen, welche den Bakterien zugerechnet werden) bekannt. Ob jedoch einer dieser Faktoren in direktem Zusammenhang zur Deletion am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 steht, ist bis heute unbekannt. Im Gegensatz zum Down-Syndrom (Trisomie 21) konnte zwischen dem Auftreten einer Deletion am kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 und dem erhöhten Alter der Mutter bei der Schwangerschaft keine Korrelation festgestellt werden (vgl. Anhang A1; Abb. IV). Wie bereits erwähnt, resultiert das Cri-du-Chat-Syndrom in 10-15% aus einer unbalancierten Segretion einer elterlichen balancierten Translokation, d.h. die Translokation führt je nach Größe der beteiligten Chromosomenabschnitte und der daraus folgenden Paarungsfigur in der Meiose zur ungleichen Verteilung der Chromosomenabschnitte und damit der Erbanlagen (Pfeiffer & Simon, 1965; Zernahle, 1967; Mennicken et al., 1968; Wilkens et al., 1982). Nicht immer sind derartige Translokationen bei einem Elternteil konkret nachzuweisen, so daß diese als einfache Deletionen imponieren. Für diese Fälle sind nachstehende Möglichkeiten als eventuelle Ursachen vorstellbar: 1. Bruchstückverlust als einmaliges Meioseereignis bei einem Elternteil. 2. Die Keimzellen eines Elternteiles tragen alle oder teilweise den Bruchstückverlust. 3. Die Keimzellen eines Elternteiles tragen alle oder teilweise eine balancierte Translokation. 4. Bruchstückverlust bei einer sehr frühen postzygotischen Teilung. Es gibt von Seiten der MedizinerInnen und GenetikerInnen eine Reihe von Ursachenhypothesen. Welche der Möglichkeiten jedoch im Einzelfall die tatsächliche Ursache ist, kann in der Regel noch nicht eindeutig geklärt werden. 3. 7 Diagnostik In erster Linie stützt sich die Diagnostik natürlich auf die Hauptmerkmale eines Syndroms. Da bei der Geburt bereits grundlegende Symptome manifestiert sein können, ist eine erste Diagnose anhand der oben beschriebenen klinischen Merkmale des Cri-du-Chat-Syndroms zu diesem Zeitpunkt schon möglich (vgl. Anhang A1; Abb. IX). Im ersten Lebensjahr ist der eigentümliche katzenähnliche Schrei das wichtigste diagnostische Zeichen. Kommen dann Untergewicht, Mikrozephalie und die typischen Dysmorphien dazu, ist die Diagnose praktisch sicher (Schinzel, 1984). Allerdings sei an dieser Stelle davor gewarnt, sich übermäßig auf diesen Schrei zu verlassen, da dieses Symptom manchmal fehlt. Wie unterschiedliche Zahlen bzw. die steigende Population in den Jahren nach der Entdeckung des Cri-du-Chat-Syndroms vermuten lassen, ist die Diagnose dieses Syndroms nicht immer eindeutig. Ursachen hierfür liegen u.a. wahrscheinlich überwiegend in der Unkenntnis verbunden mit der relativen Seltenheit. Um dies noch einmal zu verdeutlichen, sei allein auf die unterschiedlichen Ergebnisse bzgl. der Epidemiologie in Deutschland und den USA hingewiesen (vgl. Kapitel 2). Eine genaue Diagnostik erfordert dann im Falle einer ersten (sich auf Symptome stützenden) Diagnose eine anschließende Chromosomenanalyse mittels der bekannten Methoden der Humangenetik. Eine solche Untersuchung erst kann zuverlässige Aussagen für die genetische Beratung der Eltern liefern. Es sei jedoch an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, daß die Diagnose "Cri-du-ChatSyndrom", sei sie noch so präzise und durch modernste Chromosomenanalysen "untermauert", keine Diagnose in dem Sinne ist, daß nun ÄrztInnen und andere Fachleute sowie die Eltern aufgrund eines medizinisch definierten Befundes damit auch um die konkrete Entwicklung des Kindes wissen. Diese ist ihrer Natur nach nicht allein an ein definierbares Syndrom gebunden. Jedoch wird die Entwicklung oft genug nicht nur durch das Syndrom an sich behindert, sondern ebenso durch dessen Diagnose. Das Cri-du-Chat-Syndrom 3. 8 20 Therapien Der therapeutische Bereich soll in diesem Absatz nur kurz erwähnt werden. In einem späteren Kapitel wird dieses Thema ausführlicher erörtert. Da jedoch viele therapeutische Maßnahmen im medizinischen Bereich liegen, soll an dieser Stelle ein erster Überblick gegeben werden. Außerdem muß man davon ausgehen, daß auf dem Gebiet der humangenetischen Forschung im Zuge einer genaueren Kennzeichnung und Untersuchung der menschlichen Gene auch nach neuen möglichen Therapien gesucht wird. Es gibt für das Cri-du-Chat-Syndrom keine spezifische Therapie. Vielmehr jedoch können einzelne Symptome therapeutisch behandelt werden. Darüber hinaus sind verschiedene, die Entwicklung unterstützende Fördermaßnahmen präventiven Charakters bekannt. Man unterteilt den Bereich der Therapien in Standard-Therapien und in sogenannte "investigational therapies". Standard-Therapien: Die Behandlung des Cri-du-Chat-Syndroms ist symptomatisch und unterstützend. Physikalische Therapie und ähnliche Angebote können für diese Kinder nützlich sein. Die Chirurgie kann z.B. einen Augenfehler wie Strabismus korrigieren oder einige kosmetische Verbesserungen ermöglichen. Bei Skoliose und Deformationen der Füße sollte auf jeden Fall ein/e Orthopäd/e/in konsultiert werden. Durch eine Reihe von chirurgischen Eingriffen können gegebenenfalls Lippen- und Gaumenspalte korregiert werden. In fast allen Fällen ist eine Sprachtherapie ratsam bzw. sogar notwendig. Ebenso ist eine frühe präventive dentale Behandlung von großer Bedeutung. Inzwischen weiß man um die Verschiedenheit der Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom. Das Entwicklungspotential hängt dabei von unterschiedlichsten Faktoren ab, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. "Investigational therapies": Wissenschaftliche Techniken in der Determinierung chromosomaler Abnormitäten werden immer mehr verfeinert. Dies bedeutet, daß auch diagnostische Techniken verbessert wurden und noch werden. Dadurch können vielleicht genauere Aussagen zum Ausmaß der Schädigung und zum jeweiligen Entwicklungspotential möglich werden, wobei an diesem Punkt die Forschung noch relativ weit am Anfang steht. Je konkreter Aussagen über die Art und das Ausmaß primärer Schwierigkeiten machbar sind, desto detailierter kann ein frühes Förderprogramm entwickelt werden. Ein anderer Bereich umfaßt die aus verschiedenen Forschungen und Studien über das Cri-du-ChatSyndrom resultierenden Ergebnisse, die auf einer statistischen Grundlage und praktischen Erfahrungen basieren. So haben z.B. einzelne Fallberichte gezeigt, daß eine frühe spezielle Förderung, eine häusliche Umgebung (eher als eine institutionelle) und familiäre Unterstützung den Kindern helfen kann, die Fähigkeiten zu erreichen, die etwa einem nichtbehinderten fünf- bis sechsjährigen Kind entsprechen. Auf einzelne Therapieformen und deren Konsequenzen soll in dieser Arbeit noch in einem anderen Zusammenhang näher eingegangen werden. 3. 9 Zusammenfassung Seitdem die genaue Chromosomenzahl beim Menschen bekannt ist, hat die Chromosomenforschung, und damit verbunden die Zytogenetik, eine enorme Entwicklung vollzogen. In diesem Kapitel wurden die wichtigsten Formen chromosomaler Abnormitäten erläutert, insbesondere jene, die beim Cri-du-Chat-Syndrom auftreten können. Es handelt sich hierbei um ein Deletionssyndrom, welches den kurzen Arm des Chromosoms Nr.5 betrifft. Zytogenetische Forschungen haben es zudem ermöglicht, die für das Cri-du-Chat-Syndrom kritischen Regionen 5p15.2 und 5p15.3 zu lokalisieren. Darüberhinaus reichen die neuesten Untersuchungen soweit, eine ungefähre Lokalisation von Bruchstellen mit den damit verbundenen Phänotypen vorzunehmen. Einerseits können wir mit dem Cri-du-Chat-Syndrom bestimmte klinische Merkmale verbinden, wie den katzenähnlichen Schrei, Mikrozephalie, geringes Wachstum, geistige Retardierung und Sprachverzögerung, andererseits ist eindeutig eine stark variierende klinische Heterogenität zu erkennen. Ebenso wenig läßt sich eine Korrelation zwischen Ausmaß der Deletion und der Schwere der Entwicklungsstörung feststellen. Das bedeutet, daß weder mit einem del(5)-Karyotyp notwendigerweise die Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" verbunden ist, noch von einer konkreten Das Cri-du-Chat-Syndrom 21 Deletion ein konkreter Phänotyp abgeleitet werden kann. Damit bleiben trotz genauer medizinischer Beschreibung Aussagen über das konkrete Entwicklungspotential dieser Kinder offen. Daraus läßt sich schlußfolgern, daß einerseits die medizinische Definition eines Syndroms hilfreich sein kann für ein besseres Verständnis seines Erscheinungsbildes, jedoch nicht gleichzeitig die damit verbundene Entwicklung definiert. Andererseits fällt bzgl. des Cri-du-Chat-Syndroms ein ebenso großes Gewicht auf die psycho-sozialen und pädagogischen Aspekte . Das Cri-du-Chat-Syndrom 4 22 PSYCHO-SOZIALE AUSWIRKUNGEN Die meisten Berichte über das Cri-du-Chat-Syndrom stammen von medizinischen ForscherInnen. Deshalb liegen verständlicherweise die Schwerpunkte hauptsächlich auf Gebieten wie physikalische Charakteristika und Befunden aus zytogenetischen und dermatologischen Studien. Unglücklicherweise werden Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der psycho-sozialen Auswirkungen selten im Detail dokumentiert. Aufgrund dessen soll im folgenden Kapitel zum einen auf die spezifische Situation der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom selbst eingegangen werden, zum anderen werden Belastungsfaktoren aus der Situation der Eltern beschrieben. Eine Absicht liegt darin, das Wissen um die generellen Verhaltenscharakteristika durch die Präsentation detaillierter Informationen über physische, soziale und kognitive Fähigkeiten sowie Verhaltensmuster zu erweitern. Weiterhin sollen die unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten unter der Bedingung des Cri-du-Chat-Syndroms erläutert werden. Zu Beginn dieser Arbeit wurde dem/der Leser/in die Geschichte von Dennis, einem 11jährigen Jungen mit Cri-du-Chat-Syndrom, geschildert. Anhand dieser eigenen Erfahrungen und Beobachtungen sowie mittels zweier anderer Fallstudien soll das unterschiedliche Entwicklungspotential dieser Kinder dokumentiert werden. In den einzelnen Abschnitten dieses Kapitels werde ich immer wieder auf diese zurückgreifen, um die verschiedenen Aspekte dem/der Leser/in deutlich zu machen. Eine weitere umfangreiche Informationsgrundlage stellt die derzeitige internationale Untersuchung zum Cri-du-Chat-Syndrom von Frau Dr. Carlin dar. Da diese Untersuchung zur Zeit noch nicht abgeschlossen ist, stehen konkrete Daten bisher nur aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung, an deren Auswertung ich gegenwärtig mitarbeite. Zum Vergleich wird der/die Leser/in im Anhang dieser Arbeit eine Gegenüberstellung dieser Resultate mit einer Vorauswertung aus den USA (Carlin, 1995) finden. Dieser Fragebogen wurde an Eltern von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom verschickt. In der Bundesrepublik Deutschland liegen uns derzeit insgesamt 38 beantwortete Bögen zur Auswertung vor, in denen Daten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Cri-du-Chat-Syndrom unterschiedlichen Alters enthalten sind. Von den 38 betroffenen Personen sind 18 im Alter zwischen 1,0 und 6,0 Jahren, 14 zwischen 6,1 und 12,0 Jahren und fünf im Alter zwischen 16,0 und 30,0 Jahren, davon 14 männlichen Geschlechts und 24 weiblichen Geschlechts (vgl. Anhang A1; Abb. I-III). Die daraus resultierenden Ergebnisse werden in den einzelnen entsprechenden Absätzen dieser Arbeit erörtert (vgl. Anhang A1 und A3). Die Untersuchung basiert auf einem Fragebogen mit 14 Fragenkomplexen, die folgende Punkte umfassen: (I) Hintergrund, (II) Schwangerschaftshistorie, (III) Geburtsverlauf, (IV) Medizinische Befunde, (V) Entwicklungsmeilensteine, (VI) Sprachmeilensteine, (VII) Fördermaßnahmen, (VIII) Berufs(ausbildungs)möglichkeiten, (IX) Neurologische Probleme, (X) Verhaltensauffälligkeiten, (XI) Medikationen, (XII) Altern, Langlebigkeit, (XIII) Leben im Erwachsenenalter, (XIV) Verschiedenes. Ein Ziel dieser Untersuchung ist es, zuverlässige Daten von einer großen Gruppe Betroffener zu erhalten, um die große Verschiedenartigkeit des Syndroms und seiner Auswirkungen aufzuzeigen, so daß sich Entscheidungen auf Wissen und nicht auf Spekulationen stützen können. Erste Ergebnisse der Studie und Einzeluntersuchungen anderer AutorInnen sowie eigene Beobachtungen zeigen die Notwendigkeit, daß sich ÄrztInnen, beruflich Betroffene und Eltern des Entwicklungspotentials von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom bewußt sind, so daß informierte Entscheidungen über ihre Betreuung und Förderung getroffen werden können. 4. 1 Zur Situation von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom Kinder, die mit dem Cri-du-Chat-Syndrom zur Welt kommen, erleben von Anfang an eine Welt, die ihnen in erster Linie aufgrund ihrer genetischen Andersartigkeit Schwierigkeiten bereitet. Bereits in den ersten Lebensmonaten haben viele dieser Kinder, wie schon im vorangegangenen Kapitel beschrieben, mit Problemen der Atmung und des Herzens zu kämpfen. Außerdem wird ihnen, oft unbewußt, mit der Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" eine zusätzliche Bürde auferlegt, die aufgrund der Tatsache, daß es sich bei dem Basisdefekt um einen genetischen Fehler handelt, scheinbar nur eine "genetisch festgelegte Fehl"-Entwicklung zuläßt. Das Cri-du-Chat-Syndrom 23 Es ist offensichtlich, daß bestimmte typische Merkmale dieser Kinder mit ihrem genetischen Defekt korrelieren. Jedoch kommt es trotzdem zu sehr unterschiedlichen Ausprägungen und zu recht unterschiedlich zu beurteilenden Prognosen der verschiedenen Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom. Dies hängt zum einen von der Art des Zustandekommens dieser Chromosomenanomalie ab, zum anderen ist eine eindeutige Abhängigkeit von dem Beginn einer Frühförderung erkennbar. Ein weiterer Punkt, der eine optimale Entwicklung dieser Kinder erschweren kann, liegt darin, daß dieses Syndrom derart selten ist, daß viele Fachleute nur vage über Formen und Entwicklungsmöglichkeiten informiert sind. Das wiederum führt oft zu einem falschen Verständis ihres Erscheinungsbildes. Hinzu kommt, daß es Kindern mit diesem Syndrom einerseits aufgrund ihrer massiven Wahrnehmungsstörungen schwerfällt, ihre Umwelt adäquat zu verarbeiten und zu verstehen. Andererseits sind sie durch die starke Diskrepanz zwischen ihrer aktiven und passiven Sprachfähigkeit auf vielen Gebieten stark behindert. So ist es vorstellbar, daß Frustrationen, die hieraus resultieren, zum Teil für die verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich sind. Wir sehen also, daß Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom nicht nur von dieser Behinderungsform allein bestimmt werden, sondern daß vielfältigste Faktoren hinzukommen. Um so wichtiger ist es, Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren in der Entwicklung dieser Kinder zu erkennen und zu verstehen. In den folgenden Abschnitten soll dies eines der Wesensmerkmale der Arbeit sein. 4. 2 Weitere Fallstudien Zunächst möchte ich der zu Beginn dieser Arbeit beschriebenen Geschichte von Dennis zwei weitere Fallstudien hinzufügen, um zum einen die unterschiedliche Entwicklung dieser Kinder zu dokumentieren, zum anderen dem/der Leser/in einen ersten Einblick in die Situation der Kinder zu ermöglichen. Im ersten Fall berichtet eine Mutter über ihre 7_jährige Tochter, der zweite Fall entstammt einer Fallstudie von Stykes & Christie (1994). Zur besseren Übersicht werden beide Entwicklungsgeschichten zusätzlich in Tabellenform angegeben. 4. 2. 1 Fallstudie über ein 7 1/2 jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom Bericht einer Mutter: Krankengeschichte: "K. wurde am 15.08.1988 als zweites Kind einer 24jährigen Mutter und eines 28jährigen Vaters geboren. Die Schwangerschaft verlief normal. K. kam in der 36. Schwangerschaftswoche zur Welt. Das Neugeborene wog bei der Geburt 2560g und war 48cm lang, sie wurde als unausgereift mit einem hohen, cerebralen Schrei beschrieben. Die sofort eingeleiteten Chromosomenuntersuchungen bestätigten, daß das Neugeborene am Cri-du-Chat-Syndrom litt. Sie war häufig von Infektionen der oberen Atemwege und von Mundschleimhautentzündungen betroffen. Der Zahndurchbruch begann mit vier Monaten und verlief ganz normal. Verdauungsstörungen sind vom 3. Lebensmonat bis zum 2. Lebensjahr aufgetreten. Das Kopfschlagen, welches mit einem Jahr begann, hat sich auf Phasen im Bett (teilweise mehrere Stunden nachts) beschränkt. K. ist sehr empfindlich gegen laute Maschinengeräusche, z.B. Mixer, Bohrmaschinen usw.. Außerdem mag sie sehr hohe Pfeiftöne nicht. Bei der Geburt wurde ein Sichelfuß festgestellt, der im Alter von acht Wochen eingegipst wurde; danach mußte sie eine Schiene tragen, und bis zur heutigen Zeit trägt sie Antivariusschuhe. Vor kurzem wurde eine beginnende Skoliose (seitliche Verbiegung der Wirbelsäule) festgestellt. Äußerliche Merkmale: Sehr weiter Augenabstand mit der breiten, tiefsitzenden Nasenansatzstelle, eine auffällige Augenfalte (Epicanthus) und eine auffällige Muskelschlaffheit. Kleine tiefsitzende Ohren, kleiner Kopf, der Umfang betrug bei der Geburt 31cm, mit sechs Monaten 39cm und mit 12 Monaten 40cm. Ihre Körperlänge, in den selben Altersabschnitten, betrug 48cm, 67cm, und Das Cri-du-Chat-Syndrom 24 77cm. Das runde Gesicht wird im Alter von drei Jahren sehr schmal, dabei wird der Gaumen hochgewölbt und sehr eng. Dadurch stehen die Schneidezähne vor. Entwicklungsgeschichte: Die Entwicklung in allen Bereichen ist generell langsam und etwas unregelmäßig gewesen. Es kam auch vor, daß sie Rückschritte machte. Besonders in der Sprachentwicklung ist ein sehr langer Stillstand eingetreten. K.´s frühe physische und sensorische Entwicklung wurde ständig gefördert durch variantenreiches Spiel und physische Aktivitäten. Sie bekam reichlich Gelegenheit, neue Geschmäcker, Geräusche und Materialien zu erforschen und mit stimulierenden Spielzeugen zu spielen. Eine Frühförderung durch die Lebenshilfe wurde im Alter von sechs Monaten begonnen. Während dies alles relativ früh begann, konnte ich bis heute in der Sprachentwicklung keine Unterstützung finden. Mir wurde empfohlen, mit Gebärdensprache zu beginnen."(Meierdierks, 1996, S. 1-2) 4. 2. 2 Fallstudie über ein 14jähriges Mädchen mit Cri-du-Chat-Syndrom Bericht von Stykes & Christie: Krankengeschichte: "M. wurde geboren als erstes Kind einer 18jährigen Mutter und eines 20jährigen Vaters am 17.11.1971. Die Schwangerschaft, erschwert durch Präeklampsie und Harnwegsinfektionen wurde durch einen Kaiserschnitt des unteren Segmentes beendet. Das weibliche Neugeborene wog bei der Geburt 4210g, war 53,5cm lang und wurde als unausgereift und zittrig beschrieben, mit einem hohen, cerebralen Schrei. Chromosomenuntersuchungen bestätigten, daß das Neugeborene am Cri-du-Chat-Syndrom litt. Während der Kindheit litt das Kind unter Erkältungen, bronchitischen Schüben und erkrankte im Alter von 12 Monaten an einer schweren Grippe. Sie war häufig betroffen von Infektionen der oberen Atemwege und Allergien. Der Zahndurchbruch begann mit 13 Monaten und während viele Milchzähne sich nicht voll entwickelten, ist nur ein bleibender Backenzahn überhaupt nicht hervorgekommen. Verdauungsstörungen sind vom 9. Lebensmonat bis zur Gegenwart, besonders in Aufregungssituationen, aufgetreten. Selbstverstümmelung in Form des Hautaufkratzens hat fortgedauert von der Kleinkindzeit bis zur Gegenwart, während das Kopfschlagen bei Erreichen des zweiten Lebensjahres aufhörte. M. war sehr empfindlich gegen hochfrequente Geräusche und eine audiometrische Untersuchung im 4. Lebensjahr zeigte einen Verlust der Hörfähigkeit für niedrige Frequenzen von ungefähr 10% pro Jahr. Eine markante Augenachsenfehlstellung wurde durch Patchen im Alter von fünf Jahren behandelt, mit deutlicher Verbesserung im Aussehen. Mit sechs Jahren wurde bei ihr eine Kurzsichtigkeit festgestellt. Ihre Sicht ist stets schlecht geblieben, mit fehlerhaftem räumlichen Sehen. Äußerliche Merkmale: Bei der Geburt traten schwach ausgebildete Moro-, Greif- und Schluckreflexe zutage. M´s physische Charakteristika beinhalten eine Mikrozephalie, Rundgesichtigkeit im Babyalter und Schmalgesichtigkeit im Jugendalter. Ihr Kopfumfang betrug 36cm bei der Geburt, 40,5cm im Alter von 6 Monaten und 43,8cm mit 12 Monaten. Ihre Körperlänge, in denselben Altersabschnitten, betrug respektive 53,5cm, 67,4cm und 77,5cm. Der Nasenrücken war breit und flach im Kleinkindalter, während er im Heranwachsendenalter hoch und vorstehend ist. Sie hat Epicanthus, Strabismus, eine einfache Ohrform, einen engen, hochgewölbten Gaumen, vorstehende Schneidezähne, überlange Hand- und Fußgelenke und baumelnde Arme beim Gehen und Laufen. Ihre Stimme klingt hoch und atemlos und sie hat Schwierigkeiten, beim Essen und Sprechen ihren Atem zu kontrollieren. Der Beginn von Pubertät und Menstruation lag zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr und ihr Haar begann mit 13 Jahren vorzeitig zu ergrauen. Im Alter von 14,5 Jahren betrug ihr Kopfumfang 51cm und sie war 167cm groß. Tab. 1: Mmh, aah Kaut schlecht, schlingt Essen hinunter, ständig in Bewegung, schläft schlecht, lange Wachphasen Mama, Papa, dau-da; Spielt mit Ball oder wirft ihn zu einer Person schnalzen mit der Zunge; Sprachverständnis gut, gibt den Ball, An- und Ausziehen usw. Kann Treppe allein steigen (sie hält sich fest) Findet Verstecktes wieder und erinnert sich auch nach einiger Zeit daran; steckt nach wie vor alles in den Mund Ist neugierig, untersucht alles mit dem Mund Steckt alles in den Mund Wahrnehmung Ißt Brot selbständig und trinkt aus Schnabeltasse; kann Löffel halten und ihn zum Mund führen, bekommt aber kein Essen auf den Löffel; zieht Pullover, Hemd, Strümpfe usw. alleine aus, hilft beim Anziehen Untersucht nach wie vor mit dem Mund; guckt viel ab, ahmt nach; hilft gern im Haushalt (Abtrocknen, Abwaschen, Fegen, Tisch abräumen, am Kochen, Backen, Kneten und Basteln hat sie viel Spaß); kann alleine spielen (im begrenzten Raum); ist sehr neugierig, paßt genau auf; kann sich nach längerer Zeit an Dinge oder bestimmte Abläufe erinnern Sieht Bilderbücher, Fotos usw. an und erkennt die Personen oder Gegenstände wieder; zeigt auf gefragte Sachen; kann Duplosteine aufeinander set zen (2-3) Ordnet Geräusche zu, z.B. klingelt es, geht sie zur Tür; wenn es dunkel wird, macht sie Licht an; erinnert sich an gewohnte Abläufe Sie kennt alle ihre Körperteile und zeigt diese auf Anfrage; ist neugierig und an allem interessiert; spielt mit dem Ball, versteckt Sachen, sieht Bilderbücher an Spielt allein, erkennt Ißt brot, Äpfel selbständig; kaut we nig, verschluckt sich oft; hilft beim Aus- Singspiele wieder und macht die Gesten dazu und Anziehen, kann Nase putzen Ißt gereichte Brothappen allein und beißt vom Brot ab Läuft fast selbständig, aber Hama-hama (Essen) Zieht immer noch in den Haaren; kannMit Toilettentraining begonnen, will noch keine langen Strecken; Ba (Baden oder Ball); zeigt, durch Mimik zeigen, ob sie lustig oder aber nicht auf Toilette sitzen traurig ist kann an einer Hand Treppen was sie möchte steigen Läuft häufiger einige Schritte frei; verfällt aber immer zum Krabbeln; kann Leiter von Rutsche allein hochklettern, rutscht selbständig hinunter Ma-ma, du-du, da-da; Krabbelt sicher, auch über Ahmt nach; mag Kinder, beißt, kneift Hindernisse; spielt im Knie- versteht sehr viel mehr; oder zieht an den Haaren; etwas stand; zieht sich an Möbeln kommt Aufforderungen nachbesser beim Schlafen - phasenweise hoch; geht seitlich einige Schritte am Tisch abgestützt Klettert auf Möbel; läuft Sprachverständnis wird Nimmt Kontakt zu Kindern auf durch immer besser einige Meter allein Haare ziehen usw.; nimmt Spielzeug von anderen Kindern weg Robbt; kann sich selbst hinsetzen Selbsthilfe Lacht; erkennt bekannte Personen; Wird mit Löffel gefüttert; trinkt aus Hände und Füße ständig in Bewegung;gehaltener Schnabeltasse schläft schlecht Sozial/Emotional Wendet ihre paar Wörter Schlichtet, hält lieb, wenn man mit ihr Ißt selbständig alles alleine, schmiert gezielt an; versucht durch dabei; zeigt zeitweise an, wenn sie zur geschimpft hat; wird rot, wenn sie Gesten, Gebärden und etwas Verbotenes getan hat Toilette muß; hilft beim Zähneputzen, Körpersprache, sich mitzuKämmen usw.; zieht sich aus, bis auf tei-len; sehr gutes Knöpfe, Schnallen usw. Sprachverständ-nis; bejaht oder verneint durch Kopfnicken oder -schütteln 7 1/2 Jahre Läuft mit breitem Gang, die Sagt Mama und Papa Ist gern unter Kindern; zieht immer Trinkt aus Glas, Tasse; zieht Pullover, Hände hält sie dabei nach deutlich; hat für ihre noch an den Haaren (hauptsächlich Hemd allein an; kann Reißverschluß oben; fährt Fahrrad mit Schwester einen bestimmten kleineren Kindern oder die Angst vor hoch- oder herunterziehen Stützrädern, wobei man sie Laut; es kommen u.a. Wörter ihr haben); hat ihren eigenen Willen, wir Hallo, mehr, Anna usw. setzt ihn auch durch; schläft besser, beim Lenken unterstüt-zen muß; kann Rolle vor- und vor, sind aber noch nicht so aber immer noch Wachphasen; rückwärts gekonnt und deutlich und oft noch Zufall; Toilettentraining wird fortgesetzt, oft setzt Gebärden ein für sauber ausführen; dribbelt mit Erfolg; sie ist sehr schmusig und liebebedürf -tig; sie ist ein frohes und Essen, Trinken, Warte, Ball, wirft und rollt ihn gezielt Fahrrad fahren, Turnen, heiteres Kind und weint selten; zeigt Arbeit, Geld; versteht fast an, wie und was gespielt werden soll; al -les; kommt kommt ohne Probleme mit neuen Aufforderungen nach Situationen (Einschulung) klar 6 Jahre 5 Jahre 4 Jahre 3 Jahre 2 Jahre 14 Mon. Dreht sich von Rückenlage in Schnalzt mit der Zunge Bauchlage 8 Mon. Sprache Motorik Alter Das Cri-du-Chat-Syndrom 25 K´s Entwicklung zu bestimmten Lebensaltern (Meierdierks, 1996, S.3-4) Das Cri-du-Chat-Syndrom 26 Entwicklungsgeschichte: Eine Zusammenfassung von M´s Entwicklung zu bestimmten Lebensaltern findet sich in der anschließenden Tabelle. Die Entwicklung in allen Bereichen ist generell langsam und etwas unregelmäßig gewesen, wie die Ergebnisse formeller Tests, Beobachtungen und Kommentare zeigen."(Stykes & Christie, 1994, S. 2) Die Ausführungen zur Entwicklung bleiben in diesem Fall auf die Tabelle beschränkt. Für eine ausführlichere Beschreibung sei der Leser auf den Anhang A2 verwiesen. Sowohl die eigenen Beobachtungen als auch diese beiden Fallberichte zeigen eine Reihe von übereinstimmenden Merkmalen und Entwicklungsmustern. Andererseits wird deutlich, daß trotz gleicher Behinderungsform das jeweilige Ausmaß und die individuelle Entwicklung sehr unterschiedlich sein können. Jedoch wird bereits anhand dieser Beispiele sichtbar, daß es sich in jedem Fall um eine gravierende Entwicklungsverzögerung handelt, die verschiedene Bereiche umfaßt. Inwieweit die einzelnen Bereiche betroffen sind, ist individuell unterschiedlich. Daher fällt es schwer, eindeutige Entwicklungsmerkmale bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom zu manifestieren. Trotzdem möchte ich versuchen, bestimmte Merkmale und Muster zu beschreiben. 4. 3 Allgemeine Entwicklungsverzögerung Da das Cri-du-Chat-Syndrom so selten ist, haben viele Personen, die für diese Kinder sorgen und sie unterrichten, nur begrenztes Wissen über die Chromosomenstörung, seine vielfältigen Ausprägungen und die Entwicklungsschritte, die erreicht werden können. Deshalb ist es für alle, die für die medizinische Versorgung und die Erziehung dieser Kinder verantwortlich sind, notwendig, genaue Angaben über den Fortschritt und die medizinische Vorgeschichte der einzelnen Kinder zu erhalten. In den folgenden Abschnitten sollen die verschiedenen Entwicklungsmuster und die einzelnen Meilensteine der Entwicklung dieser Kinder anhand unserer Untersuchung (Carlin, 1995/96) erläutert werden. Gleichzeitig werde ich diese Ergebnisse durch meine eigenen Beobachtungen an Dennis ergänzen. 4. 3. 1 Psychomotorische und kognitive Entwicklungsverzögerung Für die meisten durch Chromosomenanomalien verursachten Störungen ist die verzögerte Entwicklung des Kindes charakteristisch. Folglich ist eine kognitive Entwicklungshemmung fast unvermeidlich. Der Grad der Entwicklungshemmung ist jedoch variabel und kann während der Kindheit nicht genau vorausgesagt werden. Eine erste umfangreiche Untersuchung der Entwicklung von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom führten 1980/83 Wilkens et al. durch. Diese basierte in erster Linie auf standardisierten Tests sowie auf Befragungen der Eltern, wobei individuelle Entwicklungswege weniger berücksichtigt wurden (Wilkens et al., 1980/83). In ihrer Studie von 80 zu Hause aufgewachsenen Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom lag der Development (Entwicklungs-) Quotient (nach "Vineland Maturity Scale") zwischen 6% und 88% der Norm (Durchschnitt = 43%), und der Intelligenzquotient (nach "Slosson IQ-Test") lag zwischen 7% und 98% der Norm (Durchschnitt = 35%). In der Gruppe von durchschnittlich 6,5 Jahre alten Kindern entsprach das Entwicklungs- und Intelligenzalter dem Lebensalter von 2,6 und 2,5 Jahren bei normal entwickelten Kindern (Wilkens et al., 1983). Beispiele der verschiedenen Fertigkeiten, die von den Kindern der Studie von Wilkens et al. (1980) erreicht wurden (Tab. 3), zeigen den weiten Spielraum der Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Cri-du-Chat-Syndrom. Tab. 2: 14 Jahre 12-13 Jahre 9-11 Jahre Sprache Erstes Wort da-da Gurgelt Erkennt Familienmitglieder; fremdelt Sozial/Emotional Lächelt & lacht Springt ohne Hilfe auf Trampolin Kommt nicht mit Klumpen im Essen zurecht; Schluckstörungen Füttern sehr schwierig, trinkt aus gehaltener Tasse Selbsthilfe Prä-akademisch Worte unklar, aber gleichlautend; macht sich verständlich durch Zeigen Ausdrucksvolle Sprache auf 33,5-Jahr-Niveau; spricht ständig; liebt Konversation; Artikulation verbessert; aber immer noch schlecht Einige 4-5 Wortsätze; keine Artikel; verwirrt durch Pronomen und Positionsbezeichnungen Artikulation klarer; mehr 3-4 Wortsätze Viele 2-3 Wortsätze mit 3-4 Wortäußerungen Vokabular ca. 170-200 Worte; meist Einzelworte, aber manchmal Paare Ißt selbständig; Sauberkeit macht Fortschritte; wenig Darmkontrolle Ißt gut; kaut immer noch nicht gut; nicht sauber, aber nachts trocken; hilft beim Anziehen Kann Gabel und Löffel benutzen, nicht sauber Kritzelt; schnipselt mit Schere Benutzt große Tafeln Fädelt große Perlen auf; kritzelt; malt Kleckse Generell gut mit Eßgerät, kann aber kein Fleisch schneiden; ißt schnell, ohne zu kauen; ißt ungewöhnliche Dinge; zieht sich gut an, hat aber Probleme mit Schuhen und Schnürsenkeln; wäscht und badet sich; sauber, aber "Unfälle"; kann einfache Hausarbeit ausführen; hilft beim Einkaufen Stimmungsschwankungen; Ängste höchst ausgeprägt Verhalten verbessert unter Medikation; spielt gerne mit Spielzeugtieren (hält sie für lebendig); spielt noch rauh mit Kindern; liebt Gesellschaft; grüßt höflich und reagiert auf Abschied; hat kein Verständnis für Raum und Privatsphäre anderer; sehr schüchtern und schnell beleidigt; starke Kennt Alter und Schule, Farben im Groben; liebt Zeichnungen; mag einfache Geschichten; kann ein paar Buchstaben benennen, kann ein paar vertraute Worte erkennen; zählt bis 7 Schneidet schlecht mit Schere, mo- delliert mit Knetmasse; malt Kreise; fädelt kleine Perlen auf Verfolgt Linien; malt Beginnt zu teilen; spielt immer noch nichtVerschluckt sich immer noch an bewußt Li- nien; zählt ko-operativ mit Kindern; sucht einigen Nahrungsmitteln; kann nicht richtig kauen allein bis 5; zählt mit bis erwachsene Anerkennung für gutes 10 Benehmen; fasziniert von kleinen Dingen Schneidet besser mit Benutzt Löffel und Gabel gut; Spielt und mischt besser mit Kindern; Schere; malt Buchstaben sehr anspruchsvoll; versucht, schneidet Nahrung; schüttet und Zahlen ab; zählt bis Flüssigkeiten ein; schält und Aufmerksamkeit zu erregen; Ängste stärker; häufig Alpträume schneidet Obst; macht Sand- wiches 6; Klebebasteleien gut Spielt konstruktiv allein; spielt gern mit Sand, Wasser, Spielzeugtieren; spielt nicht gut mit anderen Kindern - leicht beleidigt Angst vor Waschmaschinen und Staubsaugern (laute Maschinen) Spielt allein in Gesellschaft anderer Kinder (Parallelspiel) Alleinspiel wird phantasievoll; Angst vor Maschinen Vokabular ca. 20 Wörter Fordernd, zappelig und aufgeregt, sehr Ißt, kommt mit Klumpen zurecht und Sieht in Bücher; kritzelt versteht mehr; viele Gesten und erregbar; Angst vor Menschen und Orten kaut ein wenig; versucht, Löffel zu einfache Ausdrücke benutzen, trinkt aus Glas Geht schneller mit kleinen Artikulation verbessert sich; Schritten; rennt unter wiederholt vorgegebene Worte; häufigem Fallen; springt mit Schnattert viel; kann einfache Hilfe auf Trampolin Anweisungen befolgen Geht stabiler mit flatternden Armen; fällt noch oft; steigt ohne Hilfe Treppen Geht ein paar Schritte; plaziert Klötzchen auf anderes; kann Ball werfen Aktiv & bewegt sich schnell; Plappert viel; neue Worte bu-bu, Lächelt zurück kriecht unter mu-mu, bye-bye; benutzt Gestik Ellbogenbenutzung,; dreht sich und sitzt; kann stehen Sitzt kurz, wenn plaziert; rollt über Boden Motorik 7-8 Jahre Generell langsame Entwicklung von Grobmotorik und Balance 5-6 Jahre 4 Jahre 3 Jahre 2 Jahre 4 Mon. 10 Mon. Alter Das Cri-du-Chat-Syndrom 27 M´s Entwicklung zu bestimmten Lebensaltern (Stykes & Christie, 1994, S.5-6)) Das Cri-du-Chat-Syndrom 28 Entwicklungsschritte von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom in unterschiedlichem Alter: Fertigkeiten: [Anzahl der Kinder] 1 Jahr [8] 1-3 Jahre [9] 3-5 Jahre [14] 5-7 Jahre [12] Kann bekannte Personen wiedererkennen 6 alle alle alle alle alle Zieht sich zum Stehen hoch - 6 12 alle 18 alle Trinkt aus einer Tasse mit Hilfe anderer - 7 12 alle 17 alle Kann bekannte Gegenstände auf Wunsch holen - 1 6 8 16 12 Findet sich zu Hause zurecht mit nur gelegentlicher Beaufsichtigung * 2 10 8 14 11 Ißt mit der Gabel * * 5 4 13 10 Trocknet sich die Hände ab, nachdem beim Waschen geholfen wurde * * 5 2 13 11 Badet sich allein mit Beaufsichtigung * * 1 2 11 10 Geht ohne Hilfe zu Bett * * 1 2 10 6 Benötigt selten Hilfe beim Ankleiden * * - - 5 5 Hat eine festgelegte Aufgabe im Haushalt * * - - 4 6 Tab.3: 7-10 Jahre [19] 10 Jahre [16] Fertigkeiten von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom aus der Untersuchung von Wilkens et al., 1980; entnommen aus Wilkens et al., 1982, S. 21) * - nicht anwendbar Auch in der Entwicklung von Dennis ist eine deutliche psychomotorische Retardierung zu erkennen, wobei diese wahrscheinlich durch die auffällige taktil-kinästhetische Wahrnehmungsstörung, seine Hypotonie und die damit zusammenhängende Hyperreflexität maßgebend mitbestimmt wird. Nimmt man diese Vielfalt behindernder Konditionen zusammen mit der ebenso starken Sprachverzögerung, so verwundert es nicht, daß sich eine geistige Behinderung resultierend ergibt. Das bedeutet, daß die oft als notwendig mit dem Cri-du-Chat-Syndrom beschriebene geistige Behinderung bzgl. der Entwicklung als sekundäre Erscheinungsform betrachtet werden muß. Um das Ausmaß und die Art der Entwicklungsverzögerung sowie die individuellen Entwicklungsschritte bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom vergleichen zu können, wurde in unserer Untersuchung nach dem Alter bei Erreichen bestimmter Entwicklungsschritte gefragt. Derartige "Meilensteine" der Entwicklung sind Indikatoren für den Fortschritt der Kinder. Indem man bestimmte markante Stadien als Maßstab einer Entwicklungsbeurteilung zugrunde legt, wird ein Vergleich der Entwicklung von Kindern untereinander möglich. Dies ist insofern von Vorteil, da nicht nur ein Entwicklungsdefizit gegenüber anderen Kindern gleichen Alters erkennbar wird, sondern in erster Linie die individuelle Entwicklung an sich. Diese Vorgehensweise geht jedoch von einer entsprechenden Sichtweise des/der Betrachter/s/in aus, die jede Entwicklung als einzigartig anerkennt. Aufgrunddessen soll an dieser Stelle auf derartige Entwicklungsmeilensteine Bezug genommen werden. In folgender Tabelle wird zwischen den einzelnen Kindern unserer Studie die Entwicklung verglichen, um deutlich zu machen, wie groß die Spanne innerhalb der untersuchten Gruppe ist und inwieweit diese sich insgesamt von der Entwicklung anderer Kinder unterscheidet. Ebenso lassen die Ergebnisse die Vermutung zu, daß sich entsprechende Fördermöglichkeiten verbessert haben, bzw. wie wichtig eine frühzeitige Förderung ist. Das Cri-du-Chat-Syndrom Entwicklungs- meilensteine 29 Durchschnitts Minialter mum Rollen Maximum Anteil 1,0 - 6,0 Jahre (ges. 18) Anteil 6,1 - 12,0 Jahre (ges. 14) Anteil 16,0 - 31,0 Jahre (ges. 5) 3 Jahre 18 10 3 4 Jahre 16 14 4 4 Jahre 16 13 4 11 Monate 2 Monate 1 Jahr 10 Monate 9 Monate 1 Jahr 11 Monate 8 Monate Gehen an der Hand 3 Jahre 5 Monate 1 Jahr 10 Jahre 3 Monate 11 13 4 Freies Gehen 4 Jahre 4 Monate 1 Jahr 12 Jahre 7 Monate 9 10 4 Ißt mit der Hand 2 Jahre 8 Monate 1 Jahr 8 Jahre 11 12 2 Ißt mit Löffel/ Gabel 4 Jahre 6 Monate 2 Jahre 8 Jahre 8 11 3 Trinkt aus der Tasse 2 Jahre 11 Monate 1 Jahr 7 Jahre 12 13 3 Trinkt mit dem Stroh- halm 3 Jahre 11 Monate 2 Jahre 7 Jahre 9 12 1 Toilettentraining (Urin tagsüber) 5 Jahre 2 Monate 2 Jahre 10 Jahre 6 7 3 Toilettentraining (Stuhl tagsüber) 5 Jahre 3 Monate 3 Jahre 10 Jahre 4 6 3 Nachts trocken 7 Jahre 2 Monate 5 Jahre 15 Jahre 2 1 2 Zieht sich überwiegend selbst an 6 Jahre 5 Monate 4 Jahre 10 Jahre 3 Monate 3 1 1 Alleine sitzen Krabbeln Tab. 4: Entwicklungsmeilensteine (Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1995/96) (vgl. Anhang A1; Abb. XIII-XVIII) In der Untersuchung von Wilkens et al. (1980) war das Alter, in dem sich die Kinder umdrehen, alleine sitzen und gehen konnten, durchschnittlich acht Monate, 18 Monate und drei Jahre. Die großen Unterschiede untereinander und die Entwicklungsverzögerung gegenüber nichtbehinderten Kindern sowie die verlangsamte Entwicklung an sich verdeutlicht die Abbildung 4. Normale Kinder Kinder mit 5pUmdrehen Alleine sitzen Alleine gehen Alter der Kinder 1 Abb. 4: 2 3 4 5 6 7 8 Entwicklungsmeilensteine (Wilkens et al., 1982, S. 22) Das Cri-du-Chat-Syndrom 30 Aus den Ergebnissen unserer Fragebogenuntersuchung ergibt sich, daß 58% aller Kinder gehen können. Berücksichtigt man die Altersverteilung, kann man davon ausgehen, daß fast alle laufen lernen. Meist geschieht dies stark verspätet (entsprechend einer gesamten Entwicklungsverzögerung), besonders bei Hypotonie und/oder orthopädischen Deformitäten unterhalb des Knies. Ebenfalls verzögert ist das Erlernen des selbständigen Essens und Trinkens, zumal dies häufig durch Schwierigkeiten beim Schlucken und Kauen erschwert wird (vgl. Anhang A1; Abb. XXX, XXXI, XXXIII, XXXIVS.). Nach Hochrechnung erlernt etwa ein Drittel aller Kinder vollständige Toilettenfähigkeiten. Es handelt sich in beiden Untersuchungen (Wilkens et al., 1983; Carlin, 1995/96) nur um einzelne, aber markante Entwicklungsstufen. Noch deutlicher wird die Heterogenität der einzelnen Kindern beim Betrachten weiterer Fähigkeiten, ebenso ihre möglichen Entwicklungspotentiale. In den Studien finden sich dazu nur in Einzelfällen ausführlichere Angaben. Einige Beispiele möchte ich an dieser Stelle anführen: "...mit Duplosteinen bauen, leichte Puzzle, Ringe aufeinandersetzen (3 J.); aus drei Holzsteinen einen Turm bauen (3.2 J.); Cremedose aufdrehen (3.75 J.)..." "...C. versteht uns sehr gut und kann vieles auch umsetzen, z.B. macht er das Licht an, wäscht sich die Hände, macht die Tür auf usw.; schwierig wird es immer nur, weil wir oft nicht wissen oder verstehen, was C. von uns will. Dann reagiert er aggressiv. Er kann konzentriert spielen (Wasser, Knete, Sand)..." "...fährt Dreirad (4 J.); erkennt die Grundfarben (4 J.); benennt die Grundfarben (7 J.); erkennt alle Buchstaben und benennt diese (7 J.); kann rechts und links sicher unterscheiden (7 J.); kennt ihre Körperteile (5 J.); benennt ihre Körperteile (7 J.); Unterscheidung: oben/unten groß/klein - lang/kurz (7 J.)"(Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1996). Wir können zusammenfassend feststellen, daß in allen Fällen eine mehr oder minder stark ausgeprägte Entwicklungsverzögerung präsent ist, die sich jedoch in Art und Ausmaß unterscheiden kann. Aufgrund verschiedenster behindernder Konditionen ist eine kognitive Entwicklungshemmung fast unvermeidlich. Die psychomotorische Entwicklung bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom ist in den meisten Fällen gekennzeichnet durch Hypotonie und einer damit zusammenhängenden Hyperreflexität, auffällige Wahrnehmungsstörungen, insbesondere taktilkinästhetische und Gleichgewichtsstörungen und teilweise durch orthopädische Deformitäten. 4. 3. 2 Verzögerung in der Sprachentwicklung Wie bereits im Kapitel "Medizinische Aspekte" beschrieben wurde, gehört die gravierende Sprachverzögerung wohl zu den häufigsten Merkmalen des Cri-du-Chat-Syndroms, sei es nun aufgrund einer Veränderung des Kehlkopfes oder einer Dysfunktion im Zentralen Nervensystem. Ähnlich der Untersuchung der psychomotorischen Entwicklung wurden auch bei der Sprachentwicklung bestimmte Entwicklungsschritte zugrunde gelegt. Unsere Untersuchung zeigt, daß 61% (75%) aller Kinder mindestens ein Wort benutzen. 32% (48%) sprechen mehrere Wörter und 11% (30%) benutzen einfache Sätze. (Die Zahlen innerhalb der Klammern entsprechen der Hochrechnung aufgrund der Altersverteilung.) Die meisten, die überhaupt Wörter benutzen, beginnen damit vor dem vollendeten 5. Lebensjahr. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Fallstudien zu Beginn dieses Kapitels hingewiesen. Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse unserer Untersuchung bezüglich der Sprachentwicklung dieser Kinder. Das Cri-du-Chat-Syndrom Sprach-meilensteine 31 Durchschnittsalter Minimum 3 Jahre 1 Monate 6 Monate 16,00 14 4 7 Monate Lacht 1 Jahr 5 Monate 4 Jahre 3 Monate 6 Monate 18 14 3 Lernt/Benutzt ein erstes Zeichen 2 Jahre 3 Monate 6 Jahre 11 7 2 9 Monate Nutzt mehrere Zeichen 3 Jahre 10 Monate 1 Jahr 10 Jahre 7 5 2 Zeigt auf Körperteile 2 Jahre 9 Monate 1 Jahr 6 Jahre 9 Monate 14 9 3 Zeigt auf Bilder 3 Jahre 7 Monate 1 Jahr 10 Jahre 11 10 3 Befolgt Anweisungen 3 Jahre 7 Monate 1 Jahr 10 Jahre 6 Monate 13 10 3 Zeigt Wünsche (durch Gesten) 3 Jahre 10 Monate 1 Jahr 10 Jahre 12 11 3 Zeigt Wünsche (durch Zeichen) 3 Jahre 6 Monate 1 Jahr 8 Jahre 11 9 2 Zeigt Wünsche (durch Worte) 4 Jahre 3 Monate 2 Jahre 9 Jahre 6 Monate 8 3 1 Erstes Wort 2 Jahre 7 Monate 1 Jahr 6 Jahre 12 8 3 Spricht mehrere Worte 4 Jahre 2 Monate 2 Jahre 9 Jahre 8 3 1 Benutzt (einfache) Sätze 7 Jahre 3 Monate 4 Jahre 15 Jahre 3 - 1 Lächelt Maximum Anteil Anteil Anteil 1-6 J 6,1 - 12 J 16 - 31 J (ges. 18) (ges. 14) (ges. 5) Benutzt Heft oder Tafel zur 6 Jahre Kommunikation 3 Monate 4 Jahre 9 Jahre 6 Monate 1 3 - Benutzt den Computer 9 Jahre 9 Jahre 9 Jahre - 1 - Videospiele - - - - - - Verfahren zur erleichterten 6 Jahre Kommunikation 4 Monate (Piktogramme, Zeichen der Gebärdensprache) 4 Jahre 9 Jahre - 4 - Singt Lieder 5 Jahre 9 Monate 4 Jahre 9 Jahre 2 1 1 Rezitiert Worte aus der Erinnerung 5 Jahre 4 Monate 3 Jahre 7 Jahre 3 2 1 Schreibt Buchstaben - - - - - - Malt (Zeichnet) 4 Jahre 7 Monate 3 Jahre 6 Jahre 5 1 1 Tab. 5: Meilensteine der Sprachentwicklung (Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1995/96) (vgl. Anhang A1; Abb. XIX-XXVI) Das Cri-du-Chat-Syndrom 32 In allen untersuchten Fällen wurde eine nicht vorhandene bzw. stark verzögerte Sprachentwicklung beschrieben. Untersuchungen der frühen Phonation (Stimm- und Lautbildung) und der phonetischen Entwicklung von Sohner & Mitchell (1991) zeigen, daß die hohe Stimme, die häufig bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom dokumentiert wird, auch für die Vokalisation (Formung der Vokale) dieser Kinder charakteristisch ist. Eine Analyse der Intonations-(Tonansatz)muster ergab ein Überwiegen der fallenden Intona-tionskonturen und eine begrenzte Variation der fundamentalen Frequenz. Die Ergebnisse suggerieren, daß signifikante kognitive und/oder motorische Verzögerungen auf die Integrität der frühen Stimmentwicklung einen Einfluß haben können. Im Zusammenhang mit dem generellen Muster der phonetischen Funktionsstörung beim Cri-du-Chat-Syndrom gibt es eine Reihe von Berichten über erhebliche Verschiebungen im Erwerb gesprochener Wörter. So scheinen, wie bei einigen anderen Behinderungsformen, auch beim Cri-du-Chat-Syndrom klinische Veränderungen den Erwerb der Sprache zu erschweren. Somit werden alternative Kommunikationsmöglichkeiten erforderlich. An dieser Stelle möchte ich nochmals auf die Sprachentwicklung von Dennis eingehen. Dennis besitzt einen relativ begrenzten aktiven Wortschatz, der sich vor allem auf Einzelwörter beschränkt. Nur wenige dieser Wörter kann er für jeden verständlich ausdrücken, wobei er bei Korrekturversuchen von außen oft reges Interesse zeigt. Die meisten Wörter hat er in seiner eigenen Sprache "abgewan- delt". Ein Teil seiner aktiven Sprache wird von ihm nahestehenden Personen auch verstanden. Doch oft genug kann Dennis sich nicht verständlich machen, dann unterstützt er seine verbalen Äußerungen entweder durch Gesten oder führt sein Gegenüber dorthin, wo der Ursprung seines Bedürfnisses zu finden ist. Ebensooft scheitert er aber auch am Unverständnis anderer, so daß es aufgrund der bestehenden Diskrepanz zwischen seiner aktiven Sprache und seinem passiven Sprachverständnis häufig zu Frustrationen kommt, auf die er nicht selten mit Aggression reagiert. Dennis hat ein großes Mitteilungsbedürfnis, vor allem wenn er vorher Erlebtes erzählen oder in Spannungssituationen seine Gefühle äußern möchte. Er hat ein ausgeprägtes Gefühl für Stimmungen. Dennis zeigt ein sehr großes Interesse an der Kommunikation mit anderen, erkennbar an seinen häufigen verbalen Äußerungen. Doch oft scheitert er an seinem momentanen Unvermögen, spezielle Laute zu erzeugen. Er ist jedoch bereits für eine spezielle Sprachtherapie angemeldet. Trotz der Defizite in der aktiven Sprache scheinen viele der Betroffenen eine adäquat funktionale Sprache für ihre Bedürfnisse zu haben. Jantzen (1986) weist im Zusammenhang zum DownSyndrom diesbezüglich auf das erforderliche Ausweichen auf alternative Zeichenkörpersprache im Sinne einer totalen Kommunikation hin. Viele Befragte in unserer Untersuchung schildern den Einsatz der Gebärdensprache, um für ihr Kind Möglichkeiten der Kommunikation zu schaffen. In den meisten Fällen zeigt sich, daß diese Kinder, unabhängig davon, ob sie sprechen können oder nicht, in mehr oder minder großem Maß Gebärden, Mimik, Gesten und andere Zeichen einsetzen, oft durch eigenständige Imitation. So berichten 53% (62%) die Benutzung von Zeichen. (Die Zahl innerhalb der Klammern entspricht der Hochrechnung.) Etwa 45% (50%) aller Kinder lernen/benutzen ihr erstes Zeichen vor dem vollendeten 3. Lebensjahr. In der Untersuchung aus den USA von Frau Dr.Carlin (Aug. 1995) findet sich eine Frau, die 45 Zeichen regelmäßig nutzt und insgesamt 120 Zeichen kennt. Ebenso zeigen die beiden Fallstudien von Meierdierks und Stykes & Christie die unterschiedlichen Formen der Kommunikation. Während M. (zweiter Fall) ein umfangreiches Repertoire an Vokabular entwickelt hat, kann K. (erster Fall) einerseits eine Reihe von Wörtern gezielt einsetzen, weicht aber für andere Äußerungen auf Gesten und Gebärden aus. Sowohl die Ergebnisse unserer Untersuchung als auch die einzelnen Fallberichte zeigen die Notwendigkeit und die Möglichkeiten der verschiedensten Kommunikationsmöglichkeiten für Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom. Es wird deutlich, wie wichtig die Unterstützung und Förderung einer geeigneten Sprachform im Sinne der totalen Kommunikation für diese Kinder ist. Das Cri-du-Chat-Syndrom 4. 4 33 Aussagen zum Entwicklungspotential An dieser Stelle soll die Frage nach dem Entwicklungspotential von Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom aufgegriffen werden. Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich mich auf die bisherigen Ausführungen beziehen. Chromosomal bedingte Behinderungsformen wie das Cri-du-Chat-Syndrom werden bis heute von vielen Fachleuten als genetisch determinierte Fehlentwicklungen angesehen und ebenso als solche behandelt. Das bedeutet, daß den betroffenen Kindern allzuoft nur eine bestimmte, durch ihr Defizit beschränkte Entwicklung zugestanden wird. Unsere Untersuchung sowie eine Reihe anderer Entwicklungsberichte zeigen, daß die Entwicklung von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom keineswegs festgelegt, geschweige denn konkret vorhersagbar ist. Alle Kinder weisen eine mehr oder minder erhebliche Entwicklungsverzögerung auf, die einzelne Bereiche unterschiedlich stark betreffen kann. Doch im Gegensatz zu dem gewöhnlich gezeichneten Bild von starker intellektueller und physischer Behinderung, nicht-existenter oder stark limitierter Sprache, finden wir zahlreiche Betroffene, die wie viele der älteren zu Hause aufgewachsenen Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom in den Studien von Wilkens et al. (1980) beweglich sind, einen vernünftigen Grad der Unabhängigkeit in Selbstpflegefähigkeit besitzen und in der Lage sind, verbal oder durch Gesten zu kommunizieren. Bisherige Studien lassen anhand statistischer Hochrechnungen erkennen, in welchem Ausmaß einzelne Entwicklungsschritte verzögert sind. Doch bleiben diese Werte ausschließlich statistische Mittel- bzw. Extremwerte. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Heterogenität der individuellen Entwicklungsgeschichten keine konkreten Prognosen über das Entwicklungspotential einzelner Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom zuläßt. Mit relativ großer Sicherheit kann in allen Fällen von einer umfangreichen Entwicklungsverzögerung ausgegangen werden. Diese kann wiederum, abhängig von vielen verschiedenen äußeren Bedingungen, unterschiedliche sekundäre Konditionen bewirken. Deutlich erkennbar wird auch, wie sehr das individuelle Entwicklungspotential von äußerer Unterstützung und Förderung abhängig ist. Es ist also notwendig, daß alle an der Entwicklung dieser Kinder Beteiligten sich des möglichen Entwicklungspotentials bewußt sind sowie ihre Arbeit weg von einem genetisch festgelegten Defizit, hin zu einem besseren Verständnis einzelner sekundärer Zusammenhänge und äußerer behindernder Konditionen lenken. 4. 5 Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom Mehrere Untersuchungen zum Entwicklungsmuster von Kindern mit dem Cri-du-Chat-Syndrom ergaben eine Reihe typischer Verhaltensauffälligkeiten. Diese Verhaltensweisen, seien sie auch vielfältigster Art, zeigen doch eine prägnante Häufigkeit bei diesen Kindern. Aufgrund dessen stellt sich schlußfolgernd die Frage, inwieweit humangenetische Aspekte eine Rolle in der psychischen, insbesondere der behavioristischen Entwicklung dieser Kinder spielen, oder ob derartige Kennzeichen nicht doch vielmehr sekundäre Erscheinungsformen sind im Sinne einer Reaktion auf behindernde Konditionen. Eine ähnliche Problematik findet sich bei Zerbin-Rüdin (1983) wieder, der sich ebenfalls auf häufige Verhaltensmerkmale bei genetisch bedingten Krankheiten und Behinderungen bezieht. In unserem Fall soll die Signifikanz anhand der zuvor in diesem Kapitel beschriebenen Untersuchung gezeigt werden. Zunächst wird jedoch auf einige andere Studien und Beobachtungen Bezug genommen. Die bereits erwähnte Untersuchung von insgesamt 80 zu Hause aufgewachsenen Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom (Wilkens et al., 1983) ergab, daß bei über _ der Kinder Formen von "Selbst-Stimulation" und hyperaktives Verhalten, sowie Kopfschlagen, Handflattern und Handlutschen zu beobachten war. Etwa ein Drittel zeigte typisches Körperschaukeln. Hyperaktivität und selbststimulierendes Verhalten, das meist mit unterbrochenem Schlafverhalten während der Säuglingszeit begann, entwickelten sich zu großen Problemen. Die meisten dieser Kinder beschränkten diese Verhaltensweisen auf Frustrations- und Spannungsperioden. Ungefähr 20%, nach Wilkens et al. hauptsächlich Kinder mit einem IQ unter 40, stimulierten sich konstant selbst, zeigten oft Verhalten von Rückzug, umherschweifende Augenbewegungen und eine offensichtlich sinkende Wahrnehmung ihrer Umgebung. Das Cri-du-Chat-Syndrom 34 "...diese hatten eine geringe Konzentrationsspanne, waren leicht irritierbar und manchmal gereizt und aggressiv, sie versagten Augenkontakt und erschienen oft insgesamt sehr in sich zurückgezogen." (Wilkens et al., 1982, S. 14) Bei den Kindern mit einem IQ über 40 kennzeichnete sich die Hyperaktivität durch ruhelose Affektivität und eine kurze Konzentrationsfähigkeit, wobei intensive Verhaltensmodifikation die effektivste Methode zur Kontrolle der Hyperaktivität war. Auch Schinzel (1979) spricht bzgl. der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom von motorischer Unruhe (Hyperaktivität) und von besonderer Verhaltensauffälligkeit in Spannungssituationen; "...wenn Mitmenschen Schmerzen, physisch oder psychisch, erleiden, leidet sie fast immer noch mehr." (Schinzel, 1979, S. 120) Ansonsten seien sie meist sehr fröhliche Kinder, die selten verstimmt und fast immer gut aufgelegt sind. Viele der beschriebenen Verhaltensweisen findet man in den verschiedensten Fallberichten wieder. So schreibt Davies (1993) in einem Bericht über einen 7jährigen Jungen mit Cri-du-ChatSyndrom von: "...einem unregelmäßigen Schlafmuster seit der Geburt, einer geringen Konzentrationsspanne und dem Hang, seinen Kopf gegen Wände, Gegenstände und Personen zu schlagen. Diese Probleme verursachten bei den Eltern große Besorgnis...Beobachtungen zufolge trat das Kopfschlagen vor allem dann auf, wenn er Aufmerksamkeit erlangen wollte, insbesondere wenn die Mutter in der Nähe war." (Davies, 1993, S. 28) In einem Fallbericht von Berridge (1989) wird ebenfalls das Problem der Hyperaktivität, verbunden mit einer daraus resultierenden geringen Konzentrationsfähigkeit, einem gestörten Schlaf-WachRhythmus und dem Kopfschlagen gegen das Bett oder die Wand, genannt. Zudem wird ein stark verzögertes Schmerzempfinden beschrieben, welches immer wieder zu gefährlichen Situationen führt. Interessant ist auch die besondere Art, mit anderen in Kontakt zu kommen; "...sie ziehen an den Haaren, beißen oder kneifen gern, und vornehmlich Kinder..." (Meierdierks, 1995a, S. 25). Weiterhin werden die Kinder oft als zufriedene und glückliche Kinder beschrieben, die sehr oft herzhaft lachen und sehr anhänglich und liebebedürftig sind. In einem Fallbericht von Stykes & Christie (1994) über ein 14jähriges Mädchen ist zu lesen: "Selbstverstümmelung in Form des Hautaufkratzens hat fortgedauert von der Kleinkindzeit bis zur Gegenwart, während das Kopfschlagen bei Erreichen des zweiten Lebensjahres aufhörte....M. war sehr empfindlich gegen hochfrequente Geräusche....Sie ist oft fröhlich und cooperativ und zeigt einen herrlichen Sinn für Humor und Spaß. Seit der Kindheit ist M. ein extrem aktives Kind gewesen, durchsetzungsfähig, erfinderisch und an ihrer Umgebung interessiert. Sie ist neugierig und stellt ständig Fragen. Es trifft sich unglücklich, daß die Diskrepanz zwischen ihrer aktiven und passiven Sprachfähigkeit ihre Entwicklung auf vielen Gebieten stark behindert hat, und es ist vorstellbar, daß Frustrationen, die hieraus resultieren, zum Teil für ihr schwieriges Verhalten verantwortlich sind."(Stykes & Christie, 1994, S. 2) Das Phänomen der besonderen Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom ist auch ein Bestandteil unserer Studie (Carlin, 1996). U.a. wurden die Eltern nach bestimmten Verhaltensweisen ihrer Kinder befragt: (1.01) Kopfschlagen, (1.02) Schaukeln, (1.03) Haut zwicken/knibbeln, (1.04) Flapping (Flattern), (1.05) Herumwirbeln, (1.06) Schlagen, (1.07) Finger/Hand nuckeln, (1.08) Sich selbst beißen, (1.09) Andere beißen, (1.10) Andere Selbst-Stimulationen, (1.11) Kurze Aufmerksamkeitsspanne, (1.12) Schlechter Augenkontakt, (1.13) Hyperaktivität, (1.14) Geringe Frustrationstoleranz, (1.15) Schreikrämpfe, (1.16) Werfen von Gegenständen, (1.17) Andere Wutanfälle, (1.18) Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu, (1.19) Aggressiv gegen andere, (1.20) Kann nicht alleine bleiben, (1.21) Zähneknirschen, (1.22) Ständig trotzig/gehorcht nicht, (1.23) Wiederholt Verhaltensweisen ständig, (1.24) Echolalie und (1.25) Autismusähnliche Verhaltensweisen. Eine genaue Aufschlüsselung der Häufigkeit der verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten ist in dem folgenden Diagramm zu sehen. Das Cri-du-Chat-Syndrom 35 Störende oder ständig wiederholte Verhaltensweise. Autismusähnliche Verhaltensweisen wiederholt Geräusche, Wörter, Sätze; (Echolalie) Wiederholt Verhaltensweisen ständig (perseveration) Ständig trotzig / gehorcht nicht Knirscht mit den Zähnen Kann nicht alleine bleiben Aggressiv gegen andere Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu Andere Wutanfälle (bitte beschreiben) Werfen / zerbrechen von Gegenständen Schreikrampfe (-anfälle) Geringe Frustrationstoleranz Hyperaktiv Schlechter Augenkontakt Kurze Aufmerksamkeitsspanne Andere Selbst-Stimulationen Beißt andere Beißt sich selbst Finger / Hand Nuckeln Bouncing" : “gegen etwas schlagen” Herumwirbeln Schlagen (mit Flügel), flattern, lose herunterhängen Haut zwicken / knibbeln Schaukeln Kopfschlagen Gesamt 0 Abb. 5: 5 10 15 20 25 30 35 40 Verhaltensauffälligkeiten (Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1996) (vgl. Anhang A1; Abb. XXXII) Die Auswertung ergibt, daß etwa 80% der 38 untersuchten Kinder als hyperaktiv beschrieben werden und eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, eine verminderte Frustrationstoleranz und aggressives Verhalten zeigen. Zudem sind bei etwa 90% der Kinder Selbststimulation und Verhaltensweisen wie Kopfschlagen und Finger/Hand nuckeln zu beobachten. Ungefähr die Hälfte weisen folgende Verhaltensweisen auf: Haut zwicken/knibbeln, Sich selbst beißen, Andere beißen, Nicht alleine bleiben können und die ständige Wiederholung derartiger Verhaltensweisen. Unter den Punkten "Andere Selbst-Stimulation" und "Autismusähnliche Verhaltensweisen" sind verschiedenste Formen beschrieben; hier soll nur ein Auszug genannt werden: "...Haare mit den Fingern eindrehen, Fingernägel abreißen, Haare raufen, Schmatzen, Gegenstände gegen den Mund schlagen, Zunge und Wangentaschen aufbeißen, schnelle Atmung mit Schweißausbrüchen, vor Freude oder Aufregung mit den Händen wedeln, sich einigeln, Angstzustände bei Maschinengeräuschen, sporadisch auftretendes nächtliches Schreien ..." (Untersuchungsergebnisse, Carlin, 1996) Eigene Beobachtungen an Dennis bekräftigen die Vermutung, daß einige Verhaltensauffälligkeiten typisch für Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom zu sein scheinen. Vor allem in Spannungs- und Frustrationssituationen, insbesondere wenn er seine Bedürfnisse nicht verständlich machen kann und unweigerlich miß- oder nicht verstanden wird, treten bei Dennis Verhaltensweisen auf wie das Kopfschlagen auf den Boden bzw. gegen Personen und Gegenstände. Gleichzeitig schaukelt er mit seinem Körper hin und her und wirft seinen Kopf nach hinten. Verbunden wird dieses Szenarium oft mit Beißen in seine Kleidung und Kratzen anderer. Wenn er an einer Sache ein besonderes Interesse gefunden hat, kann er sich für kurze Zeit sehr darauf konzentrieren, jedoch ist seine Aufmerksamkeitsspanne insgesamt deutlich begrenzt. Das Cri-du-Chat-Syndrom 36 Dennis ist sehr lebhaft und ebenso neugierig. Er geht auf fremde Menschen ohne Scheu zu, hat jedoch vor sehr lauten Geräuschen, wie z.B. Traktoren und anderen Maschinengeräuschen, Angst. Dennis freut sich über jede Art von groben taktil-kinästhetischen Angeboten, wie z.B. starkem Druck. In Ruhephasen schaukelt er oft noch in Kauerstellung hin und her und reibt dabei häufig seinen Kopf auf dem Boden. Ebenso markant ist sein Kopfschlagen bzw. sein Wippen im Vierfüßlerstand, wenn er müde ist und im Bett liegt, sitzt oder kniet. Wohl am kennzeichnendsten für ihn ist seine typische und nahezu einzigartige Vorliebe für Stöcke, die er in ständig pendelnder Bewegung in einer seiner Hände hält. Es wird deutlich, daß bestimmte Verhaltensweisen relativ häufig bei Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom zu beobachten sind. Zuweilen sind sie bei unterschiedlichen Kindern annähernd gleich, andere hingegen nur ähnlich. Läßt sich daraus auf einen direkten Zusammenhang zwischen einer derartigen Auffälligkeit und dem konkreten genetischen Defekt schließen, oder handelt es sich vielmehr um sekundäre Folgeerscheinungen im Sinne multivalenter Zusammenhänge, bei denen verschiedenste Faktoren die Verhaltensmuster beeinflussen? Um diese Frage endgültig beantworten zu können, bedarf es einer intensiveren Untersuchung, die auf wahrscheinliche Korrelationen in der zeitlichen Entwicklungsabfolge näher eingeht. Interessant ist diese Frage für unsere Überlegungen jedoch bereits jetzt schon, denn sie wirft gleichzeitig die Frage nach dem Verständnis dieser Verhaltensweisen und dem Umgang mit ihnen auf. Gehen wir z.B. davon aus, daß eine Wahrnehmungsstörung im Sinne des stark verzögerten Schmerz- empfindens (wie ich sie auch bei Dennis beobachten konnte), vielleicht aus den Konsequenzen der anfänglichen Hypotonie resultierend, bedeutet, daß weder eine adäquate Eigenwahrnehmung des Körpers noch ein eigenständiges Körperbild besteht, dann müssen wir davon ausgehen, daß diese Störung tiefgreifende Auswirkungen auf alle anderen Bereiche der Entwicklung haben kann. Außerdem ist diesbezüglich die, in fast allen Fällen beschriebene, allgemeine Entwicklungsverzögerung ein grundlegendes Problem. Die gesamte Entwicklung wird wiederum deutlich von dem allgemeinen Merkmal von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom, der Hypotonie, beeinflußt. Der Muskeltonus selbst ist zudem dann niedriger und ungünstiger, wenn eine angeborene Herzkrankheit (was häufig der Fall ist) vorliegt. Wir sehen also, daß sich bereits im Vorfeld der beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten verschiedene Zusammenhänge und Korrelationen auftun. Ein weiterer Punkt liegt natürlich auch in der Bewältigungsfähigkeit der Eltern und ihrer eigenen Handlungsperspektive. Das bedeutet nicht, daß bestimmte Verhaltensweisen mit der Un- bzw. Fähigkeit von Eltern direkt korrelieren. Aber um diesen Punkt einmal zu verdeutlichen, sei auf eine Pfadanalyse früher Entwicklungszusammenhänge bei Trisomie 21 von Pueschel (1986) hingewiesen, in der u.a. eine deutliche Korrelation zwischen dem Muskeltonus und der Fähigkeit der Eltern, empfohlene Verhaltensmaßregeln durchzuführen, erkennbar wird: Mit nicht hypotonen Kindern finden sich die Eltern besser zurecht und können Empfehlungen besser umsetzen. Selbstverständlich kann diese Analyse nicht ebenso für das Cri-du-Chat-Syndrom übernommen werden, aber zum einen läßt sie Parallelen erkennen, zum anderen macht sie auf die Notwendigkeit einer genaueren Untersuchung im Sinne der Pfadanalyse aufmerksam. Viele Untersuchungen bestätigen, daß gerade anfänglich hypotone Kinder mit zunehmendem Alter den Drang nach Außenreizen und damit verbundener Eigenwahrnehmung entwickeln, woraus sich wiederum die beschriebene Hyperaktivität und Selbst-Stimulation erklären ließen. Man muß sich vorstellen, daß diese Kinder sozusagen auf der Suche nach ihrem eigenen Körper und ihren eigenen Grenzen sind. Das würde bedeuten, daß gerade solche Auffälligkeiten wie Kopfschlagen, Schaukeln, Herumwirbeln, Schlagen, Sich beißen und andere Formen von SelbstStimulation Folgen dessen sein könnten. Immer wieder wird beschrieben, daß gerade beim Einschlafen diese Kinder im Bett schaukeln bzw. mit dem Kopf auf das Bett schlagen. Es gibt in diesem Zusammenhang verschiedene Aussagen, die darauf hinweisen, daß der Mensch für den Schlafzustand einen gewisses Ruhepotential benötigt, d.h. notwendigerweise auch einen gewissen Grad an befriedigter Eigenwahrnehmung. Weiterhin wird dem/der Leser/in einleuchten, daß Kinder, die sich selbst nur wenig spüren, von einer ähnlichen Situation bei anderen ausgehen, wenn sie sich bei diesen Aufmerksamkeit verschaffen wollen. Das Cri-du-Chat-Syndrom 37 "...K. liebt es, unter Kindern zu sein. Sie geht neugierig auf sie zu. Es ist dabei nur das Problem, daß sie zur Kontaktaufnahme an den Haaren zieht, beißt oder kneift. Dies führt immer wieder zu Konflikten, wobei die Kinder damit sehr gut umgehen können, den Erwachsenen fällt dies aber mitunter schwer. Da sie mit zunehmendem Alter auch Kraft hat, muß ständig eine Person bei ihr sein und aufpassen, daß sie andere Kinder, vornehmlich kleinere, nicht zu sehr in die Mangel nimmt..."(Meierdierks, 1995b, S. 296) Dennis reagiert oft mit Unverständnis oder gar verbittert auf die Reaktionen anderer, wenn er z.B. seiner kleineren Schwester in den Haaren zieht. Er kann nicht begreifen, welche Schmerzen dies bereiten kann, wo er doch eigentlich "nur" die Aufmerksamkeit seiner Schwester für sich beanspruchen möchte. Gleichzeitig legt er sehr viel Wert darauf, die somit entstandene Spannung wieder zu schlichten und seine Schwester zu trösten. Inzwischen weiß er um diese Reaktion von Erwachsenen und setzt dies manchmal auch als Druckmittel ein, damit andere seinem Anspruch auf Aufmerksamkeit gerecht werden. Wenn sich außerdem derartig hyperaktive Kinder stets in ihrer "notwendigen" Bewegung befinden, verwundert es nicht, wenn sie nicht gleichzeitig in der Lage sind, sich längeren Zeitraum auf eine Sache zu konzentrieren. Einschränkend muß gesagt werden, daß diese Überlegungen zunächst noch mehr oder minder spekulativen Charakter in sich tragen, jedoch gehe ich davon aus, daß man in entsprechenden Untersuchungen auf ähnliche Ergebnisse kommen wird/würde. 4. 6 Das Erwachsenenalter Gegenüber früheren Aussagen konnte in keiner der bisher beschriebenen Untersuchungen eine signifikante Einschränkung der Lebenserwartung von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom festgestellt werden. Hingegen sind in den meisten Fällen deutliche Anzeichen eines frühen Alterns erkennbar, z.B. frühes Ergrauen der Haare, Haarverlust, frühzeitiger Verschleiß von Gelenken und allgemeines Nachlassen der Kräfte. Allerdings muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden, daß es hierzu noch keine repräsentativen Untersuchungsergebnisse gibt, da bisher relativ wenige Erwachsene mit diesem Syndrom bekannt sind. Dies hängt vermutlich damit zusammen, daß das Cri-du-Chat-Syndrom erst 1963 als solches erkannt wurde. Auch in unserer Untersuchung sind nur 13% älter als 15 Jahre, in der Untersuchung in den USA 28%. Dadurch muß die Aussagekraft der Ergebnisse relativ betrachtet werden. Einerseits verändern sich bestimmte klinische Merkmale mit dem Erreichen des Erwachsenenalters (wie in Kapitel "Medizinische Aspekte" beschrieben), andererseits scheinen sich eine Reihe von Merkmalen, insbesondere der Verhaltenscharakteristika und der psychomotorischen und kognitiven Fähigkeiten im Erwachsenenalter zu manifestieren. Festzustellen ist auf jeden Fall, daß alle Betroffenen auch im Alter aufgrund ihrer Behinderung auf eine Betreuung bzw. Unterstützung angewiesen sind, wobei der Umfang durchaus variieren kann. Die Frage nach Unterbringung bzw. Wohnform im Erwachsenenalter wurde in unserer Studie häufig nicht beantwortet. Allerdings läßt sich aus dem Kontext des Fragebogens vielfach erschließen, daß die meisten zu Hause leben. Bei denen, die diese Frage beantwortet haben, leben 85% der Kinder auch als Erwachsene zu Hause (Carlin, Aug. 1995). Interessant ist die Beobachtung, daß sich Formen des betreuten Wohnens, in denen sich die soziale Umwelt verändert, im Vergleich zum Leben im Elternhaus auf die Entwicklung im Erwachsenenalter anscheinend positiver auswirkt. Jedoch gibt es auch hierzu noch keine aussagekräftigen Untersuchungen, allerdings verschiedene Erklärungsmodelle, die sich auf die allgemeine Problematik der Loslösung vom Elternhaus beziehen und auf die aber nicht näher eingegangen werden soll. In diesem Kontext sei aber auch die schwierige Situation der Eltern bedacht: Aufgrund der oftmals eingeschränkten Sprache der Kinder besteht vielfach ein symbiotisches Verhältnis zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen. Sie sind häufig die einzigen, die das Kind in seiner eigenen Sprache verstehen können. Nicht selten entwickelt sich daraus ein erhöhtes Verantwortungsgefühl dahingehend, daß diesen Kindern die selbständige Bewältigung von veränderten Lebensumständen nur begrenzt zugetraut wird. "... Die Angst von Eltern, daß nach dem eigenen Tod niemand mehr da ist, der des Kindes Wünsche und Bedürfnisse erkennen kann, wird mit zunehmendem Alter größer." (Bsp. aus der Untersuchung, Carlin, 1996) Das Cri-du-Chat-Syndrom 38 Aus der Untersuchung von Carlin (USA, Aug. 1995) wird ersichtlich, daß der Großteil der Erwachsenen irgendeiner Art der Berufsausbildung bzw. -ausübung nachgeht. Jedoch soll auf diesen Aspekt des Erwachsenenalters im Kapitel 5 näher eingegangen werden. 4. 7 Zur Situation von Eltern mit Cri-du-Chat-Kindern Das Cri-du-Chat-Syndrom ist eine Behinderung, die für Eltern dieser Kinder, aber auch für Einrichtungen, in denen sie leben und lernen, eine große Herausforderung darstellt. Dieses Syndrom ist derart selten, daß Eltern in der Regel das erste Mal mit dieser Behinderungsform konfrontiert werden. Angesichts dessen, daß dieses Syndrom auch unter Fachleuten oft nicht bzw. nur vage bekannt ist und es zu einzelnen medizinischen Problemen sowie Behandlungsmethoden unterschiedliche Auffassungen gibt (sofern sie überhaupt existieren), werden Eltern vor eine Reihe von Problemen gestellt. Eltern, die dann auch noch unter Gebrauch des eigenen Verstandes entscheiden wollen, sind erst einmal überfordert und geraten, wenn auch widerwillig und mit geheimen Zweifeln, in Abhängigkeit von einzelnen SpezialistInnen. Diese Abhängigkeit "steigert" sich insofern, daß Eltern selbst kaum bzw. gar nicht die Möglichkeit haben, sich über die Störung ihres Kindes eigenständig zu informieren und eventuelle Prognosen zu wagen, da es fast keine ausführlichen Informationsquellen gibt. Die Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" verrät ihnen zwar den Namen und den Hauptdefekt der Behinderung ihres Kindes, ansonsten müssen sie sich aber zunächst allein auf die Aussagen des Arztes / der Ärztin verlassen. Diese können, wie wir noch sehen werden, sehr realitätsfremd sein. Immer wieder zeigt sich ganz deutlich, daß zunächst nicht Fragen der Integration der behinderten Kinder und der sozialen Eingliederung zu entscheiden sind, sondern rein medizinische Probleme, von einer genetischen Untersuchung und Beratung mit all ihren Konsequenzen (vor allem psychischer Natur) ganz zu schweigen. Neben dem ersten, vor allem emotionalen Erleben und Umgang mit der Situation, ein behindertes Kind zu haben, stehen gerade am Anfang viele Untersuchungen und entsprechende "therapeutische Weichenstellungen" an (Aly et al., 1991). Dazu kommt nach der ersten Verarbeitung der Situation im Zuge von Zukunftsplanungen der Druck, ja auch rechtzeitig die richtigen Maßnahmen für die Entwicklung des behinderten Kindes in Gang zu setzen. Selbstverständlich sind es nicht die ÄrztInnen, die diese Entscheidungen zu treffen haben. Nicht sie tragen die tatsächliche Verantwortung, sondern die Eltern. Für sie stellen sich u.a. die Fragen: - Welche Risiken haben die einzelnen Untersuchungen und Eingriffe? - Sind sie überhaupt nötig? - Was ist zu tun, damit körperliche Fehlbildungen bzw. -stellungen sich nicht zu sehr manifestieren? - Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? - Welche Hilfsmittel sind gegebenenfalls für das Kind zu beschaffen? Es gibt in Deutschland, wie bei vielen anderen Behinderungsformen auch, nicht ein einziges Buch, das alle Probleme, die ein Kind mit einer derartigen Chromosomenanomalie wie dem Cri-du-ChatSyndrom hat, im Gang seiner Entwicklung aufzeigt und die einzelnen therapeutischen Maßnahmen, die alternativen oder sich ausschließenden Möglichkeiten miteinander vergleicht und diskutiert. Im deutschsprachigen Raum scheitert man schon bei der Suche nach Literatur, die über das Phänomen des Cri-du-Chat-Syndroms an sich eine adäquate Aufklärung liefern könnte. Wesentlich besser sieht es hingegen in den USA aus. "... Der Arzt konnte uns aber nur Materialien von 1963 geben. Ansonsten hatte er gar nichts. ... Auch unser Kinderarzt hatte keine anderen Unterlagen darüber. ... Meine Freundin hatte einen Cousin in den USA, der mir dann alle notwendigen Unterlagen über das KatzenschreiSyndrom geschickt hat. So konnte ich eben den Ärzten hier selber unter die Arme greifen, ich konnte ihnen alles genau schildern und wurde selbst auch beruhigt."(Dennis´ Mutter) Dieser Mangel in der Literatur spiegelt nur die alltägliche Praxis wider, in der es weder ÄrztInnen noch TherapeutInnen gibt, die für ein solches Kind rundum zuständig wären. Vielmehr werden Eltern von einem Spezialisten/einer Spezialistin zum/zur nächsten "gejagt". Das Cri-du-Chat-Syndrom 39 Darüber hinaus werden Eltern, "wenn sie das in solchen Momenten keulenartiger Aufklärung noch können." (Aly et al., 1991) und sofern von professioneller Seite überhaupt ein Entwicklungspotential zugestanden wird, ... "... und da hat er uns dann erzählt, daß Dennis ein Katzenschrei-Syndrom hätte und daß das Kinder sind, die nie laufen und nie sprechen lernen, und diese Kinder könnte man ja gleich einschläfern lassen. ..."(Dennis´s Mutter) ... daran erinnert, daß ihr Kind ständig frühbehandelt und frühgefördert werden müsse, da sonst wertvolle Zeit verloren gehe. Es sei denn, wie bereits angedeutet, die Eltern werden fälschlicherweise vor die "Tatsache" gestellt, daß es sich ja um einen genetisch determinierten Fehler handle und die körperliche und auch geistige Behinderung von vornherein festgeschrieben sei.. Diese Behinderung (bzw. Behinderung allgemein), so heißt die verschlüsselte Botschaft, welche die Eltern aus dem Verhalten und den Aussagen der ÄrztInnen herauslesen müssen, ist schrecklich, untragbar, ist eine Katastrophe; eine Aufklärung, die jede Hoffnung raubt und sich nicht scheut, Katastrophenbilder an die Wand zu malen, für die es keine begründeten Erkenntnisse gibt (Beys, 1993). "Im Umgang mit Ärzten verleugne ich total meine Persönlichkeit. Ich werde unsicher und hilflos. Ich wage keine Fragen zu stellen. Ich fühle mich schuldig, weil ich ein behindertes Kind habe." (eine Mutter in: Beys, 1993, S. 29) So ist viel zu wenig (in Deutschland) über Verhalten, Entwicklungspotential und andere Bereiche von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom bekannt. Offensichtlich gibt es, vor allem in den ersten Jahren, einen Mangel an Unterstützungsangeboten, der nicht selten zu Konfusion, Entmutigung und Frustration der Eltern beiträgt. Dabei wird die Anleitung und Unterstützung durch ÄrztInnen, BeraterInnen und das betreffende Personal in Krankenhäusern generell als von kritischer Wichtigkeit für Eltern beim Verständnis, der Akzeptanz und der Behandlung ihres behinderten Kindes angesehen. Während frühe medizinische Anleitung und Unterstützung entscheidend ist, ist die Rolle von PsychologInnen, SprachtherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und ExpertInnen in frühkindlicher Entwicklung genauso wichtig zur Sicherstellung der Verfügbarkeit von Hilfen, speziell in den Bereichen Elternschaft, Kindes- entwicklung und relevanter Unterstützungsinstitutionen und dienste. Eine derartige Unterstützung von professioneller Seite hilft im Managment/Engagement der Eltern (Stykes & Christie, 1994). Eine besonders wichtige Quelle der Unterstützung ist oft der Kontakt zu Eltern in einer vergleichbaren Situation. Darauf wird an späterer Stelle noch näher eingegangen. 4. 7. 1 Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Beratung beim Cri-du-ChatSyndrom Wie bereits bei den medizinischen Aspekten erwähnt wurde, wird den Eltern in jedem Fall empfohlen, eine humangenetische Beratung in Anspruch zu nehmen. Im Falle einer Translokation kann diese somit bestätigt, der/die in Frage kommende Translokationsträger/in ermittelt und ein Wiederholungsrisiko für weitere Schwangerschaften abgeschätzt werden. Welche Folgen eine derartige Beratung für die Eltern haben kann, soll im folgenden Absatz diskutiert werden. Es soll also weniger um die genetische Beratung als medizinisches Instrument gehen, sondern vielmehr um die damit verbundenen psychischen und sozialen Belastungsfaktoren. Angesichts der rasch fortschreitenden Entwicklung auf dem Gebiet genetischer Methoden und Techniken werden derzeit die Ziele genetischer Beratung auf allen gesellschaftlichen Ebenen intensiv diskutiert. Dabei richten sich die Fragen der sozialen, psychischen und gesellschaftlichen Konsequenzen genetischer Diagnostik und Beratung heute insbesondere auf ihre ethischen und moralischen Implikationen. So wird auch in dieser Arbeit die grundlegende Diskussion um das Für und Wider von genetischer Beratung und der damit verbundenen pränatalen Diagnostik eine wichtige Rolle spielen. Doch möchte ich schon im Vorfeld darauf hinweisen, daß dieses Problem in bezug zum Cri-du-ChatSyndrom nur angeschnitten werden kann, da dies die Grenzen meiner Arbeit sprengen würde. Im Vordergrund humangenetischer Zielsetzungen steht das Prinzip der Freiwilligkeit und der individuellen Entscheidung bei der Inanspruchnahme genetischer Diagnostik und Beratung. Das Cri-du-Chat-Syndrom 40 "Allein die Aufklärung von Ratsuchenden über ihr individuelles genetisches Risiko mit dem Ziel selbstverantwortlicher Familienplanung oder individueller Krankheitsvorsorge ist Aufgabe genetischer Beratung." (Murken & Cleve, 1996, S. 151) Bereits 1975 wurden vom Committee on Genetic Counselling folgende Zielvorstellungen für die genetische Beratung entwickelt: "Genetische Beratung soll dem Individuum oder der Familie helfen, (1) die medizinischen Fakten einschließlich der Diagnose, dem mutmaßlichen Verlauf der Erkrankung und der zur Verfügung stehenden Behandlung zu erfassen, (2) den erblichen Anteil der Erkrankung und das Wiederholungsrisiko für bestimmte Verwandte zu begreifen, (3) die verschiedenen Möglichkeiten, mit dem Wiederholungsrisiko umzugehen, zu verstehen, (4) eine Entscheidung zu treffen, die ihrem Risiko, ihren familiären Zielen, ihren ethischen und religiösen Wertvorstellungen entspricht und in Übereinstimmung mit dieser Entscheidung zu handeln, und (5) sich so gut wie möglich auf die Behinderung des betroffenen Familienmitgliedes und/oder auf ein Wiederholungsrisiko einzustellen." (Murken & Cleve, 1996, S. 151) Was bedeutet das für die genetische Beratung bei einem Fall von Cri-du-Chat-Syndrom? Selbstverständlich lassen sich in einer solchen Beratung die medizinischen Fakten, vor allem jene sichtbaren Symptome, die mit diesem Dysmorphiesyndrom einhergehen, und jene Befunde, die anhand der Chromosomenanalysen gemacht werden können, eindeutig beschreiben. Jedoch treten schon bei den Fragen nach dem Verlauf der Schädigung und dem Entwicklungspotential dieser Kinder die ersten Probleme auf, da anhand der medizinischen und zytogenetischen Befunde allein keine sicheren Prognosen möglich sind. Ebensowenig sind zur Verfügung stehende Behandlungsmöglichkeiten kaum präsent. Und eben dieses Unwissen auf seiten von Fachleuten beeinflußt auch die Punkte (2)-(5) entscheidend. Im Hinblick auf die Fragen der genetischen Diagnostik bedeutet die konsequente Anwendung der oben beschriebenen Richtlinien für die Handhabung genetischer Beratung: - die Inanspruchnahme genetischer Beratung muß freiwillig sein; - vor Anwendung genetischer Diagnostik (prä- bzw. postnatal) sollte eine individuelle Beratung erfolgen; - die Inanspruchnahme der pränatalen Diagnostik präjudiziert (entscheidet vorweg) im Falle eines pathologischen Befundes keinesfalls einen Schwangerschaftsabbruch; - die Entscheidungskompetenz hinsichtlich weiterer Familienplanung liegt ausschließlich bei den Ratsuchenden. Die genetische Beratung hat zwei Schwerpunkte. Zum einen beinhaltet sie die genetische Familienberatung, als Vorsorgemaßnahme gedacht, welche auf Stammbaumanalyse und genauer klinischer Diagnostik beruht, einschließlich genetischer Untersuchungen (Dysmorphiezeichen, Chromosomenanalyse) und zuzüglich pränataler Diagnostik (Chorionzottenbiopsie, Amniozentese). Andererseits gibt es die individuelle genetische Beratung, die ganzheitlich erfassen, aufgrund der Früherkennung genetischer Risikofaktoren die Erstellung einer genauen Prognose ermöglichen und ein breites Spektrum therapeutischer Ansätze bieten soll. Die Frage, inwieweit gerade die beiden letzteren Faktoren auf den Fall von Cri-du-Chat-Syndrom zutreffen, weist uns wiederum darauf hin, wie ungewiß jene Prognosen sind, die aufgrund einer einfachen Chromosomenanalyse gemacht werden könnten und inwiefern Kenntnisse über Entwicklung und Förderung von Cri-du-Chat-Kindern vorliegen. "... das sind Kinder, die nie laufen und nie sprechen lernen ..."(ein Humangenetiker, 1984) Nicht nur der Nachweis der Art der Chromosomenabnormität ist beim Cri-du-Chat-Syndrom von Bedeutung, sondern auch die präzise Charakterisierung dieser Anomalie. Auch wenn bisherige Berichte gezeigt haben, daß trotz zytogenetischer Befunde keine sicheren Prognosen abgegeben werden können, so hilft die genaue Beschreibung der Deletion beim Cri-du-Chat-Syndrom, das zu Das Cri-du-Chat-Syndrom 41 erwartende Ausmaß der Behinderung zumindest in bestimmten Fällen zu umschreiben (Overhauser et al., 1994). Ein wesentlicher Teil der genetischen Beratung besteht natürlich darin, durch eine genaue Diagnose festzustellen, ob tatsächlich ein genetisches Risiko vorliegt, oder ob eine teratogene (Mißbildungen bewirkende) Umweltschädigung ursächlich für die Behinderung wirksam war. Bleibt die Beratung jedoch auf diesen Teil beschränkt, sehen sich Eltern oft mit der Mächtigkeit eines Befundes konfrontiert, der sie nur selten alleine gewachsen sind. Genetische Beratung muß also darüber hinaus Perspektiven schaffen und die Eltern in ihrer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit unterstützen (Zerres et al., 1993; Krebs, 1992). In diesem Zusammenhang sei nochmals die Notwendigkeit für ÄrztInnen, PsychologInnen etc. erwähnt, sich über das Entwicklungspotential von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom bewußt zu sein und mit einer positiven Einstellung an eine Zukunftsplanung heranzugehen. Ansonsten kommt die genetische Beratung trotz genauer Diagnostik schnell an einen Punkt, an dem sie ihren beratenden Charakter verliert. Ebenso sei davor gewarnt, mit einer genetischen Beratung alle in Frage kommenden Faktoren eines genetischen Risikos, sowie die damit verbundenen Konsequenzen 100%ig überschaubar machen zu wollen (Zerres, 1993). In welchem Ausmaß Behinderung von den Ratsuchenden als solche wahrgenommen und definiert wird, bestimmen eine Reihe psychischer, psycho-sozialer und soziokultureller Faktoren. Nicht nur Schwere der Behinderung und Entwicklungsmöglichkeiten spielen hier eine entscheidende Rolle, sondern auch die Frage, ob bereits Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die besondere Familienkonstellation, individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit Behinderungen sowie das Ausmaß gesellschaftlicher Akzeptanz und Unterstützung sind ausschlaggebend dafür, welche Bedeutung die Mitteilung von Risikozahlen und medizinischen Fakten für die Entscheidungsfindung der Ratsuchenden hat. Eine wesentliche Aufgabe der Beratung sollte es sein, den Eltern Schuldgefühle zu nehmen, die sich fast immer einstellen, wenn bei einer/einem oder beiden eine genetische Belastung festgestellt wird. Es ist wichtig, solchen Eltern klarzumachen, daß im Erbgut eines jeden Menschen es zu nachteiligen Bestandteilen kommen kann und die Kategorie "Schuld" völlig fehl am Platz ist. Das Gespräch sollte natürlich dem Wissensstand der Ratsuchenden entsprechen. Grundsätzlich darf aber die Wahrheit über das Risiko nicht vorenthalten werden. Die Aspekte fordern auf seiten der/des Beratenden einerseits eine hohe Sensibilität und andererseits psycho-soziale und psychotherapeutische Grundkenntnisse. 4. 7. 2 Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften Die genetische Diagnostik schließt natürlich die möglichst genaue Beantwortung der Frage nach genetischen Risikofaktoren für Schwangerschaften im allgemeinen ein. Beim Cri-du-Chat-Syndrom besteht dann ein Risikofaktor, wenn ein oder beide Elternteile TrägerIn einer Translokation sind. Da gerade auch beim Cri-du-Chat-Syndrom die Chromosomenaberration vereinzelt auf der Basis einer balancierten Chromosomentranslokation über Generationen übertragen wird, bedeutet das, daß bei einem Neugeborenen mit Cri-du-Chat-Syndrom die Chromosomenanalyse notwendig ist. Bei Nachweis einer Translokation ist die zytogenetische Untersuchung auch bei den Eltern erforderlich, um eventuell den/die Überträger/in und unabhängig von dessen/deren Geschlecht das Wiederholungsrisiko zu ermitteln (Knörr, 1974). Wenn die Chromosomen der Eltern untersucht worden sind und die Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß ein Elternteil TrägerIn einer solchen Translokation oder eines Mosaiks ist, so ist das Risiko für die Eltern, nochmals ein Kind mit einer 5p-Deletion zu bekommen, nicht größer als für jedes andere Elternpaar in der Bevölkerung (1:50.000). Personen mit einer balancierten Translokation haben ein erhöhtes Risiko, weitere behinderte Kinder zur Welt zu bringen. Unabhängig davon, ob der Vater oder die Mutter Träger/in der Veränderung ist, können zukünftige Schwangerschaften chromosomal normal sein, chromosomal balanciert (wie beim Elternteil) oder chromosomal unbalanciert. Die Häufigkeit jeder Kategorie hängt von den spezifischen Chromosomen ab, die an der Veränderung beteiligt sind. Das Cri-du-Chat-Syndrom 42 Wenn also das Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom eine unbalancierte Translokation hat, sollten die Eltern und andere mögliche TrägerInnen einer Translokation in der Familie eine genetische Beratungsstelle aufsuchen, um gegebenenfalls Informationen über ihr Risiko, behinderte Kinder zu bekommen, zu erhalten. Allerdings sollte eine Elternpaar mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom darauf hingewiesen werden, daß das Wiederholungsrisiko für eine derartig bedingte Behinderung unabhängig davon ist, ob und wieviel Kinder mit dieser Behinderung bereits geboren sind. Das Risiko ist, auch wenn bereits Kinder geboren wurden, für das nächste Kind immer wieder gleich (vgl. Anhang A5). 4. 7. 3 Möglichkeiten und Grenzen der pränatalen Diagnostik Die pränatale Diagnostik ist ein Spezialbereich und Hilfsmittel der genetischen Beratung. Man unterscheidet nicht-invasive und invasive Untersuchungen. Nicht-invasive Untersuchungen beziehen sich vor allem auf Ultraschall und mütterliche Blutentnahme. Vielversprechend sind dabei auch die Forschungen bei dem Versuch, aus dem mütterlichen Blut kindliche Zellen, die bei der aktuell bestehenden Schwangerschaft durch die Plazentaschranke (biologische Barriere zwischen mütterlichem und fetalem Blut) in das mütterliche Blut übergetreten sind, zu gewinnen. Es wäre ein großer Erfolg, wenn man ohne die Risiken, die die invasiven Methoden bedeuten, kindliche Zellen untersuchen könnte. Invasive Untersuchungen, d.h. Untersuchungen, bei denen auf direktem Wege, sei es transabdominal (durch die Bauchdecken der Mutter) oder transzervikal (am Beginn der Geburt durch den Gebärmutterhalskanal), fetale Zellen, fetales Serum oder Fruchtwasser gewonnen wird, dürfen nur bei definiert bestehendem Risiko durchgeführt werden. Dazu gehören Chorionzottenbiopsie (Gewebsentnahme durch Scheide und Muttermund oder transabdominal), Amniozentese (transabdominale Punktion durch das Bauchfell in die Fruchtblase) und Nabelschnurpunktion. Eine vorgeburtliche Untersuchung ist auch nur dann sinnvoll, wenn ein Risiko für ein definiertes genetisches Leiden besteht, das sich entweder in den fetalen Zellen, in der Amnionflüssigkeit (Fruchtwasser), im Blut, in der Morphogenese (Formentwicklung) oder der Haut des Föten manifestiert. Nach Knörr (1974) kommt die Chromosomenanalyse der Zellen des Fruchtwassers nur in Frage: (1) bei familiärem Vorkommen einer vererbbaren Chromosomentranslokation, (2) bei Frauen, die bereits ein Kind mit einer Chromosomenanomalie geboren haben, (3) bei höherem mütterlichen Alter (wobei beim Cri-du-Chat-Syndrom keine derartige Korrelation gefunden werden konnte), (4) bei familiärem Vorkommen geschlechtsgebundener Erkrankungen (für das Cri-duChat-Syndrom nicht relevant). (Knörr, 1974, S. 79) Die vorgeburtliche Diagnose des Cri-du-Chat-Syndroms ist heute möglich. Die Fruchtwasseruntersuchung ist ein Verfahren, welches Chromosomenstörungen, falls vorhanden, in der 14.-16. Schwangerschaftswoche beim Föten feststellt. Bei der Amniozentese wird ein geringer Teil des Fruchtwassers entnommen, die fetalen Zellen werden kultiviert, und die Chromosomen werden mit Methoden ähnlich denen untersucht, die zuvor im Kapitel "Medizinische Aspekte" beschrieben wurden - durch Sichtbarmachen der Chromosomen in den weißen Blutzellen. Jedoch gibt es eine Reihe von Faktoren, die bei dieser Art von Diagnose bedacht sein wollen. Zum einen besteht die Tatsache, daß bisher kaum Therapien zur Behandlung genetisch bedingter Erkrankungen und Behinderungen vorhanden sind, zum anderen die Notwendigkeit einer Betreuung vor und nach einem derartigen Eingriff. Im Vorfeld sollten Möglichkeiten, Risiken sowie verschiedene Konsequenzen der pränatalen Diagnostik besprochen werden. Oftmals ist zu beobachten, daß Verunsicherungen mit dem Näherrücken des Untersuchungstermins eher wachsen als abnehmen. Der Eingriff kann von Schwangeren als körperliche Bedrohung und als Gefährdung des Kindes (der Realität entsprechend) erlebt werden (Murken & Cleve, 1996). Der pränatalen Diagnostik wird von vielen Seiten eine bedeutende Rolle in der Prävention von Behinderungen zugesprochen. Aber was bedeutet Prävention in diesem Zusammenhang? Prävention im Sinne von Vorsorge wäre wohl nur in bezug auf einen Verzicht einer Das Cri-du-Chat-Syndrom 43 Schwangerschaft zu verstehen, es sei denn, man setze Prävention mit "rechtzeitiger" Abtreibung der behinderten Föten/Embryonen gleich. Natürlich liegt die Argumentation in der Realität viel verborgener. So könnte z.B. ein genetisches Register, wie es Burn et al. (1983) vorschlagen, Eltern der nächsten Generation mit einem genetischen Risiko auf dieses hinweisen. Die "Prävention" ließe letztendlich aber doch nur die beiden oben genannten Möglichkeiten zu (vgl. Thimm et al, 1990). 4. 7. 4 Der nichtalltägliche Alltag Die Verarbeitung der Situation, ein behindertes Kind zu haben, verläuft bei Eltern (d.h. sowohl bei Müttern als auch bei Vätern) individuell verschieden. Nach Phasen wie Schock, Wut, Suche nach Schuldigen, Verzweiflung etc. dauert es oft sehr lange (manchmal ein Leben lang), bis Eltern ihr Leben neu organisieren können und sich ein neuer Alltag einstellt, der Alltag mit einem behinderten Kind. Wie "nichtalltäglich" dieser Alltag mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom sein kann, möchte ich in diesem Abschnitt anhand von Dennis etwas näher beschreiben. Allerdings werde ich mich dabei nur auf spezifische Momente beschränken, da es zur allgemeinen Situation von Eltern mit behinderten Kindern bereits viele Beiträge in der Literatur gibt. Zuvor möchte ich dem/der Leser/in jedoch einige grundlegende Überlegungen zum Alltag eines Kindes mit Cri-du-Chat-Syndrom und seiner Eltern erläutern, die meiner Meinung nach in diesem Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden sollten. Im Rahmen der persönlichen Auseinandersetzung mit dieser Thematik, in gemeinsamen Gesprächen mit Eltern, KollegInnen und FreundInnen und nicht zuletzt durch meinen Kontakt zu Dennis und seiner Familie stellten sich mir immer wieder die beiden gleichen Fragen: Gibt es den Alltag mit einem Kind mit Cri-duChat-Syndrom und was ist in diesem Alltag alltäglich und was "nichtalltäglich"? (1) Davon ausgehend, daß jedes Individuum einzigartig ist, auch im sozialen Umgang mit anderen, kann auch jede individuelle Familienkonstellation und ihr Alltag als solches gesehen werden. Der Alltag mit einem behinderten Kind wird immer durch dessen Behinderung mitbestimmt. Doch spielen, wie in allen anderen sozialen Gemeinschaften auch, eine Reihe anderer Faktoren ebenfalls eine wichtige Rolle, wie z.B. Sozialisation des einzelnen, Erziehungsstil, soziale Umwelt, Anzahl der Kinder, finanzielle und räumliche Gegebenheiten, Engagement der Eltern, etc.. Das bedeutet: Es gibt nicht den Alltag mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom. Vielmehr ist dieser ebenso individuell unterschiedlich wie der Alltag mit einem nichtbehinderten Kind. (2) In diesem Zusammenhang stellt sich die zweite Frage: Was ist alltäglich und was nichtalltäglich? Gerade für Außenstehende ist das Leben mit einem behinderten Kind (z.B. mit Cri-du-Chat-Syndrom) in erster Linie nichtalltäglich. Für Eltern jedoch wird dieses Leben mit ihrem behinderten Kind notwendigerweise zur Normalität, um nicht in permanenter "Extremsituation" leben zu müssen. Daher fällt es vielen Eltern schwer, das "nichtalltägliche" in ihrem Alltag zu beschreiben, denn viele Besonderheiten werden für sie "alltäglich". Ein wesentlicher Aspekt im Umgang mit Dennis war für seine Eltern lange Zeit die Ungewißheit, welche Auswirkungen dieses Syndrom auf die Entwicklung ihres Kindes haben würde. "Nachdem wir das Ergebnis der Untersuchung erfahren hatten, begann die Zeit der Erklärungen - das Erklären einer Sache, die wir uns selbst nicht erklären und über deren Fortgang wir nichts und niemand anderes auch etwas sagen konnten."(Dennis´ Vater in: Kallenbach, 1994, S. 28) Während lange Zeit die Aussage des "beratenden" Humangenetikers, daß Dennis weder laufen noch sprechen lernen würde, jede Hoffnung lähmte, so änderte sich dies durch andere Erfahrungsberichte (vgl. Kapitel 1: Die Geschichte von Dennis). Gleichzeitig mit neuen Hoffnungen wuchs auch die Kraft im Engagement der Eltern, Dennis möglichst optimal zu fördern. Das bedeutete, dreimal Therapie pro Woche. Die Therapiesituation übertrug sich natürlich auch auf die häusliche Situation, was letztendlich zu einer permanenten Überforderung führte. Dennis´ Eltern mußten, wie viele andere, lernen, daß therapeutische Ansprüche im Alltag nicht haltbar sind. Leben ist keine Therapie. "Irgendwann war es mir dann auch zu viel, ich konnte einfach nicht mehr. So haben wir dann auch erstmal eine 1_jährige Therapiepause gemacht." (Dennis´Mutter) Das Cri-du-Chat-Syndrom 44 Auch wenn das Verständnis seiner Behinderung heute ein anderes ist, so bleiben immer noch viele Fragen offen, die seine Entwicklung, seinen Platz in dieser Gesellschaft und seine persönliche Zukunft betreffen. Hinzu kommen viele Eigenheiten von Dennis, die das momentane Leben seiner Familie gravierend bestimmen. Auch wenn es nur ein Bruchteil des Ganzen ist, so möchte ich doch versuchen, einen kleinen Einblick zu geben. Der gestörte Wach-Schlaf-Rhythmus von Dennis, seine häufigen Perioden, in denen er nachts stundenlang wach ist, haben entsprechend oft ihre Auswirkungen auf den Schlaf seiner Eltern. Bei seinen nächtlichen Aktivitäten wird das Schlafen für seine Eltern oft unmöglich. Da er in der Regel unweigerlich in solchen Momenten wieder ins Bett gebracht wird (mit unterschiedlichem Erfolg), hat er zwar für sich gelernt, nachts leise zu sein, jedoch hat das zur Folge, daß sein Handeln nicht mehr "kontrollierbar" ist. So kam es wiederholt dazu, daß die Eltern nicht von Dennis erwachten, sondern vom Wasser, welches gerade die Wohnung überflutete. Dennis fordert oft sehr hartnäckig die Aufmerksamkeit anderer, insbesondere seiner Eltern für sich ein und dies häufig mit Verhaltensweisen, wie sie bereits beschrieben wurden. So bleibt den Eltern oft nicht nur zu wenig Zeit für die Geschwisterkinder, sondern auch für sich selbst. Zudem sind seine Eltern meist die einzigen, die seine Äußerungen und seine Wünsche erkennen und verstehen können (oder auch nicht). Das bedeutet, daß die Eltern im Wissen um die eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten von Dennis sich auch hier in eine Art besonderer Abhängigkeit/Verantwortung begeben. Ein weiterer Belastungsfaktor besteht darin, daß Dennis viele seiner Verhaltensweisen ständig wiederholt und diese auch vermehrt als Druckmittel einsetzt (wenn er z.B. seiner Schwester in den Haaren zieht, mit seinem Kopf auf den Boden schlägt, sich beißt oder Dinge kaputtschlägt). Außerdem kann Dennis oft in solchen Momenten Grenzen und Gefahren nicht einschätzen. Aufgrund seiner gestörten Wahrnehmung und seines stark verzögerten Schmerzempfindens entstehen immer wieder Situationen, die für Dennis eine Verletzungsgefahr darstellen (wenn er z.B. mit Gegenständen seine Augen untersucht oder auf der Suche nach einem neuen Stock auch mit einem Küchenmesser vorlieb nimmt). Um derartigen Gefahrensituationen entgegenzuwirken, ist oft die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern gefordert. Durch seine besondere Art, mit anderen in Kontakt zu treten, wenn er z.B. in den Haaren zieht, kneift oder schlägt, kommt es unweigerlich zu Reaktionen der anderen, die Dennis nicht verstehen kann und auf die er mit Frustration und Wut in Form der beschriebenen Verhaltensweisen reagiert. Auch hier ist dann die Intervention der Eltern gefragt. Wohl am kennzeichnendsten für den Alltag mit Dennis ist die permanent notwendige Aufmerksamkeit, die parallel zu allen anderen Alltagshandlungen vorhanden ist. Trotz vieler Belastungsfaktoren im Umgang mit Dennis beschreiben seine Eltern ihn als sehr liebebedürftig und anhänglich. Es gibt viele Momente im Alltag, in denen Dennis durch seinen Sinn für Humor und seinen Frohsinn diesen auch auf seine Umgebung überträgt. Zudem hat er ein ausgeprägtes Gefühl für Stimmungen. So leidet er oft mit, wenn es jemandem schlecht geht. Er zeigt dann ein Bedürfnis, andere zu trösten. (Während einer Theaterprobe wurde eine Szene eingeübt, in der sein Betreuer von jemand anderes geschlagen wird. Für Dennis war es sehr schwer, die Situation zu ertragen, zumal er nicht begreifen konnte, daß in Wirklichkeit keine Gefahr für seinen Betreuer bestand.) Bei diesen Ausführungen handelt es sich natürlich nur um einen begrenzten Teil des alltäglichen Lebens mit Dennis. Jedoch möchte ich mich gerade im Zusammenhang mit den Überlegungen im Vorfeld dieses Abschnittes auf diese Auswahl beschränken. Es bleibt zu sagen, daß der Alltag mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom gewiß nicht so alltäglich ist, zumal es immer wieder Momente gibt, in denen sowohl Eltern als auch die Kinder selbst vor völlig veränderten Situationen stehen, aber... "...Es geht darum, auf einer selbst definierten Lebensebene eine neue Qualität zu erreichen, die Glück, Freude und Hoffnung wieder in das tägliche Leben zurückbringt..."(Dennis´ Vater in: Kallenbach, 1994, S. 30) Das Cri-du-Chat-Syndrom 4. 8 45 Zusammenfassung Anhand von Ergebnissen einer Fragebogenuntersuchung (Carlin, 1995/96), eigener Beobachtungen und zweier zusätzlicher Fallberichte wurde die Heterogenität des Syndroms verdeutlicht und seine unterschiedlichen Auswirkungen aufgezeigt. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren in der Entwicklung zu erkennen und zu verstehen, da die psycho-sozialen Auswirkungen sich nicht alleine auf die primäre Behinderungsform reduzieren lassen. Betrachten wir die Situation der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom, so ist festzustellen, daß es bzgl. der Auswirkungen eine Reihe von übereinstimmenden Merkmalen und Entwicklungsmustern gibt. Andererseits können das jeweilige Ausmaß und die individuelle Entwicklung sehr unterschiedlich sein. In allen Fällen ist eine gravierende Entwicklungsverzögerung zu beobachten, deren Grad jedoch variabel ist und während der Kindheit nicht genau vorausgesagt werden kann. Aufgrund verschiedenster behindernder Konditionen ist eine kognitive Entwicklungshemmung fast unvermeidlich, wobei diese oft als notwendig mit dem Cri-du-Chat-Syndrom verbunden beschriebene, geistige Retardierung bzgl. der Entwicklung als sekundäre Erscheinungsform betrachtet werden muß. Die psychomotorische Entwicklung bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom ist in den meisten Fällen gekennzeichnet durch Hypotonie und einer damit zusammenhängenden Hyperreflexität, auffällige Wahrnehmungsstörungen, insbesondere taktil-kinästhetische und Gleichgewichtsstörungen und teilweise durch orthopädische Deformitäten. Die gravierende Sprachverzögerung mit den damit verbundenen Auswirkungen gehört wohl zu den häufigsten Merkmalen des Cri-du-Chat-Syndroms. Sie kann jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Trotz der Defizite in der aktiven Sprache scheinen viele eine adäquat funktionale Sprache für ihre Bedürfnisse zu haben. Außerdem ist das passive Sprachverständnis in der Regel wesentlich umfangreicher. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, daß die verzögerte Entwicklung von Kindern mit Cri-duChat-Syndrom keineswegs festgelegt, geschweige denn konkret vorhersagbar ist. Die Heterogenität der individuellen Entwicklungsgeschichten läßt derartige Prognosen nicht zu. Mit zu den bedeutendsten Auswirkungen für die Situation der Kinder gehören die beim Cri-duChat-Syndrom relativ häufig auftretenden Verhaltensauffälligkeiten, wobei diese wahrscheinlich als sekundäre Folgeerscheinungen im Sinne multivalenter Zusammenhänge betrachtet werden können. Im Erwachsenenalter verändern sich einerseits bestimmte klinische Merkmale, andererseits ist zu beobachten, daß sich eine Reihe von Merkmalen, insbesondere der Verhaltenscharakteristika und der psychomotorischen und kognitiven Fähigkeiten, im Erwachsenenalter zu manifestieren scheinen. Das bedeutet, daß alle Betroffenen auch im Alter aufgrund ihrer Behinderung auf eine Betreuung bzw. Unterstützung angewiesen sind. Für die Eltern dieser Kinder stellt das Cri-du-Chat-Syndrom eine große Herausforderung dar. Zum einen stellen die mit dem Syndrom unmittelbar verbundenen genetischen Untersuchungen und Beratungen samt ihrer Konsequenzen einen bedeutenden Belastungsfaktor dar, zum anderen die Situation mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom an sich. In der Situation, ein Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom zu haben, sind Eltern verschiedensten Belastungen ausgesetzt. Einerseits spielen die unterschiedlichen Konsequenzen der genetischen Beratung eine Rolle, da derartige Untersuchungen nicht nur Aufklärung über die mögliche Entstehung des individuellen Falls bieten und Aussagen zum Wiederholungsrisiko ermöglichen können, sondern zudem in viele andere Bereiche hineinreichen, z.B. Familienplanung, Situationsverarbeitung, Schuldzuweisung, etc.. Außerdem sei zu betonen, daß in diesem Zusammenhang die mit genetischer Beratung möglichweise verbundene pränatale Diagnostik keine Präventionsmöglichkeit im klassischen Sinne ist. Im alltäglichen Umgang mit dem betroffenen Kind spielt die Ungewißheit, welche konkreten Auswirkungen dieses Syndrom auf die Entwicklung des Kindes haben wird, eine große Rolle. Eine Das Cri-du-Chat-Syndrom 46 Reihe von Besonderheiten, die unmittelbar mit der Behinderung zusammenhängen, bestimmen den Alltag mit einem solchen Kind. Jedoch muß in diesem Zusammenhang betont werden, daß es den Alltag mit einem Kind mit Cri-du-Chat-Syndrom nicht gibt, da dieser, wie bei nichtbehinderten Kindern auch, individuell sehr unterschiedlich sein kann. Zudem wird für viele Eltern dieser Kinder die besondere Situation zur Normalität, um nicht in permanenter Extremsituation leben zu müssen. Das Cri-du-Chat-Syndrom 5 47 PÄDAGOGISCHE ASPEKTE Nachdem die medizinischen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms und die psycho-sozialen Auswirkungen dieser Behinderung erläutert wurden, sollen im folgenden Kapitel die pädagogischen Aspekte betrachtet werden. Dabei geht es in erster Linie um die Frage, welche Förderangebote beim Cri-du-Chat-Syndrom hilfreich und notwendig sein können, um eine optimale Entwicklung zu ermöglichen und zu unterstützen. Entsprechend soll im Anschluß an einige grundlegende pädagogische Überlegungen zum Cri-du-Chat-Syndrom zunächst auf allgemeine Fördermöglichkeiten eingegangen werden, danach speziell auf psychomotorische und sprachliche. Wie wichtig eine solche Förderung für die Entwicklung dieser Kinder ist, wurde bereits in den vorangegangenen Kapiteln angedeutet bzw. beschrieben. Die Untersuchungsergebnisse von Wilkens et al. (1983) und Carlin (1995/96) verdeutlichen diesen Aspekt nochmals. In diesem Zusammenhang sei jedoch darauf hingewiesen, daß es entsprechend der Heterogenität der individuellen Entwicklungen bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom auch kein einheitliches Förderkonzept gibt. Vielmehr kommt es darauf an, jedes Kind in seiner Einzigartigkeit zu betrachten und deshalb ein für das jeweilige Kind adäquates Konzept der Förderung und Unterstützung zu entwickeln. Aufgrund dessen möchte ich betonen, daß die folgenden Ausführungen nicht als allgemeingültige Förder- und Behandlungsmethode zu sehen sind, sondern einen Versuch darstellen, aufgrund verschiedener Berichte und Untersuchungen und anhand eigener Beobachtungen und Überlegungen unterschiedliche Möglichkeiten der Förderung aufzuzeigen. Neben psychomotorischen und sprachlichen Fördermaßnahmen werden verschiedene Therapieangebote genannt, die beim Cri-duChat-Syndrom angewendet werden/ wurden. Da offensichtlich die relativ häufig auftretenden Verhaltensauffälligkeiten ein Wesensmerkmal darstellen, spielt die Verhaltensmodifikation eine ebenso wichtige Rolle. Auch hier werden verschiedene Möglichkeiten genannt und erörtert. Ferner soll auch auf die Förderung im Erwachsenenalter eingegangen werden. Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit einigen Aussagen zur Rolle von Elternarbeit und Selbsthilfegruppen. 5. 1 Pädagogische Überlegungen zum Cri-du-Chat-Syndrom In der, wenn auch dünn gesäten, Literatur zum Cri-du-Chat-Syndrom findet man immer wieder Debatten über das unterschiedliche Entwicklungspotential dieser Kinder. Schinzel (1979) versucht z.B., die unterschiedliche Entwicklung von Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom an eigenen Beobachtungen zu verdeutlichen. "Ein 10jähriger Knabe ist nicht imstande, frei zu sitzen und spricht noch kein Wort. Eine zusätzliche starke Geburtsasphyxie (Sauerstoffmangel), ein Krampfleiden oder irgendeine andere Ursache außer der Chromosomenaberration für seinen so schweren Entwicklungsrückstand liegt nicht vor. Er reagiert offensichtlich auf optische und akustische Reize, aber selbst seine langjährigen Pflegerinnen verneinen irgendeinen persönlichen Kontakt mit ihm. Er beschäftigt sich fast ausschließlich mit sich selbst, mit dem Ausführen stereotyper Bewegungen durch Stunden wie Schütteln der Hände und bevorzugt, den Kopf in Bauchlage mit aufgerichtetem Oberkörper abwechselnd nach vorne und hinten fallen zu lassen. Sein Schrei, der nie katzenähnlich war, ist jetzt hoch und langgezogen."(Schinzel, 1979, S. 119-120) "Ein 3jähriges Mädchen lernte mit acht Monaten, frei zu sitzen und mit 18 Monaten, ohne Führung zu gehen. Sie spricht bereits einige Worte und versteht einfache Aufforderungen auf Deutsch und Italienisch. Sie verständigt sich vornehmlich durch Zeichensprache, ist immer in Bewegung, nimmt alles in den Mund und beansprucht gerne die volle Aufmerksamkeit ihrer Umgebung. Untertags trägt sie keine Windeln mehr, was oft gut geht. Sie hilft ihrer Mutter beim Aufräumen und Staubwischen, sucht in der Handtasche nach dem Hausschlüssel, drückt den richtigen Liftknopf und ißt selbständig mit den Händen, wobei allerdings einiges daneben geht. Sie ist eine ausgezeichnete Nachahmerin, auch im Spielen, vollbringt aber kaum selbständige Leistungen." (Schinzel, 1979, S. 120-121) Das Cri-du-Chat-Syndrom 48 Diese und eigene Beobachtungen sowie verschiedenste Entwicklungsberichte von Kindern mit Cridu-Chat-Syndrom zeigen, wie unterschiedlich die individuelle Entwicklung und auftretende Probleme sein können. Bereits diese Überlegungen/Beobachtungen lassen erkennen, daß es sich hier um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung handelt, die adäquater Pädagogik zu ihrer Überwindung (Förderung) bedarf. Ein erster Schritt in diese Richtung ist das Bemühen um ein besseres Verständnis des Erscheinungsbildes des Cri-du-Chat-Syndroms und der inneren Zusammenhänge im spezifischen Entwicklungsprozeß. Hier möchte ich nochmals auf die Pfadanalyse von Pueschel (1986) verweisen, der einen derartigen entwicklungspsychologischen Prozeß bei der Trisomie 21 nachzuweisen versucht hat. Außerdem stellt sich die Frage, wieviel durch Schädigung vorgegeben bzw. wieviel Resultat früher sensorischer Deprivation oder späterer Isolation durch Überbehütung bzw. durch erlernte Inkompetenz ist. Dies ist eine Frage, die vor allem auch durch veränderte pädagogische Praxis zu beantworten ist (Jantzen, 1990). Vielleicht können diese Ausführungen dazu anregen, wie künftig über spezifische Syndrome neu nachzudenken ist, "um sie auch in biologischer Hinsicht historisch zu entschlüsseln, sie nicht statisch zu betrachten, sondern als Prozeß der Selbstorganisation zu rekonstruieren" (Jantzen, 1990, S. 151). In den folgenden Abschnitten möchte ich die verschiedenen pädagogischen Felder beleuchten und entsprechende Handlungsperspektiven aufzeigen. Es ist zudem ein Versuch, vor allem Eltern, aber auch beruflich betroffenen Fachleuten, neue bzw. grundsätzliche Wege zu zeigen, mit dieser Art von Behinderung umzugehen, wobei ich einen Anspruch auf Vollkommenheit nicht für angemessen halte, da in jedem Fall individuelle Aspekte zum Tragen kommen. 5. 2 Allgemeine Entwicklungsförderung beim Cri-du-Chat-Syndrom Wie sich gezeigt hat, gibt es sehr wohl Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom, die sich entgegen früherer Erwartungen wesentlich positiver entwickeln. Für den jeweils individuellen Fall ist eine solche Prognose selbstverständlich nicht mit Sicherheit zu stellen, andererseits berechtigt dies jedoch, eine intensive Förderung durchzuführen, um auf eine möglichst weitgehende Entwicklung zu hoffen. Ein wesentlicher Einflußfaktor auf das Ausmaß der Entwicklungsverzögerung und auf den jeweiligen Entwicklungsstand liegt im Beginn, im Umfang und in der Art der speziellen Förderung. Wie entscheidend das Alter ist, in welchem die spezielle Förderung begonnen wurde, zeigen die Ergebnisse der Untersuchung von Wilkens et al. (1980), die in Abbildung 6 dargestellt sind. 90 60 30 Developmental Quotient Kinder, die eine Frühförderung erhalten hatten bzw. frühzeitig eine entsprechende Fördereinrichtung besuchten, hatten einen signifikant höheren Development (Entwicklungs-) Quotient als die anderen Kinder, deren Förderung später anfing. Studien über Kinder mit Trisomie 21 zeigen ähnliche Relationen zwischen früher spezieller Förderung und dem Entwicklungsniveau (Pueschel, 1986). <1 Jahre 1-3 Jahre >3 Jahre Alter bei Beginn einer speziellen Förderung Abb. 6: Relation zwischen Development Quotient und Beginn der Förderung (Wilkens et al., 1980, S. 404) Das Cri-du-Chat-Syndrom 49 Diese Ergebnisse zeigen nicht nur, wie ausschlaggebend eine frühe Förderung für das zu erreichende Entwicklungspotential ist, sondern implizieren damit auch, daß die Entwicklungsmöglichkeiten und das Potential an Fähigkeiten bei Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom keineswegs genetisch festgelegt sind bzw. allein durch die Art und das Ausmaß dieser Behinderung bestimmt werden. Wenn sich Fachleute, seien es nun ÄrztInnen, TherapeutInnen, LehrerInnen oder andere beruflich Betroffene, über diese Tatsache im klaren sind, dann wird jene "Ohnmacht" überwindbar, die aufgrund einer scheinbar genetisch bedingten Abhängigkeit der Entwicklungschancen von einer statischen Betrachtungsweise chromosomaler Syndrome ausgeht. Allerdings ist unter ÄrztInnen, PädagogInnen und anderen Fachleuten bis heute das Wissen um die Auswirkung und die Förder- und Hilfsmöglichkeiten relativ gering, so daß aus Unwissenheit die notwendige Hilfe und Förderung, wenn überhaupt, oft sehr spät erfolgt. Dazu kommt, daß die notwendigen Hilfsangebote oft nicht in ausreichender Zahl vorhanden bzw. daß sie für viele Eltern mit immensen organisatorischen und finanziellen Aufwendungen verbunden sind. Diese Beobachtung wird von vielen Befragten in unserer Untersuchung bestätigt. Von den Kindern unserer Untersuchung haben 84% (aktuell: 10%) Frühförderung erhalten. In der Untersuchung von Carlin (Aug. 1995) berichten nur 68% über Frühförderung. Dabei umfaßte das entsprechende Angebot verschiedenste Behandlungen, Konzepte und Therapien. In den meisten Fällen ging es vor allem um die Behandlung bestimmter klinischer Symptome und um die therapeutische Aufarbeitung der allgemeinen Entwicklungsverzögerung. Um konkrete Handlungsperspektiven aufzuzeigen, halte ich es für notwendig, entsprechend der einzelnen Aspekte im Erscheinungsbild sowie der verschiedenen psycho-sozialen Auswirkungen in unterschiedliche Förderbereiche zu unterteilen. 5. 2. 1 Psychomotorische Entwicklungsförderung Wie bereits beschrieben, treten in fast allen Fällen gravierende Verzögerungen bzw. Störungen in der psychomotorischen Entwicklung auf. In unserer Untersuchung (Carlin, 1996) wird deutlich, daß eine Reihe verschiedener neurologischer Probleme die psychomotorische Entwicklung dieser Kinder mitbestimmt. Ausschlaggebend sind Probleme wie schwacher Muskeltonus, schlechte Koordination bzw. Koordina-tionsstörungen, ungeschickte Bewegungen, breitbeiniger, unsicherer Gang, beim Gehen einwärts gerichtete Zehen, Wahrnehmungs- und Gleichgewichtsstörungen sowie Schwierigkeiten beim Kauen und Schlucken (vgl. Anhang A1; Abb. XXX, XXXI, XXXIII, XXXIV). Da viele dieser neurologischen Probleme die Entwicklung in ihrer Gesamtheit bestimmen/behindern, d.h. als Ursachen für viele Entwicklungsmerkmale des Cri-du-Chat-Syndroms angesehen werden können, ist es notwendig, im Sinne multivalenter Zusammenhänge in erster Linie die Auswirkungen der primären Störungen zu verringern. Dabei spielt die psychomotorische Entwicklungsförderung eine wesentliche Rolle. Von den Kindern unserer Untersuchung erhielten alle irgendeine (oder mehrere) Form(en) von Physikalischer Therapie, sei es Krankengymnastik, Ergotherapie oder eine andere Form. Die Ergebnisse aus den USA bestätigen diese Beobachtung. Auch dort erhielten bis auf wenige Ausnahmen alle eine Kombination aus Krankengymnastik, Beschäftigungs- und Sprachtherapie. Allgemein ist für die Entwicklung psychomotorischer Kompetenzen wichtig, das Kind zu befähigen, sich Informationen und Reize durch Bewegungshandlungen selbstbestimmt, zielgerichtet und sinnhaft zu holen. D.h. für den/die Therapeut/en/in, verschiedene Informationsquellen und Handlungsmöglichkeiten anzubieten (Brand et al., 1988). Im Folgenden möchte ich verschiedene Möglichkeiten der psychomotorischen Förderung aufzeigen, die ich aufgrund verschiedener Entwicklungsberichte und vor allem aufgrund eigener Erfahrungen für sinnvoll und notwendig halte. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß dies nur ein Ausschnitt verschiedener Möglichkeiten sein kann, da individuelle Besonderheiten den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Einerseits umfaßt die psychomotorische Förderung die individuelle Einzelförderung des Kindes, andererseits sollte sie aber auch die Förderung innerhalb der Gruppe einschließen. Das Cri-du-Chat-Syndrom 50 Gerade beim Cri-du-Chat-Syndrom darf die Förderung keine mechanistische Übungsreihe darstellen. Vielmehr muß sie ganzheitlich orientiert sein, d.h. sie soll das Kind als Gesamtpersönlichkeit ansprechen und fördern. Wichtig ist dabei das Ausnützen des kindlichen Bewegungsdranges, das Ansetzen an den momentanen Bedürfnissen des Kindes und das Aufgreifen des kindlichen Neugierverhaltens. Die individuelle psychomotorische Förderung bei Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom beinhaltet in erster Linie Tonusregulierung der Muskulatur, Koordinations- und Gleichgewichtsschulung, Wahrnehmungstraining, Förderung des Körperschemas und betrifft gleichermaßen auch das sozial-emotionale Verhalten und die Entwicklung der Sprache. Auf die Sprachentwicklung wird jedoch im nächsten Abschnitt noch näher eingegangen. Aus der ganzheitlichen Orientierung in der psychomotorischen Förderung ergibt sich, daß sich viele Bereiche in einzelnen Maßnahmen überschneiden. Konkrete Maßnahmen der individuellen Einzelförderung können u.a. sein: - allgemein: taktil-kinästhetische, vestibuläre und propriozeptive Stimulation - Reizaufnahme über den gesamten Körper/Kennenlernen verschiedener Materialien - bewußte Wahrnehmung von Körperspannung und -entspannung - Grenzerfahrungen - Berühren und Benennen von Körperteilen - Spiele, die Stell-, Stütz- und Gleichgewichtsreaktionen erfordern und provozieren - Einzelreize im optischen, akustischen und taktilen Bereich getrennt geben, um Differenzierung zu erleichtern/zu erlernen - Fortführung der Stimulation im Bereich der Verknüpfung von zwei Wahrnehmungsbereichen - Sprachanbahnung durch handelndes Umgehen mit und Erleben von Umwelt - Raumerfahrung über unterschiedliche Positionen und veränderte Fortbewegungsmöglichkeiten. Meines Erachtens spielt neben der individuellen psychomotorischen Einzelförderung die Förderung innerhalb einer Gruppe eine ebenso wichtige Rolle für die Entwicklung dieser Kinder. Diese Form der Förderung beinhaltet zwar im Wesentlichen auch Anteile aus der Einzelförderung, jedoch bietet sich hier eine Situation für die Kinder, in der sie selbstbestimmt Erfahrungen sammeln, ihre Frustrationen auf verschiedene Art und Weise abbauen und sich entsprechend ihrem Entwicklungsstand Bewegungsangebote suchen können. Ein weiterer Aspekt dieser Form beinhaltet den Bereich des sozial-emotionalen Verhaltens. Diese Art der psychomotorischen Förderung ist speziell für Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom deshalb so bedeutend, da sie hier u.a. Grenzen kennen- sowie einhalten lernen, Regeln beachten müssen, sprachlich gefordert werden sowie im Umgang mit anderen Kindern Anregungen finden (z.B. Imitationen, funktionales Spielen). Wichtig ist bei beiden Formen, eine Verbindung von Bewegung, Sprache und Kognition herzustellen. 5. 2. 2 Unterstützung der Sprachentwicklung Lange Zeit ist die Sprachentwicklung beim Cri-du-Chat-Syndrom vernachläßigt worden. Aufgrund dessen gibt es bis heute nur vereinzelte Versuche, eine adäquate Sprachtherapie für dieses Syndrom zu entwickeln. Zwar ist die Ursache für die Sprachstörung noch nicht eindeutig geklärt, jedoch gibt es eine Reihe typischer Merkmale in der Stimmentwicklung sowie in der Verzögerung der Sprachentwicklung, auf die eine entsprechende Sprachtherapie aufbauen kann. In unserer Untersuchung erhielten 60% aller Kinder eine Form von Sprachtherapie. Allerdings gibt es keine Angaben darüber, wie diese Sprachtherapien aufgebaut sind/waren. Daher greife ich in diesem Abschnitt auf die Arbeiten von Sparks & Hutchinson (1980) und Sohner & Mitchell (1991) sowie auf eigene Beobachtungen zurück. Das Cri-du-Chat-Syndrom 51 Welchen Einfluß Sprachtherapie auf die Sprachanbahnung und -entwicklung hat, zeigen die Ergebnisse unserer Untersuchung. Es besteht eine beachtliche Korrelation zwischen Sprachtherapie und der Fähigkeit, mehrere Wörter sprachlich zu verwenden. Zwar läßt die Auswertung diesbezüglich nicht den Schluß zu, daß Sprachtherapie in jedem Fall den aktiven Spracherwerb garantiert, aber es ist festzustellen, daß alle Kinder, deren Sprachumfang mindestens mehrere Wörter umfaßt, Sprachtherapie erhalten/erhalten haben. In bezug auf die logopädische Unterstützung in der Sprachentwicklung beim Cri-du-ChatSyndrom lassen sich meines Erachtens zwei Schwerpunkte in der sprachtherapeutischen Arbeit konstatieren. Ein Bereich bezieht sich dabei auf die (1) phonetische Entwicklung und die Stimmcharakteristik, z.B. auf Volumen- und Atemkontrolle, der andere Bereich konzentriert sich auf (2) zunehmende Sprachbegriffe (expressiv und rezeptiv). (1) Sohner & Mitchell stellten in ihrer Längsschnittuntersuchung eines Kindes mit Cri-du-ChatSyndrom fest, daß die hohe Stimme mit einem Überwiegen der fallenden Intonationskonturen und einer begrenzten Variation der fundamentalen Frequenz auch für die Vokalisation des Kindes charakteristisch ist. Die Ergebnisse suggerieren, daß signifikante kognitive und/oder motorische Verzögerungen einen Einfluß auf die Integrität (Unversehrtheit) der frühen Stimmentwicklung haben können. Bei Dennis ist auffallend, daß er oft eine telegraphische Sprache verwendet, welche jedoch in Zusammenhang mit seiner begrenzten Möglichkeit zu stehen scheint, die Phonation (Stimm- und Lautbildung) aufrechtzuerhalten. Diese Befunde und Beobachtungen lassen annehmen, daß für die Sprachentwicklung und daraus resultierend für die sprachtherapeutische Arbeit eine zunehmende Volumen- und Atemkontrolle von Bedeutung ist. Für diesen Bereich bieten sich verschiedene Methoden in der Sprachtherapie an, so z.B. Pustespiele mit Seifenblasen, Watte, Windrädchen etc., die eigene Stimme in Tonhöhe und Lautstärke bei Ansprache je nach Situation verändern (laut leise, schnell - langsam) u.v.m.. Ein weiterer Teil dieses Bereiches umfaßt die kognitive Förderung der Sprachklang- und Sprachbewegungsvorstellung sowie bzgl. kinästhetischer Wahrnehmung die Förderung von Stellungs-, Spannungs-, Kraft-, Lage-, Berührungs- und Drucksinn. Hierzu möchte ich nur einige Möglichkeiten nennen: - intensiver Blickkontakt bei verbalen Äußerungen - Verstärkung dieses Blickkontakts durch taktile Erfahrungen über die Hand - variierende mimische Äußerungen vor dem Spiegel - Stimulation durch Mundmassage - Mund-, Lippen- und Zungentraining - Körperkontakt beim Sprechen, um übertragene Vibrationen spürbar werden zu lassen etc.. (2) Ein weiteres Ziel der Sprachtherapie sollte sich auf zunehmende Sprachbegriffe konzentrieren. Auch hier bieten sich eine Reihe verschiedenster Möglichkeiten an, z.B.: - Anbahnung von Imitationen durch Aufgreifen und Verändern sprachlicher Äußerungen des Kindes - tägliche Verrichtungen verbal erklären - Körperspiele mit verbaler Begleitung - auf Geräusche der Umgebung aufmerksam machen - positive Verstärkung beim Lautieren - Lieder, Geschichten, Bildkarten und Sprachspiele mit übertriebener Gesichtsmimik - ständige Konversation, Fragen, Wiederholungen und Bestehen auf Antworten etc.. An einzelnen Ausführungen läßt sich bereits erkennen, daß rein logopädische Maßnahmen alleine nicht ausreichend wirken können. Wie schon bei einigen Maßnahmen angedeutet, muß die sprachliche Förderung auch Bereiche der verschiedenen sensorischen Systeme, der Motorik sowie die Planungsfähigkeit von Bewegungsabläufen und kognitive Fähigkeiten einschließen. Da bei Das Cri-du-Chat-Syndrom 52 Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom oft die taktil-kinästhetische Wahrnehmung gestört ist, kommt es entsprechend zu einer mangelhaften Bewegungsplanung und -ausführung, die wiederum bei der Artikulation große Probleme aufwirft. In Zusammenhang mit der psychomotorischen Entwicklungsförderung benötigen diese Kinder für ihre Sprachentwicklung neben logopädischen Maßnahmen ebenso eine nicht-sprachliche Integrationsförderung im taktil-kinästhetischen, propriozeptiven und vestibulären Bereich. 5. 2. 3 Weitere Therapieangebote Im Folgenden möchte ich nun beispielhaft einige Therapieangebote nennen und kurz beschreiben, die beim Cri-du-Chat-Syndrom ihre Anwendung finden/gefunden haben. Zum größten Teil beziehe ich mich dabei auf Ergebnisse unserer Untersuchung. Hippo-/Reittherapie/Voltigieren: Das "Heilpädagogische Reiten" wirkt kreislaufstabilisierend, stoffwechselstimulierend, regt die Eigenwahrnehmung an und ist deshalb besonders förderlich für antriebsgebremste und bewegungsarme Kinder. Die angstmindernde Wirkung eines Therapiepferdes (das nichts bemängelt und keinen Erwartungsdruck erzeugt) ist die Grundlage für den Erfolg der Maßnahmen. Manuelle Medizin/Therapie: Manuelle Medizin (Manualtherapie) basiert auf manueller Manipulation an Gelenken und Muskulatur zur Behebung funktioneller Bewegungsstörungen (Schneider et al., 1989). Elektrotherapie: Elektrotherapie basiert entweder auf Reizreaktionen durch niederfrequente und mittelfrequente Ströme oder auf Erwärmung der Körpergewebe durch Hochfrequenz. Angewandt wird diese Form der physikalischen Therapie u.a. zur Tonusregulierung (Gillert et al., 1995). Orofaziale Regulationstherapie nach Castillo Morales: Diese Therapie gliedert sich in drei Teilkomponenten: das krankengymnastisch-logopädische Übungsprogramm, die apparative Stimulation mit der Gaumenplatte sowie eine detaillierte, funtionelle Befunderhebung zu Therapiebeginn und in regelmäßigen Abständen während der Therapie (Limbrock & Castillo-Morales, 1986a & 1986b). Ziel ist die Beeinflussung der orofazialen Dysfunktionen und findet u.a. Anwendung bei behinderten Kindern mit Kau-, Schluck- und Sprechstörungen. Die Übungen, basierend auf physiotherapeutischen Prinzipien, wirken unmittelbar auf den Mund-Gesicht-Bereich und stehen in direkter Beziehung zum Gesamtkörper. Ziel der Gaumenplatte ist die direkte und indirekte Beeinflussung der oralen Sensomotorik (Castillo-Morales et al., 1985). Musiktherapie: Die Behandlung erfolgt in drei Phasen. In der ersten, der sogenannten regressiven (rückschreitenden) Phase, wird das Kind Klangformen ausgesetzt, die seinem rückentwickelten Zustand voll und ganz entsprechen. Sobald wie möglich versucht der/die Therapeut/in, die zweite - kommunikative - Phase einzuleiten, indem er/sie die in der ersten Phase geöffneten Kommunikationskanäle zu einer direkten Kontaktaufnahme nutzt. In der dritten, der integrativen Phase, wird versucht, die zuvor entwickelte Kommunikationsbasis zu erweitern und den Kontakt des Kindes zu seiner Umwelt, vor allem zu seiner Familie, zu fördern (Benenzon, 1983). Audovokales Training nach Tomatis: In vorbereitenden passiven Sitzungen werden dem Kind gefilterte Klangreize vom Tonband über einen Hörsimulator, ein aus Kopfhörer und Vibrator bestehendes "Elektronisches Ohr" vorgespielt. Vorzugsweise verwendet werden dazu Mozartmusik oder die hohen Frequenzen der Mutterstimme, so wie sie bei einem Fötus durch das Fruchtwasser hindurch ankommen. Schrittweise erfolgt dann die Übertragung von gefilterten zu ungefilterten Tönen, entsprechend der (angenommenen) Veränderung des Hörens durch Fruchtwasser gegenüber dem Hören durch Luft. In der darauffolgenden vorsprachlichen Phase werden dem Kind die hohen Frequenzanteile von Musik, Gesang und seine eigene Stimme über Kopfhörer und den Vibrator zugeführt. Falls eine sprachliche Phase erreicht wird, sind Das Cri-du-Chat-Syndrom 53 Stimm- und Sprechübungen (mit Hilfe von Mikrophon, Kopfhörer und Vibrator) vorgesehen. Auf jeden Fall ist es möglich, mit dem Horchtraining das Interesse an akustischen Reizen zu fördern (Tomatis, 1987). Patterning nach Doman/Delacato: Vermehrte Sinneseindrücke sollen die Funktionstüchtigkeit des Zentralen Nervensystems verbessern. Bewegungsfunktionen, die ein Kind nicht selbst ausführen kann, werden nach der Doman-Delacato-Methode gepatternt. Patterning (Musterentwicklung) bedeutet im Verständnis der Erfinder, daß drei Erwachsene die koordinierten Bewegungen des Kriechens oder Krabbelns für ein Kind, sozusagen stellvertretend, ausführen. Auf diese Weise sollen Körper und Gehirn Bewegungsmuster erlernen, die dem Kind sonst vorenthalten blieben. Erfolgsaussichten sollen mit Frequenz, Intensität und Dauer häuslicher (den Eltern auferlegter) Förderprogramme steigen. Gleichzeitig erhöht sich dadurch aber auch das Risiko der Überforderung und Beziehungsbelastung. Festhaltetherapie (Forced Holding): Bei dieser einschneidenden, schwierigen und dramatischen Maßnahme soll die Mutter das Kind körperlich an sich halten, auch gegen den Widerstand des Kindes. Der Mutter ist es nicht erlaubt aufzugeben, bis das Kind so erschöpft ist, daß es sich entspannt. Ähnlich wie bei verhaltenstherapeutischen Techniken der Reizüberflutung wird das Kind mit Angststimuli überhäuft, erlebt eine Zeit intensiver Angst, bis zur Erschöpfung, bis eine Löschung der Angst erfolgt (Kane & Kane, 1986). Als weitere Formen werden in unserer Untersuchung genannt: Adaptive Spieltherapie, Theraplay, Mund- und Eßtherapie, Massagen, Bäder, Krankengymnastik, Ergotherapie u.a.m.. An der Auflistung der unterschiedlichen Therapieangebote, welche von verschiedensten AutorInnen und Befragten unserer Untersuchung in Zusammenhang mit dem Cri-du-ChatSyndrom genannt wurden, wird deutlich, daß zwar mit vielen Angeboten der Anspruch verbunden wird, das Cri-du-Chat-Syndrom therapeutisch behandeln zu können, jedoch betrifft dies in der Regel nur einzelne Symptome. Wir können also zusammenfassend feststellen, daß es kein spezifisches und umfassendes Therapiekonzept für das Cri-du-Chat-Syndrom gibt. Das bedeutet, daß bei der therapeutischen Behandlung dieses Syndroms zum einen auf spezielle Symptome bzw. Merkmale eingegangen wird, um diese (oft isoliert von anderen) zu therapieren. Andererseits greifen spezielle Therapien einzelne oder mehrere Erscheinungsmerkmale des Cri-du-Chat-Syndroms (wie bereits erwähnt) auf, die der jeweils bestehenden Therapieform entsprechen. So komplex die verschiedenen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms sind, so komplex ist auch die Frage der therapeutischen Behandlung. Selbstverständlich haben viele dieser Therapien ihre Berechtigung. Ich möchte hier in keiner Weise die therapeutische Wirkung einzelner Maßnahmen an sich in Frage stellen. Aber wir müssen uns fragen, welche Formen und in welchem Umfang diese bzgl. eines therapeutischen Erfolges wirklich effektiv sein können. Meines Erachtens sollte auf jeden Fall Beachtung finden, daß das Cri-duChat-Syndrom eine Behinderung ist, die durch multivalente Zusammenhänge unterschiedlicher Kennzeichen geprägt ist. Somit muß auch in der therapeutischen Arbeit diese Behinderung, in erster Linie jedoch der betroffene Mensch, in der Gesamtheit gesehen werden. Welche Einzelkomponenten dabei ihre Anwendung finden, ist in jedem individuellen Fall zu entscheiden. Es muß das Ziel von Therapie sein, die/den Betroffene/n in ihrer/seiner Entwicklung zu unterstützen, ihr/ihm zu helfen, konkrete behindernde Konditionen zu überwinden und ihr/sein mögliches Potential an lebensnotwendigen Fähigkeiten zu erreichen. Geschieht dies nicht, so lassen sich alle Therapieangebote darauf reduzieren, daß sie nur einzelne Defizite beseitigen wollen, nicht aber das Individuum als Ganzes unterstützen. Dazu kommt, daß keine der zum Cri-du-Chat-Syndrom gemachten Untersuchungen bisher einen direkten Zusammenhang zwischen einer konkreten Therapieform und dem erreichten Entwicklungspotential feststellen konnte. Die bestehenden Korrelationen betreffen vielmehr eine allgemeine Entwicklungsförderung. Inwieweit sich also spezielle Therapieangebote im Gegensatz zu umfassender Förderung im Rahmen der Familie, der Schule etc. als hilfreicher oder sinnvoller erweisen, bleibt ungeklärt. Das Cri-du-Chat-Syndrom 5. 3 54 Verhaltensmodifikation Im Kapitel "Psycho-soziale Auswirkungen" wurden eine Reihe von typischen Verhaltensauffälligkeiten beim Cri-du-Chat-Syndrom beschrieben. Ausgehend davon, daß diese Auffälligkeiten als sekundäre Folgeerscheinungen der primären Behinderung betrachtet werden können, sich also auch erst mit der Zeit als solche entwickeln, ist es naheliegend, daß eine sinnvolle Verhaltensmodifikation nur möglich ist, wenn ein entsprechendes Verständnis der genannten Zusammenhänge vorhanden ist. Andererseits ist festzustellen, daß derartige Verhaltensauffälligkeiten nicht nur aus behindernden Konditionen in der Entwicklung resultieren, sondern wiederum die Entwicklung an sich behindern. Daher ist es notwendig, diesbezüglich zu intervenieren. In unserer Untersuchung wurden die Eltern danach gefragt, was im Umgang mit unerwünschtem Verhalten hilfreich gewesen ist. In der Auswertung dieser Frage stellten sich folgende Aussagen als die grundlegendsten heraus: (1) Ablenkung und Zuwendung, (2) Konsequentes Verhalten, (3) Beruhigen und selbst Ruhe bewahren, (4) Festhalten (vergleichbar mit der Festhaltetherapie) und Kombinationen dieser vier. Auch in der Untersuchung aus den USA berichteten die meisten Eltern, daß Ablenkung, Unterbrechung, sofortige Belohnung und strenges Bestehen auf Regeln die erfolgreichsten Methoden zur Verhaltensbeeinflussung sind. Unsere Aussagen sind im Wesentlichen identisch. Von fast allen wurde aber auch gesagt, daß sich Verhaltensbeeinflussung eher schwierig und langwierig gestaltet. Ich möchte mich an dieser Stelle auf die Arbeit mit Dennis beziehen. Aus meinem eigenen Erleben mit Dennis kann ich einige dieser Möglichkeiten unterstützen. Ein entscheidender Faktor liegt in der Konsequenz des Verhaltens gegenüber Dennis, so daß es für ihn möglich wird, sich an Regeln zu orientieren, die sowohl für ihn als auch für sein Gegenüber gelten - auch als Orientierungspunkt in der Suche nach Grenzen. In einer Fallbeschreibung von Davies (1993), in der Interventionstechniken entsprechend einer Verhaltenstherapie erläutert werden, wird ebenfalls die Notwendigkeit der Konsequenz im Verhalten von seiten der Eltern (oder anderer Bezugspersonen) betont. Weiterhin wird auf die Möglichkeit hingewiesen, daß sich einige unerwünschte Verhaltensweisen verstärken können, bevor sie abnehmen oder durch andere Verhaltensauffälligkeiten ersetzt werden. Als einen weiteren wichtigen Punkt habe ich erlebt, daß Ruhe bewahren Dennis hilft, besser mit Unruhe, Frustration und Unverständnis umzugehen. Damit kann nicht nur eine Eskalation der jeweiligen Situation verhindert werden, vielmehr bietet sich dadurch für Dennis erst die Möglichkeit, das eigentliche Problem zu sehen und vielleicht zu verstehen. Fehlt ihm in einer derartigen Spannungssituation ein derartiger Orientierungspunkt, so verliert er sich häufig in seinen Aggressionen. Bezüglich der Ablenkung und Zuwendung gibt es meines Erachtens zwei Seiten: Zum einen macht Dennis mit vielen Verhaltensweisen auf sich bzw. seine Bedürfnisse aufmerksam. Dies ist ein Indiz dafür, daß er damit sein Gegenüber dazu bewegen möchte, sich ihm bzw. seinen Bedürfnissen auch zuzuwenden. Andererseits kann Ablenkung bewirken, daß zwar vom eigentlichen Problem (zumindest in Dennis´ Augen) abgelenkt, dieses aber nicht gelöst wird. Vielmehr wird die geringe Aufmerksamkeitsspanne "ausgenutzt", um unerwünschtes Verhalten zu vermeiden. Hier kommt deutlich das Dilemma im Umgang mit diesen Kindern zum Ausdruck. Einerseits sollen Verhaltensweisen, die selbst oft als behindernde Konditionen gesehen werden können, vermieden werden, andererseits versperrt man damit aber den Kindern auch eine Möglichkeit, ihre Bedürfnisse, ihre Emotionen und Frustrationen zu äußern. Dies wird dadurch bestätigt, daß bei Intervention bestimmte Verhaltensweisen zwar verschwinden, jedoch aber auch durch andere ersetzt werden können (Davies, 1993). Die Notwendigkeit einer Verhaltensmodifikation ist gewiß nicht von der Hand zu weisen, jedoch birgt eine Prioritätensetzung diesbezüglich die Gefahr der Vernachlässigung von psychomotorischer, sprachlicher und anderer Förderung. Leider ist dies vielerorts der Fall (z.B. in Schulen und anderer Institutionen). Aber auch im alltäglichen Umgang mit Dennis besteht die Gefahr, ihm (wenn auch oft unbewußt) zugunsten einer Verhaltensmodifikation Möglichkeiten zu versperren, auf sich aufmerksam zu machen. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals die Frage aufgreifen, in welchem Umfang Behinderung z.B. aus späterer Isolation durch erlernte Inkompetenz resultiert. Wenn Das Cri-du-Chat-Syndrom 55 Verhaltensmodifikation auch neue Möglichkeiten eröffnen mag, so ist sie gleichzeitig aber auch eine Festschreibung von Inkompetenz und in vielen Fällen eine Form der sich automatisierenden Konditionierung. Ich möchte dies dem/der Leser/in an einem Beispiel verdeutlichen. In der Geschichte von Dennis wurde seine außerordentliche Vorliebe für Stöcke beschrieben. Diese Vorliebe hat meines Erachtens jedoch zwei verschiedene Seiten. Zum einen sind Stöcke für ihn wahrlich von großem Interesse. So ist er in dieser Beziehung z.B. sehr wählerisch, modifiziert sie gegebenenfalls, damit sie für ihn im wahrsten Sinne des Wortes handlich werden. Andererseits wird diese Vorliebe von seinen Bezugspersonen nur allzuoft dazu genutzt (bewußt oder unbewußt), ihn zu bestimmten Aktionen zu bewegen bzw. Spannungs- und Konfliktsituationen auf das Nichtvorhandensein seiner Stöcke zu reduzieren. Damit bleibt Dennis vielfach nur eine Möglichkeit, seinen Unmut, seinen Ärger etc. zu äußern. Er greift zurück auf die Forderung nach seinen Stöcken, da dies eine Äußerung darstellt, die in der Regel verstanden wird. Macht aber dies nicht gerade seine "Inkompetenz" aus? Zum Festhalten sei noch erwähnt, daß es zwar Situationen gibt, in denen nur noch diese Lösung die einzig vernünftige zu sein scheint, es aber letztendlich auf einen Willensbruch von seiten der/des Festhaltenden hinausläuft. So sehr diese Aussage auch umstritten ist, es soll an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen werden. Bei einem sehr geringen Teil werden Beruhigungsmittel oder bestimmte homöopathische Mittel eingesetzt, um die Verhaltensauffälligkeiten zu beeinflussen. Auch auf diesen Aspekt möchte ich nicht näher eingehen, sondern nur auf die bisherigen Überlegungen verweisen. 5. 4 Eine Herausforderung für LehrerInnen und andere beruflich Betroffene Eigentlich ist die Überschrift dieses Abschnittes etwas irreführend, denn eine Herausforderung im ursprünglichen Sinne stellt wohl jede Art pädagogischer Arbeit dar. Trotzdem ergeben sich durch die spezielle Behinderungsform spezifische Momente. Da die meisten bisherigen Ausführungen auch für den Schulalltag bzw. für die Arbeit von LehrerInnen und anderen beruflich Betroffenen gelten, möchte ich auf eine nochmalige Auflistung einzelner Aspekte verzichten. Hingegen sollen nur die wichtigsten Anforderungen zusammenfassend genannt werden. Die pädagogische Arbeit erfordert grundsätzlich eine Aufklärung über das Syndrom und seine Erscheinungsbilder, das Bewußtmachen der unterschiedlichen Entwicklungspotentiale, das Verständnis von Zusammenhängen zwischen primär behindernden Konditionen und seinen Folgeerscheinungen sowie ein Loslösen von einer Sichtweise der genetischen Determinierung einer Entwicklung und den damit verbundenen Prognosen. An dieser Stelle möchte ich einige spezifische Momente der pädagogischen Arbeit an dem Beispiel von Dennis aufzeigen, die mir grundlegend als wichtig und sinnvoll erscheinen. Dabei handelt es sich weder um Maßnahmen, die speziell nur auf das Cri-du-Chat-Syndrom zutreffen, noch können diese Überlegungen selbstverständlich auf alle Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom gleichermaßen übertragen werden, wobei dies den/die Leser/in nach der bisherigen Lektüre auch nicht verwundern dürfte. Aufgrund der motorischen Beeinträchtigung, der verzögerten Sprachentwicklung und der Störungen in der Perzeption (Wahrnehmung) mit der damit verbundenen Einschränkung des Erfahrungsvolumens wird verständlich, daß in fast allen Lernbereichen größere Anstrengungen unternommen werden müssen. Da es Dennis besonders schwerfällt, sich längere Zeit auf eine Sache/einen Lerninhalt zu konzentrieren, ist es erforderlich, ihm diesbezüglich Hilfestellungen zu bieten. Dazu ist es notwendig, den Lernstoff entsprechend auf wesentliche Vorgänge und logischen Aufbau abzugrenzen, unterschiedliche Erfahrungen und Interessen zu nutzen sowie Konzentrationsphasen zu begrenzen. Es sollten bereits vorhandene Fähigkeiten und Vorlieben aufgegriffen werden, die dann mit neuen Möglichkeiten verbunden werden können bzw. mit deren Hilfe ein Interesse an anderen Aktionsformen (als die zum Teil stereotypen Handlungsmuster) geweckt und zu diesen übergeleitet werden kann. Dabei ist es notwendig, neue Eindrücke und Reizerfahrungen zu differenzieren, um einer Reizüberflutung entgegenzuwirken. Die einzelnen Aktionsformen sollten ausgerichtet sein auf die Verarbeitungsmöglichkeiten und die motorischen Fähigkeiten von Dennis. Ähnlich der Situation zu Hause wird auch die Schulsituation gekennzeichnet von typischen Verhaltensauffälligkeiten. Das Cri-du-Chat-Syndrom 56 Vergleichbar mit den Ausführungen zur Verhaltensmodifikation wird auch im Schulalltag eine entsprechende Intervention notwendig, d.h. Dennis benötigt entsprechende Hilfestellungen wie z.B. feste Regeln, um somit eine gewisse Orientierung zu finden. Wie bei allen anderen Förderangeboten auch, kommt es jedoch in erster Linie darauf an, Dennis´ Möglichkeiten in ihrer Gesamtheit zu betrachten und innere Zusammenhänge zu erkennen. 5. 5 Förderung im Erwachsenenalter In den vorangegangenen Abschnitten zum Erwachsenenalter wurde deutlich, wie wenig bis heute über Erwachsene mit Cri-du-Chat-Syndrom bekannt ist. Ebenso gibt es diesbezüglich relativ wenig Erfahrungen im Bereich der Erwachsenenförderung. Aufgrunddessen stehen mir nur die begrenzten Aussagen aus der Fragebogenuntersuchung zur Verfügung. Ich möchte an dieser Stelle trotzdem versuchen, einige dieser Aussagen näher zu beleuchten. Spezifische Angaben werden allein dadurch begrenzt, daß nur vier Personen in unserer Fragebogen-aktion älter als 18 Jahre sind. Drei davon arbeiten in einer Beschützenden Werkstatt oder Fördergruppe. Alle haben (laut Fragebogen) aber beschränkte Fähigkeiten und benötigen eine entsprechende Einzelbetreuung. Die Ergebnisse der amerikanischen Untersuchung zeigen, daß zwar zwei Drittel der über 18jährigen irgendeine Art von berufsbildendem Training bekommen haben, ihre Fähigkeiten aber meist beschränkt bleiben. Ihre Verhaltensauffälligkeiten stören die Leistungsfähigkeit. Ob und inwieweit sich also spezifische Momente für die Förderung im Erwachsenenalter aus der speziellen Behinderungsform des Cri-du-Chat-Syndroms ergeben, bleibt offen, da es dazu bisher keine signifikanten Kenntnisse und vor allem keine Erfahrungen gibt. Natürlich sollten allgemeine Prinzipien der Erwachsenenbildung eine grundsätzliche Orientierung bieten, auch wenn sich gewisse Einschränkungen aufgrund der Behinderung ergeben können. Für Erwachsene mit Cri-du-Chat-Syndrom läßt sich auf jeden Fall feststellen (vgl. Punkt 4. 6), daß alle Betroffenen auch im Alter aufgrund ihrer Behinderung auf eine Betreuung bzw. Unterstützung angewiesen sind, wobei der Umfang durchaus variieren kann. Auch wenn sich beim Cri-du-Chat-Syndrom im Erwachsenenalter eine Reihe von Merkmalen, insbesondere der Verhaltenscharakteristika und der psychomotorischen und kognitiven Fähigkeiten zu manifestieren scheinen (vgl. Punkt 4. 6), sollte grundsätzlich im Vordergrund stehen, die im Kindes- und Jugendalter begonnenen Förder- und Therapiemaßnahmen auch im Erwachsenenalter fortzuführen und zu spezifizieren. Spezifizierung bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Fördermaßnahmen natürlich veränderte Schwerpunkte haben sollten als im Kindesalter. So ist es sinnvoll, nicht nur rein lebenspraktische Fähigkeiten zu fördern, sondern auch bzgl. der Berufsfindung, -ausbildung und -förderung entsprechende Angebote zu schaffen. Unabhängig vom Alter und dem Grad der Sprachbehinderung sollte in jedem Fall die Förderung in Sprache und Kommunikation fortgeführt werden. Grundsätzlich sollten alle Betroffenen (auch im Erwachsenenalter!) dahingehend unterstützt werden, daß sie mobil sind/werden, einen bestimmten Grad der Unabhängigkeit in Selbstpflegefähigkeit/Selbständigkeit besitzen/erreichen und in der Lage sind, verbal oder durch andere Kommunikationsmöglichkeiten auf ihre Bedürfnisse und Wünsche aufmerksam zu machen. 5. 6 Häusliche Pflege oder Heim- bzw. Wohngruppenunterbringung Die Frage, ob und wann ein Kind in ein Heim oder eine betreute Wohngruppe gegeben werden soll, ist eine quälende Entscheidung, der sich Eltern behinderter Kinder manchmal stellen müssen. In diesem Punkt macht das Cri-du-Chat-Syndrom keinen Unterschied zu anderen schweren Formen von körperlicher und geistiger Behinderung, und es gibt keine richtige oder falsche Antwort. Sowohl die Untersuchung von Wilkens et al. (1983) als auch unsere Fragebogenstudie beziehen sich fast nur auf Kinder, die zu Hause aufgewachsen sind. Deshalb scheidet sich die Schwere der Behinderung und der Grad des Erlernens von Fähigkeiten der Kinder dieser Berichte etwas von Das Cri-du-Chat-Syndrom 57 denen früherer Studien, die in erster Linie auf Heimkinder basierten. Obwohl es vielleicht gut sein könnte, daß die am schwersten betroffenen Kinder vorrangig in einer Institution (sei es nun ein Heim oder eine andere Form des betreuten Wohnens) untergebracht werden, ist es meines Erachtens wahrscheinlicher, daß eine unterstützende häusliche Umgebung einem behinderten Kind hilft, sein volles Potential auszuschöpfen, wie auch bei einem nichtbehinderten Kind. Leider gibt es zu diesen Überlegungen bisher nur Vermutungen aufgrund von einzelnen Fallberichten. Demnach scheint sich während des Kindesalters eine häusliche Umgebung für die Entwicklung dieser Kinder positiver auszuwirken. Für das Erwachsenenalter hingegen kann eine Form des betreuten Wohnens günstiger sein, da sich hier das soziale Umfeld für die Betroffenen verändert und sich daraus neue Möglichkeiten ergeben können. Die Entscheidung über eine Heim- bzw. Wohngruppenunterbringung bedarf vieler Erwägungen. Geeig- nete Einrichtungen müssen vorhanden sein. Die Kosten können in vielen Fällen ausschlaggebend sein oder auch die emotionale Belastung für die Familie. Der Schweregrad der Behinderung und die damit verbundenen medizinischen Komplikationen müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Dieses Thema sollte nicht vorschnell verurteilt werden, noch sollten Entscheidungen als nicht rückgängig zu machen betrachtet werden. ÄrztInnen, Krankenschwestern und -pfleger, PsychologInnen, GenetikerInnen und AutorInnen von Broschüren mögen viel Wissen über das Cridu-Chat-Syndrom haben, letztendlich aber sind und bleiben die Eltern die führenden ExpertInnen bei ihrem eigenen Kind. Die Frage nach der Unterbringung der Kinder wurde in der amerikanischen Untersuchung nur von zwei Drittel der Antwortenden beantwortet. Bei denen, die geantwortet haben, leben 85% der Kinder auch als Erwachsene zu Hause. In unserer Untersuchung wurde diese Frage ebenfalls häufig nicht beantwortet. Allerdings läßt sich aus dem Kontext des Fragebogens häufig erschließen, daß die Kinder zu Hause leben. Nur vier Kinder leben nicht ständig zu Hause. 5. 7 Elternarbeit - Selbsthilfegruppen In diesem Abschnitt möchte ich mich auf die Ausführungen zur Situatuion der Eltern von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom beziehen (vgl. Punkt 4. 7) und mich bezüglich der Elternarbeit auf eine Zusammenfassung beschränken. Zudem wird eine konkrete Form der Elternarbeit am Beispiel der Selbsthilfegruppe "Cri-du-Chat-Syndrom" beschrieben. Wie bereits bzgl. der Elternsituation erwähnt wurde, ist Elternarbeit in Form von Unterstützung, Aufklärung und Beratung von großer Bedeutung. Dies bezieht sich auf die verschiedensten Personengruppen. Während die Anleitung und Unterstützung durch ÄrztInnen, BeraterInnen und das betreffende Personal in Krankenhäusern für Eltern entscheidend ist, so ist die Rolle von anderen Fachleuten in frühkindlicher Entwicklung genauso wichtig zur Sicherstellung der Verfügbarkeit von Hilfe, insbesondere im Bereich Elternschaft. Dies setzt allerdings voraus, daß diese Fachleute über die notwendigen Kenntnisse bzgl. des Cri-du-Chat-Syndroms verfügen. Eine derartige Unterstützung von professioneller Seite kann nicht nur eine unmittelbare Entlastung der Eltern ermöglichen, sondern bietet ebenso eine Unterstützung im eigenen Managment und Engagement der Eltern. Während all diese Hilfsangebote wertvoll und notwendig sind, darf die unterstützende Rolle von FreundInnen und Familie nicht unterschätzt werden. Eine besonders wichtige Quelle der Unterstützung kann der Kontakt mit Eltern anderer behinderter Kinder sein. Solche Elterngruppen fungieren als Forum zur Verteilung von Informationen und zur Mitteilung von Problemen und Erfahrungen und können so zur Reduzierung des Gefühls der Isolation dienen. Eine derartige Elterninitiative finden betroffene Eltern z.B. in der Selbsthilfegruppe "Cri-du-ChatSyndrom". Im Mai 1993 wurde diese Selbsthilfegruppe gegründet, die später einmal vielleicht verschiedene Regionalgruppen bilden könnte. Im Vordergrund steht als Ziel zunächst der persönliche Erfahrungsaus- tausch und die Notwendigkeit, die Behinderung bekannt zu machen und sich für bessere Bedingungen in Kindergärten und Schulen einzusetzen. Ein weiterer Beweggrund dieser Einrichtung ist es, als Gruppe für andere Eltern da zu sein, die meist in ihrer Situation mit einem Cri-du-Chat-Kind zunächst alleine dastehen. Das Cri-du-Chat-Syndrom 58 Im Umgang mit Behörden und Krankenkassen brauchen Eltern immer wieder viel Unterstützung. Deshalb sollten Krankenhäuser, KinderärztInnen, humangenetische Beratungsstellen und Behinderteneinrichtungen von der Selbsthilfegruppe wissen und an sie weiterleiten können. Mit Unterstützung der Spastikerhilfe Bremen organisierte Frau Ute Meierdierks am 08.10.1994 das erste bundesweite Treffen betroffener Familien in Bremen, auf dem in erster Linie ein Erfahrungsaustausch zwischen den Eltern stattfand. In Diskussionen wurden viele Fragen der täglichen Fürsorge und der unterschiedlichsten Entwicklungsverzögerungen und Lernschritte debattiert. Diese Form der Elternarbeit spielt meines Erachtens nicht nur eine bedeutende Rolle in der gegenseitigen Unterstützung der Eltern, sondern sie bietet eine ebenso wichtige Möglichkeit, gemeinsam auf diese Form der Behinderung aufmerksam zu machen und sich sowohl für eine umfangreichere Aufklärung unter Fachleuten als auch für bessere Möglichkeiten der Unterstützung und Förderung der Kinder einzusetzen. (Die Adresse dieser Selbsthilfegruppe findet der/die Leser/in im Anhang A4 .) 5. 8 Zusammenfassung Bereits an den Ausführungen zu den medizinischen Aspekten und den psycho-sozialen Auswirkungen läßt sich erkennen, daß es sich beim Cri-du-Chat-Syndrom um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung handelt, die zu ihrer Förderung einer adäquaten Pädagogik bedarf. Eine Voraussetzung hierfür ist es, dieses Syndrom auch in seiner biologischen Hinsicht historisch zu entschlüsseln, es nicht statisch zu betrachten, sondern als Prozeß der Selbstorganisation zu rekonstruieren (Jantzen, 1990). Einerseits wurde deutlich, wie ausschlaggebend Beginn, Umfang und Art der speziellen Förderung für das zu erreichende Entwicklungspotential ist, andererseits offenbart sich auch, daß die Entwicklungsmöglichkeiten und das Potential an Fähigkeiten bei Kindern mit Cri-du-ChatSyndrom keineswegs genetisch festgelegt sind bzw. allein durch die Art und das Ausmaß der Behinderung bestimmt werden. Neben der allgemeinen Entwicklungsförderung spielen insbesondere die psychomotorische und sprachliche Unterstützung eine wichtige Rolle. Verschiedene Maßnahmen diesbezüglich wurden aufgezeigt und näher betrachtet. Im Rahmen einer umfangreichen Förderung muß auch eine Verhaltensmodifikation bedacht werden. Ausgehend davon, daß die typischen Verhaltensauffälligkeiten in der Regel als sekundäre Folgeerscheinungen der primären Behinderung angesehen werden können, setzt eine sinnvolle Verhaltensmodifikation ein entsprechendes Verständnis der genannten Zusammenhänge voraus. Eine spezifische Therapieform für das Cri-du-Chat-Syndrom gibt es nicht, jedoch eine Reihe von Therapieangeboten, die einzelne oder mehrere Symptome bzw. Merkmale des Syndroms behandeln können. Die verschiedenen Therapien, die beim Cri-du-Chat-Syndrom ihre Anwendung finden/gefunden haben, wurde dem/der Leser/in in diesem Kapitel vorgestellt. Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom sollten umfangreiche Kenntnisse dieser Behinderungsform sein, damit verbunden ein Bewußtsein über das mögliche Entwicklungspotential sowie ein Verständnis der multivariaten Zusammenhänge verschiedenster Konditionen. Anhand der Arbeit mit Dennis wurden einige spezifische Momente der pädagogischen Arbeit erläutert. Für das Erwachsenenalter können wir feststellen, daß sich die Schwerpunkte der Förderung zwar verändern können, es jedoch in jedem Fall darauf ankommt, die im Kindes- und Jugendalter begonnenen Maßnahmen fortzuführen. Abgeschlossen wurde das Kapitel der pädagogischen Aspekte mit einigen Ausführungen zur Elternarbeit, insbesondere mit der Vorstellung der Selbsthilfegruppe "Cri-du-Chat-Syndrom". Das Cri-du-Chat-Syndrom 6 59 ABSCHLIEßENDE ÜBERLEGUNGEN An dieser Stelle soll meine Arbeit über das Cri-du-Chat-Syndrom zu einem Abschluß kommen. Mein Ziel war es, auf eine Behinderungsform aufmerksam zu machen, die aufgrund ihrer Seltenheit vielerorts nur begrenzt bzw. gar nicht bekannt ist und oft wenig Beachtung findet. Dies bestätigte sich immer wieder in den verschiedenen Recherchen zum Thema. In Gesprächen mit Eltern und beruflich Betroffenen zeigte sich, daß es gerade im deutschsprachigen Raum an Aufklärung und erster Orientierung für Betroffene, aber auch für Behörden und Institutionen, mangelt. In dieser Arbeit wurde versucht, Erkenntnisse aus der Literatur mit eigenen Erfahrungen und Beobachtungen zu verknüpfen. Dabei wurde deutlich, daß der Großteil der Berichte über das Cridu-Chat-Syndrom von medizinischen Forschern stammt und somit die Schwerpunkte verständlicherweise hauptsächlich auf Gebieten wie physikalische Charakteristika und Befunden aus zytogenetischen und dermatologischen Studien liegen. Aspekte der allgemeinen Entwicklung und der psycho-sozialen Auswirkungen werden hingegen nur selten im Detail dokumentiert. Jedoch sind diese Aussagen für betroffene Eltern sehr wichtig, da die Ungewißheit, welche Auswirkungen diese Behinderung haben kann bzw. welche Entwicklung möglich ist, eine nicht zu unterschätzende Belastung darstellt. Andererseits sind es hauptsächlich medizinische Fakten, welche die Eltern in der Regel als erstes erfahren. Gewiß kann diese Arbeit nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verbunden werden, doch habe ich versucht, mit Hilfe der existierenden Literatur, eigener Erfahrungen und Beobachtungen und anhand der Auswertung der Untersuchung von Frau Dr. Carlin eine möglichst umfassende Beschreibung der verschiedenen Aspekte des Cri-du-Chat-Syndroms zu geben. Zunächst war es mir wichtig, im Kapitel 3 den/die Lerser/in mit den medizinischen (genetischen) Grundlagen vertraut zu machen. Auch wenn dieser Abschnitt nur schwer zu durchdringen scheint, so hoffe ich, daß die Arbeit an dieser Stelle trotz des vielfältigen medizinischen Vokabulars verständlich geblieben ist. Die einzelnen Ausführungen haben gezeigt, daß es sich beim Cri-duChat-Syndrom um eine charakteristische Kombination von körperlicher und geistiger Behinderung handelt, deren primäre Ursache in dem Verlust von genetischem Material am kurzen Arm des Chromosoms Nr. 5 liegt. Welcher Art und in welchem Umfang dieser Verlust sein kann, welche Ursachen dafür zugrunde liegen, wurde in den Abschnitten 3. 2 und 3. 3 sowie 3. 6 erläutert. Wir konnten feststellen, daß einerseits Personen mit 5p-Deletionen ein großes Maß an phänotypischer Heterogenität aufweisen - viele Merkmale treten in variierender Häufigkeit auf, andererseits lassen sich eine Reihe klinischer Symptome beschreiben, die als syndromtypisch angesehen werden können. Zytogenetische Forschungen haben es inzwischen ermöglicht, nicht nur die für das Cri-du-ChatSyndrom kritischen Regionen 5p15.2 und 5p15.3 zu lokalisieren, sondern darüberhinaus eine ungefähre Lokalisation von Bruchstellen mit den damit verbundenen Phänotypen vorzunehmen. Hingegen konnte eine Korrelation zwischen Ausmaß des Chromosomenschadens und der Schwere der Entwicklungsverzögerung nicht festgestellt werden. Das bedeutet, daß trotz fortgeschrittener zytogenetischer Untersuchungsmöglichkeiten weder mit einem del(5)-Karyotyp notwendigerweise die Diagnose "Cri-du-Chat-Syndrom" verbunden ist, noch von einer konkreten Deletion ein konkreter Phänotyp abgeleitet werden kann. Damit bleiben trotz genauer medizinischer Beschreibung Aussagen über das konkrete Entwicklungspotential dieser Kinder offen. Spätestens hier wird deutlich, daß die medizinische Auseinandersetzung mit diesem Thema allein nicht ausreichend sein kann, sondern eine genauere Betrachtung von Entwicklungsmöglichkeiten und psycho-sozialen Auswirkungen notwendig ist. So wurde im Kapitel 4 versucht, diese Aspekte näher zu beleuchten. Da es allerdings kaum Literatur gibt, die diesbezüglich ins Detail geht, beziehen sich meine Ausführungen in erster Linie auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen. Als hilfreich erwiesen sich in diesem Kapitel zwei weitere Fallbeschreibungen und die Mitarbeit an der Untersuchung von Frau Dr. Carlin. Somit wurde es möglich, detaillierte Informationen über physische, soziale und kognitive Fähigkeiten sowie Verhaltensmuster zu präsentieren. Dabei war es das Ziel, die unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten unter der Bedingung des Cri-du-Chat-Syndroms zu erläutern und das Wissen um die generellen Verhaltenscharakteristika zu erweitern. Das Cri-du-Chat-Syndrom 60 Die hier angeführten Ergebnisse zeigen einerseits die Heterogenität des Syndroms, andererseits die verschiedenen Auswirkungen. Somit wird verständlich, wie wichtig es ist, Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren in der Entwicklung der Kinder zu erkennen und zu verstehen. Betrachten wir die Situation der Kinder mit Cri-du-Chat-Syndrom, so ist festzustellen, daß eine Reihe von übereinstimmenden Merkmalen und Entwicklungsmustern gibt. Andererseits können das jeweilige Ausmaß und die individuelle Entwicklung sehr unterschiedlich sein. Damit wird die Anregung von Jantzen (1990) berechtigt, wie künftig über spezifische Syndrome neu nachzudenken ist, "um sie auch in biologischer Hinsicht historisch zu entschlüsseln, sie nicht statisch zu betrachten, sondern als Prozeß der Selbstorganisation zu rekonstruieren." (Jantzen, 1990, S. 151) In meiner Arbeit habe ich versucht zu zeigen, daß die verschiedenen psycho-sozialen Asuwirkungen und Entwicklungsmerkmale sowie Verhaltensmuster nicht allein auf die primäre Störung zurückzuführen sind, d.h. daß sich die Behinderung beim Cri-du-Chat-Syndrom nicht allein auf einen genetischen Defekt reduzieren läßt. Vielmehr handelt es sich bzgl. der Verhaltensund Entwicklungsmuster häufig um sekundäre Erscheinungsformen, die im Sinne multivalenter Zusammenhänge von unterschiedlichsten Faktoren abhängen. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, daß die verzögerte Entwicklung von Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom keineswegs genetisch festgelegt geschweige denn konkret vorhersagbar ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß sich ÄrztInnen, beruflich Betroffene und Eltern des möglichen Entwicklungspotentials bewußt sind, so daß informierte Entscheidungen über ihre Betreuung und Förderung getroffen werden können. Allerdings sei der Hinweis erlaubt, daß (nach bisherigen Beobachtungen und Erfahrungen) alle Betroffenen auch im Alter aufgrund ihrer Behinderung auf eine Betreuung bzw. Unterstützung angewiesen sind. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Untersuchung von Frau Dr. Carlin zurückkommen. Mit Hilfe dieser Studie konnten wir eine Reihe von Fragen beantworten und aus den verschiedenen Ergebnissen entsprechende Schlußfolgerungen ableiten, die sich in den unterschiedlichen Abschnitten wiederfinden. Doch bleibt kritisch zu bemerken, daß auch diese Untersuchung in weiten Teilen auf einer Betrachtungsweise stehen bleibt, die sich in erster Linie an beobachtbaren Merkmalen orientiert. Es fehlen hingegen Fragen, die z.B. die verschiedenen Bereiche der Entwicklung, der Verhaltensauffälligkeiten, der genetischen Störung, der neurologischen Probleme etc. auf eventuelle Zusammenhänge hin untersuchen. Dies gelingt in der Untersuchung nur ansatzweise, wobei natürlich die Schwierigkeit einer empirischen Erhebung diesbezüglich nicht von der Hand zu weisen ist. Daran wird deutlich, daß in diesem Zusammenhang weitere Forschungsarbeiten notwendig sind. Eine große Herausforderung stellt das Cri-du-Chat-Syndrom insbesondere für die Eltern dieser Kinder dar. Es wurde aufgezeigt, daß einerseits die medizinische Aufklärung und die genetische Beratung und Diagnostik einen Belastungsfaktor ausmachen können, da hier nicht nur Aufklärung über mögliche Entstehung des individuellen Falls geboten und Aussagen zum Wiederholungsrisiko ermöglicht werden können, sondern zudem auch viele andere Bereiche einbezogen werden, z.B. Familienplanung, Situationsverarbeitung, Schuldzuweisung, etc.. Andererseits spielen natürlich jene Besonderheiten eine Rolle, die unmittelbar mit der Behinderung zusammenhängen und den Alltag mit einem solchen Kind bestimmen. In diesem Zusammenhang möchte ich im Hinblick darauf, daß der/die Leser/in eventuell die Erwartung hatte, eine allgemeingültige Beschreibung der Alltagssituation bzw. des alltäglichen Umgangs mit dem Cri-du-Chat-Kind vorzufinden, betonen, daß es meines Erachtens den Alltag mit einem solchen Kind nicht gibt, da dieser, wie bei nichtbehinderten Kindern auch, individuell sehr unterschiedlich sein kann. Zudem kann davon ausgegangen werden, daß für viele Eltern dieser Kinder die besondere Situation zur Normalität wird, um nicht in permanenter Extremsituation leben zu müssen. Das heißt nicht, daß damit auch die Belastungen an sich geringer werden. Die in den Kapiteln 3 und 4 beschriebenen Erkenntnisse erfordern Handlungsansätze. Deshalb war es mir wichtig, auf den Umgang mit Kindern mit Cri-du-Chat-Syndrom einzugehen und verschiedene Förder- und Hilfsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Auseinandersetzung mit der Thematik hat gezeigt, daß es in diesem Bezug eine Reihe von Lücken gibt. Das Kapitel 5 stellt einen Versuch dar, aufgrund verschiedener Berichte und Untersuchungen und anhand eigener Beobachtungen und Überlegungen unterschiedliche Möglichkeiten zu beschreiben. Die psychomotorische und sprachliche Förderung scheint mir dabei am wichtigsten zu sein. Außerdem wurden verschiedene Das Cri-du-Chat-Syndrom 61 Therapieangebote genannt, die beim Cri-du-Chat-Syndrom angewendet werden/wurden. Allerdings sollte auch hier Beachtung finden, daß das Cri-du-Chat-Syndrom eine Behinderungsform ist, die durch multivalente Zusammenhänge unterschiedlicher Kennzeichen geprägt ist. Somit muß auch in der therapeutischen Arbeit diese Behinderung bzw. der behinderte Mensch in der Gesamtheit gesehen werden. Es muß das Ziel von Therapie sein, die/den Betroffene/n in ihrer/seiner Entwicklung zu unterstützen, ihr/ihm zu helfen, konkrete behindernde Konditionen zu überwinden und ihr/sein mögliches Potential an Fähigkeiten zu erreichen. Dies gilt ebenso für die Verhaltensmodifikation und die Förderung im Erwachsenenalter. Ich hoffe, daß durch diese Arbeit für die Praxis wichtige Informationen vermittelt werden konnten und sie als Anregung für die weitere Auseinandersetzung mit derartig spezifischen Syndromen dienen kann. Auch wenn viele Fragen vielleicht offen geblieben sind, so wünsche ich mir doch, daß diese Arbeit viele LeserInnen anregen kann, über ihre Sichtweise und ihr Verständnis neu nachzudenken. Das Cri-du-Chat-Syndrom 62 LITERATURVERZEICHNIS ALTROGGE, H.C., HIRTH, L. & GOEDDE, H.W.: Defizienz der kurzen Arme der Chromosomen der B-Gruppe (4p-;5p-). Zeitschrift für Kinderheilkunde, 110(3), 1971, 218-247 ALY, M., ALY, G. & TUMLER, M.: Kopfkorrektur. Rotbuch, 1991, 67-71 BACCICHETTI, C.: Del (5p) without "cri du chat" phenotype. Human Genetics, 60, 1982, 389 BACCICHETTI, C., LENZINI, E., ARTIFONI, L., CAUFIN, D. & MARANGONI, P.: Terminal deletion of the short arm of chromosome 5. 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III 5.00 10.00 15.00 20.00 25.00 30.00 Altersverteilung Mädchen Altersverteilung Mütter 8 7 6 5 4 3 2 1 0 0.00 Abb. IV 10.00 20.00 Altersverteilung Mütter 30.00 40.00 50.00 Das Cri-du-Chat-Syndrom 70 Altersverteilung Väter 5 4 3 2 1 0 0.00 Abb. V 10.00 20.00 30.00 40.00 50.00 Altersverteilung Väter Geburtsgewicht/Dauer der Schwangerschaft 5000.00 4000.00 3000.00 2000.00 1000.00 34.00 Abb. VI 36.00 38.00 Geburtsgewicht/Dauer der Schwangerschaft 40.00 42.00 Das Cri-du-Chat-Syndrom 71 Kopfumfang/Dauer der Schwangerschaft 45.00 40.00 35.00 30.00 25.00 34.00 Abb. VII 36.00 38.00 40.00 42.00 4000.00 5000.00 Kopfumfang/Dauer der Schwangerschaft Körperlänge/Geburtsgewicht 55.00 50.00 45.00 40.00 35.00 1000.00 Abb. VIII 2000.00 Körperlänge/Geburtsgewicht 3000.00 Das Cri-du-Chat-Syndrom 72 Bei der Geburt erkannte Anzeichen Andere Keine Mekonium (Kindspech) Verfärbung Hautfalten oder Hautsenkungen Hypotonie (zu niedrige Muskelspannung) Tief sitzende Ohren Vierfingerfurche Weite runde Augen Kleines Kinn Ausladende Liedfalten Mikrozephalie [kleiner Kopf] Katzenähnlicher Schrei Abb. IX Bei der Geburt erkannte Anzeichen Andere Angeborene Anomalien Andere Keine Scoliosis (Wirbelsäulenverkrümmung) Andere orthopädische Probleme Klumpfuß (Probleme mit) Niere/Blase Tumore [wo] Gehörlos Probleme / Fehlfunktionen des Magen-Darmtraktes Herzfehler Schielen (Strabismus) Herzgeräusche Luftröhren/Speiseröhrenfisteln Gaumenspalte Abb. X Andere angeborene Anomalien Das Cri-du-Chat-Syndrom 73 Sekundäre Funktionsstörungen Andere Keine Ständiger Durchfall Chronische Verstopfung Anfälle (epileptische) Allergien Geschwüre / Ekzeme Asthma Rückfluß / Aufstoßen Schwacher Saugreflex / Fütterungsschwierigkeiten Abb. XI Sekundäre Funktionsstörungen Infektionen Andere Keine Haut (Zellulitis) Bronchiolitis / Bronchitis der Nieren / der Blase der Gelenke Magenschleimhautentzündung Lungenentzündung Krupp des Rachens / der Mandeln der Nebenöhle / Mastoiditis (Warzenfortsatzentzündung) der Ohren Abb. XII Infektionen Das Cri-du-Chat-Syndrom 74 Meilensteine, pessimistisch 1.00 Rollen (84%) 0.90 0.80 Alleine sitzen (89%) 0.70 0.60 0.50 Krabbeln (76%) 0.40 0.30 0.20 Gehen an der Hand (74%) 0.10 0.00 0 5 10 15 20 Lebensalter Abb. XIII Freies Gehen (58%) Meilensteine: Rollen, Alleine sitzen, Krabbeln, Gehen an der Hand, Freies Gehen Meilensteine, hochgerechnet 1.00 Rollen (84%) 0.90 0.80 Alleine sitzen (89%) 0.70 0.60 0.50 Krabbeln (76%) 0.40 0.30 0.20 Gehen an der Hand (74%) 0.10 0.00 0 5 10 Lebensalter Abb. XIV 15 20 Freies Gehen (58%) Meilensteine (hochgerechnet): Rollen, Alleine sitzen, Krabbeln, Gehen an der Hand, Freies Gehen Das Cri-du-Chat-Syndrom 75 Meilensteine, pessimistisch 1.00 Ißt mit der Hand (66%) 0.90 0.80 0.70 Ißt mit Löffel / Gabel (58%) 0.60 0.50 0.40 0.30 Trinkt aus der Tasse (74%) 0.20 0.10 0.00 0 5 10 15 20 Lebensalter Abb. XV Trinkt mit dem Strohhalm (58%) Meilensteine: Ißt mit der Hand, Ißt mit Löffel/Gabel, Trinkt aus der Tasse, Trinkt mit dem Strohhalm Meilensteine, hochgerechnet 1.00 Ißt mit der Hand (66%) 0.90 0.80 0.70 Ißt mit Löffel / Gabel (58%) 0.60 0.50 0.40 0.30 Trinkt aus der Tasse (74%) 0.20 0.10 0.00 0 5 10 Lebensalter Abb. XVI 15 20 Trinkt mit dem Strohhalm (58%) Meilensteine (hochgerechnet): Ißt mit der Hand, Ißt mit Löffel/Gabel, Trinkt aus der Tasse, Trinkt mit dem Strohhalm Das Cri-du-Chat-Syndrom 76 Meilensteine, pessimistisch 1.00 Toilettentraining (Urin tagsüber) (39%) 0.90 0.80 0.70 Toilettentraining (Stuhl tagsüber) (32%) 0.60 0.50 0.40 0.30 Nachts trocken (13%) 0.20 0.10 0.00 0 5 10 15 20 Lebensalter Abb. XVII Zieht sich überwiegend selbst an (13%) Meilensteine: Toilettentraining (Urin tagsüber), Toilettentraining (Stuhl tagsüber), Nachts trocken, Zieht sich überwiegend selbst an Meilensteine, hochgerechnet 1.00 Toilettentraining (Urin tagsüber) (39%) 0.90 0.80 0.70 Toilettentraining (Stuhl tagsüber) (32%) 0.60 0.50 0.40 0.30 Nachts trocken (13%) 0.20 0.10 0.00 0 5 10 Lebensalter Abb. XVIII 15 20 Zieht sich überwiegend selbst an (13%) Meilensteine (hochgerechnet): Toilettentraining (Urin tagsüber), Toilettentraining (Stuhl tagsüber), Nachts trocken, Zieht sich überwiegend selbst an Das Cri-du-Chat-Syndrom 77 Meilensteine, pessimistisch 1.00 Lächelt (92%) 0.90 0.80 Lacht (95%) 0.70 0.60 Lernt/benutzt ein erstes Zeichen (53%) 0.50 0.40 0.30 Nutzt mehrere Zeichen (37%) 0.20 0.10 Zeigt auf Körperteile (68%) 0.00 0 5 10 15 20 Lebensalter Abb. XIX Zeigt auf Bilder (63%) Meilensteine: Lächelt, Lacht, Lernt/benutzt ein erstes Zeichen, Nutzt mehrere Zeichen, Zeigt auf Körperteile, Zeigt auf Bilder Meilensteine, hochgerechnet 1.00 Lächelt (92%) 0.90 0.80 Lacht (95%) 0.70 0.60 Lernt/benutzt ein erstes Zeichen (53%) 0.50 0.40 0.30 Nutzt mehrere Zeichen (37%) 0.20 0.10 Zeigt auf Körperteile (68%) 0.00 0 5 10 Lebensalter Abb. XX 15 20 Zeigt auf Bilder (63%) Meilensteine (hochgerechnet): Lächelt, Lacht, Lernt/benutzt ein erstes Zeichen, Nutzt mehrere Zeichen, Zeigt auf Körperteile, Zeigt auf Bilder Das Cri-du-Chat-Syndrom 78 Meilensteine, pessimistisch 1.00 Befolgt Anweisungen (68%) 0.90 0.80 0.70 Zeigt Wünsche [durch Gesten] (68%) 0.60 0.50 0.40 0.30 Zeigt Wünsche [durch Zeichen] (58%) 0.20 0.10 0.00 0 5 10 15 20 Lebensalter Abb. XXI Zeigt Wünsche [durch Worte] (32%) Meilensteine: Befolgt Anweisungen, Zeigt Wünsche (durch Gesten), Zeigt Wünsche (durch Zeichen), Zeigt Wünsche (durch Worte) Meilensteine, hochgerechnet 1.00 Befolgt Anweisungen (68%) 0.90 0.80 0.70 Zeigt Wünsche [durch Gesten] (68%) 0.60 0.50 0.40 0.30 Zeigt Wünsche [durch Zeichen] (58%) 0.20 0.10 0.00 0 5 10 Lebensalter Abb. XXII 15 20 Zeigt Wünsche [durch Worte] (32%) Meilensteine (hochgerechnet): Befolgt Anweisungen, Zeigt Wünsche (durch Gesten), Zeigt Wünsche (durch Zeichen), Zeigt Wünsche (durch Worte) Das Cri-du-Chat-Syndrom 79 Meilensteine, pessimistisch 1.00 erstes Wort (61%) 0.90 0.80 spricht mehrere Worte (32%) 0.70 0.60 0.50 Benutzt (einfache) Sätze (11%) 0.40 0.30 0.20 Benutzt Heft oder Tafel zur Kommunikation (11%) 0.10 0.00 0 5 10 15 20 Lebensalter Abb. XXIII Benutzt den Computer (3%) Meilensteine: Erstes Wort, Spricht mehrere Worte, Benutzt (einfache) Sätze, Benutzt Heft oder Tafel zur Kommunikation, Benutzt den Computer Meilensteine, hochgerechnet 1.00 erstes Wort (61%) 0.90 0.80 spricht mehrere Worte (32%) 0.70 0.60 0.50 Benutzt (einfache) Sätze (11%) 0.40 0.30 0.20 Benutzt Heft oder Tafel zur Kommunikation (11%) 0.10 0.00 0 5 10 Lebensalter Abb. XXIV 15 20 Benutzt den Computer (3%) Meilensteine (hochgerechnet): Erstes Wort, Spricht mehrere Worte, Benutzt (einfache) Sätze, Benutzt Heft oder Tafel zur Kommunikation, Benutzt den Computer Das Cri-du-Chat-Syndrom 80 Meilensteine, pessimistisch 1.00 Videospiele (0%) 0.90 Verfahren zur erleichterten Kommunikation (11%) 0.80 0.70 Singt Lieder (11%) 0.60 0.50 Rezitiert Worte aus der Erinnerung (16%) 0.40 Schreibt Buchstaben (0%) 0.30 0.20 Malt (Zeichnet) (bitte beschreiben wie und was) (21%) 0.10 0.00 Andere Meilensteine (45%) 0 5 10 15 20 Lebensalter Abb. XXV Andere Kommunikationsmeilensteine (32%) Meilensteine: Videospiele, Verfahren zur erleichterten Kommunikation, Singt Lieder, Rezitiert Worte aus der Erinnerung, Schreibt Buchstaben, Malt (Zeichnet), Andere Meilensteine, Andere Kommunikationsmeilensteine Meilensteine, hochgerechnet 1.00 Videospiele (0%) 0.90 Verfahren zur erleichterten Kommunikation (11%) 0.80 0.70 Singt Lieder (11%) 0.60 0.50 Rezitiert Worte aus der Erinnerung (16%) 0.40 Schreibt Buchstaben (0%) 0.30 0.20 Malt (Zeichnet) (bitte beschreiben wie und was) (21%) 0.10 0.00 Andere Meilensteine (45%) 0 5 10 Lebensalter Abb. XXVI 15 20 Andere Kommunikationsmeilensteine (32%) Meilensteine (hochgerechnet): Videospiele, Verfahren zur erleichterten Kommunikation, Singt Lieder, Rezitiert Worte aus der Erinnerung, Schreibt Buchstaben, Malt (Zeichnet), Andere Meilensteine, Andere Kommunikationsmeilensteine Das Cri-du-Chat-Syndrom 81 Förderung / Therapie Keine Andere Adaptive Spieltherapie Musiktherapie Sprachtherapie Beschäftigungstherapie (Ergotherapie) physikalische Therapien (z.B. Bobath, Voitha) Frühförderung Auftreten in % Abb. XXVII Aktuell in % Förderung/Therapie Hilfsmittel Andere Kommunikationsgerät Brillen Hörhilfen Rollstuhl Stützbänder oder Zahnklammern Gehhilfe AFO? / andere Orthosen? Schienen 0% Abb. XXVIII Hilfsmittel 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % Das Cri-du-Chat-Syndrom 82 Berufsvorbereitende Fähigkeiten Andere Berufsvorbereitende Fähigkeiten Kann sicher alleine gelassen werden Benutzt alleine die Toilette Benutzt alleine öffentliche Transportmittel Zählt Geld Erkennt Münzen Sagt die Zeit Erkennt Tageszeiten (z.B.. Zeit zum Mittagessen) Kann Gegenstände zusammenfügen / zusammengehörige Gegenstände auswählen Kennt Formen Kennt Farben Abb. XXIX Berufsvorbereitende Fähigkeiten Neurologische Probleme (alle Fragebogen) Andere Verminderte Beweglichkeit von Gelenken / Kontrakturen Schlechte Koordination, ungeschickte Bewegungen Ataxie (Koordinationsstörungen) Ruckartige Augenbewegungen Tremor (zittern, zucken) Anfälle Hemiparesis (einseitig stärker) Breitbeiniger, unsicherer Gang Beim Gehen einwärts gerichtete Zehen Schwierigkeiten beim Schlucken; Erstickungsanfälle Schwierigkeiten beim Kauen Achilessehnenverkürzung? Spastischer / angespannter Muskeltonus (Hypertonie) Schwächeerscheinungen Schwacher Muskeltonus (Hypotonie) Abb. XXX Neurologische Probleme (alle Fragebogen) Das Cri-du-Chat-Syndrom 83 Neurologische Probleme (nur 23 auswertbare) Andere Verminderte Beweglichkeit von Gelenken / Kontrakturen Schlechte Koordination, ungeschickte Bewegungen Ataxie (Koordinationsstörungen) Ruckartige Augenbewegungen Tremor (zittern, zucken) Anfälle Hemiparesis (einseitig stärker) Breitbeiniger, unsicherer Gang Beim Gehen einwärts gerichtete Zehen Schwierigkeiten beim Schlucken; Erstickungsanfälle Schwierigkeiten beim Kauen Achilessehnenverkürzung? Spastischer / angespannter Muskeltonus (Hypertonie) Schwächeerscheinungen Schwacher Muskeltonus (Hypotonie) angekreuzt Abb. XXXI davon aktuell Neurologische Probleme (nur 23 auswertbare) Verhaltensauffälligkeiten (alle Fragebogen) Störende oder ständig wiederholte Verhaltensweise. Autismusähnliche Verhaltensweisen wiederholt Geräusche, Wörter, Sätze; (Echolalie) Wiederholt Verhaltensweisen ständig (perseveration) Ständig trotzig / gehorcht nicht Knirscht mit den Zähnen Kann nicht alleine bleiben Aggressiv gegen andere Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu Andere Wutanfälle (bitte beschreiben) Werfen / zerbrechen von Gegenständen Schreikrampfe (-anfälle) Geringe Frustrationstoleranz Hyperaktiv Schlechter Augenkontakt Kurze Aufmerksamkeitsspanne Andere Selbst-Stimulationen Beißt andere Beißt sich selbst Finger / Hand Nuckeln Bouncing" : “gegen etwas schlagen” Herumwirbeln Schlagen (mit Flügel), flattern, lose herunterhängen Haut zwicken / knibbeln Schaukeln Kopfschlagen Abb. XXXII Verhaltensauffälligkeiten (alle Fragebogen) Das Cri-du-Chat-Syndrom 84 Neurologische Probleme (alle Fragebogen) 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Abb. XXXIII 5 10 15 20 25 30 35 40 30 35 40 Neurologische Probleme (alle Fragebogen) Neurologische Probleme (nach Alter sortiert) 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Abb. XXXIV 5 10 15 20 25 Neurologische Probleme (nach Alter sortiert) Das Cri-du-Chat-Syndrom Legende zu Streuplot "Neurologische Probleme" Abb. XXXIII und Abb. XXXIV: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Schwacher Muskeltonus (Hypotonie) Schwächeerscheinungen Spastischer / angespannter Muskeltonus (Hypertonie) Achilessehnenverkürzung? Schwierigkeiten beim Kauen Schwierigkeiten beim Schlucken; Erstickungsanfälle Beim Gehen einwärts gerichtete Zehen Breitbeiniger, unsicherer Gang Hemiparesis (einseitig stärker) Anfälle Tremor (zittern, zucken) Ruckartige Augenbewegungen Ataxie (Koordinationsstörungen) Schlechte Koordination, ungeschickte Bewegungen Verminderte Beweglichkeit von Gelenken / Kontrakturen Andere 85 Das Cri-du-Chat-Syndrom 86 Verhaltensauffälligkeiten (alle Fragebogen) Störende oder ständig wiederholte Verhaltensweise. Autismusähnliche Verhaltensweisen wiederholt Geräusche, Wörter, Sätze; (Echolalie) Wiederholt Verhaltensweisen ständig (perseveration) Ständig trotzig / gehorcht nicht Knirscht mit den Zähnen Kann nicht alleine bleiben Aggressiv gegen andere Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu Andere Wutanfälle (bitte beschreiben) Werfen / zerbrechen von Gegenständen Schreikrampfe (-anfälle) Geringe Frustrationstoleranz Hyperaktiv Schlechter Augenkontakt Kurze Aufmerksamkeitsspanne Andere Selbst-Stimulationen Beißt andere Beißt sich selbst Finger / Hand Nuckeln Bouncing" : “gegen etwas schlagen” Herumwirbeln Schlagen (mit Flügel), flattern, lose herunterhängen Haut zwicken / knibbeln Schaukeln Kopfschlagen Abb. XXXV Verhaltensauffälligkeiten (alle Fragebogen) Legende Streuplot "Verhaltensauffälligkeiten" Abb. XXXVI und Abb.: XXXVII 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 Kopfschlagen Schaukeln Haut zwicken / knibbeln Schlagen (mit Flügel), flattern, lose herunterhängen Herumwirbeln Bouncing" : “gegen etwas schlagen” Finger / Hand Nuckeln Beißt sich selbst Beißt andere Andere Selbst-Stimulationen Kurze Aufmerksamkeitsspanne Schlechter Augenkontakt Hyperaktiv Geringe Frustrationstoleranz Schreikrampfe (-anfälle) Werfen / zerbrechen von Gegenständen Andere Wutanfälle (bitte beschreiben) Unter anderen Menschen ängstlich oder scheu Aggressiv gegen andere Kann nicht alleine bleiben Knirscht mit den Zähnen Ständig trotzig / gehorcht nicht Wiederholt Verhaltensweisen ständig (perseveration) wiederholt Geräusche, Wörter, Sätze; (Echolalie) Autismusähnliche Verhaltensweisen Störende oder ständig wiederholte Verhaltensweise. Das Cri-du-Chat-Syndrom 87 Verhaltensauffälligkeiten (nach Alter sortiert) 27 26 25 24 23 22 21 20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 5 Abb. XXXVI 10 15 20 25 30 35 40 Verhaltensauffälligkeiten (nach Alter sortiert) Häufigkeit (nach Alter) 20.00 15.00 10.00 5.00 0.00 0.00 5.00 10.00 15.00 Neurological Problems Abb. XXXVII 20.00 25.00 30.00 35.00 Behavioural Problems Häufigkeit von neurologischen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten (nach Alter) Das Cri-du-Chat-Syndrom A2 88 ERGÄNZUNG ZUR FALLSTUDIE 2 (14JÄHRIGES MÄDCHEN MIT CRI-DUCHAT-SYNDROM): Entwicklungsgeschichte: "M.´s frühe physische und sensorische Entwicklung wurde ständig gefördert durch variantenreiches Spiel und physische Aktivitäten. Sie bekam reichlich Gelegenheit, neue Geschmäcker, Geräusche und Materialien zu erforschen und mit leuchtenden, stimulierenden Spielzeugen zu spielen. An formellen Sitzungen unter Beschäftigungs- und Physiotherapie wurden regelmäßig teilgenommen, und diese Aktivitäten wurden in ihren täglichen Zeitplan integriert. Als sie älter wurde, kamen Schwimm-, Schlittschuhlauf- und Trampolinunterricht hinzu, um ihre grobmototrische Koordination und Balance zu verbessern. Während physische und perzeptual-motorische Entwicklungsprogramme relativ früh begonnen wurden, wurden Sprachtherapie und Sprachentwicklungsprogramme nicht vor dem 3_. bis 4. Lebensjahr aufgenommen. Trotz früher Bitten um Anleitung und Information über entsprechende Unterstützungsmaßnahmen wurde erst, nachdem M.´s Mutter zufällig über die Gerätschaften und Dienstleistungen, die durch einen speziellen Spielverleih zur Verfügung standen, gelesen hatte, professionelle Unterstützung geleistet. Dieser Kontakt führte zu M.´s Aufnahme an einem Spezialzentrum, das einer Universität angegliedert war. Hier wurde besonderer Wert auf die sprachliche Entwicklung gelegt und M.´s Mutter wurde angeleitet, M.´s Sprechfähigkeit zu stimulieren und zu erweitern. Vorgeschriebene Übungen wurden täglich durchgeführt, unter ständiger Ermunterung durch die Erwachsenen, die an ihrer Betreuung beteiligt waren, ein Verfahren, das in täglichen verbalen Interaktionen zur Gewohnheit geworden ist. Lieder, Geschichten, Bildkarten und Sprachspiele mit übertriebener Gesichtsmimik und unter Festhalten ihres Gesichtes zur Aufmerksamkeits- und Augenkontaktgewinnung waren einige der Methoden, die seit der Kleinkindzeit angewandt wurden, um die Sprachentwicklung, die als ernstes Problemfeld dieser Erkrankung bekannt ist, zu fördern. Ständige Konversation, Fragen, Wiederholungen und Bestehen auf Antworten trotz ihrer häufigen Proteste "Ich kann (das) nicht..." resultierten in Versuchen, neue Worte und Ausdrücke nachzuahmen und zu dem Begehr, ungewohnte Sprache zu verstehen. M. ist nun in der Lage, ihre Grundbedürfnisse den Erwachsenen ihrer Umgebung, besonders den mit ihrer Sprache vertrauten, mitzuteilen, und sie genießt erwachsene Konversation, an der sie ab und zu aktiv oder durch ihre Mutter teilnimmt. In den Bereichen der Selbsthilfe und unabhängiger Lebensfähigkeiten und auch sozialer Fähigkeiten scheint Potential für eine zukünftige Entwicklung zu liegen. Obwohl Schwierigkeiten beim Kauen und Schlucken fortbestehen, sind die frühen Schlafschwierigkeiten jetzt unter guter medikamentöser Kontrolle. Die Berichte aus der Schule bestätigen, daß M. mehr und mehr unabhängig und verantwortungsbewußt wird, sich gut in ihre Gruppe einfügt, besser an Gruppenaktivitäten teilnimmt und gesteigerte Reife im Umgang mit neuen sozialen Situationen zeigt. M. brauchte stets feste Kontrolle und starke Ermutigung. Während sich dies im Hinblick auf die meisten Aktivitäten nicht geändert hat, ist sie generell mit- und zusammenarbeitsfreudiger als sie es in ihrer Kindheit war, besonders auf jenen Gebieten, in denen sie Zutrauen zu ihren Fähigkeiten und Geschicklichkeiten gewinnen konnte. Sie hilft oft im Haus bei solchen Aufgaben wie Geschierrabwaschen und -abtrocknen, Bettenmachen, Bodenfegen, mit einem Teppichroller arbeiten, den Tisch auf- und abdecken, Lebensmittel aus Kühlschrank und Schränken holen und Spielsachen aufräumen. M.´s generelles Verhalten bessert sich trotz unruhiger und schwieriger Perioden, in denen sie sehr viele Ansprüche stellt. Trotzdem ist sie oft fröhlich und co-operativ und zeigt einen herrlichen Sinn für Humor und Spaß. Seit der Kindheit ist M. ein extrem aktives Kind gewesen, durchsetzungsfähig, erfinderisch und an ihrer Umgebung interessiert. Sie ist sehr neugierig und stellt ständig Fragen. Es trifft sich unglücklich, daß die Diskrepanz zwischen ihrer aktiven und passiven Sprachfähigkeit ihre Entwicklung auf vielen Gebieten stark behindert hat, und es ist vorstellbar, daß Frustrationen, die hieraus resultieren, zum Teil für ihr schwieriges Verhalten verantwortlich sind."(Stykes, 1994) Das Cri-du-Chat-Syndrom A3 89 GEGENÜBERSTELLUNG DER ERGEBNISSE AUS DEN USA MIT DEN DATEN AUS DER BRD (Carlin, 1995/96) Frage nach: Ergebnisse aus der BRD (Frühjahr 1996) Ergebnisse aus den USA (Carlin, August 1995) Allgemeine Angaben: Anzahl versandter Fragebögen 383,00 zurückgesandt/ausgewertet 38,00 105,00 Anzahl Jungen/Mädchen Jungen: 14, Mädchen: 24 31/74 Altersspanne Von 1.0 Jahren bis 31.1 Jahren 2 Monate bis 30 Jahre Altersverteilung (grob) 39% jünger als 6 Jahre, 13% älter 50% jünger als 6 Jahre, 28% älter als 15 Jahre als 15 Jahre Geschwister 82% haben mindestens ein Geschwister über 90% haben mindestens ein Geschwister. Darunter 2 Zwillingspaare mit jeweils nur einem betroffenen Zwilling. Keine der Familien hatte mehr als ein betroffenes Kind. Genetik: 33 (87%) haben terminale Deletionen. 19 (50%) keine genaueren Angaben. Von den 14 genauer spezifizierten terminalen Deletionen sind 7 5p14 bis 5p15.1. 2 Fälle von Mosaizismus; 2 Fälle von unbalancierten Translokationen (Chromosomen 8 bzw. 22 betroffen). Einmal terminale Deletion kombiniert mit Duplikation des oberen Teiles von 5p14. In je einem Fall führten balancierte Translokationen bei Vater bzw. Mutter zur Chromosomenanomalie 90% waren terminale Deletionen. Im Wesentlichen zwischen 5p15 und 5p14. 14% hatten als Bruchstelle 5p13, zwei Fälle mit 5p12.5 Translokationen wurden berichtet, 3 abgeleitet von der mutter, 2 vom Vater. Wie in früheren Studien bereits vermerkt, existiert keine direkte Korrelation zwischen der Größe der Deletion und dem Schweregrad des klinischen Erscheinungsbildes. Schwangerschaftsverlauf und Geburt: Die Schwangerschaft verlief vielfah normal. (42% ganz ohne Probleme); 87% wurden zum Termin geboren (36.-41. Woche). 29% der Geburten wurden mit Kaiserschnitt durchgeführt. Die Schwangerschaft verlief überwiegend normal. 77% wurden zum Termin geboren (36.-41. Woche). 18% der Geburten wurden mit Kaiserschnitt durchgeführt (entspricht dem normalen Prozentsatz) Geburtsgewicht Mittel: 2727 Gramm (Standardabweichung: 686 Gramm) 6 lbs, 1 oz, 20% waren für das Schwangerschaftsalter zu klein. Länge bei Geburt Mittel: 48 cm (Standardabweichung: 4 cm) 19 inches, das ist proportional zum durchschnittlichen Gewicht Das Cri-du-Chat-Syndrom 90 Frage nach: Ergebnisse aus der BRD (Frühjahr 1996) Ergebnisse aus den USA (Carlin, August 1995) Kopfumfang bei Geburt Mittel: 32 cm (Standardabweichung: 2 cm) (wurde in 95% der Fälle beantwortet) etwa 30 cm (wurde nur in weniger als 50% beantwortet) Häufige medizinische Befunde: Charakteristischer, monochromatischer Schrei 92% >95% Microcephalie 82% >95% Ausladende Lidfalten, Kleines Kinn, Tiefsitzende Ohren, Vierfingerfurche 76% >60% Verzögertes Größenwachstum/kleine Statur >80% Strabismus 29% 30% Herzfehler 16% 20% Gaumenspalte 13% 15% Gehörlos 3% 10% Scoliosis 26% 10% Verschiedene orthopädische Deformitäten 29% 10% Leistenbrüche 26% 10% Schwacher Saugreflex/Fütterungsprobl eme 87% >95% Häufige Infektionen 79% >95% Verstopfung 58% 84% Rückfluß/Aufstoßen 45% 50% Lungenentzündung 21% 28% Nebenhöhlenentzündung 8% 28% (epileptische) Anfälle 3% 20% Rachen- und Mandelentzündungen 18% 20% Damit zusammenhängende oder sekundäre Funktionsstörungen: Behandlungen/chirurgische 58% Eingriffe: (mindestens eine Operation, einige Kinder sind mehrfach operiert worden) 70% Belüftungsröhrchen in den Ohren 35% 5% Das Cri-du-Chat-Syndrom 91 Frage nach: Ergebnisse aus der BRD (Frühjahr 1996) Künstliche Ernährung Es wird nur ein Fall berichtet, da es aber auch keine direkte Frage nach künstlicher Ernährung gibt, ist die Liste sicher nicht vollständig. 20% Mandelentfernung/ Polypenentfernung 5% 20% Bruchoperationen und/oder Hodenoperationen 26% 10% Andere 24% lediglich 2 chirurgische Behandlungen von Strabismus, 3x Luftröhrenschnitt Trends in der Entwicklung: Ergebnisse aus den USA (Carlin, August 1995) (viele Familien gaben keine Altersangaben bei Erreichen eines Entwicklungsmeilensteines an, viele (vor allem jetzt noch junge) Kinder werden auch noch neue Fähigkeiten erreichen.) Gehen 58% aller Kinder können gehen. Berücksichtigt man die Altersverteilung, werden wohl fast alle laufen lernen. Erst mit etwa 4 Jahren kann etwa die Hälfte aller Kinder laufen. Die meisten Kinder lernen gehen, teilweise aber stark verspätet, besonders bei Hypotonie oder mit orthopädischen Deformationen unterhalb des Knies. Über 60% der über 18 Monate alten Kinder gehen. Toilettentraining Toilettentraining: Urin tags: 39% (68%), Stuhl tags: 32% (55%); Tag & Nacht: 13% (38%), die meisten erlernen das Toilettentraining tagsüber zwischen dem 5. und 10. Lebensjahr. Die Zahlen vor den Klammern sind bezogen auf alle Fragebögen, die Zahlen in Klammern sind eine Hochrechnung, die die Altersverteilung der abgegebenen Fragebögen berücksichtigt. Weniger als ein Drittel haben vollständige Toilettenfähigkeiten erreicht und das erst nach dem Laufenlernen. Alleine anziehen 13% können sich alleine anzieWeniger als 20% können sich ohne hen. Unter Berücksichtigung der Überwachung anziehen. Altersverteilung könnten letztlich etwa 20% bis 25% lernen, sich anzuziehen. Das Cri-du-Chat-Syndrom 92 Frage nach: Ergebnisse aus der BRD (Frühjahr 1996) Ergebnisse aus den USA (Carlin, August 1995) Verwendung von Zeichen 53% (62%) berichten die Benutzung von Zeichen. Etwa 45% (50%) aller Kinder lernen/benutzen ihr erstes Zeichen vor dem vollendeten 3. Lebensjahr. (hochgerechnete Werte in Klammern) 80% berichten die Benutzung von Zeichen, 75% davon lernten mindestens 1 Zeichen vor dem 3. Lebensjahr. Eine Frau nutzt regelmäßig 45 Zeichen und kennt mehr als 120! Verwendung von Worten 61% (75%) aller Kinder benutzen 15% nutzen 1-2 Worte, ein 26 mindestens ein Wort. 32% (48%) Jahre alter Mann "spricht viel und sprechen mehrere Worte. 11% kennt viele Worte". (30% unsicher) benutzen einfache Sätze. Die meisten, die überhaupt Worte benutzen, beginnen damit vor dem vollendeten 5. Lebensjahr. (hochgerechnete Werte in Klammern) Singen Nur 4 Kinder (11%) singen Lieder (kann man kaum hochrechnen) mehr als ein Drittel singen Lieder Fördermaßnahmen (allgemein): 84% (aktuell: 10%) haben Frühförderung erhalten, 100% (aktuell: 35%) irgendeine Form von Physikalischer Therapie, 75% (aktuell: 32%) Ergotherapie, 60% (aktuell: 27%) Sprachtherapie, 18% (aktuell: 3%) Musiktherapie, 14% (aktuell: 0%) adaptive Spieltherapie, 42% (aktuell: 8%) andere Therapien, darunter: Therapeutisches Reiten (8x), Schwimmen (5x), Kautherapie nach Castillo Morales (3x) Nur 69% berichten über Frühförderung. Bis auf "eine Handvoll" erhalten/erhielten aber alle eine Kombination von Gymnastik, Beschäftigungs- und Sprachtherapie; die meisten bleiben auch als Erwachsene in Therapie. Spieltherapie, Musiktherapie und Reittherapie werden immer stärker genutzt mit günstigen Ergebnissen. Berufsausbildung/ Berufsausübung Nur 4 Kinder unserer Fragebogenaktion sind über 18 Jahre alt. 3 davon arbeiten in einer Beschützenden Werkstatt oder Fördergruppe (alle für Entgelt). Alle haben aber beschränkte Fähigkeiten und benötigen Betreuung für Schwerstbehinderte. (evtl. eine Ausnahme) Obwohl zwei Drittel der über 18 Jahre alten irgendeine Art von Berufsbildendem Training bekommen haben, bleiben ihre Fähigkeiten meist beschränkt. Ihre Verhaltensauffälligkeiten stören die Leistungsfähigkeiten. Weniger als 5% erhalten eine Vergütung für ihre Arbeit. Benötigte Hilfsmittel 37% benötigen irgendwelche Hilfsmittel zur Fortbewegung (Schuheinlagen mitgerechnet, aber keine Buggies etc. für kleinere Kinder), wenigstens manchmal benötigen 16% einen Rollstuhl; 11% Brillen; keine Hörgeräte 60% benötigen irgendwelche angepaßten Hilfsmittel, um sich fortzubewegen; abgesehen davon berichten 90% über ungeschickten/breitbeinigen Gang. 20% tragen Brillen und/oder Hörgeräte. Das Cri-du-Chat-Syndrom Frage nach: 93 Ergebnisse aus der BRD (Frühjahr 1996) Neurologische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten: Probleme mit Kauen, Schlucken, Erstickungsanfälle Ergebnisse aus den USA (Carlin, August 1995) Vergrößern sich mit dem Alter 82% (davon 60% aktuell) 80% Selbststimulation und Autismusähnliche Verhaltensweisen wie Kopfschlagen, Beißen, ... 89% >90% Aggressives Verhalten, verminderte Frustrationstoleranz, Aufmerksamkeitsprobleme, Hyperaktivität 79% Vermehren sich mit dem Alter Medikation: Nur 4 nehmen Psychopharmaka, davon einer gegen epileptische Anfälle, 2x Mittel gegen Verstopfung, dazu "normale" Medikation wie Antibiotika bei Infektionen, 3x werden homöopathische Mittel eingesetzt, davon 2x gegen syndromtypische Beschwerden/Verhal- tensstörungen 55% brauchen keine Medikamente, 1 Versuch mit Ritalin wird berichtet (nicht hilfreich). Wenige haben Erfolg mit Clonidine, Buspar und Mellaril. 10% nutzen Beruhigungsmittel, überwiegend zur Verhaltenskontrolle Techniken zur Verhaltensbeeinflussung: Unsere Aussagen sind im Wesentlichen identisch. Von fast allen wird aber auch gesagt, daß Verhaltensbeeinflussung eher schwierig/langwierig ist. Die meisten Eltern berichten, daß Ablenkung, Unterbrechung, sofortige Belohnung und strenges Bestehen auf Regeln die erfolgreichsten Methoden zur Verhaltensbeeinflussung sind. Unterbringung: Die Frage ist auch bei uns häufig nicht beantwortet. Allerdings läßt sich aus dem Kontext des Fragebogens häufig erschließen, daß die Kinder zu Hause leben. Nur 4 Kinder leben nicht ständig zu Hause. Die Frage wurde nur von zwei Drittel der Antwortenden beantwortet. Bei denen, die geantwortet haben, leben 85% der Kinder auch als Erwachsene zu Hause. Das Cri-du-Chat-Syndrom A4 94 ADRESSEN FÜR ERSTKONTAKTE UND WEITERE INFORMATIONEN SELBSTHILFEGRUPPE CRI-DU-CHAT-SYNDROM Kurt-Schuhmacher-Alle 48 28327 Bremen Tel.: 0421/467 54 61 Ansprechpartnerin: Ute Meierdierks KINDERNETZWERK e.V. FÜR KRANKE UND BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN DER GESELLSCHAFT Hanauer Str. 15 63739 Aschaffenburg Tel.: 06021/ 120 30 Fax.: 06021/ 124 46 5P-SOCIETY 11609 Oakmont Overland Park, KS 66210 CRI DU CHAT SYNDROME SUPPORT GROUP 7 Penny Lane Barwell Leicestershire LE9 8HJ, United Kingdom CRI-DU-CHAT SOCIETY Department of Human Genetics Medical College of Virginia Box 33 MCV Station Richmond, VA 23298 Das Cri-du-Chat-Syndrom A5 95 WIEDERHOLUNGSRISIKO BEI BALANCIERTER TRANSLOKATION Folgende Abbildung zeigt eine balancierte Translokation zwischen den Chromosomen Nr. 5 und Nr. 19. Anhand dieses Beispiels sollen die verschiedenen Möglichkeiten der Vererbung bei einem/einer Träger/in einer unbalacierten Translokation verdeutlicht werden. 5 5 19 t[5 : 19] t[5:19] 19 5p- : 19q+ Abb. A5-1: Vererbungsschema einer balancierten Translokation A6 CHROMOSOMENSATZ VON DENNIS 5p+ : 19q- Der Karyotyp von Dennis zeigt eine unbalancierte Translokation zwischen dem Chromosom Nr. 5 und dem Chromosom Nr. 21. Dabei fehlt sowohl der terminale Teil des kurzen Arms vom Chromosom Nr. 5 als auch der terminale Teil des kurzen Arms vom Chromosom Nr. 21. Hingegen haben sich die anderen Teile der beiden Chromosomen an der entsprechenden Bruchstelle verbunden. So entstand die Translokation t(5;21). - Foto nicht in dieser Ausgabe - Das Cri-du-Chat-Syndrom A7 96 BESCHREIBUNG DER CHROMOSOMENDARSTELLUNG Beschreibung der Chromosomendarstellung 15.3 15.2 15.1 p 1 1 14 13 12 11 11.1 11.2 12 13 14 15 21 22 q 2 23 31 3 32 33 34 35 5 Die Schreibweise des Karyotyps ist dahingehend vereinheitlicht, daß zunächst die Chromosomenzahl angeführt und von dieser, durch ein Komma getrennt, die Geschlechtschromosomenkonstitution durch die Symbole X bzw. Y vermerkt wird. Bsp. (46,XX) oder (46,XY) Autosomen werden nur dann erwähnt, wenn Anomalien vorhanden sind. Bsp. (46,XY,5p-) Um die verschiedenen Anomalien bei Autosomen zu beschreiben, werden hauptsächlich folgende Abkürzungen verwendet: p = kurzer Arm (-) = fehlend q = langer Arm (+) = zuviel t = Translokation f = Fragment inv = Inversion r = Ring i = Isochromosom mar = Markierer ter = terminal (vom Ende) Bsp. für die Beschreibung bestimmter Chromosomen- segmente: (5p15.1) = 5 - Chromosom Nr. 5 p - kurzer Arm 15.1 - Abschnitt vgl. Abbildung (5q11.1) = Band 11.1 des langen Arms q vom Chromosom Nr. 5 (vgl. Abbildung) del (5) (pter-p15.1) = del (5) - Deletion am Chromosom Nr. 5 p ter - das Ende (terminal) des kurzen Arms p15.1 - Band 15.1 des kurzen Arms d.h. die Deletion umfaßt den Bereich vom Ende des kurzen Arms vom Chromosom Nr. 5 bis zum Band 15.1 des kurzen Arms, dieser Teil fehlt dann. Das Cri-du-Chat-Syndrom A8 97 GLOSSAR Abortation - Fehlgeburt, Abtreibung abortieren - abtreiben, abstoßen Amnionflüssigkeit - Fruchtwasser Amniozentese - transabdominale Punktion durch das Bauchfell in die Fruchtblase Anaphase - Teil der mitotischen Teilung, die Spalthälften der Chromosomen werden durch die Spindelfasern auseinandergezogen Asphyxie - Erstickungsgefahr, Scheintod Atrophie (optisch) - Schwinden der Sehkraft Autosomen - alle Chromosomen, die keine Geschlechtschromosomen sind Bifida uvula - abnorme Öffnung/Spalte im hinteren Rachenraum Blastomeren - erste Furchungszellen, die aus dem Produkt der Vereinigung von Ei- und Samenzellen entstehen Blastozyten - aus Blastomeren über der Furchung entwickelte Keimblasen, bei denen sich eine äußere Zellschicht von den übrigen Zellen absondert cerebral - das Gehirn betreffend Chorionzottenbiopsie - Gewebsentnahme durch Scheide und Muttermund oder transabdominal Chromatiden - die beiden identischen Hälften, in die sich jedes Chromosom vor der Reduktionsteilung längsspaltet Chromosomen - sichtbare Träger der Erbmasse, intensiv färbbare, fadenoder schleifenförmige Bestandteile des Zellkerns, auf den Chromosomen sind die Gene linear angeordnet Chromosomenaberrationen - Abweichungen von der normalen Chromosomenzahl oder Abweichungen in der Gestalt einzelner Chromosomen dermatologisch - die Haut betreffend Desoxyribo(se)nukleinsäure (DNA) - Zellkernbestandteil aller lebenden Organismen diploid - mit vollständigem Chromosomenpaar distal - von der Mitte weiter entfernt Dopamin - biochemische Vorstufe von Adrenalin Dysmorphie - Deformität, Fehlbildung, Mißbildung Epikanthus - angeborene sichelförmige Hautfalte am inneren Rand des oberen Augenlides Fraktur - (Knochen-)Bruch gastrointestinal - Magen und Darm betreffend Gen - Erbanlage der Keimzelle, funktionelle Einheit des Genoms Genom - einfacher Chromosomensatz der Keimzelle Das Cri-du-Chat-Syndrom 98 Genotypus - die Gesamtheit der Erbanlagen eines Organismus Gonosomen - Geschlechtschromosomen (X- und Y-Chromosomen) Granulozytendysfunktion - Dysfunktion der weißen Blutkörperchen haploid - mit nur einem (einfachen) Chromosomensatz Hirschsprungsche Krankheit - Dickdarmerweiterung homolog - übereinstimmend Hüftluxation - Verrenkung im Hüftgelenk, wobei der Kopf aus der Pfanne tritt hyperdiploid - Überschuß an Chromosom Hyperreflexie - Steigerung und Verbreiterung der Reflexe Hypertelorismus - vergrößerter Abstand der Augen hypodiploid - Fehlen von Chromosomen Hypoplasie - Unterentwicklung hypoplastisch - unterentwickelt Hypotonie - schwacher Muskeltonus Infertilität - Unfruchtbarkeit, Zeugungsunfähigkeit Inguinalhernie - Leistenbruch Insuffizienz - Unzulänglichkeit Integrität - Unversehrtheit Intonation - Anstimmung, Tonansatz, Tonstufe intrauterin - in der Gebärmutter, während der Schwangerschaft invasiv - ins umliegende Gewebe eindringend Karyotyp - Chromosomenbestand einer Zelle, eines Gewebes oder eines Individuums definiert durch Chromosomengröße, form und -zahl Klinodaktylie - Schiefstellung der Finger(glieder) Klumpfuß - Spitzfußstellung des Gesamtfußes kognitiv - das Erkennen betreffend kompatibel - vereinbar, zu einander passend Konstriktionen - Abbindungen kraniofacial - Kopf und Gesicht betreffend Kryptorchismus - Hodenhochstand Kyphoskoliose - Buckelbildung bei gleichzeitiger seitlicher Verkrümmung Laryngomalazie - Kehlkopferweichung lateral - aus-, seitwärts letal - tödlich Malrotation - Fehlbildung des Darms medial - mitten, in der Mitte Metaphase - Teil der mitotischen Teilung, die Chromosomen ordnen sich in der Äquatorialebene an Das Cri-du-Chat-Syndrom 99 Mikrognathia - abnorm kleiner Oberkiefer, angeborene Unterentwicklung Mikrozephalie - pathologische Verkleinerung von Umfang und Inhalt des Schädels im Vergleich zu den altersmäßigen Größenverhältnissen der übrigen Körperteile Morphogenese - Organentwicklung morphologisch - gestaltlich Mykoplasmen - sehr kleine, zellwandlose Organismen, welche den Bakterien zugerechnet werden Myopia - Kurzsichtigkeit nativ - erblich, angeboren Nystagmus - Augenzittern Oglio-Syndaktylie - mangelnde Ausbildung einzelner Fingerstrahlen Oozyten - Eizellen Ossifikation - Knochenbildung, Knochenentwicklung, Knochenwachstum perinatal - um die Zeit der Geburt herum Perzeption - Wahrnehmung, Reizaufnahme Phonation - Stimm- und Lautbildung Plattfuß - Fußfehlstellung, die Fußsohle ist leicht konvex gebogen Plazenta - Mutterkuchen Plazentaschranke - biologische Barriere zwischen mütterlichem und fetalem Blut postnatal - nach der Geburt Prädilektionsstelle - bevorzugte Stelle Präimplantationsstadium - vor der Plazentaentwicklung präjudizieren - eine Entscheidung vorwegnehmen pränatal - vor der Geburt Prolactin - Milchausscheidung anregendes Hormon propriozeptiv - Lage, Haltung des Körpers betreffend proximal - zur Mitte hin Rektusdiastase - Auseinanderweichen der geraden Bauchmuskeln Skoliose - seitliche Verbiegung der Wirbelsäule mit Drehung der einzelnen Wirbelkörper Spinalspalte - Wirbelkanal mit Rückenmark statomotorisch - Gleichgewichtsbewegung betreffend Strabismus (divergent) - Auswärtsschielen Strabismus (konvergent) - Einwärtsschielen supraorbital - über der Augenhöhle liegend Syndaktylie - Verwachsungen bzw. Nichttrennung von Zehen- oder Fingeranlagen taktil-kinästhetisch - Tastsinn und Bewegungsempfindung betreffend Das Cri-du-Chat-Syndrom 100 teratogen - Mißwuchs bewirkend toxisch - giftig Toxizität - Giftigkeit transabdominal - durch die Bauchdecken der Mutter transzervikal - durch den Gebärmutterhalskanal vestibulär - das Gleichgewicht betreffend Vokalisation - Formung der Vokale beim Singen Zentromer - Einschnürung am Chromosom, Ansatzstelle der Spindelfaser am Chromosom Zytogenetik - Erforschung des Zusammenspiels von Vererbung und Zellenbau Zygote - die befruchtete Eizelle, die einen diploiden Chromosomensatz enthält und aus der sich das Individuum der neuen Generation entwickelt