Leseprobe - Tectum Verlag

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Leseprobe - Tectum Verlag
Rolf Bergmeier
Karl der Große
Die Korrektur eines Mythos
Tectum
Rolf Bergmeier
Karl der Große.
Die Korrektur eines Mythos.
Tectum Verlag Marburg, 2016
ISBN 978-3-8288-3661-7
Lektorat: Volker Manz
Coverabbildungen: Denkmal Kaiser Karl der Große am Karlsbrunnen vor dem
Aachener Rathaus © Stihl024 – Fotolia.com; Fotografie des Autors © Evelin Frerk
Ergänzender Bildnachweis für den Innenteil: S. 144 – Fotografie von WikimediaUser »Kemmi. 1« (CC BY-SA 3.0), S. 192 – Fotografie von Wikimedia-User
»Lusitana« (CC BY-SA 3.0)
Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín
Alle Rechte vorbehalten
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
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im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Inhalt
Einleitung
1. Der Rahmen:
Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
Antike: Das Mäzenatenparadies
Jahrtausendwende. Das katholische Christentum
wird Staatskirche
Das verschwiegene Religionschaos im 4. Jahrhundert
Bischöfe – die neue Führungsschicht
Zusammenfassung
9
15
17
20
21
35
43
2. Karl im Konjunktiv
Mundus vult decipi – Die Welt will betrogen werden
Bildung, Wissenschaft und Gelehrte in der Karl-Literatur
Zusammenfassung:
Kritik als Ausweis der Wissenschaftlichkeit
49
53
58
3. Karl. Sein Hof und sein Wirken
Gelehrte Männer
Die »Hofakademie«
Gipfel der Gelehrsamkeit: Karl und Aristoteles
73
74
88
91
68
6
4. Das Schulwesen
Karl, Mäzen des klösterlichen Schulsystems
Vom Wesen der fränkischen Klosterschulen
Zusammenfassung: Klosterschulen sind
keine Volkshochschulen
97
100
104
5. Karl und die Bibliotheken
Die Klosterbibliotheken
Kataloge und Verzeichnisse mittelalterlicher
Klosterbibliotheken
Karls Hofbibliothek
Karolingische Buchkunst
Die Klosterbibliotheken im Schatten antiker
und arabischer Sammlungen
117
118
6. Karolingische Architektur
145
7. Karl und die Ökonomie
Grundlage: Das Capitulare de villis
Die fränkische Wirtschaftsverfassung
Karls feudales Gesellschaftsmodell
Die feudale Ordnung. Zusammenfassung
Der große Gewinner: Die Kirche
Fazit: Ein Hühner zählender Herrscher
mit einer Residenz in der Provinz
151
154
158
163
169
170
8. Ein Analphabet reformiert Sprache und Schrift
Latein – Kirchensprache, Herrschaftssprache,
Ausschlusssprache
185
111
121
130
135
137
178
186
7
Karl und die Reform der Schrift
9. Karls Walten, ein Entwurf für Europa?
Karl und die Errichtung eines christlichen Staates
Karls Handwerk ist der Krieg
Wie in aller Welt kann man Karl zum
»Vater Europas« machen?
189
193
197
203
205
10. Das lateinsprachige Mittelalter wartet
auf die »Wiedergeburt«
219
Epilog. Die Versuchung gefälliger
Geschichtsschreibung
231
Anlagen
Zwischenruf. Der Karlspreis
Anmerkungen
Bibliografie
Personen- und Sachregister
241
241
247
281
305
9
»So stellten sich mir die alten Zustände dar, allerdings schwierig für jedes Einzelne ohne Unterschied einen genügenden
Beweis zu bringen. Denn die Menschen nehmen die Überlieferungen von den früheren Ereignissen, selbst wenn sie der
eigenen Heimat angehören, ohne allen Unterschied ungeprüft
an. So leicht nehmen es die meisten mit der Erforschung der
Wahrheit. Sie greifen lieber nach dem, was auf der Hand vor
ihnen liegt«.
(Thukydides, Der Peloponnesische Krieg 1,20, um 400 v. u. Z.)
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Einleitung
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Sakrosankten Texten ist niemals zu trauen. Aber wer am Heiligen
rüttelt, hat es schwer. Eines dieser Heiligtümer ist die Lichtgestalt
Karl der Große, »Vater Europas«, ein Allerheiligstes. Eine kaum überschaubare Schar von Nachkriegshistorikern und Publizisten des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts sieht ihn über alle Zeit- und
Geografieräume hinweg als einsame Größe glänzen, als jemanden, der
dunkle Jahrhunderte in eine Periode kultureller Hochblüte verwandelt habe.1 Ein homo universale sei er gewesen, bildungsbewusst, unerbittlich als Heerführer, ein weitblickender Staatsmann, ein Landwirt,
der die Eier zählt und die Pflanzung der Obstbäume überwacht,2 leidenschaftlicher Jäger und Frauenheld, Analphabet und Wächter über
gutes Schreiben, Erfinder der deutschen Grammatik, Liebhaber von
Heldenliedern und der bildenden Kunst, erlesener Geist und Hort
der Gelehrsamkeit, Sänger und unermüdlicher Gesetzgeber, Haupt
eines Wanderzirkus und gestrenger Richter über die Rechtgläubigkeit
seiner Untertanen, Sachsenschlächter und imperator christianissimus.3
Kurzum, Karl habe »das angeblich so finstere Mittelalter hell« ge-
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
macht, meint der Bayerische Rundfunk, »sogar sehr hell«.4 Karl
der Große! Was für ein Kerl! Noch heute fallen die Honoratioren in Aachen vor dem »Leuchtturm Europas« und der »Zierde des Erdkreises« auf die Knie. Karl hat fünf Ehefrauen,5 ein
Dutzend Mätressen und droht Frauen die Peitsche an, wenn sie
nicht das Vaterunser beherrschen. Er kann nicht schreiben, lesen
wohl auch nicht, ist des Lateinischen nur mäßig mächtig und
soll dennoch der mittelalterliche Bildungspapst par excellence gewesen sein. Er führt vier Jahrzehnte Krieg mit seinen Nachbarn,
provoziert die muslimischen »Sarazenen« im Süden Europas,
rüstet mit mythischer Wucht gegen die Awaren im Osten, weil
diese eine unerträgliche Bosheit »gegenüber der heiligen Kirche
und dem populus christianus gezeigt« hätten,6 und wird dennoch
wegen »seiner Friedensordnung nach innen« gelobt.7 Karl marschiert in Sachsen und Bayern ein, vereint sie mit den Franken
unter christlicher Fahne, spart dabei nicht mit Deportationen
und Zwangstaufen, was der Historiker Heinrich Hoffmann als
ein »geschicktes« Unterfangen beschreibt, um Staat und Kirche
»zu verschmelzen«.8
Am Ende sind sich Historiker und Geschichtsfreunde weitgehend einig: Karl ist ein »Großer«. Der renommierte Mittelalterforscher Francois L. Ganshofer meint in Karl den »ersten
Baumeister Europas« erkennen zu können, während Leopold
von Ranke Karl zum »Vollstrecker der Weltgeschichte« hochwuchtet und Josef Fleckenstein, in Fragen globaler Bedeutung
nicht besonders pingelig, den Kaiser zum »Verwandler der Welt«
(1990) befördert. Der Bonner Mediävist Matthias Becker lässt
Karls Reich zur »Keimzelle des modernen Europas« (1999) aufwachsen, sein Tübinger Kollege Steffen Patzold assistiert, Karl
sei »ein epochaler Erneuerer von Wissen und Gelehrsamkeit«
gewesen (2014), und Lucas Wiegelmann beschäftigt sich mit
Karls »Riesen-Bildungshunger« (2014).
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Einleitung
So geht das Buch um Buch, Seite um Seite, und nach dem
Studium von gefühlt vierzig Karl-Biografien und rund dreißig
Seiten Internet-Anmerkungen zu Karl, von Kardinal Lehmann
bis zum Deutschlandfunk, gewinnt man den Eindruck, dass
Kontroversen in Wahrheit keine sind, die Bedeutung Karls und
seine Verdienste trotz Hinweisen auf die Schattenseiten seines
Lebens nicht infrage gestellt werden und er zu Recht im Jahr
2013 mit zwei weiteren Karl-Biografien gewürdigt wird.
Dort wird uns auf mehr als tausend Seiten Karl, sein Leben
und sein Wirken als gottesfürchtiger Mann nähergebracht. Die
Autoren sind Mediävisten, Leute vom Fach, und sie schlagen
eine scharfe Klinge für Karl und seine Zeit. »Ein einzigartiger
Wissenstransfer von der Antike ins frühe Mittelalter und der
Aufbau von Wissensspeichern in Form von Bibliotheken« kennzeichne die Epoche Karls, schreibt Stefan Weinfurther, eine
»bis dahin nicht da gewesene Bildungsoffensive« habe »weite Teile des christlichen Europas« erfasst. Weinfurther meint wohl
das katholische Europa, denn das christlich-orthodoxe Ostrom
rund um Byzanz, einschließlich der bis
ins 10. Jahrhundert unter byzantinischer
Der Begriff »Araber» oder »arabisches
Herrschaft stehenden Territorien SüdReich« verkürzt die ethnische Vielfalt
italien, Sizilien und Sardinien, wollen
der arabisch sprechenden Volksteile.
ebenso wenig von Karls Bildungsoffensive
Die wahren Araber sind nur eine kleine
beglückt werden wie der skandinavische
Gruppe von Stämmen, die den Islam
Norden und das islamische Spanien und
verbreiten. Die Ägypter, Syrer, LibanePortugal. Was die »Bildungsoffensive« auf
sen und Iraner betrachten sich nicht als
das Frankenreich und Nord- und MitteAraber, obwohl sie fast alle Arabisch als
litalien begrenzt und die Frage aufwirft,
ihre Sprache und den Islam als ihre Reliwie eigentlich die zeitgenössische Wahrgion ansehen. Korrekt müsste man also
nehmung jenseits fränkischer Grenzen, in
von Entwicklungen oder Gesellschaften
Byzanz und im arabischsprachigen Reich,
»im arabischen Sprachraum« sprechen.
gewesen ist. Die Antwort, das sei bereits
vorab verraten, fällt ernüchternd aus.
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Weinfurthers Frankfurter Kollege Johannes Fried zieht in
seiner 730 Seiten starken Karl-Biografie gleichfalls alle Register.
Unter dem Einfluss Karls habe sich sein Hof zu »einem einzigartigen Bildungszentrum, vorbildlich für alle kommenden Jahrhunderte«, entwickelt, zu einer »Zentrale der Wissensorganisation, wie es eine solche bis dahin nirgends gegeben hatte«. Karls
Bildungshunger habe »die einzigartige Schönheit der römischen
Dichtkunst gerettet«, und von Karl sei eine »Erneuerung der vernunftbetonten, intellektuellen Kultur des Abendlandes« ausgegangen sei, die »die Welt [!] in ihren Bann« geschlagen habe.9
Das sind große Worte, aber diese Glanzleistung Karls braucht
den Leser eigentlich nicht weiter zu beschäftigen, da Fried sich
in der Einleitung seines Buches als Visionär vorstellt: Das Buch
sei »eine Fiktion«, »subjektiv gefärbt«, eine »eigene Imagination«,
denn »eine objektive Darstellung des großen Karolingers« sei
»schlechterdings nicht möglich«.
Damit könnte man es eigentlich bewenden lassen: Fried
hat nach eigenem Bekunden einen üppigen, angenehm zu lesenden, an historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen entlanggleitenden, mit Visionen und Meinungen unterlegten Roman
geschrieben – wären da nicht die Rezensenten, die den Roman
gerade wegen seiner Nähe zur Wissenschaft loben. Fried, meint
der Beck-Verlag, habe »alle historischen Register« gezogen, habe
Quellen, Artefakten und Indizien nachgespürt, kurzum, »näher
könne man Karl dem Großen nicht mehr kommen« (Buchumschlag) – was in etwa das Gegenteil von Frieds Bekenntnis ist,
eine objektive Darstellung Karls sei nicht möglich.
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Einleitung
Darum also geht es in diesem Buch. Um die Auflösung von
Widersprüchen, die bei näherer Betrachtung durch ein Konglomerat aus Vertrauenswürdigem, unkritischen Wiederholungen
und frommer Weltanschauung entstanden sind. Es geht um eine
karolingische Epoche, deren kulturelle Leistungen an den von
der antiken Vorgängerkultur und den byzantinischen und islamisch-arabischen Parallelkulturen gesetzten Maßstäben beurteilt
werden muss, was aber regelmäßig nicht geschieht. Es geht um
Karl, genannt »der Große«, dessen Großartigkeit vor allem aus
Textquellen abgeleitet wird, die von Schreibkundigen im Dienst
der geistlichen und weltlichen Obrigkeit entworfen, kopiert,
verfremdet und gefälscht worden sind und dennoch, trotz aller
Bedenken, Historikern als grundlegende Basis für ihr Karl-Bild
dient. Es geht um ein Monument, über dessen Denkmal mittlerweile die Flagge Europas flattert, obwohl der Mann sein ganzes
Leben lang Kriege geführt hat. Und es geht auch um eine irritierend homogene Berichterstattung über eine Person, die nach
Auffassung der meisten Historiker wissenschaftlich gar nicht zu
fassen ist und folglich zu diskursiven Interpretationen einladen
müsste, aber selten, nach Augenschein der deutschen Nachkriegsliteratur nie aus einem von Wissenschaft, Politik, Presse
und katholischer Kirche getragenen Einheitsbild ausbricht.
Und so scheint es also nach einer Zeit der Panegyrik angebracht, den Geschichtenerzählern das Leben ein wenig schwerer
zu machen und den Epigonen das treue Nacherzählen zu verleiden. Dass dabei manche lieb gewonnene Einsicht auf der Strecke
bleibt, muss den Leser nicht verstören. Denn »dass die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber
ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben«, meint
Goethe, und die meisten Historiker werden wohl zustimmen –
zumindest soweit nicht eigene Positionen »umgeschrieben« werden müssen.
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»Wieviel Dispute hätten zu einer Randbemerkung zusammengefasst werden können, wenn die Disputanten gewagt
hätten, ihre Begriffe zu definieren«
(Aristoteles, 384-322 v. u. Z.).
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Plato und Aristoteles, Marmortafel von Lucca della Robbia,
1437–1439, Museo dell'Opera del Duomo
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1. Der Rahmen:
Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
Wer Karls Wirken und seine Bedeutung für Europa bewerten will,
wer ihn als »Vater der europäischen Kultur« auf einen hohen Sockel
stellt, muss den Kaiser und seine Politik an der antiken Vorgängerkultur und der islam-arabischen Parallelkultur messen. Muss Paris und
Aachen mit Rom, Byzanz und Toledo vergleichen, Bibliotheken und
ihre Bestände nach Art, Inhalt und Menge in Beziehung setzen, den
Schulbetrieb analysieren und den Wissenschaftsbetrieb untersuchen.
Nur der Vergleich lässt eine Bewertung Karls zu. Beginnen wir mit
einem kurzen Ausflug in die Antike.
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Die eigentliche Wiege des »Abendlandes« steht nicht in einer Hütte
Bethlehems, sondern auf der Akropolis. Von hier nimmt alles seinen
Anfang: die schöpferische Fantasie, die Idee des »Schönen«, die Entfaltung des Geistes, die Suche nach dem sittlich Vollkommenen. Hier,
auf der Akropolis, wird das System der politischen Mitbestimmung,
werden die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, und die Bereitschaft des Einzelnen geboren, sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Hier wird erstmals das Individuum als solches, sein Wert »von
Natur aus« geschätzt und die Macht der Herrschenden über demokratisch legitimierte Verfahren kontrolliert. Die Griechen verehren
die Götter und halten sie dennoch unter Kontrolle. Sie sind offen für
fremde Kulturen, ihre Neugierde setzt schöpferische Kräfte frei, und
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
ihr Suchen nach Erkenntnissen und Wahrheit folgt wissenschaftlichen Methoden.
Darauf aufbauend formen die Römer eine weit ausgreifende
Bildungs- und Zivilisationslandschaft, die als Kern der Idee vom
Imperium Romanum die halbe Welt zusammenhält. »Römer,
denke daran, mit deiner Herrschaft die Völker zu regieren, den
Frieden mit römischer Lebensart zu verbreiten, die Besiegten zu
schonen und die Hochmütigen zu vernichten«, erinnert Vergil
die Bewohner der »Hauptstadt der Welt« an das Wesen und die
Aufgaben der Römer.10 Sie werden diesem Anspruch weitgehend
gerecht. Ein Reich von Schottland bis Afrika, vom Atlantik bis
zum Euphrat kann man nicht nur mit Divisionen zusammenhalten. Da muss wohl die Pax Romana und die Lebensart der Römer
eine wichtige Rolle gespielt haben.
Dieses griechisch-römische System aus individueller Freiheit,
gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein, demokratischer
Kontrolle, Mitsprache durch Volkstribune und rhetorischen
Glanzleistungen im Senat und auf dem Forum, aus wissenschaftlicher Neugierde und kulturellem Tiefgang beeinflusst unsere
Kultur- und Wertewelt noch heute. Sie ist das, was Europa im
Innersten ausmacht, wichtigster Teil europäischer »Leitkultur«.
Astronomie und Kosmologie, Medizin und Pharmakologie,
Politologie und Philologie, alles trägt griechische Namen. Wir
rühmen das Gefühl antiker Baumeister und Künstler für Proportionen, spielen die Dramen der großen Tragiker auf unseren
Bühnen, bewundern die Harmonie von Architektur und Landschaft und verstehen nicht so recht, wie moderne Architekten
diese zeitlosen Regeln vergessen können. Ciceros meisterhaft
aufgebaute Reden dienen uns immer noch als Vorbild ausgefeilter Redekunst, Senecas Humanismus geht dem christlichen
»Tue Gutes« voraus, ein Medizinstudium ohne Latein ist nicht
vorstellbar, und der Codex Iustinianus begleitet jedes Jurastudi-
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
um. »Nach dem Naturrecht sind alle Menschen gleich und frei«,
heißt es dort.11 Auf diesem Grundsatz ruhen die Erklärung der
Menschenrechte von 1789 und unsere heutigen Menschenrechte, die im 18. Jahrhundert erkämpft und Verfassungswirklichkeit
wurden. Keine geistes- und naturwissenschaftliche Fakultät, keine künstlerische Hochschule, die nicht von diesem Erbe zehrt.
Die antike Kultur ist das Fundament der europäischen Kultur.
Antike: Das Mäzenatenparadies
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Freiheit und Engagement für die Gemeinschaft sind Schlüsselbegriffe der antiken Gesellschaft. Gleich ob Athener Bürger oder
römischer Legionär, Kaiser oder Bürger, alle empfinden es als
selbstverständliche Pflicht, der res publica zu dienen. Wer etwas
auf sich hält, investiert in den öffentlichen Raum, kümmert sich
um öffentliche Einrichtungen, baut Schulen, Akademien oder
Theater, spendet Thermen und Bibliotheken für das Volk und
finanziert Wettbewerbe und Spiele. Schulen gibt es im ganzen
Land,12 Mäzene bezahlen die Lehrkräfte, soweit die Kosten nicht
aus der kaiserlichen Schatulle beglichen werden. Caesar (100–44
v. u. Z.) stattet, dem Vorbild Griechenlands folgend, die westlichen Städte des Imperiums mit einer oder mehreren repräsentativen öffentlichen Bibliotheken aus, jeweils mit einer lateinischen und einer griechischen Abteilung, Kaiser Augustus lobt
in den Res gestae seine Investitionen in den öffentlichen Raum,13
Kaiser Vespasian errichtet das Kolosseum, sein Nachfolger Caracalla vermacht im 3. Jahrhundert den römischen Bürgern die
architektonische Glanzleistung der Caracalla-Thermen und Kaiser Konstantin gründet im Jahr 330 eine mit Kulturdenkmälern,
Theatern und Foren reich ausgestattete neue Residenz: Konstantinopel. Die Stadt wird politischer Mittelpunkt des römischen
Reiches und nennt sich heute Istanbul.
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Den bedeutendsten Bibliotheksbau in Rom lässt Kaiser Trajan im Jahre 112/113 errichten. Ein Blick in die Trajans-Bibliothek
ist für jeden Mediävisten, der die Klosterbibliotheken des Mittelalters in leuchtenden Farben darstellt, erhellend: Die Säle der
Bibliothecae divi Traiani sind durch einen vierzig Meter langen
quadratischen Portikus getrennt, in dessen Mitte die bekannte
Trajanssäule steht. Jeder Saal ist zwanzig Meter lang, zehn Meter breit und siebenundzwanzig Meter hoch.14 Das geräumige Bauwerk umfasst zwei Stockwerke samt Galerie unter einer
Kassettendecke. Die Bücherschränke sind für Schriftrollen von
maximal vierzig Zentimeter Tiefe konstruiert, ihre Höhe wird
auf etwa drei Meter geschätzt.15 Wie die meisten öffentlichen Bibliotheken verfügt auch die Bibliothecae divi Traiani über einen
Bestand von mehreren Hunderttausend Büchern, eine Zahl, an
die man sich erinnern sollte, wenn über den Bestand der »Hofbibliothek« Karls des Großen gesprochen wird.
Ab dem 5. Jahrhundert ist ein schleichender Verfall der Theater, Singspiel- und Wettkampfstätten, einschließlich der Olympiade, und ein Niedergang der öffentlichen Kultur (Schulen, Bibliotheken, Skulpturen) und der Städtelandschaft nachweisbar.
Darüber gibt es mancherlei Theorien: Die Römer seien, vom
Alter gezeichnet, dekadent geworden, die Germanen hätten das
antike Kulturgut nicht geschätzt, überhaupt sei es fragwürdig,
von einem Niedergang der antiken Kultur zu reden. Denn die
christlichen Klöster hätten sich des antiken Erbes angenommen
und für die Nachwelt bewahrt. Man müsse also eher von »Kontinuität« sprechen und nicht vom Niedergang.
Die Theorien werden hoch gehandelt, mal siegt die eine Seite,
mal die andere. Derzeit scheint die Kontinuitätstheorie zu dominieren. Aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Um 350
gibt es in Rom 28 öffentliche Bibliotheken,16 jeweils mit mehr als
100.000 Bänden; mit Eintritt in das Mittelalter gibt es dagegen
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
im ehemals Weströmischen Reich kaum mehr öffentliche Bibliotheken. Römische Städte verfügen über öffentliche Schulen, Theater und Thermen, während das Mittelalter nichts dergleichen
kennt. Im Imperium Romanum können schätzungsweise etwa
50 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben, während im
Frankenreich 95 Prozent der frühmittelalterlichen Bevölkerung
Analphabeten sind. Alle Zahlen und Vergleiche, ob Schulen,
Theater, öffentliche Bibliotheken, Stadtkultur oder Landleben,
rufen dem Historiker zu: Der Übergang von der Spätantike in
das frühe Mittelalter wird von einem erdrutschartigen Kulturund Zivilisationseinbruch begleitet. Vor allem, weil es am Verständnis für die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung der
Städte und an privaten Gönnern mangelt, die die antike Kultur
am Leben erhalten, und weil sich der Staat aus der Förderung
von Schulen, Bibliotheken und Theatern zurückzieht. Damit erhält eine Bewegung Auftrieb, die Kultur und Zivilisation völlig
anders definiert als bisher: Der Katholizismus.
Dieses Geschehen tritt vor allem im lateinsprachigen Mitteleuropa auf und trifft nicht das griechische Ostrom, das sich
nach einer Durststrecke aufrappeln und »goldene Kultur-Jahrhunderte« einläuten wird. Auch die spanische Halbinsel muss
ausgenommen werden, die ab 711 islamisch wird und nach einer
Phase wenig ersprießlicher katholischer Westgoten-Tyrannei17 einen Wirtschafts- und Kulturaufschwung sondergleichen erlebt.
Wir müssen also bei dem Phänomen »Kultur- und Zivilisationsverfall« über ein Teileuropa sprechen, über die Region nördlich der Alpen, über die Merowinger und Franken. Diese Region, von den Römern Gallien genannt, war bis ins 4. Jahrhundert
eine Vorzeigeprovinz des Römischen Reiches, voller blühender
Städte, »römischer als Rom«, und stolpert nun in eine glanzlose
Zeit hinein.
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Jahrtausendwende.
Das katholische Christentum wird Staatskirche
Anders als im Judentum schleppt der Katholizismus in seinem
Tornister die göttliche Forderung zur Missionierung – »Geht hinaus in alle Welt« – mit sich. Und da Missionare immer die einzig
richtig Wahrheit kennen, geht mit ihrem Bemühen ein rigoroses Umerziehungsprogramm einher, das den Geist der antiken
Kultur, das Streben nach irdischer Glückseligkeit als Sinn und
Zweck allen menschlichen Handelns, den griechische Drang, die
Welt zu erforschen, und das römische Mäzenatentum verdorren
lässt. Denn Ziel des menschlichen Lebens ist nun nicht mehr das
diesseitige Glück, sondern die Vorbereitung auf ein ewiges Leben
im Jenseits.
Dieser fundamentale Wechsel vom antiken Götterglauben,
dessen Darsteller nicht »im Himmel« wohnen, sondern mit einem Bein auf griechischem Boden stehen, zu einem hypothetischen Supergott jenseits aller Galaxien, der »keine anderen
Götter neben sich« mag und jede noch so kleine Glaubensabweichung mit Missmut beobachtet, wird – wenn überhaupt – in der
historischen Literatur durchweg wohlwollend, bestenfalls teilnahmslos beschrieben. Offene Kritik am Monotheismus christlicher Prägung, insbesondere an der Art und Weise, wie er sich
ab dem 4. Jahrhundert in der Variante des Katholizismus durchsetzt, erlaubt sich mancher Theologen, aber kaum ein deutscher
Nachkriegshistoriker althistorischer oder frühmittelalterlicher
Provenienz. Dabei handelt es sich um eine Zeitenwende, um ein
Jahrtausendereignis mit der Idee des Endkampfes zwischen Gut
und Böse, auch um den Einbruch totalitärer Gesinnungsethik in
das Staatsgeschäft. Der Potsdamer Pedro Barceló ist einer der wenigen Althistoriker, der mit einer gut begründeten Analyse gegen
den Strom eines in Jahrhunderten geronnenen Einheitsverständ-
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
nisses ankämpft und das Werden der katholischen Staatskirche
mit kritischem Abstand beschreibt.18
Das verschwiegene Religionschaos im 4. Jahrhundert
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Eine »christliche Kirche« in der uns heute geläufigen Form gibt
es in den ersten Jahrhunderten nicht. Sie ist ein Geschöpf des
4. Jahrhunderts. Bis dahin gibt es dreihundert Jahre lang Gemeinden mit unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle des
Religionsgründers Jesus, aber keine geschlossene »Kirche«. Über
die Dreifaltigkeit (Trinität) wird endlos debattiert, aber die Gemeinden können sich nicht einigen. Die Zwei-Naturen-Lehre
ist noch nicht einmal angedacht, der christliche Markt wird von
Evangelien überschwemmt, eine vorherrschende und führende Denkrichtung ist nicht auszumachen und von einem Papst
spricht ohnehin noch niemand. Das religiöse Durcheinander
ist so ausgeprägt und kräftezehrend, dass Eusebius von Caesarea, der Hofberichterstatter Kaiser Konstantins, um 337 seufzt:
»Schlimmer als jeder Krieg und jeder furchtbare Kampf gilt mir
der innere Zwist der Kirche Gottes und schmerzlicher scheint
mir dies als die Kämpfe nach außen«.19 Zwar wird 325 auf dem
Konzil von Nicäa eine Gottesformel gefunden, die der heutigen
gleicht – homoousios, der Sohn ist dem Vater wesensgleich –, die
sich aber nicht durchsetzt und Mitte des 4. Jahrhunderts auf verschiedenen Synoden wieder infrage gestellt wird.
In diesem frühchristlichen Kosmos werden Abweichler von
der nicäisch-trinitarischen Norm des Jahres 325, die den Katholizismus maßgeblich prägen wird, als »Häretiker« bezeichnet. Sie
gelten den »Trinitariern« als die schlimmsten Feinde der eigenen
Auffassung, schlimmer noch als Ketzer und Heiden. Diese »häretischen« Bewegungen werden, ebenso wie die kleinteilige Gemeindestruktur der Jesus-Anhänger, in der Literatur durch die
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Bank kleingeredet.20 Im Panárion des Metropoliten Epiphanios
von Zypern, genannt »Hausapotheke gegen die Schlangenbisse
der Häresie«, auch als Adversus haereses bekannt, werden um 375
etwa achtzig häretische Lehren vorgestellt und verurteilt.21 Dabei
handelt es sich nicht etwa nur um verstreute Splittergruppen im
palästinensischen Irgendwo, sondern um beherrschende Strömungen in Ägypten, Palästina, Syrien, Arabien und dem Irak,
also dem Stammland des Christentums. Die bedeutendste »häretische« Variante ist im 4. Jahrhundert der Arianismus, der Jesus
nicht als gottgleich anerkennt und wohl ebenso stark gewesen
sein dürfte wie die Lehre des nicäischen Bekenntnisses, die die
Trinität, die Lehre von den Dreien in Einem, predigt.22
Man kann darüber streiten, ob »Häretiker« überhaupt Christen sind. Befürworter meinen, alle Jesus-Anhänger seien »Christen« gewesen. Aber nach Lage der damaligen Texte der »rechtgläubigen« Trinitarier, die »Häretiker« mit einem Tsunami von
Schmähungen überschwemmen, und
dem heutigen Sprachgebrauch folDer Begriff »Gottessohn« ist in der frügend, der die »richtige« Taufformel als
hen Kirche hoch umstritten. Arius (4. Jh.)
unabdingbar und den »Gottessohn«
meint, Jesus sei, wie Origenes es lehre,
als Nukleus christlichen Glaubens
kein richtiger Gottessohn, diese Bezeichdefiniert, sind Zweifel angebracht, ob
nung sei ein Ehrenname und Jesus ein
Häretiker nach heutigem Verständnis
Adoptivsohn Gottes. Im Übrigen ist der
Christen sind. Dennoch werden alle
Begriff damals weit verbreitet. In Ägypten
Jesus-Bewegungen, trotz ihrer Inhobezeichnet man den Pharao als Sohn des
mogenität, auch in der ForschungsGottes Amun. Alexander der Große wird als
literatur meist unter dem Begriff
Sohn des Zeus verehrt. Cäsar wird nach sei»Christentum« oder »christliche Kirnem Tod zum Divus erhoben und Augustus
che« subsummiert. Womit die Leser
nennt sich ab 42 v. u. Z. divi filius und beauf eine folgenreiche falsche Fährte
gründet damit die »Gottessohn«-Serie der
gelockt werden. Denn dieses varianfolgenden römischen Kaiser.
tenreiche Bündel von Jesus-Anhän-
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
gern mit unterschiedlichsten Gottesvorstellungen ist als Resultat
der ideologischen Zersplitterung in seiner Durchsetzungskraft
gegenüber dem Reich theologisch und politisch in einer schwachen Position. Ohne fremde Hilfe würden sich diese Streithansel
gegenseitig aufreiben und im Status zahlreicher mehr oder weniger großer Sekten verharren.
Der Streit über das »richtige« Christentum wogt bis in die
zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts hinein, und es ist bezeichnend,
dass der haeretisch-arianische Kaiser Constantius im Jahr 356
den damaligen Axomitenkönig (Ägypten) Aeizanas um Hilfe
gegen die Ausbreitung der nicäischen Ketzerei und um Auslieferung Verdächtiger ersucht. Theodor Mommsen meint dazu, der
Christ habe den »Arm des Heiden« zum Kampf gegen Christen
gebraucht.23 360 wird in Konstantinopel die trinitarische Formel
aufgehoben und eine neue ratifiziert, die besagt, der Sohn sei
dem Vater nur ähnlich. Fast 400 Jahre nach dem Tod Jesu ist also
immer noch nicht der christliche Gott definiert.
In diesem Durcheinander kann es auch nicht wirklich überraschen, dass Kaiser Julian im Jahr 361 die alten Götter wieder in
das Zentrum des Staatskultes rückt und der gewohnte Polytheismus erneut in die Kurien und Tempel einzieht. Diese spätantike, religiöse Renaissance erfolgt ohne Widerstand des Volkes,
der Senatoren und des Heeres, geht also ohne Aufsehen in aller
Öffentlichkeit vor sich – was immerhin die geringe gesellschaftliche Bedeutung der christlichen Bischöfe bis in die zweite Hälfte
des 4. Jahrhunderts belegt. Und wäre Julian nicht bereits zwei
Jahre nach Beginn seiner Herrschaft wieder verstorben, so wäre
es wohl mit der späteren staatlich gelenkten Kanalisierung der
Jesus-Bewegungen zu einer homogenen »Kirche« endgültig vorbei gewesen. Jedenfalls lassen weder die Quellen noch die innerchristlichen Streitigkeiten, noch die widerstandslose Re-Animierung der antiken Gottheiten durch Julian den Schluss zu, das
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Volk hätte den Wechsel von der Vielfalt der Götter zu einem
Gott, der keine anderen mag, herbeigesehnt.
Nach Julians Tod im Jahr 363 droht das »Christentum« gänzlich aus den Fugen zu geraten. Die christlichen Varianten sind
aufs Bitterste zerstritten, und in diesem Religionschaos wittert
Ambrosius, Bischof von Mailand (374–397) und eine künftige
Schlüsselfigur im Werden des trinitarischen Katholizismus, Rückenwind. Er schreibt dem »Winterkaiser« Jovian (reg. Winter
363/64) einen Brief und erinnert darin den Kaiser an das »wahre« Christentum: »Da nun Deine Frömmigkeit von uns den
Glauben der katholischen Kirche kennen lernen will, so sagen
wir dem Herrn Dank dafür und wollen vor allem Deinen gottesfürchtigen Sinn an das von den Vätern zu Nizäa aufgestellte
Glaubensbekenntnis erinnern«.24 Der Brief hat zunächst nur geringe Wirkung, da Jovian nur acht Monate regiert.
Nach dem Tode Kaiser Jovians im Jahr 364 versucht sein
Nachfolger, Kaiser Valens (reg. 364–378), den Arianismus (Jesus
ist kein Gott) erneut zu etablieren. Schmähungen ob der Abweichung vom katholischen Weg der Wahrheit bleiben nicht aus.
Die katholischen Kirchenhistoriker des 5. Jahrhunderts, Sokrates, Sozomenus und Theodoret, werden Valens als einen »hinterhältigen und brutalen Verfolger der Rechtgläubigen« darstellen.
Diese Phase des irrlichternden Christentums dauert bis 378.
Und noch immer ist nicht klar, wohin die Reise geht. Nach einer
»heidnischen« Phase, 361–363, und einer »häretischen«, 364–378,
ist das Christentum immer noch weit von einer Konsolidierung
im Sinne einer »gemeinsamen Religion«26 und von einer breiten
Anerkennung entfernt.
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
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380 – das Jahr der Machtergreifung
Im Jahr 380 werden die Karten neu gemischt. Kaiser Theodosius (reg. 379–395) macht unter dem Einfluss des durchsetzungsstarken Mailänder Bischofs Ambrosius Tabula rasa: Er verbietet mit dem Erlass Cunctos populos alle heidnischen Religionen
und schaltet die vom trinitarischen Christentum abweichenden
christlichen Varianten, insbesondere die Arianer, mit Zwangsmaßnahmen aus: »Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen, so gebieten wir, katholische Christen heißen dürfen; die übrigen, die wir für wahrhaft toll und wahnsinnig erklären, haben
die Schande ketzerischer Lehre zu tragen«.27 Von nun an ist der
»Katholizismus« die beherrschende Größe im Reich, zunächst im
gesamten Reich, später nur noch im Westreich.
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EXKURS
Die Kontaminierung historischer Quellen
Die Entwicklungsgeschichte des spätantiken Christentums ist selbst
Althistorikern meist nur in Umrissen bekannt. Die Ursachen sind auch im
Fehlen nicht katholischer Quellen zu suchen, die ab dem 5. Jahrhundert
systematisch zum Schweigen gebracht werden. Bereits im Decretum Gelasianum (um 495), einer Verherrlichung der katholischen Kirche, werden
rund 100 Werke als »apokryph« gebrandmarkt, deren Verfasser »von der
ganzen römischen katholischen und apostolischen Kirche ausgeschlossen
[…] unter der unlöslichen Fessel des Anathema in Ewigkeit verdammt«
werden. Zusätzlich werden 30 bis 40 weitere »ekelhafte Anhänger« häretischer Schriften und »Genossen« verdammt.25 Den Verdammungen
folgen weitere Buchzensuren, sodass schließlich fast nur noch mit dem
Katholizismus kompatible Quellen zur Verfügung stehen. Daraus hat sich
dann ein einseitiges und vergiftetes Bild der Entwicklungsgeschichte des
spätantiken Christentums geformt, das in weiten Bereichen nicht die damalige Realität abbildet.
BEGRIFF
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Mit rund sechzig weiteren Edikten bauen Theodosius und seine Nachfolger in rascher Folge die programmatische Grundsatzerklärung Cunctos populos zu einem mächtigen Werkzeugkasten
aus, mit dessen Hilfe die christlichen Konkurrenzen ausgeschaltet und alle Privilegien der heidnischen Priester samt der Sonderrechte ihrer Kulte abgeschafft werden. 23 Erlasse sind direkt
gegen die nicht katholischen Christen gerichtet, die damit als
der gefährlichste Gegner theodosianischer Missionsanstrengungen geortet werden können. Weitere dreizehn Erlasse sind gegen
die »Heiden« und sechs gegen die Juden gerichtet. Sieht man diese Erlasse
Die Begriffe »Heide« (pagani, genals ein geschlossenes Paket mit Cunctos
tiles) und »Heidentum« sind nur
populos als Initialgesetz, dann wird klar,
im christlich-theologischen Sprachdass es sich – entgegen der Annahme
gebrauch anwendbar. »Heide« ist
des Historikers Karl Noethlichs –
ein Stereotyp, ein Sammelbegriff für
um einen einzigartigen Angriff auf die
alles, was nicht christlich oder jüdisch
Gedankenfreiheit handelt, um eine hisist. Es ist noch nicht einmal klar, ob der
torische Fanfare, die den Einzug einer
Islam »heidnisch« ist.
durch den Staat gegründeten und von
ihm massiv bis zur Androhung und
zum Vollzug von Todesstrafen unterstützten Staatsreligion ankündigt.
Ein Gesetz vom Februar 384 nennt Häretiker »Vertreter einer kriminellen Religion«28, und zum »Heidentum« abgefallenen
Christen wird rückwirkend die Testamentsfähigkeit, also die
Möglichkeit zu vererben, entzogen. Die erste Todesstrafe wird
385 verhängt. Die Synode von Trier verurteilt den wegen Häresie
angeklagten Bischof Priscillian und seine Anhänger zum Tode
durch das Schwert. Es folgen ein Versammlungsverbot, die Strafandrohung für Mischehen zwischen Christen und Juden und
das Besuchsverbot heidnischer Tempel. 392 wird die Häresie zu
einem vom Staat zu verfolgenden Verbrechen erklärt, den heid-
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
nischen Priestern werden ihre letzten Privilegien entzogen und
die Zerstörung der Tempel wird angeordnet. Grundstücke werden konfisziert, Berufs- und Lehrverbote verhängt und Häretiker
und »Heiden« aus den Städten vertrieben, weil »die verpestende
Anwesenheit von Kriminellen [die Städte] verunreinigt«. Mit
einem Edikt aus dem Jahr 425 verbietet Kaiser Valentinian III.
allen Nichtkatholiken den Anblick Roms, damit die Stadt nicht
durch Frevler entweiht werde. Selbst die seit Jahrhunderten freie
Ausübung des häuslichen Gottesdienstes wird reglementiert:
Wer zu Hause den falschen Gott anruft, muss mit strenger Strafe
rechnen.
Solche drakonischen Religionsgesetze sind in der großen
weiten Welt des Römischen Reiches bisher unbekannt gewesen.
Beschönigende Äußerungen von Ambrosius, Bischof von Mailand, Theodosius sei »mit zarter Rücksicht« vorgegangen, sind
völlig haltlos und werden durch die Edikte selbst widerlegt. Auch
unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Hintergrundes
sind Cunctos populos, das folgende Erlasspaket und die Zustimmung der Bischöfe zu diesem Gewaltakt der Sündenfall in der
Geschichte des Christentums, der Einbruch in die Denk- und
Gestaltungsfreiheit der Menschheit, der Wandel staatlichen Handelns zugunsten einer Religion schlechthin. Dass diese folgenreiche Jahrtausendentscheidung bis tief in das 20. Jahrhundert
hinein den Ablauf der Geschichte bestimmen wird, bedarf keiner
Begründung. Und dass die Inthronisierung des christlichen Gottes per ordre de mufti und ohne vorherige Konsultation mit kirchlichen und theologischen Vertretern erfolgt, ist kein Ruhmesblatt
für die katholische Kirche.
Es kann daher nicht verwundern, dass Kirchenhistoriker wie
religiös geprägte Wissenschaftler versuchen, die Bedeutung des
380er-Erlasses durch Hinweis auf eine spätere Bischofskonfe-
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renz in Konstantinopel (381) zu unterlaufen.* Was jedoch an der
dogmatischen Eigenmächtigkeit des Kaisers und der damaligen
Zweitrangigkeit der Bischöfe wenig ändert.
Religionspolitische Wirkungen
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Cunctos populos hat mehrere Gesichter. Zunächst wandelt das
Erlasspaket eine kunterbunte, polyphone Religionslandschaft in
einen monothematischen Acker einheitlichen Glaubens, auf dessen Schollen keine Wildkräuter wachsen dürfen. Dieser Wandel
wird in der Literatur als eine für den politischen Zusammenhalt
des Staates segensreiche, ja notwendige Entscheidung begrüßt,
ohne die negativen Auswirkungen hinsichtlich Kreativität und
Innovationspotenzial zu bedenken und ohne den Beweis anzutreten, dass die im Imperium Romanum fast tausend Jahre lang
gepflegte polytheistische Religionsstruktur politisch destabilisierend gewirkt hätte.
Für das Christentums hat Cunctos populos paradigmatische
Bedeutung. Einmal ist die Allianz mit den Mächtigen ein religiöser Sündenfall, der Anfang einer kircheninstitutionellen
Erstarrung, die das Christentum grundlegend verändern wird.
Aus einer jüdisch-christlichen Erneuerungsbewegung, die in den
Gründungsjahren die Solidarität mit den Schwachen und den
Verzicht auf Gewalt auf ihre Fahnen geschrieben hat, wird »Kirche«, die in letzter Konsequenz bereit ist, Andersdenkenden ihre
»Theologie des Todes« (Anton Grabner-Haider) zu predigen.
* Kaiser Theodosius hatte bereits im 380er-Erlass die Gleichstellung des Hei-
ligen Geistes (»eine Gottheit des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes in
gleicher Majestät und heiliger Dreifaltigkeit«) verfügt, die aber erst 381
von den Bischöfen dogmatisiert worden ist. Die Frage, woher Theodosius
die religiöse Kompetenz in dieser Angelegenheit hatte, wird in der Literatur
nicht diskutiert.
29
1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
Die Volksfrömmigkeit der hebräisch-griechischen Jesus-Bewegungen wandelt sich zum institutionellen katholischen Kirchenund Papstkult. Ideale – deren Vollzug im Gesamtporträt des
christlich-religiösen Alltagsgeschäfts des 1. und 2. Jahrhunderts
allerdings nicht mehr rekonstruierbar sind – verkehren sich in
ihr Gegenteil. Selbst die Gewaltmissionierung wird mit dem semantischen Gespenst der »Nächstenliebe« begründet. Manche
meinen, der Wandel sei ein »Verrat an Jesus Christus«.
Zum Zweiten verändert die bisherige, den inneren Frieden
sichernde polytheistische Landschaft des Reiches schlagartig ihr
religionstolerantes Gesicht. Wurde im Jahre um 25 v.u.Z. in Rom
noch ein Tempel »für alle Götter« gebaut (Pantheon: pân ‚alles‘
und theós ‚Gott‘) und 120 erweitert, so wird nunmehr und erstmals in der griechisch-römischen Geschichte der Monotheismus
mit seiner inhärenten Charakteristik der Intoleranz gegenüber
anderen Glaubensrichtungen zur Leitlinie staatlichen Handelns.
Die interpretatio graeca, die Gewohnheit antiker griechischer
Autoren, ihnen unbekannte Gottheiten anderer Kulturen mit
griechischen Göttern gleichzusetzen und sie entsprechend zu
benennen,29 versinkt im Anspruch einer Religion, die zu wissen
vorgibt, was Gott will. Der tolerante römische Staatskult wird
beerdigt und die religio licita, die römisch-staatliche Anerkennung jüdischer, christlicher und anderer Formen des Glaubens,
das wilde Glaubensgemisch von jüdischer Menora, römischem
Jupiter, christlichem Gott aller Varianten und den Orientalen
Mithras und Serapis, wird außer Kraft gesetzt. Fast tausend
Jahre Religionsfrieden, in dessen Schutz jeder nach seiner Fasson selig werden konnte, sind dahin, und man muss kein Wahrsager sein, um die kommenden Verwüstungen, die mit Kaiser
Justinian und Karl erste Höhepunkte finden werden, ahnen zu
können. Es reicht ein Blick in die Contra-haereses-Pamphlete des
3. und 4. Jahrhunderts oder in die Kapitularien Karls aus dem
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
8. Jahrhundert, der »unverfälschten Stimme Karls des Großen«
(McKitterick), um zu ahnen, was kommen wird.
Der Staat unterwirft sich einem abstrakten Heilsversprechen
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Zugleich werden wir Zeuge eines staatspolitischen Ereignisses
höchster Bedeutung: Mit Cunctos populos wird im Prozess der
Selbst-Entmachtung des Staates zugunsten des katholischen Klerus ein fulminanter Höhepunkt erreicht, mit dem die bisherigen
Formen und Regeln der politischen Loyalität der Bürger gegenüber der Gemeinschaft weitgehend ihre Gültigkeit verlieren.
Während die Spartaner für Gesetz und Ehre gestorben sind –
»Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dort, du habest
uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl« – und der römische Senat Augustus für seine Tapferkeit (virtus), Milde (clementia), Gerechtigkeit (iustitia) und Pflichterfüllung gegenüber
Menschen und Göttern mit einem Ehrenschild im Sitzungssaal
des Senates ehrt, werden nunmehr mit dem 380er-Gesetz Taten
nicht mehr an der Elle der Dienlichkeit für die Gemeinschaft
gemessen, sondern an der Gottesverträglichkeit. Gottesdienst
steht vor dem Dienst an der Gemeinschaft. »Keine Sache ist uns
fremder als der Staat«, hatte schon Tertullian gerufen, »Vater
des Kirchenlateins«,30 während Augustinus, ein Blitzgescheiter
in allen Gottesfragen und Erfinder der urkomischen Theorie,
die menschenverschlingende Ur-Sünde werde beim Koitus in
die Eizelle übertragen, die bisher eher gleichgültig-abwehrende
Haltung des frühen Christentums gegenüber dem Staat ändert
und der minderwertigen irdischen Welt, der civitas terrena, die
erhabene civitas dei gegenüberstellt. Die Existenz des Staates sei
Folge des Sündenfalls, also ein Werk des Bösen. Gott habe zum
Schutz der Christenheit zwei Schwerter verliehen (Lukas 22,38),
davon sei eins von der Kirche zu führen, das andere für die Kir-
31
1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
che. Der Papst sei der Lehnsherr beider Schwerter. Nur wenn
sich der weltliche Staat in den Dienst des Gottesstaates stelle,
habe er eine relative Existenzberechtigung.
Und wieder sind es römische Kaiser, die die Entmachtung
des Staates vorantreiben und die weltliche Macht zugunsten der
Autorität der Bischöfe mindern. War seit Augustus der Kaiser
Bevollmächtigter des Staatskultes und führendes Mitglied aller
wichtigen Priestergremien, so gibt der Kaiser die Rolle des Pontifex maximus, des obersten Priesters mit der Oberaufsicht über
alle sakralen Angelegenheiten, auf und verschenkt den Anspruch
an den Papst.31 Papst Leo (440–461) schmückt sich erstmals und
ohne Widerspruch mit dem Titel, und ab Papst Gregor wird Pontifex maximus fester Bestandteil der päpstlichen Titulatur.
Verzweifelte Versuche der Aristokratie, die heidnisch-antike
Kultur samt ihrer Forderung nach religiöser Toleranz zu retten,
werden Ende des 4. Jahrhunderts von der Allianz aus katholischen Kaisern und einflussreichen Bischöfen abgewiesen. Symmachus bittet im Jahr 384 als Praefectus urbi der Stadt Rom und
als Vertreter des traditionsbewussten Adels in einem formvollendeten Brief an Kaiser Valentinian II. um Toleranz der Religionen und um Wiederaufstellung des 382 entfernten Altars
der Siegesgöttin Victoria im Sitzungsgebäude des Senates: »Zu
denselben Sternen blicken wir empor«, schreibt Symmachus in
einem klassisch schönen und bewegenden Appell, »der Himmel
ist uns gemeinsam, dasselbe Weltall umgibt uns. Was liegt daran,
unter welchem System ein jeder die Wahrheit erforscht? Auf einem Weg allein kann man nicht ein solch erhabenes Mysterium
erkennen«.32 Ambrosius, Bischof von Mailand, vom Gefühl einer
höheren Macht durchdrungen, die über allen weltlichen Gewalten steht, nimmt beim Kaiser entschieden Stellung dagegen und
droht unverhohlen mit der Exkommunikation: »Sollte aber anders entschieden werden, so können wir Bischöfe dies nicht mit
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Gleichmut ertragen. […] Die Kirche wirst Du zwar besuchen
können, aber Du wirst dort keinen Priester finden«.33
Eine solche Tonart hat in der Vergangenheit kein Priester
anzuschlagen gewagt. Die harschen Worte belegen, wie sich innerhalb weniger Jahre die Macht von der weltlichen Seite zur
kirchlich-katholischen verlagert hat. Noch zwanzig Jahre vorher
hatte Kaiser Julian die heidnischen Götter gestärkt, hatte in bester römischer licita-Tradition alle Religionen geduldet, und jetzt
das! Der ergreifende Appell des Symmachus um Toleranz wird
vom Tisch gewischt, Symmachus selbst verlässt die Stadt und begibt sich auf seine Landgüter in Kampanien. Auch Nicomachus,
ein bekannter Politiker und gebildeter Aristokrat, zieht sich um
diese Zeit in das Privatleben zurück. Die Bischöfe beginnen, das
Regiment zu übernehmen, und Karl wird einer ihrer größten
Förderer.
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Das kulturpolitische Armageddon
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Mit der Aufgabe der verfassungsrechtlichen Unterordnung der
Religion unter den Staat wird die Bereitschaft der Aristokratie
und der Vermögenden, sich für die Gemeinschaft einzusetzen,
empfindlich gestört. Bisher haben es Kaiser, Aristokraten und
Gönner als selbstverständliche Pflicht empfunden, der res publica
zu dienen und sich um öffentliche Einrichtungen, wie Schulen,
Akademien, Foren, Theater oder Thermen, zu kümmern. Mit
Cunctos populos endet das Mäzenatentum. Bischöfe beginnen
eine immer größere Rolle zu spielen und machen sich auf, das
geistige Leben zu okkupieren und staatliche Führungspositionen
zu übernehmen. Ihr Anliegen ist nicht mehr, Thermen zu bauen,
öffentliche Schulen einzurichten, Fernstraßen zu unterhalten,
sondern die Kirche zu stärken in ihrem Dienst an Gott.
33
1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
Schon die anmaßende Selbstsicherheit, die der Klerus in Fragen der Wahrheit zeigt, muss den freiheitlichen Geist als Quelle
und Lebenselixier aller kulturellen Bemühungen stören. Denn
viele Fragen im politischen und gesellschaftlichen Umfeld erlauben kein Ja oder Nein, Richtig oder Falsch, Schwarz oder Weiß.
Das neue Denken steht mit seiner starren Religionsdogmatik
im schroffen Gegensatz zum griechisch-philosophischen Stil der
Nachdenklichkeit und des Abwägens. Epikurs Lehre von der Verstetigung der Lebensfreude durch den Genuss eines jeden Tages
und Horaz’ carpe diem haben ausgedient. Glück findet der Christ
nicht mehr auf Erden, sondern im Jenseits. Märtyrertum ist hoch
angesehen, ein Leben hinter Mauern, Entsagung und Askese
führen zur Heiligkeit. Die Bereitschaft zur Kritik und Selbstkritik, das Denken im Wettbewerb, die Suche nach der Wahrheit,
das Fragen nach dem Glück des Menschen und die Idee von der
Freiheit als dem höchsten Ziel allen politischen Handelns sind
keine Vokabeln des katholischen Mittelalters. Die Kirche mag
einzelne Elemente der antiken Kultur übernehmen, mag Platon
und Aristoteles ausschlachten, aber der Geist der Antike wird von
ihr ebenso bekämpft wie alle sinnlichen Freuden des Daseins. Er
ist der Kirche fremd.
Neben der Veränderung des geistigen Klimas beobachten wir
einen tief greifenden Wandel im Führungspersonal des Staates.
Der Mediävist Martin Heinzelmann belegt in einer Reihe von
Beispielen, dass in den ehemaligen weströmischen Provinzen die
Bischöfe als die tatsächlichen Leiter der (untergehenden) Städte angesehen werden,34 während die bisherige Führungsschicht
aus dem Staatsgeschäft hinausgedrängt wird. Die Bischöfe sind
damit auch mitverantwortlich für den Verfall der öffentlichen
Schulen und Bibliotheken und der gesamten »heidnischen« Kultur. Was angesichts der Fülle überlieferter, zum Teil deftiger Texte
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
und Briefe der Kirchenväter gegen die heidnische Kultur weder
Theologen noch Althistoriker überraschen sollte.
Dieser im Wesentlichen nur im lateinsprachigen Bereich des
Christentums zu beobachtende Machtwechsel, der unter Karl
einem Kulminationspunkt entgegenstrebt, ist gewollt und wird
auch in kirchlichen Kreisen nicht bestritten: »Macht«, schreibt
Alkuin, nach Auffassung der meisten Historiker ein Spitzengelehrter am Hof Karls, »Macht ist aufgeteilt zwischen der geistlichen und weltlichen Macht. Letztere muss der Verteidiger der
ersten sein.«35 Damit diagnostiziert Alkuin die Kirche als oberste
Autorität, auch im diesseitigen Geschehen. Dies mag zunächst
verwundern, da Alkuins Herr, Karl, als ein eigenwilliger Mann
gilt, ohne Bereitschaft, sich einem Bischof oder Papst zu unterwerfen. Aber Karl hat die »geistliche Macht« längst als oberste
Autorität anerkannt und sieht sich als ihr Vollstrecker. Er sucht
sein Heil im trinitarischen Gott, der seit der Entfremdung des
oströmischen, orthodoxen Christentums als »Katholizismus« definiert werden kann. Das ist die »geistliche Macht«, der er sich
unterwirft.
In einer solchen Konstellation von dogmenträchtigem Katholizismus und Herrschern ohne höhere Schulbildung hat es
die Philosophie besonders schwer. Als »Mutter der Wissenschaften« sucht sie die Wahrheit, während fundamentale Gläubige diese längst kennen. Und so wie die katholische Kirche die antike
Kultur nur spolienhaft und unter Unterdrückung des Geistes
der Kultur übernimmt, so dient die Philosophie der Kirche nunmehr als Steinbruch für Argumente und Methoden. Sie wird zur
»Magd der Theologie« degradiert, verliert ihren geistigen Rang,
während die Scholastiker ab dem 13. Jahrhundert versuchen, sie
als Hilfsmittel der theologischen Rechtfertigung in eine Waffe
spitzfindiger Gelehrsamkeit umzuschmieden – nicht um Philosophie im Kampf gegen die Rätsel der Natur zu verwenden,
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sondern um Haare zu spalten. Und da die Ergebnisse nicht besser sein können als die Prämissen, diese aber von unveränderbaren kirchlichen Axiomen ausgehen, ist die gesamte theologische
Scholastik eine einzige bauernschlaue Veranstaltung.
Dabei ist die Frage nach dem Bösen – Warum lässt der allmächtige Gott das Böse zu? (Theodizee-Problem) – noch die
anspruchsvollere Art, sich mit der Logik auseinanderzusetzen,
ohne allerdings eine überzeugende Lösung anbieten zu können.
Die Idee, dass das von der Kirche installierte Gottesbild Brüche
haben könnte, wird aus verständlichen Gründen nicht verfolgt.
Giordano Bruno musste dafür mit seinem Leben bezahlen. Stattdessen finden die Theologen auf scholastische Art und Weise die
Antwort und teilen die Allmacht Gottes in die potentia absoluta
und potentia ordinata auf. Diese Teilung ermöglicht es nun, nach
Belieben auf der Allmachtsklaviatur Gottes zu spielen und Krieg
und Frieden, Liebe und Hass gleichermaßen als Gottes Willen zu
entschuldigen. Die berühmten Scholastiker Thomas von Aquin,
Bonaventura, Albertus Magnus fühlen sich in diesem Sinne genötigt, Fragen von unabsehbarer Bedeutung zu diskutieren: Wie
viele Engelschöre gibt es und welche Instrumente nutzen sie?
Was treibt man in der Hölle? Steht Gott oder liegt er?
Warum diese theologische Haarspalterei im Gewande aristotelischer Logik »Philosophie« genannt wird, bleibt allerdings
dem Philosophen verborgen.
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Bischöfe – die neue Führungsschicht
Waren bisher die römischen Priester und Priesterinnen dem
Staat und seinem Kult verpflichtet, so machen sich nunmehr
die katholischen Bischöfe auf, die Beziehungen zwischen Priester und Staat auf den Kopf zu stellen und willfährige Kaiser auf
sich auszurichten. Und man weiß nicht so recht, ob man die
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Standhaftigkeit und das Durchsetzungsvermögen der Bischöfe
bewundern oder die Schwäche der um ihr Seelenheil bangenden
Kaiser verachten soll. Jedenfalls bekommt die Kirche durch Verleihung von Privilegien und Übereignung von Immobilien ein
ständig wachsendes Übergewicht gegenüber den Resten städtischer Selbstverwaltung. Der Bürgerbegriff wird entwertet, religiöse Segmente bekommen Sonderrechte, der klerikale Teil der
Bürgerschaft wird der Gerichtsbarkeit entzogen, und bisher als
unverzichtbar bewertete Einrichtungen des öffentlichen Lebens,
wie Theater, Schulen, Bibliotheken und Thermen, verlieren die
Unterstützung oder werden sofort geschlossen.
Währenddessen werden Kirchenvertreter zunehmend in die
Bewältigung öffentlicher Aufgaben eingegliedert. Bischöfe werden für die Getreideversorgung, öffentliche Bauten und – in
Fortsetzung der römischen Sitte – für die Betreuung Kranker
und ausgesetzter Kinder zuständig und dazu mit beträchtlichen
Einkünften ausgestattet.36 Die Kirche erhält eine eigene Gerichtsbarkeit und die Bischöfe werden zur Steuererhebung herangezogen bei gleichzeitig eigener Steuerbefreiung. Kirche und
Administration öffentlicher Aufgaben wachsen ineinander und
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Die Privilegierung christlicher Konfessionen...
beginnt unter Kaiser Konstantin I. mit finanziellen Unterstützungen
(Besoldung, Kirchenbau, Steuerfreiheit), Sonderrechten für Bischöfe
(Anerkennung ihrer Gerichtsbarkeit, Anlehnung an staatliche Ämter)
und weiteren Privilegien für den Klerus. Insgesamt gilt jedoch, dass Konstantin das Imperium ohne spezifisch christlich-katholisches Gepräge zu
reformieren sucht. Mal dient er Jupiter, mal dem Sonnengott, mal zeigt er
Präferenzen für Jesus (vgl. R. Bergmeier, Kaiser Konstantin und die wilden
Jahre des Christentums, 2010).
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
sind ab dem 5. Jahrhundert kaum mehr zu trennen. Das Amt des
Bischofs wird de facto Teil des cursus honorum, der römischen
Beamtenlaufbahn. Der Klerus hat damit nahezu den gesamten
Staatsapparat in seiner Hand. Und wenn es in Ausnahmen zu
einem Konflikt zwischen Bischof und den Staats- oder Kommunalorganen kommt, geht die Machtprobe meist unter Drohung
mit der Exkommunikation zugunsten des Bischofs aus.37
So wachsen die Bischöfe durch das Unvermögen der Kaiser,
den Staat zu organisieren, in öffentlich-rechtliche Aufgaben hinein und werden nunmehr die neue gesellschaftliche und kulturelle Führungsschicht. Ohne heidnisch-philosophische Bildung,
jedoch angefüllt mit Glaubensmysterien folgen die Machthaber
den Geboten der Kirche, machen sich freudig die Lehre von der
gottgegebenen Macht zu eigen und bereiten den Boden für den
Feudalismus vor, während die Kirche die Aufteilung der Gesellschaft in Klassen absegnet: Adel, Bischöfe und Äbte hier, dort
die Masse der Armen. Selbst innerhalb der Kirche wird von der
urchristlichen Gleichheit aller Menschen abgewichen und eine
strenge Hierarchie etabliert, an deren unteren Ende die Stadtund Landpfarrer stehen, die die Schwerstarbeit der tröstenden
Menschen- und Seelensorge bei völlig unzureichender materieller Entlohnung zu betreiben haben.
Unter der Dominanz der allmächtigen, allwissenden, jeder
menschlichen Macht turmhoch überlegenen Gottheit erhebt
die höhere Priesterschaft einen Herrschaftsanspruch über die
Menschen, der keine Beschränkung kennt: »Wer wird sich der
Einsicht verschließen«, schreibt Bischof Ambrosius von Mailand
an Kaiser Valentinian II., »dass in Glaubensangelegenheiten die
Bischöfe über dem Kaiser, nicht aber die Kaiser über die Bischöfe Recht sprechen können«.38 Es wird sich in Kürze zeigen,
dass die katholischen Bischöfe darüber entscheiden werden, was
»Glaubensangelegenheit« ist, bis schließlich der Mensch an sich,
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gleich welcher Abstammung und Position, dem Urteil der Kirche
unterworfen wird: »So erklären wir, dass jedes menschliche Geschöpf dem Bischof von Rom unterworfen sein muss, weil dies
ganz und gar heilsnotwendig ist«, erklärt Papst Bonifaz VIII. im
Jahr 1302.39
Diese Schlacht um Macht und Einfluss wird auch von »starken« Kaisern, wie Justinian oder Karl dem »Großen«, nur scheinbar zugunsten der kaiserlichen Autorität entschieden, denn der
gottesfürchtige und höllenbesorgte Karl bedient Papst, Kirche
und Klöster nach Kräften. Der Kampf ist für ihn längst verloren. Es geht nur noch um Taktik, um machtpolitische Operationen, während die Strategie in Form einer für alle verbindlichen
Weltanschauung unter der Dominanz der Kirche längst ausformuliert ist. Die glaubenstrunkenen Kapitularien von Karl sprechen eine deutliche Sprache. Und es ist vor allem diesem Karl
zu verdanken, dass den Bischöfen und Äbten in kurzer Zeit halb
Europa gehören wird, derweil die Armen mit Almosen und Worten getröstet werden: Armut sei eine Strafe Gottes für sündiges
Leben. Im Jenseits würden sie belohnt werden.
Im Übrigen sieht sich kein Abt und kein Bischof vorrangig im
Dienst der res publica, denn der Kern der christlichen Botschaft
ist der Dienst an Gott und nicht der am Staat. Das Volk wird
als Kirchen-Volk definiert, als »Lämmer«, die den »Hirten« treu
und fromm folgen sollen. Aus diesem kirchlichen Verständnis
der absoluten Priorisierung Gottes ergeben sich keinerlei Anforderungen an Kirche oder Klöster, die Ausfälle der bisherigen
öffentlichen Kultureinrichtungen zu kompensieren.* Thermen
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* Wenn Fried schreibt, »niemand habe die mannigfachen Verluste kommen
sehen, niemand habe vor ihnen gewarnt« (Karl, S. 268), so stimmt das
nicht. Kaiser Julian warnt 361 unmissverständlich vor dem Verfall der antiken Kultur und verwehrt christlichen Lehrern deshalb den Zugang zum
Lehramt. Ebenso argumentiert der »Symmachus-Kreis« (um 380), der sich
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
und Theater sind in den Augen der Mönche Werke des Teufels,
heidnische Literatur wird im Regelfall nur als Werkzeug der
Theologie akzeptiert, die Übersetzung der Bibel in eine Volkssprache ist verboten und zum Lesen der Heiligen Schrift bedarf
es priesterlicher Interpretation. Öffentliche Schulen sind daher
überflüssig, mithin auch Bibliotheken außerhalb der sakralen
Einflusszone.
Der einst breit aufgestellte, polyphone Kulturstaat wird durch
einen Kultus des Glaubens ersetzt. Die Folgen werden im Verlaufe der Jahrhunderte vor allem den westlichen, lateinsprachigen Teil des Reiches treffen. Dort dürfte die letzte öffentliche
Bibliothek Mitte des 5. Jahrhunderts ihre Pforten geschlossen
haben. Mit den Bibliotheken sterben die Theater und Thermen,
die Stadien und die Olympischen Spiele, die Schulen und die
Wissenschaften. Die spectacula christiana ersetzen die griechische
Tragödie, die ecclesia das Forum, das »Credo quia absurdum est«
die Vernunft. Im Todeskampf der untergehenden Schulen und
Akademien verwildert innerhalb einer Generation die Sprache.
Schließlich können nur noch Einzelne lesen und schreiben. Der
Altphilologe Karl Büchner schreibt 1961: »Schlimmer für die römische Kultur ist der endgültige Sieg des Christentums«.40
Fragmente des antiken Bildungsgutes werden zwar gerettet,
aber nicht um ihrer selbst willen, sondern als Propädeutikum
einer neuen christlichen Bildung. Das ist bekanntlich die Idee
der Kirchenväter, wie sie von Augustinus in seiner doctrina christiana als Wegweiser für christliche Intellektuelle zunächst entwickelt wird, jedoch nicht überall auf Gegenliebe stößt. Denn
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für eine Restauration der alten Kultur ausspricht. Es ist übrigens typisch,
dass Symmachus` Reden, des bedeutendsten Redners seiner Zeit, bis zum
Beginn des 19. Jahrhunderts verschwunden sind. Die Reden wurden 1815
in der Bibliothek des Vatikans wiederentdeckt. Sie waren gelöscht und mit
einer Kopie der Akten des Konzils von Chalkedon überschrieben worden.
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
viele Christen empfinden das Erbe antiker Bildung als schwere
innere Bedrohung. Das zeigen exemplarisch der Marseiller Klostergründer, Johannes Cassian (gest. 430), der in Angst vor den
Versuchungen antiker Bildung das »Teufelswerk« heidnischer
Poesie verflucht,41 und der geistige Werdegang des Kirchenvaters
Hieronymus (gest. 420), der anfangs von der Möglichkeit einer
Harmonisierung heidnischer Bildung und christlichen Glaubens überzeugt ist und später radikal die Auffassung verwirft,
antik-heidnische Kulturtradition und Christentum seien vereinbar. In diese Zeit fällt sein berühmter Angsttraum, in dem Gott
ihn tadelt, er sei kein Christ, sondern ein »Ciceronianer«, ein
heidnischer Intellektueller.42 Papst Gregor (gest. 604), ein Befürworter gewaltsamer Bekehrung, nennt die profane Bildung eine
doctrina falsitatis, eine Lehrlüge, und verbittet sich, »das Orakel
der Heiligen Schrift den Regeln des Grammatikers Donatus zu
unterwerfen«,43 während Augustinus, der das Geflecht empfindsamer, antiker Wertediskussionen durch ein misanthropisches
»Sündhafter-Mensch«-Schema (massa damnata) ersetzt und den
Teufelskreis aus Schuldgefühlen, Selbstherabsetzung und Autoaggression (Geißelung, Märtyertum, Askese) antreibt, meint,
Wissensgewinn sei kein Wert an sich, sondern diene der Festigung der Glaubensposition. Die Vernunft allein sei zu schwach,
die Wahrheit zu finden. Vernunft sei nur noch wichtig, um den
Glauben zu bestätigen. Es bedürfe der Autorität »heiliger Schriften« und der Kirche, um die Wahrheit zu erkennen.44
Damit leitet eine zum Himmel greifende, alles wissende, alles erklärende Metaphysik, eine »flächendeckende Entklugung«
(D. Hildebrandt) das Mittelalter ein. Der Stein fällt zu Boden,
weil Gott es so will, und Blitz und Donner sind ein Strafgericht
Gottes. »Alle Weisheit kommt von Gott dem Herrn« wird zum
ehernen Gesetz, dem sich alle Disziplinen der artes liberales zu
unterwerfen haben. Das nunmehr dem Glauben untergeordnete
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
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Wissen büßt seinen früheren Charakter der Wurzel aller Weisheit ein und verliert seinen Anspruch, den Weg zum individuellen Glück weisen zu können. Weise ist, wer an den katholischen
Gott glaubt, mit Engeln auf duftigen Wolken, die den Verblichenen mit Posaunenmusik begleiten. Im Röcheln der untergehenden Vernunft verwildert innerhalb einer Generation die Sprache.
Damit fällt eine Kultur, die tausend Jahre lang der Sexualität ihren natürlichen Lauf ließ, die die Schönheit in Marmor
meißelte, die unsere Vorstellungen von Politik und Gesellschaft
prägte, zurück in freudlose Finsternis. Die Hoffnung des mittelalterlichen Menschen auf ein »gutes Leben« versinkt im Ansturm
einer demoralisierenden Erbsündentheorie, als deren Repräsentant Augustinus (354–430) gelten kann, der nach einem Erweckungserlebnis im heimischen Garten der finsteren Überzeugung
ist, dass die Menschheit einem sündigen Haufen (Enchiridion)
gleicht. Tatsächlich ist vor Augustinus kein Kirchenlehrer auf die
Idee gekommen, Paulus’ Eingebung, die Sünde sei »durch einen
Menschen in die Welt gekommen«, im Sinne einer Erbsünden-
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QUELLE
Papst Gregor in einem Brief zur Behandlung
von »Heiden« (599)
»Wenn ihr feststellt, dass sie nicht gewillt sind, ihr Verhalten zu ändern,
so befehlen wir, dass ihr sie mit größtem Eifer verfolgt. Sind sie unfrei,
so züchtigt sie mit Prügeln und Folter, um sie zur Besserung zu zwingen.
Sind sie aber freie Menschen, so sollen sie durch strengste Kerkerhaft zur
Einsicht gebracht werden, […] damit jene, die sich weigern, die Worte
der Erlösung anzunehmen, […] durch körperliche Qual dem erwünschten gesunden Glauben zugeführt werden« (Brief 9, Monumenta Germ.
Historica, Epistolae in Quart 2, S. 191–193).
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
theorie auszulegen. Überhaupt ist bis Augustinus der Gedanke
einer ohne persönliche Schuld vererbten Ursünde völlig fremd.
Vielmehr gilt den Kirchenschriftstellern der ersten vier Jahrhunderte »die antike Lehre von der sittlichen Wahlfreiheit des natürlichen Menschen gewissermaßen als Dogma« (U. Baumann).
EXKURS
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Augustinus und die unheilbare
Trostlosigkeit der Welt
Augustinus ist – wohl unter Bezug auf die Heulen-und-Zähneklappern-Metapher »Der Menschensohn wird seine Engel aussenden … und
alle Menschen, die da Unrecht tun, in den Feuerofen werfen« (Mt 41–
42) – der Ansicht, dass man in einer Hölle endlose Qualen leiden müsse.
Die Qualen seien »ewig, immerwährend und endlos«. Auf den Vorhalt,
eine endlose Strafe für endliche Verfehlungen sei unverhältnismäßig,
entgegnet Augustinus, der Mensch verdiene wegen der Erbsünde »ewiges Übel«. Gregor »der Große« erfindet wenig später das »Fegefeuer« als
Zwischenstation,45 womit die Angst vor den Folgen »unrechten« Lebens
und das Märchenhafte einer düsteren Jenseitstheologie noch gesteigert
werden.
Die Erbsündentheorie* wird von einem Drohkanon unmenschlicher »ewiger« Strafen begleitet, die das Mittelalter entscheidend
prägen. Zusammen mit einer krankhaften Ablehnung sinnlicher
Genüsse – »Nebel stiegen aus der schlammigen Begierde des Flei* Die Erbsündentheorie wird heute von vielen Theologen in Zweifel gezogen. Der Tübinger Theologe Urs Baumann schreibt, dass kaum ein Theologe mehr bereit sei, die biblische Erzählung vom Sündenfall Adams ernst
zu nehmen, und die meisten Theologen die traditionelle Erbsündenlehre
für »einen Anachronismus« hielten (Erbsünde? 1970).
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
sches und aus dem Strudel erwachender Männlichkeit kam über
mich Dein Zorn«46 – legt Augustinus das Fundament für den bis
heute wirksamen sexual- und frauenfeindlichen Katholizismus.
Damit wirft Augustinus krachend die Tür zur weltoffenen,
religiös-liberalen, antiken Tradition zu und eröffnet eine Epoche,
die sich später den Namen »finsteres Mittelalter« erwerben wird.
Ein Begriff, der seinen Ursprung ganz wesentlich den Wirkungen des zermürbenden Buß- und Leidensszenarios à la Augustinus verdankt und den die islamischen oder byzantinischen Paralleluniversen nicht kennen. Es sei dem Christentum gelungen,
meint Nietzsche, der Philosoph mit dem Hammer, »aus Eros und
Aphrodite höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen«. »Logik des Schreckens« nennt der Philosoph und Augustinuskenner
Kurt Flasch die neue Lehre und trifft damit den wunden Punkt
einer sich selbst als »Gnadenlehre« apostrophierenden Theorie,
die behauptet, nicht richten zu wollen, aber alles in die Hölle
schickt, was ihr im Wege steht.
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Zusammenfassung
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Als Kaiser Konstantin nach seinem Sieg an der Milvischen Brücke (312) um Schlichtung im innerchristlichen Streit ersucht
wird, stellt sich der Kaiser nicht kraft seiner Rolle als Pontifex
maximus der Herausforderung, sondern verweist die Streithähne an eine Bischofssynode. Dort soll per Mehrheitsbeschluss die
Entscheidung fallen. Aber der Kaiser hofft vergebens auf Einigung. Parteien, die die einzige Wahrheit zu kennen meinen, sind
nicht kompromissfähig. So ergreift Konstantin im Jahr 325 auf
dem Konzil von Nicäa erneut die Initiative und dürfte wohl die
Formel von der »Wesenseinheit Jesu mit dem Vater« (homoousios)
ganz wesentlich beeinflusst haben.47
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Konstantin lässt auf besagtem Konzil keinen Zweifel aufkommen: Noch hat der Kaiser das Sagen, noch unterwerfen sich
die Bischöfe der Staatsmacht, noch dürfen die Kaiser von den
Bischöfen Ehrerbietungen erwarten. Aber nach Kaiser Julian
(361–363), dem letzten »heidnischen« Kaiser, hochgebildet und
nach rund zwanzig Jahren christlicher Glaubenserfahrung der
Überzeugung, dass das Christentum die antike Kultur vernichten werde, spielen Bischofsversammlungen eine immer größere
Rolle, bis Ambrosius, Bischof von Mailand, die Wende vor aller
Augen erzwingt: Er verlangt vom Kaiser im Jahr 390 wegen einer
politischen Petitesse öffentliche Buße. Und der Kaiser unterwirft
sich.
Bischof Ambrosius kann dieses Spiel um die Macht wagen.
Denn bereits im Jahr 388 hatte er erfolgreich in die Geschäfte
des Kaisers eingegriffen und die von Theodosius verfügte Bestrafung von Brandstiftern einer Synagoge und den Wiederaufbau
des jüdischen Gotteshauses verhindert. Ambrosius interpretierte
den Vorgang als Konflikt zwischen Christentum und Judentum,
bei dem sich der Kaiser nicht auf die Seite der Juden stellen dürfe, und forderte, dass alle Gewalttäter straffrei ausgehen sollten.
Insbesondere sei es völlig inakzeptabel, von der Kirche den Wiederaufbau der zerstörten Synagoge zu verlangen. Der Brief blieb
zunächst ohne Erfolg, doch musste Theodosius schließlich nachgeben, obwohl der Schutz der Juden im Römischen Reich gesetzlich verbrieft gewesen ist. Die Übeltäter wurden nicht bestraft,
die Synagoge nicht wieder aufgebaut.
Damit ist ein Präzedenzfall geschaffen, der zukünftig die Interessen der katholischen Religion über Recht und Gesetz stellt
und als ein Wendepunkt im Verhältnis von Politik und Religion
definiert werden kann. Die Bischöfe gewinnen nunmehr im diffusen Licht augustinischer Erbsünden-Traumata, metaphysischer
Heilsversprechen und unter dem Damoklesschwert drohender
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
Exkommunikation einen überragenden Einfluss auf das Staatsgeschehen, bis schließlich der Staat in Gestalt frommer und durch
Exkommunikations- und Sühnedrohungen eingeschüchterter
Herrscher in weiten Bereichen der Politik, Rechtsprechung, Wissenschaften und Kultur durch kirchliche Vorgaben gelähmt und
innerhalb seines eigentlichen Gestaltungsspielraums entmachtet
ist. Politik ist nur noch als katholische Politik denkbar. Und wenn
sich später weltliche Herrscher politisch durchzusetzen scheinen,
so stets mit dem Namen des katholischen Gottes im Munde.
Es ist eine paradigmatische Wende. Von Ambrosius bis zu
Papst Gregor I. (540–604), der jegliches »Heidentum«, einschließlich der antiken Kultur, kompromisslos ablehnt, sind es
etwas mehr als einhundertfünfzig Jahre, in denen sich der Zeitgeist wendet. Hatte Theoderich (454–526), König und ostgotischer Germanenführer, in Rom zuvor noch konstatiert, es sei
unmöglich, die Annahme einer Religion zu befehlen,48 so sollte
eine Generation später Papst Gregor im Jahr 590 Weisung geben,
»Heiden« im Falle der Weigerung, zum Christentum zu konvertieren, mit Prügeln und Folter zu züchtigen, »um sie zur Besserung zu zwingen«.49 Spätestens jetzt wird deutlich, dass sich
Herrscher und katholische Kirche vom ursprünglichen Gedanken des Christentums abgewendet haben und der Katholizismus
eine Religion sui generis geworden ist. Nicht mehr der Mensch
steht im Mittelpunkt des Denkens, sondern ein im Laufe von
Jahrhunderten gebastelter Gott, der durch waghalsige Interpretationen (»Offenbarungen«) weitgehend seine Unendlichkeit
verloren hat.50 Dogmatischer Katholizismus und Humanismus
stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der Widerspruch kann
nur durch eine weitere kühne Annahme, der »gütige Gott« werde alles zum Wohle des Menschen richten, übertüncht werden.
Der Prozess der Abwendung vom Ursprünglichen wird durch
den wohl bedeutendsten Eingriff in das Selbstverständnis des
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Rolf Bergmeier: Karl der Große
Christentums beschleunigt: die islamische Eroberung des Nahen
und Mittleren Ostens. Mit ihr verliert das Christentum das kulturell-religiöse Zentrum. Der Schmerz, vom religiösen Kernland
Palästina abgeschnitten zu sein, muss groß gewesen sein, und die
Konsequenzen sind enorm: Mit dem Verlust der geografischen
Identität wandert der Schwerpunkt des Christentums endgültig
von Palästina nach Rom. Die Christenheit verliert einen großen
Teil ihrer kulturellen, geografischen und linguistischen Wurzeln
und entwickelt sich von einer ursprünglich östlichen Religion
mit griechisch-aramäischen Wurzeln zu einer westlichen, lateinsprachigen Glaubensgemeinschaft. Diese erneute Entwurzelung
(nach Trennung vom Judentum) schafft ein völlig neues Kultur- und Religionsmodell, das einen radikalen Bruch mit der
Vergangenheit mit sich bringt. Abgeschnitten vom Judentum,
zerstritten mit allen christlichen Varianten, das drohende Schisma mit Byzanz vor Augen, ist der islamische Durchmarsch im
7. Jahrhundert das Signal für eine weitere Radikalisierung des
Katholizismus.
Und Cunctos populos ist dabei ein Meilenstein auf dem Weg
zur Selbstisolation und in die frühmittelalterliche Finsternis.
Ohne dieses Gesetzespaket, ohne die Mesalliance von katholischem Klerus und Staat wäre die europäische Geschichte ohne
Kreuzzüge, Inquisition und Hexenverbrennung, ohne den antisemitischen Unflat und ohne religiös begründete Einschränkung
des Wissenschaftsbetriebes, vermutlich auch ohne große Religionskriege verlaufen. Ohne Cunctos populos wäre der Katholizismus eine religio licita geblieben, eine Großsekte neben anderen
christlichen Varianten, geduldet, aber ohne staatliche Garantie.
Und ob es je eine Gegenbewegung in Form des Islam gegeben
hätte oder Mohammed es bei einer jüdisch-messianischen Bewegung mit arabischer Mutation belassen hätte, wie Patricia
Crone meint,51 steht in den Sternen. Johannes von Damaskus
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1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
(um 650–750), »Kirchenvater« und berühmter Kirchenlehrer,
ordnet damals die Muslime in die Kategorie christlicher Häresien
ein. Er hält sie für Christen, wenn gleich häretische, und nicht
für Anhänger einer neuen Religion.52
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