Didaktischer Wert und gesellschaftlicher Nutzen von Motion
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Didaktischer Wert und gesellschaftlicher Nutzen von Motion
Didaktischer Wert und gesellschaftlicher Nutzen von Motion Graphics im Informationszeitalter Stephan P. Müller DIPLOMARBEIT eingereicht am Fachhochschul-Masterstudiengang Digitale Medien in Hagenberg im Jänner 2011 © Copyright 2011 Stephan P. Müller Alle Rechte vorbehalten ii Erklärung Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und die aus anderen Quellen entnommenen Stellen als solche gekennzeichnet habe. Hagenberg, am 24. Januar 2011 Stephan P. Müller iii Inhaltsverzeichnis Erklärung iii Kurzfassung vii Abstract viii 1 Einleitung 1.1 Einteilung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Geschichte der Kommunikationskultur . . . . . . . . . . . . . 2 Von 2.1 2.2 2.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 5 5 6 7 10 11 12 12 12 13 14 3 Das Bild als Informationsträger 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Theorien zu Bild und Text . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Bild-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Bild-Text-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Klassifizierung von Bildzeichen . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Klassifizierung anhand der Darstellungsart . . . 3.3.2 Klassifizierung anhand der Funktion . . . . . . 3.4 Der Wiener Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Vorgeschichte: Das Bildmedium im Aufschwung 3.4.2 Entstehung und Leitmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 22 22 22 24 26 26 28 29 29 30 2.4 der Schrift zum Bild Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung der Schrift . . . . . . . . . . . Visuelle Zeitenwende . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Sichtbarmachung des Unsichtbaren 2.3.2 Bilderflut . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Sprachkritik und Sprachkrise . . . 2.3.4 Die Sprache der Zeichen . . . . . . Semiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Das Zeichen . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Teilgebiete . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3 iv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis v . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 32 34 34 38 39 40 43 44 47 47 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 51 51 52 53 55 58 61 63 66 68 68 68 70 72 5 Fragestellung und Analyse 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Hypothese 1: Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Erklärung der Fragestellung . . . . . . . . . . 5.2.2 Von Komplexität zu Klarheit . . . . . . . . . 5.2.3 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Hypothese 2: Überlegenheit . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Erklärung der Fragestellung . . . . . . . . . . 5.3.2 Vergleich mit statischen Grafiken . . . . . . . 5.3.3 Kognitive Verarbeitung multimedialer Inhalte 5.3.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Hypothese 3: Redundanz . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Erklärung der Fragestellung . . . . . . . . . . 5.4.2 Chart Junk vs. Minimalismus . . . . . . . . . 5.4.3 Studie zur Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 81 81 81 83 85 89 91 91 92 93 95 96 96 97 98 3.5 3.6 3.4.3 Neuraths Bildersprache . . . . . . . . . 3.4.4 ISOTYPE / Piktogramme . . . . . . . . Informationsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Anwendungsgebiete und Klassifizierung 3.5.3 Lernstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Gestaltungsprinzipien . . . . . . . . . . 3.5.5 Beispiel: Disk Space . . . . . . . . . . . Instrumentalisierung von Bildern . . . . . . . . 3.6.1 Erschaffung neuer Weltbilder . . . . . . 3.6.2 Manipulation von Fotografien . . . . . . 4 Motion Graphics 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Begriffsbestimmung . . . . . . 4.1.2 Abgrenzungen . . . . . . . . . . 4.2 Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Frühe optische Erfindungen . . 4.2.2 Die ersten Animationen . . . . 4.2.3 Experimentelle Animation . . . 4.2.4 Filmtiteldesign . . . . . . . . . 4.2.5 Einfluss des Computers . . . . 4.3 Motion Graphics als Wissensvermittler 4.3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Charles und Ray Eames . . . . 4.3.3 Eingrenzung der Thematik . . 4.3.4 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis 5.4.4 5.4.5 vi Dekorative Elemente im Bewegtbild . . . . . . . . . . 100 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6 Schlusswort 102 A Inhalt der CD-ROM 104 A.1 PDF-Dateien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 A.2 Videodateien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Literaturverzeichnis 105 Kurzfassung Diese Arbeit beschäftigt sich mit einer speziellen Kategorie der Animation, in der abstrakte Sachverhalte, Anschauungen und Informationen veranschaulicht werden, die in der Realität nicht unmittelbar beobachtbar sind und daher nicht mit filmischen Mitteln behandelt werden können. Man bezeichnet solche Animationen aufgrund ihres narrativen Charakters als Visual Essays; sie stellen einen kommunikative Öffnung dar, mit deren Hilfe es möglich ist, einer breiten Masse Wissen zu vermitteln. Hierbei bedient man sich bewährter Methoden wie etwa der reduzierten Darstellung bestimmter Entitäten durch Piktogramme, um eventuelle kulturelle bzw. sprachliche Differenzen zwischen Erschaffern und Rezipienten von vornherein zu überwinden und somit eine eindeutige Kommunikation zu ermöglichen. Gegenstand der Untersuchung ist die Transformation von Informationen in (Bewegt-)Bilder und deren Wirkung beim Betrachter. Jede konzeptionelle und gestalterische Entscheidung hat letztlich auch Auswirkungen auf das mentale Modell, das im Kopf des Rezipienten über den behandelten Sachverhalt erstellt wird, das Treffen solcher Entscheidungen ermöglicht also eine (idealerweise bewusste) Beeinflussung der Denkweise der Zielgruppe. Ein weiteres Hauptaugenmerk liegt auf dem Vergleich zwischen statischen und dynamischen Darstellungen von Informationen. So resultiert etwa das Vorhandensein einer temporalen Dimension im Bewegtbild in der Notwendigkeit eines chronologischen Ablaufs der Informationsdarstellung, allein diese Schaffung eines erzählerischen Charakters resultiert in einer hohen Emotionalität, die das bewegten Bild wesentlich vom statischen unterscheidet. Andererseits sind viele Konzepte der Informationsaufbereitung in Form von Animationen deckungsgleich mit denen, die sich für die statische Darstellung im Laufe der Geschichte bewähren konnten. Im Zuge dieser Arbeit sollen also sowohl Theorien zum Einsatz von Bildern und Motion Graphics zu didaktischen Zwecken, als auch deren Rolle in der heutigen Informationsgesellschaft aufgezeigt werden. vii Abstract This thesis deals with a specific category in animation, which visualizes abstract facts, views and all other kinds of information that can’t be observed in reality and are therefore unable to be recorded on film. As a result of their narrative qualities, they are also known as Visual Essays, which can be considered as tools to communicate knowledge to a broad audience. In order to accomplish this, established methods like the visual representation of certain roles by pictograms are utilized to overcome cultural and linguistic differences between creator and observer. Subject of this study is the process of transforming information to (moving) images and their effects on the viewer. Every conceptual and artistic decision has repercussions on the mental image that is subsequently constructed in the observer’s mind when watching the visualization, which means that the audience’s way of thinking can be affected delibarately by knowingly making those decisions. Another important topic is the comparison between static and dynamic ways of visualizing information. For example, the presence of a temporal dimension in moving images leads to the necessity of chronologically organizing information in a narrative way, which results in a higher amount of emotionality when compared to static ways of visualizing data. On the other hand, many concepts of dynamically visualizing information are similar to those that are well-tried in the process of creating static images. Consequently, this thesis points out theories and ways of the didactic usage of pictures and motion graphics, as well as and their role in a modern information society. viii Kapitel 1 Einleitung Als Menschen bewegen wir uns mit all unseren Sinnen in einer vierdimensionalen Welt von Raum und Zeit. Die Art und Weise, wie wir diese Welt wahrnehmen, steuert unser Leben und definiert gleichermaßen unsere Realität. Da diese Realität aber flüchtig ist, wurden im Lauf der Geschichte niederdimensionale Techniken entwickelt, um das Erlebte in Form von Bildern zu bewahren. Meist wird im Zuge dessen eine komplexe Wirklichkeit durch ein gewisses Maß an Strukturierung vereinfacht, um eine Abbildung bestimmter Gegebenheiten überhaupt erst zu ermöglichen. Tatsache ist, dass jegliche Form dieser Bewahrung einer Wirklichkeit eine Erweiterung von Kommunikationsmöglichkeiten darstellt, da man eine individuell wahrgenommene Realität so auch anderen bzw. nicht unmittelbar daran beteiligten Personen zugänglich macht. Natürlich stehen seit jeher auch andere Möglichkeiten als Bilder zur Verfügung, um Informationen zu speichern – die Sprache in Schriftform ist von diesen mit Sicherheit die Bedeutendste. Die Bewahrung von Information in Form von Sprache stößt aber beim Aspekt der Kommunikation schnell an Grenzen, da sie einerseits maßgeblich vom Vorwissen bzw. der Bildung des Adressaten abhängig ist, und andererseits relativ viel Zeit in Anspruch nimmt. Neben (und mit) der alphabetischen Schrift und der verbalen Artikulation bestehen deshalb Zeichen- und Symbolsysteme, die für die Kommunikation unabdingbar geworden sind. Die bildlichen Darstellung zeichnet also eine wesentliche kommunikative Bedeutung aus, da mit ihrer Hilfe sowohl zeitliche, als auch sprachliche und zivilisatorische Grenzen überwunden werden können. Die Ästhetik des Konkreten spricht die menschlichen Sinne außerdem viel direkter an als abstrakte Formulierungen in Schriftform, die erst eimal interpretiert werden müssen. Weiters können Bilder Inhalte, die sich an unterschiedlichste Kognitionsrichtungen ausrichten, ausdrücken. Der technische Fortschritt war und ist maßgeblich am „Erfolg“ von Bildern und der damit verbundenen Veränderung der Wahrnehmung und Sehgewohnheiten beteiligt. 1 1. Einleitung 2 Diese Arbeit beschäftigt sich letztlich mit dem Zusammenhang zwischen Beobachter und Wirklichkeit – genauer formuliert um die gedankliche Vorstellung des Beobachters von der Wirklichkeit, die gezwungenermaßen durch den Konsum verschiedenster Medien kreiert wird. Eine wichtige Rolle hierbei spielen Wahrnehmungsveränderungen und Paradigmenwechsel, die im Laufe der Geschichte durch technische Innovationen und dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Wandel hervorgerufen wurden – besonders behandelt wird der Wechsel von der Schrift auf das Bild als Leitmedium, der sich in den letzten Jahrhunderten vollzogen hat. Es gilt, die Resultate dieser Entwicklung zu untersuchen und Analogien zu heutigen Entwicklungen aufzuzeigen, da sich durch neue technische Möglichkeiten das Bewegtbild immer mehr als Möglichkeit der Veranschaulichung von Sachverhalten etabliert. 1.1 Einteilung der Arbeit Als Abschluss dieses Kapitels erfolgt eine kurze Beschreibung der technischen Entwicklungen, die im Lauf der Geschichte für tiefgehende Veränderungen der Medienlandschaft sorgten. Kapitel 2 ab Seite 5 widmet sich der Entwicklung der Schrift zur Bewahrung beobachteter Vorgänge sowie dem Aufkommen des Bildes und der Vorgeschichte seiner mittlerweile gefestigten Rolle als Leitmedium unserer Kultur. Weiters werden in Abschnitt 2.4 ab Seite 12 bildhafte Zeichen aus der Perspektive der Semiotik betrachtet, was besonders im Hinblick auf die Thematik der Piktogramme von Bedeutung ist. In Kapitel 3 ab Seite 22 wird die Etablierung des Bildmediums in der Gesellschaft behandelt. Anfangs werden einige Theorien zu Bild und Text – sowohl separat, als auch in Kombination – vorgestellt (siehe Abschnitt 3.2 ab Seite 22), weiters werden einige Möglichkeiten zur Klassifizierung von Bildzeichen vorgestellt (siehe Abschnitt 3.3 ab Seite 3.3). Anschließend wird der Wiener Kreis und dessen Auswirkungen auf die Praxis der bildlichen Informationsvermittlung untersucht (siehe Abschnitt 3.4 ab Seite 29), bevor dann spezifisch die Thematik des Informationsdesigns behandelt wird (siehe Abschnitt 3.5 ab Seite 34). Es wird hierbei speziell auf die Wirkung von Bildern bei Betrachtern eingegangen, im Anschluss wird auch deren Instrumentalisierung – also das bewusste Verändern von Bildern mit dem Ziel der suggestiven Beeinflussung – behandelt (siehe Abschnitt 3.6 ab Seite 44). Kapitel 4 ab Seite 51 wird die Thematik der Motion Graphics behandelt. Zuerst wird versucht, eine Definition bzw. eine Abgrenzung von Motion Graphics zu anderen Bereichen der (bewegten) Bilder vorzunehmen (siehe Abschnitt 4.1 ab Seite 51), danach wird die Geschichte der Animation – mit dem Fokus auf für diese Arbeit relevante Entwicklungen – untersucht (siehe Abschnitt 4.2 ab Seite 53). Im letzten Teil ab Seite 68 wird dann konkret auf die Kategorie der Motion Graphics als Wissensvermittler eingegangen, 1. Einleitung 3 hierbei wird sowohl versucht, relevante Vorreiter auf dem Gebiet und deren Philosophie zu erklären (siehe Abschnitt 4.3.2 ab Seite 68), als auch mit einigen Beispielen einen aktueller Praxisbezug zur Thematik herzustellen (siehe Abschnitt 4.3.4 ab Seite 72). Das letzte Kapitel (ab Seite 81) behandelt drei vom Verfasser dieser Arbeit aufgestellte Hypothesen im Hinblick auf die Thematik von Motion Graphics als Wissensvermittler. Diese Hypothesen befassen sich mit der gesellschaftlichen Notwendigkeit und Rolle dieser Art von Animation (siehe Abschnitt 5.2 auf Seite 81), mit den Unterschieden zwischen statischer und dynamischer Informationsdarstellung (siehe Abschnitt 5.3 auf Seite 91) und letztlich mit der Sinnhaftigkeit des Einsatzes von dekorativen (bzw. redundanten) Elementen in Informationsvisualisierungen (siehe Abschnitt 5.4 auf Seite 96). 1.2 Geschichte der Kommunikationskultur Betrachtet man die Geschichte der Medien anhand von relevanten technologischen Errungenschaften, kann diese grob in 3 Phasen eingeteilt werden (vgl. [43, S. 2-5]): Die erste Phase begann mit der Erfindung des modernen Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Johannes Gutenberg erfand die Druckerpresse – das erste maschinenbetriebene Drucksystem mit beweglichen, wiederverwendbaren metallischen Lettern. Es bewirkte eine Mechanisierung der Schriftproduktion und ermöglichte damit eine enorme Beschleunigung der Verfielfältigung von Schriftstücken. Es entstanden die ersten professionellen Medienproduzenten wie etwa Drucker oder Verleger, neue Wege der Distribution ermöglichten Autoren und Journalisten, ihre Werke einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Mit der Erfindung der Druckerpresse wurde sozusagen der Grundstein für die Entfaltung der heutigen Wissensgesellschaft gelegt. Die Technologie der Schnell - und Rotationspresse (1811 bzw. 1848) in Kombination mit der Linotype (1883), einer automatischen Zeilensetzmaschine, läutete Mitte des 19. Jahrhunderts die zweite Phase, die Phase der Massenmedien, ein. Die Fotografie (Ende 1830er) ermöglichte eine Reproduktion der Realität in Form von Bildern, welche sich kurze Zeit später erstmals auch in Massen drucken ließen. Außerdem revolutionierte die Telegrafie (Mitte 19. Jhdt.) die Nachrichtenübermittlung, indem sie durch eine wesentliche Beschleunigung der Informationsübertragung ein weitaus höheres Maß an Aktualität in der Berichterstattung gewährte. Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich das Bewegtbild in Form des (Kino-)Films (Ende 19. Jhdt.) schnell als Massenmedium, eine spezielle Industrie in Form großer Medienkonzere versuchte sowohl in diesem als auch im Pressebereich Herr der Märkte zu werden. Der Hörfunk (Mitte 1920er) als das erste elektromagnetische Pro- 1. Einleitung 4 grammmedium erlaubte erstmals die drahtlose Kommunikation, Geräusche ließen sich zudem bereits elektrisch über Leitungen transportieren (Telefon, 1870er). Generell wurde ab der diesem Zeitpunkt der Privatkonsum immer wichtiger: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich durch die Technologie der Tonaufzeichnung auf Schallplatte (Beginn 20. Jhdt.) der erste Markt für Populärmusik, außerdem ermöglichten die ersten in Massenserien produzierten Foto- und Filmkameras (Pocked Kodak Camera, 1895; KodakBoxkamera, 1899; 8-mm-Filmkamera, 1926), Tonbandgeräte (ca. 1935) und Kassettenrecorder (ca. 1963) sowohl eine persönliche Gestaltung als auch eine Speicherung und Verbreitung von Medien. Ebenfalls noch in die zweite Phase einzuordnen ist das Fernsehen, das seit den frühen 1950er-Jahren Einzug in mehr und mehr Haushalte erlangt hat. Die in den 1980er-Jahren aufkommende Technologie des Kabel - und Satellitenempfangs internationalisierte das bis dahin durch den Einsatz von terrestrischen Frequenzen in seiner Reichweite begrenzte Medium rasant. Natürlich entwickelten sich auch in dieser Sparte bald zusätzliche Geräte und Technologien für den privaten Gebrauch, wie etwa Videokassetten bzw. Videorecorder oder Videokameras. Um 1940 begann die dritte Phase der Mediengeschichte: das Zeitalter der Computer. Auf die ersten Universalrechner bzw. Relaiscomputer (1936/37) folgte ENIAC (1945), der erste Röhrencomputer; wenig später entstanden integrierte Schaltkreise in Halbleitertechnik (Mitte 1950er) und Mikroprozessoren (Ende 1960er). In Kombination mit dem Aufkommen der ersten leistungsfähigen Leitungsnetze wie z.B. ISDN stellte der Personal Computer (1975: Microsoft, 1976: Apple) auch Privatpersonen erstmals Daten aus aller Welt zur Verfügung. Der technologische Fortschritt sorgte für eine Wende in der Medienlandschaft, die man ruhigen Gewissens als Revolution bezeichnen kann: Die einst analog codierten Informationen wurden nach und nach einer Digitalisierung unterzogen – der Kassettenrecorder wich dem DAT-Recorder, die Videokassette wurde von der DVD ersetzt. Diese Virtualisierung ermöglicht eine exakte Reproduktion von digitalen Inhalten, in Kombination mit der zunehmenden und immer schneller funktionierenden Vernetzung durch das Internet ergeben sich noch nie gesehene Möglichkeiten zur Verbreitung von Informationen aller Art. Kapitel 2 Von der Schrift zum Bild 2.1 Einleitung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Übergang von einer schrift- zur einer bildorientierten Kultur, der in den letzten Jahrhunderten vonstatten ging. Diese Entwicklung und die damit verbundenen Konsequenzen sind für die Arbeit aus dem Grund von großer Bedeutung, da sich mit dem Aufkommen des Bildes als Leitmedium auch die Sichtweise der Menschen auf ihre Umwelt grundlegend veränderte. Die kritische Auseinandersetzung mit Sprache und deren Fähigkeiten als Kommunikationsmedium spielt dabei eine entscheidende Rolle, genau wie die Erfindung von technischen Gerätschaften, die erstmals eine Sichtbarmachung von dem menschlichen Auge bis dahin verborgenen naturwissenschaftlichen Vorgängen ermöglichte. In letzten Teil dieses Kapitels wird die Semiotik 1 , also die Lehre von den Zeichen, behandelt. Die Theorien und verschiedenen Kriterien, nach denen bildliche Zeichen kategorisiert werden können, spielen in dieser Arbeit besonders im Zusammenhang mit Piktogrammen 2 eine große Rolle. 2.2 Entstehung der Schrift Kommunikation ist der Grundstein aller menschlichen Erkenntnis, da letztere erst entstehen kann, wenn einzelne beobachtete Fakten neu formiert und vereinigt (bzw. eben „kommuniziert“) werden. Solche Erkenntnisse sind aber flüchtig, das bedeutet dass sie – in welcher Form auch immer – gespeichert werden müssen, um sie letztlich für die Nachwelt zu bewahren. Anfangs war das menschliche Gehirn das einzige verfügbare Speichermedium, wirklich relevant wurden die Ergebnisse der Denkarbeit erst, als vor etwa 100.000 Jahren das Medium der Sprache aufkam: Sie erlaubte, komplexe Sachverhalte auszudrücken, und erschaffte eine Ordnung in welcher gleichsam die 1 2 Siehe Abschnitt 2.4 ab Seite 12. Siehe Abschnitt 3.4.4 ab Seite 32. 5 2. Von der Schrift zum Bild 6 Verarbeitung von Gedanken und das Weiterführen dieser möglich war. Die Schrift machte das gesprochene Wort erstmals sichtbar, und ermöglichte somit auch die Aufbewahrung des bis dahin rein verbal überlieferten Gedankenguts. Der Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes wurde Einhalt geboten, da durch die Speicherung des Wissens räumliche und zeitliche Grenzen überwunden und auch eine Trennung von Gedankengut und Sprecher erreicht werden konnte. Diese Form der Sichtbarmachung von bis dahin ausschließlich akustisch wahrnehmbaren Inhalten war eine wesentliche Prämisse für die Geburt der Wissenschaft. Es dauerte aber einige Zeit, bis sich die alphabetische Schrift, wie wir sie heute kennen, etablierte. Anfang bestand sie aus Piktogrammen, also bildhaften Darstellungen von Dingen selbst. Da diese aber zum Ausdruck von Eigennamen oder abstrakten Gedanken ungeeignet waren, entwickelten sich eine Art Lautschrift (auch bekannt als Phoenikisch), welche das Dargestellte anhand von phonetischen Bestandteilen3 anstatt von äußerlichen Eigenschaften oder Sinnbildern zeigten. Mit der Keilschrift wurde ca. 1400 v. Chr. das erste wirkliche Alphabet erfunden, in welchem ein Zeichen für einen einzigen Vokal oder Konsonanten steht. Somit konnte das gesprochene Wort direkt — also ohne eine Übersetzung in bildhafte Darstellungen oder phonetische Bausteine — in Schriftform gebracht werden. 2.3 Visuelle Zeitenwende Der Begriff der visuellen Zeitenwende beschreibt einen gesellschaftlichen Wandel, ausgelöst durch die rasant zunehmende Präsenz visueller Medien und einer daraus resultierenden Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen. Wie im vorangehenden Abschnitt erwähnt, beruhen die Anfänge der Wissenschaften und die Gründung diverser Wissenschaftsdisziplinen auf der Schrift. Genau genommen repräsentiert diese das gesprochene Wort in Form der Aneinanderreihung von grafischer Zeichen. Trotz dem Vorhandensein eines solchen Schriftbilds wählte man im Zeitalter der Aufklärung den Weg der Negativität, also einer möglichst darstellungsfreien Argumentation. Die Bewahrung und Mehrung des über Jahrhunderte entstandenen gesamtgesellschaftlichen Wissensvorrats erfolgte beinahe ausschließlich durch die alphabetische Schrift, sie bildete quasi den Grundbaustein der menschlichen Existenz. Bilder galten als verpöhnt und wurden lediglich als erbauliche Belehrung für Ungebildete gesehen, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren. 3 Für mehrere gleich klingende Worte wurde ein einziges Zeichen definiert, das unabhängig von der Bedeutung des Wortes eingesetzt werden konnte. Der Sinn offenbarte sich erst im Zusammenhang. 2. Von der Schrift zum Bild 7 Die Sprache wurde also als einziges und ultimatives Medium der Erkenntnis angesehen. Die Vertreter des so genannten Linguistic Turn4 – besonders Philosophen wie etwa Ludwig Wittgenstein oder Immanuel Kant – waren der festen Überzeugung, dass Bedeutung und Erkenntnis sich allein in der Sprache vollziehe bzw. ausschließlich auf diese zurückzuführen sei. Laut ihrer Ansicht konkretisiert die bildhafte Darstellung eine Idee so stark, dass eine Manipulation kaum verhindert werden kann. Logik bzw. logisches Denken wurden also strikt an sprachliche Gesetzmäßigkeiten gebunden – kurz gesagt bezweifelte man lange die Fähigkeit des Menschen, überhaupt in Bildern denken zu können. Nun ist es aber so, dass Bilder dennoch als bewährte Methode, um Weltanschauungen der Menschen zu erhalten, betrachtet werden können. Sie existieren, seitdem sich der Mensch bewusst mit seiner Umgebung auseinandersetzte – man denke nur an die ersten Höhlenmalereien, die vor etwa 20.000 Jahren angefertigt wurden. Es änderte sich also lediglich das Wesen der Erzeugung von Bildern – und das besonders im Bezug auf deren Massenwirksamkeit. Wie bereits in Abschnitt 1.2 ab Seite 3 erwähnt wurde, begründete sich der Übergang von einer schriftorientierten Kultur zu einer Kultur der Bildpräsenz einerseits durch eine Reihe technischer Errungenschaften5 , welche einen Paradigmenwechsel in den Wissenschaften veranlassten und die Wahrnehmung der Menschen grundsätzlich veränderte, andererseits auch der Infragestellung von Sprache in ihrer Rolle als ultimative Ausdrucksform aller Erkenntnis durch Sprachkritik bzw. Sprachkrise6 . 2.3.1 Sichtbarmachung des Unsichtbaren In der frühen Neuzeit war die Sichtbarmachung des Unsichtbaren eine wesentliche Thematik für Wissenschafter aller Welt. Durch Instrumente wie dem Mikroskop und dem Fernrohr konnten Welten erschlossen werden, die für das menschliche Auge bisher nicht unmittelbar sichtbar (bzw. hyperrealistisch) waren. Die Erschließung von Mikro- und Makrokosmos nahm wesentlichen Einfluss auf die Theoriebildung in verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen. Fernrohr Im Jahre 1609 baute Galileo Galilei das erste leistungsfähige Fernrohr7 und nutzte es zur Beobachtung des Himmels, welche bis dahin mit dem bloßen Auge (und dementsprechend ungenau) geschah. So konnten erstmals genauere Angaben über die Himmelskörper bzw. der Struktur des Makrokosmos 4 Vgl. Abschnitt 2.3.2 auf Seite 10. Siehe Abschnitte 2.3.1 und 2.3.2 ab Seite 7 6 Siehe Abschnitt 2.3.3 ab Seite 2.3.3 7 Das Fernrohr wurde 1698 vom Holländer Hans Lipperhey erfunden, Galilei hat es lediglich weiterentwickelt. 5 2. Von der Schrift zum Bild 8 gemacht werden, wie etwa dass es sich bei der Milchstraße um keine nebelige Struktur, sondern eine Vielzahl einzelner Sterne handelt. Eine bedeutende Erkenntnis, die zum erwähnten Paradigmenwechsel in den Wissenschaften beitrug, ist das Kopernikanische (bzw. heliozentrische) Weltbild (siehe Abbildung 2.2), welches das geozentrische Weltbild (siehe Abbildung 2.1) ablöste und im Gegensatz zu diesem besagt, dass nicht die Erde, sondern die Sonne der Zentralkörper unseres Planetensystems ist. Abbildung 2.1: Schema des geozentrischen Weltbildes Abbildung 2.2: Schema des heliozentrischen Weltbildes Mikroskop 1625 gelang Francesco Stelluti und Frederico Stesi erstmals die Untersuchung des Mikrokosmos am Beispiel der äußeren Eigenschaften von Honigbienen in einer bis dahin nicht gekannten Exaktheit mit Hilfe eines Mikroskops. Die Möglichkeit, kleinste Objekte zu vergrößern, sorgte neben der Überprüfung, Bestätiung und Widerlegung alter Theorien für eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse — wie etwa dem Kapillarsystem von Venen und Arterien und in Folge der Theorie des Blutkreislaufs. Weiters wurde die Präformationstheorie, welche besagt dass der gesamte Organismus im Spermium bzw. im Ei (je nach Auffassung der Vertreter) vorgebildet ist (siehe Abbildung 2.3) und sich im Lauf seiner Entwicklung nur noch entfalten und wachsen müsse, zwar anfangs durch mikroskopische Untersuchungen unterstützt, anfang des 19. Jahrhunderts aber verworfen. Röntgenstrahlen Im Jahre 1895 gelang es dem deutschen Physiker Wilhelm Conrad Röntgen, das Innere lichtundurchlässiger Körper sichtbar zu machen. Er bemerkte, dass die von ihm benutzte Kathodenstrahlung beim Auftreffen auf feste Körper (wie etwa Metalle) elektromagnetische Wellen erzeugte. Außerdem stellte sich heraus, dass die Röntgenstrahlen auch fotochemische Wirksamkeit aufweisen: So sorgte etwa eine Hand zwischen der Ionenröhre und einer 2. Von der Schrift zum Bild 9 Abbildung 2.3: Homunculus – Darstellung des gesamten menschlichen Embroys in einem Spermienkopf. fotografischen Schicht dafür, dass letztere unterschiedlich geschwärzt wurde – je nachdem, wie sehr die durchdrungenen Materialien die Röntgenstrahlen abschwächten (siehe Abbildung 2.4). Abbildung 2.4: Frühe Röntgenaufnahme von Bertha Röntgens Hand, die diese hierfür 25 Minuten lang in die Röntgenstrahlung hielt. Bohrsches Atommodell Das im Jahre 1913 von Niels Bohr entwickelte Bohrsche Atommodell lässt sich wie das Mikroskop in die Kategorie der Ergründung des Mikrokosmos eingliedern. Es basiert auf dem 2 Jahre zuvor aufgestellten Atommodell nach Ernest Rutherford (Rutherford-Modell ), welches besagt, dass jedes Atom aus einem Kern (bestehend aus positiv geladenen Protonen und ungeladenen Neutronen) und um diesen kreisende negativ geladenen Elektronen besteht. Im Grundzustand jedes Atoms entspricht die Anzahl der Elektronen der Anzahl der Protonen. Bohr erkannte weiters, dass die Elektronen nur bestimmte Abstände vom Kern einnehmen können, welche im Falle eines Wechsels nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft verändert werden. Diese Abstände spiegeln die Energieniveaus der Elektronen wieder, dabei gilt: Je kleiner der Abstand eines Elektrons zum Kern, desto geringer ist das Energieniveau des Elektrons. Ein Beispiel befindet sich in Abbildung 2.5. 2. Von der Schrift zum Bild 10 Das Bohrsche Atommodell gilt als überholt und wurde mehrfach weiterentwickelt, es soll im Kontext dieser Arbeit lediglich als Beispiel dafür dienen, wie eine eigentlich fiktive Abbildung (es handelt sich lediglich um ein stark vereinfachtes Modell) einen Wirklichkeitswert transportieren kann. Abbildung 2.5: Bohrsches Atommodell anhand des Beispiels Natrium (Na): Natrium hat die Ordnungszahl 11 im Periodensystem, es weist also 11 Elektronen auf. Diese sind auf den Kreisbahnen bzw. Schalen von innen nach außen angeordnet – dabei ist zu beachten, dass keine der Schalen mehr als die maximal zulässige Anzahl von Elektronen aufweist. 2.3.2 Bilderflut Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird auch als Pictoral Turn8 bzw. Beginn des sogenannten optischen Zeitalters bezeichnet. In dieser Zeit war nicht nur ein Umdenken in Wissenschaft und Technik zu verzeichnen, auch die philosophische Meinungsbildung wurde maßgeblich beeinflusst. Einerseits durch die in Abschnitt 2.3.1 ab Seite 7 erwähnten Technologien zur Sichbarmachung dessen, was dem menschlichen Auge bis dahin verborgen blieb; andererseits durch die rasante Entwicklung anderer Technologien – besonders den Verbesserungen hinsichtlich der Nachrichtenübermittlung und der Verkehrsmittel – wurden die Verhältnisse von Raum und Zeit grundlegend verändert. Distanzen verloren an Bedeutung, die Fotografie mit ihrer klaren Abbildung der Wirklichkeit löste die bis dahin üblichen Illustrationen in der Massenpresse ab, die ersten (Werbe-)Plakate veränderten die Fassaden der Großstädte. Es galt, das Verhältnis von Bild und Begriff in Frage zu stellen. 8 Vgl. Abschnitt 2.3 auf Seite 6. 2. Von der Schrift zum Bild 2.3.3 11 Sprachkritik und Sprachkrise Sprachkritik Als „Sprachkritik“ bezeichnet man die Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch einer Zeit und die Erforschung des Zusammenhängen von Sprache und Denken. Es liegt auf der Hand, dass eine schriftorientierte Kultur sich dadurch auszeichnet, dass chaotische Mengen an Wissen, welche der Beobachtung bzw. Wahrnehmung entstammen, durch die Sprache in eine geordnete Welt geführt werden. Eine entscheidende Frage lautet nun, wie objektiv eine solche Transformation überhaupt sein kann, wenn man an die Regeln und Gesetzmäßigkeiten von Sprache gebunden ist. Da schriftliche Aufzeichnungen per Definition mit einem gewissen Maß an Erzählstruktur versehen werden müssen, lässt sich in Folge ein narrativer Charakter nicht vermeiden. Die Geschichtsschreibung ist ein gutes Beispiel hierfür: Zweifelsohne wird der Interpret von geschichtlichen Aufzeichnungen in Schriftform von der Art und Weise, wie die beobachteten Sachverhalte strukturiert wurden, beeinflusst. Sprachkrise Als „Sprachkrise“ bezeichnet man eine Steigerung (bzw. Folgeerscheinung) der Sprachkritik, im Zuge derer Zweifel geäußert werden, ob die Wirklichkeit mit sprachlichen Mitteln überhaupt objektiv darstellbar sei. Die aus der Sprachkritik resultierende Problematik wurde um 1900 ein wesentliches Thema, da die Sprache als ausschließliche Methode zur Bewahrung genauer wissenschaftlicher Erkenntnisse an ihre Grenzen zu gelangen schien. Das Ausformulieren dieser Beobachtungen war schlicht und einfach zu ungenau bzw. zu banal, um eine funktionierende Vermittlung der Erkenntnisse möglich zu machen. Diese Unzulänglichkeit wurden etwa in Hugo von Hofmannsthals 1902 verfassten Brief des Lord Chandos 9 thematisiert. Auch Friedrich Nietzsche stellt in dem Essay Über Wahrheit und Lüge 10 die Frage, ob die Sprache wirklich den Anforderungen an eine Ausdrucksform aller Realitäten gerecht werden kann. Die Leute sind es nämlich müde, reden zu hören. Sie haben einen tiefen Ekel vor den Worten: Denn die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. [..] Wir sind im Besitz eines entsetzlichen Verfahrens, das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken. (Hugo von Hoffmansthal, [79]) 9 10 Siehe [79]. Siehe [60]. 2. Von der Schrift zum Bild 2.3.4 12 Die Sprache der Zeichen Wie bereits in Abschnitt 2.2 ab Seite 5 erläutert, bestanden die ersten Schriften aus Piktogrammen, also vereinfachten Darstellungen von Objekten oder Sinnbildern, bevor sie letztlich vom griechischen Alphabet abgelöst wurden. Nach dem Pictoral Turn der Jahrhundertwende übernahmen die Bilder jedoch (wieder) eine Leitfunktion, welche sich kurze Zeit später in einer Art Sprache der Zeichen in Form von Piktogrammen bzw. Symbolen oder Signalen äußerte. Betrachtet man nun die Relationen dieser Sprache der Zeichen zu seinen eigentlichen Bestandteilen, gelangt man zu folgenden Erkenntnissen: 1. Die Sprache wird repräsentiert von der Schrift, welche wiederum aus grafischen Zeichen besteht. 2. Die Schrift selbst folgt einer Grammatik, die Lektüre und das Verstehen von Schriften ist mit zeitlichem Aufwand verbunden und maßgeblich von der Vorbildung des Lesers abhängig. 3. Bilder müssen per Definition gedeutet werden, verlangen also ein gewisses Maß an Interpretation. Je höher die Anzahl der Interpretationsmöglichkeiten bzw. je geringer der tatsächliche Gegenstandsbezug ist, desto mehr kann man beim Betrachten des Bildes eher von einer ungenauen Deutung als einem eindeutigen Verstehen sprechen. 4. Die Sprache der Zeichen hingegen folgt weder den Gesetzmäßigkeiten der Schrift, noch denen der Sprache. Sie muss weder umständlich interpretiert, noch langwierig gelesen werden – und steht damit zwischen Bildern und der Schrift. In der Schlussfolgerung bedeutet dies, dass Bilder ebenfalls Zeichensysteme bilden können und deshalb semiotisch interpretierbar sind. 2.4 2.4.1 Semiotik Allgemeines Jede Form von Kommunikation besteht aus Zeichen, seien diese nun sprachlich oder außersprachlich. Die Semiotik ist die Theorie von den Zeichen und untersucht deren Wesen, Entstehung und Gebrauch. Sie ist deshalb genau genommen keine unabhängige Wissenschaftsdisziplin, sondern ein Teilgebiet diverser anderer Wissenschaften. Man kann von einer Metawissenschaft sprechen, da sie durch die Beschäftigung mit Zeichen und deren kommunikativer Bedeutung die Grundlage für andere Wissenschaften darstellt. Man unterscheidet generell zwei verschiedenen Richtungen der Semiotik: Hauptaugenmerk der linguistisch-strukturalistischen Semiologie liegt rein auf 2. Von der Schrift zum Bild 13 der Sprache, während sich die zeichentheoretische Semiotik um allgemeine Themen der Benutzung von Zeichensystemen annimmt. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass der Fokus dieser Arbeit eher auf zweitgenannter Disziplin liegt – und dabei im Speziellen auf den Einsatz von Piktogrammen als Zeichen im semiotischen Sinn. Der Grundgedanke der Semiotik Ein Zeichen 11 – sei es nun in Form eines niedergeschriebenen Buchstabens, eines Ausrufes, einer Geste oder eines Piktogramms – steht immer für etwas, dieses etwas kann man als Objekt 12 bezeichnen. Die Semiotik untersucht das Zusammenspiel zwischen diesen Grundkomponenten. Hierbei wird davon ausgegangen, dass ein solches Zeichen sich nicht direkt auf ein konkretes Objekt bezieht, sondern auf der Seite des Rezipienten des Zeichens erst eine Vorstellung bzw. einen Begriff 13 hervorruft, welcher dann mit dem eigentlichen Objekt assoziiert wird. Dieser Begriff kann – laut Charles Sanders Peirce – wiederum als ein (äquivalentes oder weiterentwickeltes) Zeichen betrachtet werden. Das für die Deutung von Zeichen notwendige Interpretationsgeschehen selbst wird Semiose genannt. Laut dem semiotischen Modell stehen die Wörter also nicht in eindeutiger Weise mit den Dingen selbst in Beziehung, vielmehr ist es unser Denkapparat der fähig ist, den Zusammenhang über begriffliche Konzepte herzustellen. Diese Abhängigkeiten werden in Abbildung 2.6 dargestellt. 2.4.2 Das Zeichen In der Semiotik wird jede Form einer Nachricht, die für Menschen sinnlich wahrnehmbar ist, Zeichen genannt. Diese können in 3 Kategorien eingeteilt werden: 1. Auditive Zeichen sind hörbar, Beispiele hierfür sind etwa eine Feuerwehrsirene oder ein klingelndes Telefon. 2. Visuelle Zeichen sind sichtbar, Beispiele hierfür sind etwa eine Fotografie oder eine Geste. 3. Taktile Zeichen sind tastbar, Beispiele hierfür sind etwa Blindenschrift oder ein Elektrozaun. 11 auch bekannt als: Symbol (Oden-Richards), Representatum (Peirce), Ausdruck (Hjelmslev), Bezeichnung, Name (Ullmann) oder zeichenhaftes Vehikel (Morris) 12 auch bekannt als: Ding (Ullmann), Gegenstand (Frege-Peirce), Denotatum (Morris), Denotation (Russel), Signifikat (Frege) oder Extension (Carnap) 13 auch bekannt als: Interpretant (Peirce), Referenz (Odgen-Richards), Sinn (Frege), Intension (Carnap), Designatum (Morris), Significatum (Morris), Mentales Bild (Saussure, Peirce), Inhalt (Hjelmslev) oder Bewusstseinszustand (Buyssens) 2. Von der Schrift zum Bild 14 Abbildung 2.6: Semiotisches Dreieck. Ein Zeichen muss nicht jede Eigenschaft eines wirklichen Gegenstands abbilden, der Bezug ergibt sich auch durch das Repräsentieren des Objekts auf konstruierte Art und Weise. Es wird sozusagen wiedererkannt, auch wenn es nirgendwo komplett identisch aufzufinden ist. Gleichermaßen muss ein repräsentiertes Objekt auch nicht tatsächlich existieren oder unmittelbar wahrnehmbar sein. 2.4.3 Teilgebiete Die im Wesentlichen von Charles Sanders Peirce ab Anfang des 20. Jhdts. entwickelte Wissenschaftsdisziplin der Semiotik beschäftigt sich mit den Zeichen selbst, mit ihrem Kontext und mit der Art wie sie in Systemen organisiert sind. Diese Interessensfelder werden von den folgenden Teilgebieten der Semiotik abgedeckt: 1. Die Sigmatik beschreibt die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem (bzw. Objekt). 2. Die Semantik beschreibt die Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung (bzw. Begriff). 3. Die Syntaktik beschreibt das Zeichen selbst, bzw. dessen formale Mittel. 4. Die Pragmatik beschreibt die Absicht, mit der Zeichen verwendet werden. 2. Von der Schrift zum Bild 15 Sigmatik Die Sigmatik untersucht das Verhältnis zwischen den Zeichen und den von ihnen repräsentierten Objekten. Dieses Verhältnis dient der Klassifizierung des Zeichens selbst, es kann hierbei auf 3 verschiedenen Arten mit einem Objekt in Beziehung stehen. Diese werden in den Abbildungen 2.7, 2.8 und 2.9 dargestellt. 1. Das Zeichen als Ikon weist ähnliche äußerere Merkmale wie das bezeichnete Objekts auf. Durch die wiedererkennbare Analogie wird so beim Rezipienten des Bildes das gleiche (oder zumindest ein sich ähnelndes) Wahrnehmungsmodell ausgelöst wie beim Betrachten des Objekts selbst. Ein Ikon ist also im Wesentlichen ein Abbild des Objekts, wie z.B. ein Foto. 2. Das Zeichen als Symbol hat keinerlei optische Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten selbst. Deshalb ist es Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Kommunikation, dass die Bedeutung des Zeichens für Sender und für Empfänger die selbe ist. Im Gegensatz zum Ikon sind Symbole besonders für die Darstellung abstrakter Sachverhalte geeignet, wie z.B. ein Verbot, das durch die Kombination der Farbe Rot mit der Form eines durchgestrichenen Kreisringes signalisiert wird. 3. Das Zeichen als Index verwendet wiederum ein Ikon oder Symbol, um auf das bezeichnete Objekt zu verweisen. Diese Relation kann sowohl räumlicher (z.B. das Piktogramm einer Glocke auf einem Schalter) als auch zeitlicher Natur (z.B. die Zeiger einer Uhr) sein. Abbildung 2.7: Zeichen als Ikon. Abbildung 2.8: Zeichen als Symbol. Abbildung 2.9: Zeichen als Index. Eine optische Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem erhöht zweifelsfrei die Verständlichkeit, indem es diese unabhängig von kulturellen oder sprachlichen Unterschieden macht. Es muss aber nicht zwingend formal an das Objekt erinnern. Eine Bedeutung kann sich auch dadurch ergeben, 2. Von der Schrift zum Bild 16 dass sie bei Sender und Empfänger durch dasselbe Motiv ausgedrückt werden kann – sprich, dass das Zeichenrepertoire bei beiden zumindest teilweise deckungsgleich ist. Verkehrsschilder sind ein gutes Beispiel für die Konventionsabhängigkeit von Zeichen in Form von Symbolen, da sie erst gelernt werden müssen, um verstanden werden zu können. Ein Beispiel hierfür befindet sich in Abbildung 2.10. Abbildung 2.10: Beispiel für ein ein Zeichen, das sowohl als Ikon (ikonisches Piktogramm einer Kuh), Symbol (Dreieck mit rotem Rand, stellvertretend für „Achtung“) als auch als Index (Schild ist an einer bestimmten Stelle positioniert) dient. Ikonizität und Abstraktionsgrad Wird ein Zeichen als Ikon eingesetzt, so gibt es zwei wichtige Eigenschaften für dieses: Die Ikonizität und ihr Gegenstück, der Abstraktionsgrad. Es gelten hierfür folgende Regeln: • Die Ikonizität eines Zeichens steigt – bzw. der Abstraktionsgrad eines Zeichens sinkt – mit zunehmender Ähnlichkeit zum tatsächlichen Objekt. Je eindeutiger und wiedererkennbarer ein Zeichen ist bzw. je mehr sich Ikon und Objekt ähneln, desto höher ist demnach dessen Ikonizität. Im Umkehrschluss bedeutet das: • Die Ikonizität eines Zeichens sinkt – bzw. der Abstraktionsgrad eines Zeichens steigt – mit zunehmender Anzahl von Interpretationsmöglichkeiten. Je mehr der Bezug des Zeichens zum Objekt von der Konvention abhängig ist, desto geringer ist demnach dessen Ikonizität. Man kann also behaupten: Je konkreter bzw. abbildender ein Zeichen also ist, desto höher ist seine Ikonizität – sie ist ein wesentlicher Indikator für die Verständlichkeit von Zeichen im Allgemeinen. Ein Beispiel ist in Abbildung 2.11 zu finden. 2. Von der Schrift zum Bild 17 Abbildung 2.11: Veranschaulichung der Begriffe Ikonizität und Abstraktionsgrad am Beispiel verschiedener Abbilder von Josef Stalin. Vereinbartes Zeichenrepertoire Der Abstraktionsgrad spielt natürlich nicht nur für Zeichen, die als Ikon eingesetzt werden, eine Rolle. Wie erwähnt ist für den kommunikativ erfolgreichen Einsatz von symbolhaften Zeichen ein gewisses Maß an Übereinstimmung der Zeichenrepertoires von Ersteller und Betrachter notwendig. Beispiele für verschiedene bildliche Zeichen und deren Einordnung bezüglich Abstraktionsgrad und dem nötigen Umfang des deckungsgleichen Zeichenrepertoires befinden sich in Abbildung 2.12. Abbildung 2.12: Einordnung verschiedener Bildzeichen anhand ihres Abstraktionsgrads und der zum eindeutigen Verständnis vorausgesetzten Größe des vereinbarten Zeichenrepertoires. 2. Von der Schrift zum Bild 18 Semantik Die Semantik untersucht die Relationen zwischen den Zeichen und deren Bedeutung (bzw. den Begriff, den das Zeichen hervorruft) und ist deshalb auch als die Theorie der Bedeutung von Zeichen bekannt. Das Deuten eines Zeichens wird dabei auch von Wissen, Kultur, sozialen und gesellschaftlichen Umständen beeinflusst – anders formuliert ist die eigentliche Bedeutung also vom Kontext abhängig. Zwei Beispiele für semantische Mehrdeutigkeit werden in den Abbildungen 2.13 und 2.13 dargestellt. Weiters wird etwa die Geste des Kopfschüttelns in Bulgarien, Sri Lanka und Nordgriechenland als Bejahung bzw. Befürwortung gedeutet – ganz im Gegensatz zum Rest der Welt. Abbildung 2.13: Beispiel für semantische Mehrdeutigkeit: Das Piktogramm eines Blitzes kann ohne einen Kontext sowohl als Symbol für „Elektrizität“, als auch als das für „Konflikt“ interpretiert werden. Abbildung 2.14: Beispiel für semantische Mehrdeutigkeit: Das Piktogramm kann ohne einen Kontext sowohl als Symbol für „Weiblichkeit“, als auch als das „meteorologische Symbol für den Planeten Venus“ interpretiert werden. Syntaktik Die Syntaktik (auch als Syntax bekannt) beschäftigt sich mit den Relationen zwischen einzelnen Zeichen, genauer gesagt mit deren äußeren Eigenschaften. Auch der Aspekt der Gültigkeit einer Zusammensetzung von mehreren Zeichen (Zeichen-Kombinatorik ) wird untersucht. Hinsichtlich der formalen Mittel steht eine breite Palette an Möglichkeiten zur Gestaltung von Zeichen zur Verfügung (siehe Tabelle 2.1). Bei der Gestaltung von Zeichen ist zu beachten, dass die Wahl der formalen Mitteln vorrangig zur Gewährleistung einer möglichst eindeutigen und unmissverständlichen Kommunikation getroffen werden sollte. Zu komplexe Konstrukte laufen oftmals Gefahr, durch die Vielzahl an optischen Elementen an Zeichenhaftigkeit zu verlieren und zum Ikon zu werden. Der Einsatz unnötiger Details sollte auch zu Gunsten der Interpretationsdauer vermieden werden. Entwirft man ein ganzes Zeichensystem, so ist es vorteilhaft, die 2. Von der Schrift zum Bild Qualität Form Helligkeit Farbe Quantität Dimension Begrenzung Qualität Quantität Relation Verwirklichung Qualität Quantität Relation Verwirklichung 19 rund – eckig, unregelmäßig – regelmäßig, asymmetrisch – symmetrisch groß, klein Punkt, Linie, Fläche, Körper, Raum Leer -, Voll -, Füllform, offene/geschlossene Form, Konturschärfe Helligkeitsgrade, Konsistenz große Menge, kleine Menge Kontrast, Ähnlichkeit, Skala Pigmentmischung, visuelle Mischung, Reflexion, Absorption, Transparenz Farbton, Farbhelligkeit, Farbsättigung große Menge, kleine Menge komplementär, simultan, sukzessiv, hell – dunkel, bunt – unbunt additiv (RGB), subtraktiv (CMYK), Reflexion, Absorption, Transparenz Tabelle 2.1: Formale Mittel für die Zeichengestaltung enthaltenen Einzelelemente mit den selben optischen Grundeigenschaften zu versehen. Dies gewährleistet eine visuelle Geschlossenheit, die es einerseits dem Betrachter ermöglicht, überhaupt ein System zu erkennen, und andererseits eine Kombination dessen Komponenten erlaubt. Ein Beispiel für die Zeichen-Kombinatorik befindet sich in Abbildung 2.15. Abbildung 2.15: Beispiel der funktionierenden Kombination zweier formell ähnlicher Zeichen. Pragmatik Die Pragmatik untersucht die Beziehung zwischen den Zeichen und den Absichten dessen Senders bzw. den Interpretationsmöglichkeiten dessen Empfängers. Auf der Seite des ersteren kann man die Absicht oder den Zweck eines Zeichens folgendermaßen kategorisieren: 2. Von der Schrift zum Bild 20 • Die indikative Absicht beeinflusst lediglich das Denken des Empfängers. Es informiert ihn über eine Gegebenheit, lässt ihm aber selbst und komplett frei über sein Handeln entscheiden (Beispiel siehe Abbildung 2.16). • Die imperative Absicht beeinflusst den Willen des Empfängers und hat den Zweck, ihn in seiner Handlungsweise beeinflussen (Beispiel siehe Abbildung 2.17). • Die suggestive Absicht beeinflusst die Gefühle des Empfängers und beeinflusst ihn idealerweise lediglich unterbewusst zu einer Änderung seiner Verhaltensweise (Beispiel siehe Abbildung 2.18). Abbildung 2.16: Beispiel für indikative Absicht: Das Zeichen informiert über eine Parkmöglichkeit, ob der Betrachter diese auch nutzt bleibt ihm selbst überlassen. Abbildung 2.17: Beispiel für imperative Absicht: Das Zeichen zeigt an, dass das Fischen an diesem Ort untersagt ist. Der Betrachter soll in seinem Handeln beeinflusst werden. Abbildung 2.18: Beispiel für suggestive Absicht: Das Zeichen sorgt ruft den Gedankenan die gesundheitsschädliche Wirkung des Rauchens auf und beeinflusst so die Gefühle des Betrachters. Auf der Empfängerseite kann man drei verschiedene Interpretationsgrade unterscheiden (Beispiele siehe Abbildungen 2.19, 2.20 und 2.21): • Die offene Interpretation ist nicht eindeutig, eine Nachricht kann also nicht unmissverständlich kommuniziert werden. Ungleiche Zeichenrepertoires auf Sender- und Empfängerseite oder ein falscher Kontext können hierfür verantwortlich sein. • Eine eindeutige Interpretation ist möglich, wenn das Umfeld eines Zeichens einen eindeutigen Bezug zu dessen Bedeutung herstellt. Im Falle von visuellen Zeichen gilt es demnach, den Ort, die Stelle, die Größe, die Richtung, die Beleuchtung (usw.) dieses Zeichens so zu wählen, dass es unmissverständlich verstanden werden kann. 2. Von der Schrift zum Bild Abbildung 2.19: Beispiel für eine offene Interpretation: Ohne weitere Informationen kann das Rauchen sowohl nur am Tisch oder im Bereich des gesamten Lokals verboten sein. 21 Abbildung 2.20: Beispiel für eine eindeutige Interpretation: Das Rauchen ist im örtlich klar abgegrenzten Innenraum des Flugzeugs nicht gestattet. • Als vollständige Interpretation im System bezeichnet man den Vorgang des Verstehens eines Zeichens im Zusammenhang mit anderen Zeichen des selben Systems. So ergibt sich eine in geschlossene, systematisierte Bildsprache. Abbildung 2.21: Beispiel für eine vollständige Interpretation im System: Die Symbole Otto Neuraths lassen sich klar in ein in sich geschlossenes Piktogrammsystem einordnen. Kapitel 3 Das Bild als Informationsträger 3.1 Einleitung In diesem Kapitel wird die die Etablierung des Bildmediums in der gesellschaftlichen Praxis behandelt. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf Bildern, die zur Vermittlung von Wissen, also zu didaktischen Zwecken, eingesetzt werden. Das Kapitel ist deshalb so umfangreich, weil ein Großteil der Prinzipien, die für diese Art von statischen Bildern gelten, auch für das Bewegtbild gültig sind. Besonders im Hinblick auf den Einsatz von Piktogrammen und Diagrammen aller Art ist dies zweifellos der Fall, da sie bei Motion Graphics aufgrund ihrer kommunikativen Effizienz genauso gezielt eingesetzt werden wie in statischen Bildern. Außerdem soll der Versuch unternommen werden, die mit der Änderung des Leitmediums einer Kultur einhergehende Umstellung der Denkweise der sich darin befindlichen Menschen aufzuzeigen, da eine solche Umstellung zweifelsohne auch in der Gegenwart in Form einer immer stärkeren Präsenz von Bewegtbildern in Kombination mit den Möglichkeiten der vernetzten, digitalisierten Form der Informationsbewahrung stattfindet. 3.2 Theorien zu Bild und Text Inwiefern sich die Schrift und das Bild in der Vergangenheit als Techniken der Überlieferungssicherung etablierten, wurde im vorigen Kapitel erläutert. Für das Verständnis der Rolle von Bildern in der modernen Kommunikation ist es essenziell, einige theoretische Eigenschaften dieser beiden Ausdrucksformen – auch im Verhältnis zueinander – aufzuzeigen. 3.2.1 Bild-Theorien Generell werden Bilder dafür gebraucht, um Gegenstände oder Sachverhalte darzustellen. Dies bedeutet folglich, dass sowohl konkrete (ikonische) Abbil22 3. Das Bild als Informationsträger 23 der der sichtbaren Realität – etwa in Form von von Fotografien – als auch abstrakte (nicht-ikonische) bzw. nicht unmittelbar sichtbare (hyperrealistische) Verhältnisse und Gedankengänge – wie z.B. Ideen oder Wünsche, aber auch Röntgenbilder – in Form von Bildern festgehalten werden können. Bilder sind visuelle Zeichen, die auf ein Medium der materiellen Realisation angewiesen ist. Erst in Form von bedrucktem Papier, einem Fernsehbild oder Pigmenten auf einer Leinwand werden sie wahrnehmbar. Im Zuge des Wahrnehmungsprozesses wird zuerst eine grobe inhaltliche Orientierung1 vorgenommen, die weiters beeinflusst, welche Strukturen des visuellen Feldes genauer betrachtet werden. Die gewonnenen Informationen werden dann mit bestehenden (bzw. angelernten) Gedächtnisstrukturen verglichen, indem versucht wird, markante (bzw. im ersten Schritt als als beachtenswert erklärte) Merkmale des Bilds mit dem Repertoire an visuellen Erfahrungen zu verknüpfen. Wird beim Betrachten dieser Bilder das Dargestellte (wieder-)erkannt, werden trotz der teils notwendigen „Unterschiede“ 2 des Bilds zum gezeigten Objekt die selben Gedankenbilder hervorgerufen. Weiß der Betrachter aber nicht, wer oder was abgebildet wird, muss er entweder eine Erklärung verlagen oder spekulieren. Bei letzterem wird versucht, an Bekanntes anzuknüpfen: Kulturspezifisches und individuell angeeignetes Wissen wird aktiviert, um die Bedeutung des Bilds zu erahnen. In beiden Fällen zeichnen sich Bilder aber durch eine Eigenschaft aus, die aus den erwähnten Unterschieden zum Dargestellten resultiert: Sie vermitteln eine gewisse Perspektive, bzw. eine der unendlich vielen Arten der Betrachtung gewisser Dinge oder Umstände. Damit ist nicht vorrangig eine perspektivische Raumillusion (wie etwa bei einem Foto) gemeint, auch durch das Aufzeigen bestimmter Anschauungen gelten Bilder weitgehend als authentisch. Lässt man den emotionale Wirkung außen vor und betrachtet den tatsächlichen Informationsgehalt, so sind Bilder auch häufig (z.B. in der Werbung) mit einer Vielzahl an redundanten Elementen versehen. Diese können zwar rein der optischen Attraktivität dienen, die „Details“ erwecken aber gleichermaßen auch und den Eindruck von Qualität – und damit auch den einer authentischen und wohldurchdachten Aussage. Versucht man, mit Bildern etwas unspezifischeres als das bisher genannte, wie etwa „Tier“ oder „Gefahr“, auszudrücken, ist eine Reduktion der Informationselemente notwendig. Die bezeichneten Gegenstände können entweder auf markante optische Merkmale reduziert abgebildet werden (Ikone), aber auch ihre Wirkung aus kulturellen Traditionen beziehen (Symbole). 1 Diese grobe Orientierung dauert beim stehenden Bild etwa 0,3 Sekunden. Zwei- statt Dreidimensionalität, Farbveränderungen, Größenunterschiede, Perspektivenverzerrungen, usw. 2 3. Das Bild als Informationsträger 3.2.2 24 Bild-Text-Theorien Appellfunktion vs. Eindeutigkeit Bilder erregen schnell Aufmerksamkeit, sie besitzen also eine Signalfunktion. Besonders bei Zeitungen wird oftmals ein solcher Zweck erfüllt, über ein Bild (in den meisten Fällen ein Foto) kann ein schneller Einstieg in einen schriftlich behandelten Sachverhalt gewährleistet werden. Die rein über optische Eindrücke vermittelten Informationenen sind in diesem Fall selten eindeutig, was einen gewissen Erklärungsbedarf notwendig macht. Dieser wird meist mittels einer Bildunterschrift gestillt. Ein Foto von dunkelhäutigen Kindern, die Gewehratrappen aus Holz mit sich tragen kann ohne weitere Informationen sowohl als spielhafte Situation in einer afrikanischen Siedlung als auch als Schnappschuss eines Camps, das Kinder zu Soldaten ausbildet, interpretiert werden. In beiden Fällen hat die Abbildung für sich eine Appellfunktion, an der gemessen sie der Sprache eindeutig überlegen ist – dies zeigt zum Beispiel die Tatsache, dass sich beim Lesen einer Zeitschrift 60-90 Prozent der Leser mit Bildern, aber nur 10-20 Prozent mit den angebotenen Texten beschäftigen. Im Hinblick auf den Grad der organisatorischen Komplexität und besonders in Sachen präziser Ausdruckskraft ist das Bild der Sprache aber unterlegen, da Bilder wie erwähnt ohne sprachliche Unterstützung selten eindeutig interpretiert werden können. Ihr hoher Reizwert entsteht also besonders durch Attraktivität und Emotionalität. Erinnerung Es gibt verschiedene Theorien darüber, warum es für Menschen leichter ist, sich an Bilder als an sprachliche Konstrukte zu erinnern. Eine davon macht die Menge an visuellen Reizen dafür verantwortlich, da diese vom Gehirn viel einfacher gespeichert werden können als sprachliche Zeichen. Eine andere besagt, dass ein Bild von einem (wörtlich) bezeichenbaren Gegenstand einmal in visueller Form, und ein weiteres mal als interpretierten verbalen Sinngehalt im menschlichen Gehirn abgelegt wird, und diese Redundanz – im Vergleich zur reinen Sprache, welche nur ein mal gespeichert wird – zu einer insgesamt höheren Menge an Erinnerungen führt. Informationsdarstellung Treten Bild und Text gemeinsam auf, so gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, wie die kommunizierten Informationen zueinander in Beziehung stehen. Sie können entweder redundant (in Bild und Text) oder komplementär (in Bild oder Text) dargestellt werden. Ersteres sorgt im Vergleich für eine genauere Auseinandersetzung mit der Materie, zweiteres führt aufgrund der bereits erwähnten Redundanz zu einer effektiveren Speicherung im Hirn. Unabhängig von dieser Kategorisierung ist ein wichtiges Kriterium für den 3. Das Bild als Informationsträger 25 Erfolg der Kombination von Bild und Text aber, dass die hervorgehenden Informationen insgesamt zu einem passenden semantischen Gedankenbild zusammengefügt werden können. Dies ist nicht der Fall, wenn Diskrepanzen zwischen sprachlichen und bildlichen Information existieren. Sie machen es dem Interpretierenden schwer oder gar unmöglich, in Gedanken eine korrekte Repräsentation zusammenzufügen. Visuelle Klischees Zu Wörterbüchern auf sprachlicher Seite analoge Gegenstücke für Bilder (Bilderlexika u.ä.) können nur bedingt existieren. Dies resultiert aus einer unendlich großen Menge an Situationen, Anschauungen oder Abbildungen, denen wir in der realen Welt begegnen – und welche niemals vollständig und präzise durch Bilder abgedeckt werden können. Die Sprache beschränkt sich auf einen (nicht unbedingt überschaubaren, aber endlichen) Wortschatz und ist mit dessen Hilfe fähig, alle erdenklichen Situationen zu beschreiben. Im Vergleich dazu wirkt die Vorstellung eines Katalog an gebrauchsfertigen, an jede Situation angepassten Bildern beinahe absurd. Dennoch wurden Versuche unternommen, das für das Verständnis von Bildern notwendige kulturspezifische Wissen als Sammlung von visuellen Klischees zusammenzufassen und zu dokumentieren. Zum Beispiel versucht das Anfang der 1980er erschienene Dictionary of Graphic Images 3 , alphabetisch angeordneten Begriffen Bilder zuzuordnen, die für die bereits erwähnte und für das Verständnis von Bildern notwendige Anknüpfung an Bekanntes (siehe Abschnitt 3.2.1) besonders geeignet sind – ein Beispiel hierfür ist in Abbildung 3.1 dargestellt. Ein hoher Wiedererkennungswert bei einer großen Menge an Rezipienten kann nur dann gewährleistet werden, wenn möglichst geläufige Bildzeichen verwendet werden. Aufgrund dieser notwendigen Geläufigkeit und der damit verbundenen (Über-)Beanspruchung des Bildes in der Vergangenheit kann man von visuellen Klischees sprechen. Sofern man bei Bildern, die einem bestimmten Begriff zugeordnet sind, den Versuch unternimmt, für das Verständnis dieses Begriffes irrelevante optische Elemente zu entfernen – bzw. sich auf das wesentliche zu beschränken – so ergeben sich jedoch neue Möglichkeiten für eine Art Enzyklopädie von bildlichen Pendants zu Begrifflichkeiten. Ein Beispiel für eine gelungene Sammlung dieser Art ist das im Abschnitt 3.4.4 auf Seite 32 genauer erklärte ISOTYPE oder das in Abschnitt 4.3.4 auf Seite 72 erwähnte PICOL-System. 3 Siehe [75]. 3. Das Bild als Informationsträger 26 Abbildung 3.1: Beispiel für visuelle Klischees anhand des Begriffs „Pirat“, entnommen aus dem Dictionary of Graphics Images von 1980. 3.3 3.3.1 Klassifizierung von Bildzeichen Klassifizierung anhand der Darstellungsart Diese Art der Klassifizierung beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie Bilder Inhalte darstellen – diese selber spielen hierbei keine vorrangige Rolle. Im Vordergrund steht also die Oberfläche. Einordnung nach Kapitzki Der deutsche Grafikdesigner Herbert W. Kapitzki unterscheidet insgesamt acht verschiedene allgemeine Typen von Bildzeichen, die Definitionen der einzelnen Kategorien stammen aus [1, S. 11]. 1. Ikonogramm: Abbilddarstellung. Ein ikonisches Zeichen, das als Abbilddarstellung die Übereinstimmumgsmerkmale zwischen Zeichen und dem Bezeichneten hervorhebt. 2. Piktogramm: Bilddarstellung, Isotype. Ein ikonisches Zeichen, das komplexe Sachverhalte nicht durch Worte oder Laute, sondern durch visuelle Bedeutungskomplexe darstellt. 3. Kartogramm: Eine topografische Darstellung mit Funktionskomplexen (Statistiken etc.) und ikonischen Sachverhalten, zum Beispiel eine Landkarte oder ein Hausgrundriss. 4. Diagramm: Eine topografische Darstellung mit Funktionskomplexen (Statistiken etc.) und ikonischen Sachverhalten, zum Beispiel eine Landkarte oder ein Hausgrundriss. 3. Das Bild als Informationsträger 27 5. Ideogramm: Begriffsdarstellung. Entspricht dem Zeichen als Symbol, das unabhängig von formaler Übereinstimmung in einer Beziehung zum Referenten steht. 6. Logogramm: Schriftähnliche Begriffsdarstellung. Ein visuellsprachliches Zeichen für einen Referenten ohne Berücksichtigung der lautsprachlichen Dimension. 7. Typogramm: Typendarstellung. Ein Zeichen, auch ein zusammengesetztes Zeichen, aus dem Schriftrepertoire, zum Beispiel aus dem Alphabet. 8. Phonogramm: Lautdarstellung. Ein Zeichen, das durch sprachliche oder andere Laute als Signal Verwendung findet, zum Beispiel ein Pfeifton. Abbildung 3.2: Beispiele für die Einordnung von Bildzeichen nach Herbert W. Kapitzki, von links nach rechts: Ikonogramm, Piktogramm, Kartogramm, Diagramm, Ideogramm, Logogramm, Typogramm und Phonogramm. Einordnung nach Alesandrini Kathryn Alesandrini unterscheidet Bildzeichen hauptsächlich anhand des sigmatischen Charakters4 , also anhand des Verhältnisses zwischen dem Zeichen und dem repräsentierte Objekt bzw. Konzept. Laut dieser Definition gibt es drei verschiedene Typen (vgl. [2]): 1. Representational Graphics zeichnen sich durch eine hohe Ikonizität aus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nur Fotografien oder detailreiche Gemälde (aufgrund dem hohen Maß an optischer Ähnlichkeit zum Dargestellten) in diese Kategorie fallen, auch fällt etwa ein Strichmännchen, welches eine Person repräsentiert, in diese Kategorie (vergleichbar mit einem Zeichen als Ikon). 2. Analogical Graphics haben zwar eine Ähnlichkeit mit bestimmten Objekten, diese funktioniern aber lediglich als Analogiebild des Konzeptes, das eigentlich dargestellt werden soll. Sie besitzen daher einen symbolhaften Charakter (vergleichbar mit einem Zeichen als Symbol ). 4 Siehe Abschnitt 2.4.3 auf Seite 15. 3. Das Bild als Informationsträger 28 3. Arbitrary Graphics besitzen keinerlei optische Ähnlichkeit mit dem Dargestellten, da es sich beim diesem ausschließlich um Verhältnisse und logische Bezüge innerhalb gedanklicher Konzepten handelt, für welche kein unmittelbar sichbares Pendant in der realen Umgebung existiert. Beispiele hierfür wären etwa Diagramme oder Mind-Maps. Einordnung nach Schnotz Laut Wolfgang Schnotz kann man grob zwischen zwei Arten von Bildern unterscheiden (vgl. [81]): 1. Realistische Bilder zeichnen sich eine große Ähnlichkeit mit dem was sie darstellen, man kann sie daher mit Representational Graphics vergleichen. 2. Logische Bilder dienen der Darstellung von Relationen und Zusammenhängen bei bestimmten Sachverhalten, man kann sie daher am ehesten mit Arbitrary Graphics vergleichen. 3.3.2 Klassifizierung anhand der Funktion Die in diesem Abschnitt beschriebenen Standpunkte sehen Bilder hauptsächlich in dem Kontext der Erkenntnis- bzw. Wissensvermittlung, bzw. untersuchen, wie und inwieweit der transportierte Inhalt dem Beobachter zugänglich gemacht wird und diesem im Gedächtnis zu bleiben vermag. Hierbei wird von einer Bild-Text-Kombination ausgegangen, in der Bilder also gewisse Funktionen im Bezug zum Text erfüllen. Einordnung nach Duchastel Philippe C. Duchastel differenziert Bilder anhand von drei Funktionen (vgl. [17]): 1. Attentionale Funktion: Das Bild trägt dazu bei, dass der Lerner sich dem Inhalt zuwendet. 2. Erklärende Funktion: Das Bild unterstützt das Verstehen des Inhalts. 3. Einprägende Funktion: Das Bild unterstützt das längerfristige Behalten des Inhalts. Einordnung nach Levin, Anglin und Carney Joel R. Levin, Gary J. Anglin und Russell N. Carney unterscheiden Bilder über die Zuordnung von fünf Funktionen (vgl. [49]): 3. Das Bild als Informationsträger 29 1. Dekorierende Funktion: Das Bild vermittelt keine für einen Erkenntnisgewinn relevante Informationen. 2. Darstellende Funktion: Das Bild stellt etwas dar, das rein textuell nur schwierig zu beschreiben wären. 3. Interpretierende Funktion: Das Bild macht schwierige Texte leichter verständlich (etwa durch die Darstellung des Kontextes) und gibt dem Betrachter eine Interpretationsgrundlage. 4. Organisierende Funktion: Das Bild verdeutlicht Struktur und Zusammenhänge von Textinhalten. 5. Transformierende Funktion: Das Bild stellt eine Art „Eselsbrücke“ dar und dient sozusagen als Merkhilfe. 3.4 Der Wiener Kreis Der Wiener Kreis wird in dieser Arbeit behandelt, da er für die Etablierung von Bildern als Wissensträger eine ausgesprochen wichtige Rolle spielt. Die Errungenschaften der Arbeitsgruppe – allem voran das ISOTYPE – wurden aufgrund ihres kommunikativen Wertes in vielen Bereichen des täglichen Lebens erfolgreich eingesetzt und prägen die Disziplin der grafischen Informationsaufbereitung noch heute wesentlich mit. Deshalb wird in diesem Abschnitt sowohl die Vorgeschichte und die Ideologie des Wiener Kreises, als auch die Auswirkungen des Schaffens auf die Gesellschaft behandelt. 3.4.1 Vorgeschichte: Das Bildmedium im Aufschwung Wenn Text von Bildern verdrängt werden, dann erleben, erkennen und werten wir die Welt und uns selber anders als vorher: nicht mehr eindimensional, linear, prozessual, historisch, sondern zweidimensional, als Fläche, als Kontext, als Szene. (Vilém Flusser, [27]) Das Verhältnis von Bild und Text hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Für jüngere Medien gilt dabei allgemein, dass (im Vergleich zu älteren Medien) der Bildanteil höher ist, bzw. der Text in den Hintergrund tritt. Außerdem ist das Bild hierbei eher fähig, den Text ersetzen – nicht zuletzt durch ein damit einhergehendes Maß an Konkretion, das durch Sprache nicht (oder zumindest nicht so einfach) erreicht werden kann. Im Laufe der letzten Jahrhunderte fand (und findet) also eine Art Verdrängung von Texten durch Bilder statt, die auch unsere Wahrnehmung maßgeblich veränderte. Gründe für die rasante Verbreitung der Bildmedien in den letzten beiden Jahrhunderten sind sowohl technischer als auch gesellschaftlicher Natur. 3. Das Bild als Informationsträger 30 Auf technischer Seite gilt die Fotografie als erster wichtiger Schritt der Ersetzung der händischen Arbeit eines Malers durch eine automatische Aufnahme und Wiedergabe von Farb- und Helligkeitswerten. Man kann hierbei von einem reproduktiven Charakter sprechen, da die Wirklichkeit „treu“ wiedergegeben wird. Diesen Charakter weisen auch bildgebende Verfahren wie etwa Röntgen in der Medizin oder der Einsatz von Fehlfarben in der Astrologie auf. All diese Errungenschaften ermöglichen eine Bewahrung der komplexen Wirklichkeit im Sinne eines vereinfachten Modells, und die immer einfacher werdende Reproduzierbarkeit ermöglichte eine Verbreitung der Bilder unter den Menschen. Auf gesellschaftlicher Seite konnte in den 1920er-Jahren beobachtet werden, wie die Schrift immer mehr vom Buch in den öffentlichen Raum bewegt wurde. Dies manifestierte sich speziell in Form von Reklamen, die in Form einer Art „Bilderschrift“ nach und nach den kommunikativen Raum restrukturierten und sowohl das Straßenbild als auch das der Zeitungen veränderten. Der Begriff Straßenbild wird hier bewusst verwendet, da das „bildhafte“ auch in Form von Typografie transportiert werden kann. Generell spricht die Ästhetik des Konkreten, die damals in Form von Fotografien und Filmen etwas völlig Neuartiges darstellte, die Sinne weitaus unmittelbarer an als die Sprache, deren Interpretation im Regelfall um einiges anspruchsvoller ist. Durch dieses Ansprechen der äußeren Sinne angesprochen wird automatisch auch eine kommunikative Öffnung gebildet. Für die Gesellschaft bedeutet diese Wende nichts geringeres als eine Bewusstseinsverschiebung, da sich die Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen mit den Medien ändern, die sie umgeben. 3.4.2 Entstehung und Leitmotive In den 1920er-Jahren entstand der Wiener Kreis – eine Gruppe Intellektueller, die es sich zum Auftrag machte, eine Einheitswissenschaft zu etablieren. Diese sollte Erkenntnisse von Forschern aller möglichen Wissenschaftsdisziplinen unter einem gemeinsamen formalen System vereinen und sie damit so weit wie möglich von kulturellen Umständen der Rezipienten (wie etwa Sprache und Vorbildung) unabhängig machen. Der Grund für die Entstehung dieses Kollektivs war eine noch nie gesehene Präsenz audiovisueller Medien in Kombination mit den politischen Wirrnissen und sozialen Missständen dieser Zeit. Da letztere maßgeblich aus der mangelnden Umsetzung von wissenschaftlichen Leistungen in die gesellschaftliche Praxis rührten, galt es, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Ein wichtiges Mitglied des Wiener Kreises war Otto Neurath, der sich nach seinem Studium in Wien u.a. für die Volksbildung einsetzte. Wie seine 3. Das Bild als Informationsträger 31 Mitstreiter war auch er Vertreter des logischen Empirismus 5 und kämpfte für eine wissenschaftliche Weltauffassung und einer Aufklärung der Gesellschaft in einer Industriekultur. Zur Verbesserung der Lebensumstände6 seiner sozial benachteiligten Mitbürger waren zwei Voraussetzungen von Bedeutung (vgl. [59], S. 24): 1. Die sozialen Umstände lassen sich durch den Einsatz wissenschaftlicher Methoden verbessern. 2. Mit dem 20. Jahrhundert ist ein visuelles Zeitalter angebrochen. Die kommunikativen Mittel gehören deshalb reformiert, was bedeutet dass die Wissenschaft ihre Sprache überdenken und das Bilderverbot einer Aufklärung der Gelehrten durch die Entwicklung neuer Formen überwunden werden muss. Diese Prämissen veranschaulichen Mittel und Zweck der Bemühungen Neuraths bzw. des Wiener Kreises: Mit Hilfe des Einsatzes von Bildern und der Entfaltung der damit einhergehenden (und in vorigen Abschnitten erwähnten) Vorteile gegenüber der Schrift sollen wissenschaftliche Erkenntnisse dem arbeitenden Proletariat zugänglich gemacht werden, das weder über genügend Zeit noch ausreichende Bildung verfügt, um sich Wissen in Form von anspruchsvoller Lektüre anzueignen. Neurath berief sich auf das demokratische Recht auf Information und hielt es im Sinne des gesellschaftlichen Gemeinwohls für unabdingbar, die Massen über Themen wie Säuglingssterblichkeit, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und andere für diese relevante Themen aufzuklären. Wie seine Vorgänger wusste er, dass Wissen nur Veränderung bewirken kann, wenn es die Zielgruppe auch wirklich erreicht. Das Ziel, eine möglichst breite Masse auf dem schnellsten und unkompliziertesten Wege über Sachverhalte aufzuklären und sich dafür besonders die Appellwirkung von Reklameplakaten zu Nutze zu machen, bringt damit die Thematik der Popularisierung des Wissens auf: Da dieser Prozess maßgeblich von den Interessen und Gewohnheiten der Adressaten bestimmt ist, bedient sich Neurath neueren und immer populärer werdenden Medien (wie eben den Bildern und dem Film) und institutionalisierte die Wissensverbreitung in Form von Sozialmuseen, wie etwa dem Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, das seit 1924 in Wien zu finden ist. Es ist Teil der Umsetzung des Konzepts von 5 Laut dieser Position können Erkenntnisse nur dann auch wirklich als solche bezeichnet werden, wenn sie auf naturwissenschaftliche Beobachtungen reduzierbar sind. In Zeiten der Entwicklung der Naturwissenschaften (besonders der Physik) stellte dies ein Kontrapunkt zur bisher dominierenden Metaphysik in der traditionellen Philosophie dar, deren Thesen nach der Auffassung der Mitglieder des Wiener Kreises spekulativ waren und sich nicht rational rechtfertigen ließen. 6 Hierzu zählte Neurath alle Faktoren, von denen die „Stimmung“ eines Menschen abhängt, wie z.B. Kleidung, Nahrung, Wohnungssituation, Lebenserwartung, zur Verfügung stehende finanzielle Mittel, usw. 3. Das Bild als Informationsträger 32 Museen der Zukunft, im Rahmen dessen sich Neurath auch die technische Reproduzierbarkeit seiner Werke zunutze machte und die Grafiken in Form von Wanderausstellungen in die Wiener Gemeindebezirke brachte. Immerhin sollten auch Anbehörige niedrigerer Bildungsschichten motiviert werden, sich mit den aufbereiteten Erkenntnissen auseinanderzusetzen – es galt also eine gewisse Schwellenangst zu überwinden. 3.4.3 Neuraths Bildersprache Neurath setzte auf ein gewisses Maß an Dechiffrierung: Dies bedeutete, jegliche Fehlinterpretation auf der Empfängerseite auszuschließen und Zufälligkeiten möglichst zu vermeiden. Daher war von Anfang an eine einheitliche Gestaltung der bildlichen Mittel notwendig, da erstens die Benutzung verschiedener Bilder zur Darstellung des selben Sachverhalts den Beschauer verwirren würde, und diese zweitens eine Kombination bzw. Komposition verschiedener Bildzeichen (im Sinne einer vollständigen Interpretation im System, siehe Abschnitt 2.4.3 auf Seite 19) überhaupt erst ermöglicht. Dieses Zusammenfügen der Bilder war deshalb so wichtig, da es Neurath wie eingangs erwähnt wichtig war, Vorgänge und Erkenntnisse nicht nur aufzuzeigen, sondern diese vor allem in Relation zueinander zu setzen. Aus der Motivation heraus, Aufklärung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene durch den sinnvollen Einsatz neue Ausdrucksformen zu betreiben, entwickelten Neurath und seine Kollegen7 also ein System von Bildzeichen mit piktogrammhaften Charakter, deren Einsatz es ermöglichen sollte, weitgehend ohne erklärenden Text auszukommen und somit eine Unabhängigkeit von den Sprachgewohnheiten der Rezipienten zu ermöglichen. 3.4.4 ISOTYPE / Piktogramme Auf Basis dieser von Neurath und seinen Mitarbeitern entwickelten Bildersprache entstand durch Systematisierung letztlich das „International System Of Typographic Picture Education“ – kurz: ISOTYPE (Beispiele siehe Abbildung 3.3). Neurath selbst definiert den Begriff folgendermaßen: ISOTYPE ist eine moderne Bildersprache, die durch Verbindung von gewissen Symbolen Tatsachen darstellt. Sie wurde als Hilfssprache für die Verbreitung technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wissens geschaffen. (Otto Neurath, [58, S. 342]) 7 Der Designer Gerd Arntz machte durch reduktionistische Darstellung und klaren Stil Neuraths Bildersprache gleichermaßen einzigartig wie erfolgreich. Marie Reidemeister widmete sich der Transformation, die zur Veranschaulichung von Zusammenhängen notwendig war. Erwin Bernarth sorgte für die Zusammenstellung der Mengenbilder, die dann an den Drucker Josef Scheer weitergegeben wurden und weiters als Schautafeln von Neuraths Berater Josef Frank mittels eines durchdachten Konzepts räumlich angeordnet wurden. 3. Das Bild als Informationsträger 33 Abbildung 3.3: Beispiele für Piktogramme des ISOTYPE. ISOTYPE konkretisiert also Bildzeichen, während es sich bei Schriftzeichen um abstrakte Darstellungsformen handelt. Diese systematisierten Darstellungsformen können als Piktogramme bezeichnet werden. Diese als Einzelelemente des Systems weisen im Idealfall folgende Eigenschaften auf: • Internationale Verständlichkeit: Die Zeichen sollen unabhängig von Kultur und Vorbildung verstanden werden können. • Sprachunabhängigkeit: Durch den Verzicht auf Text sollen die Zeichen unabhängig von der Sprache der Rezipienten verstanden werden können. • Ikonizität / Stilisiertheit: Eine äußere Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Gegenstand ist vorteilhaft, sofern diese möglich ist. Unabhängig davon ob dies der Fall ist oder ein gedankliches Konzept dargestellt werden soll, müssen die Zeichen sich in ihrer Komplexität auf das wesentlichste beschränken, aber dennoch markante Eigenschaften des Abzubildenden darstellen. • Eindeutigkeit: Eine Bedeutung soll von nicht mehr als einem einzigen Zeichen repräsentiert werden. • Systemzugehörigkeit: Die Zeichen eines Systems sollen sich allesamt eines ähnlichen visuellen Stils bedienen, um den Wiederkennungswert zu erhöhen und den Rezipienten eine Eingliederung in ein System leichter zu ermöglichen. Ziel ist die im Abschnitt 2.4.3 auf Seite 19 erwähnte vollständige Interpretation im System. Diesen Regeln entsprechend verhält es sich mit der Definition Neuraths eines Piktogramms, er beschreibt es als ein Element eines Systems von absoluter Geltung. Diese Geltungskraft ist der größte Vorteil des systematischen 3. Das Bild als Informationsträger 34 Einsatzes der Bildzeichen in der Praxis: Betrachtet man Piktogramme als Beispiel für visuelle Zeichen, ist das Verständnis dieser Form des Zeichens im Idealfall weder maßgeblich von der Vorbildung des Rezipienten abhängig noch mit zeitlichem Aufwand verbunden. In Kombination mit der Möglichkeit, auch komplexe Sachverhalte mit dieser Form der Bildzeichen darzustellen, ergibt sich für sie ein breites Spektrum an sinnvollen Einsatzgebieten. Dies erklärt, warum Piktogramme der Schrift in der praktischen Kommunikation vorgezogen werden, und warum sie sich besonders an öffentlichen Orten wie Bahnhöfen oder Flughäfen oder im Straßenverkehr großer Beliebheit erfreuen: Allesamt sind dies Orte, an denen Informationen möglichst schnell und effizient kommuniziert werden müssen. Die Zeichen müssen so weit wie möglich für sich selber, ohne Hilfe von Worten, klar sein, d.h. sie müssen „sprechende Zeichen“ sein. Sie müssen voneinander verschieden sein, so dass kein Zweifel über ihren richtigen Namen besteht, wenn man sie wiedersieht. Sie müssen so einfach sein, dass man sie nebeneinander wie Buchstaben aufreihen kann. Die Zeichen müssen von solcher Form sein, dass es den Beschauer nicht ermüdet, wenn er Reihen desselben Zeichens sieht. (Otto Neurath, [58, S. 365]) 3.5 3.5.1 Informationsdesign Einleitung Allgemeines Fakt ist, dass es sich in der Zeit des Wiener Kreises um eine Zeit der Neukonstruktion der Gesellschaft und der Denkmuster der sich darin befindlichen Menschen handelt, in der neue Medien für eine veränderte Wahrnehmung und damit ein neues Weltbild sorgten. Die Wechselwirkung aus dem Drang der Wissenschafter und Designer, die Gesellschaft über für sie relevante Themen zu informieren und den technischen Innovationen, die eine immer bessere und schneller Reproduzierbarkeit der Resultate ermöglichten sorgte für eine neuartige Definition des Begriffs Design: Die Erscheinungsformen resultieren hierbei fast ausschließlich aus den Funktionen, die es im Hinblick auf die eindeutige Kommunikation einer Bedeutung zu erfüllen gilt. Dieser kollektive Gedanke steht im Gegensatz zur heutigen, weit verbreiteten Auffassung von Design als Möglichkeit des individuellen Ausdrucks – vorrangig war damals die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Denkens in die Richtung, aktuelle Fragen der Zeit zu beantworten. Die Resultate der Bemühungen Otto Neuraths und seiner Mitarbeiter, Informationen und Mengenbilder anhand bildstatistischer Methoden und dem gezielten Einsatz von ISOTYPE aufzubereiten, können aufgrund ihrer Funktion dem Informationsdesign zugeordnet werden. Es handelt sich hierbei 3. Das Bild als Informationsträger 35 um die Aufbereitung von Information in Form von Bildern, deren Zweck es ist, den Rezipienten durch den konkreten Weg der grafischen Repräsentation schnell und einfach zugänglich zu machen. Wichtig in diesem Kommunikationsprozess ist hierbei das eigene Zutun des Betrachters, bzw. dass dieser im Stande ist, sich zur behandelten Thematik eine eigene Meinung zu machen. Dieser indikative Ansatz der so genannten Infographics steht im krassen Gegensatz zu der angestrebten suggestiven Wirkung von Werbung oder gar Propaganda in Bildform und ist von diesen klar abzugrenzen. Begriffsbestimmung Die Bemühungen und Resultate des Wiener Kreises und dessen Vorgeschichte lassen bereits grob erahnen, wobei es sich bei Informationsdesign handelt. Eine eindeutige Definition ist aber schwierig, da eigentlich jede Art der Aufbereitung und Präsentation von Informationen, die von der Form der Sprache abweicht, dieser Kategorie zugewiesen werden kann. Dennoch befinden sich im folgenden einige Definitionen des Begriffs Informationsdesign. Information design is the transfer of complex data to, for the most part, two-dimensional visual representations that aim at communicating, documenting, and preserving knowledge. It deals with making entire sets of facts and their interrelations comprehensible, with the objective of creating transparency and eliminating uncertainty. (Gerlinde Schuller, [69]) Information design is about the clear and effective presentation of information. It involves a multi- and interdisciplinary approach to communication, combining skills from graphic design, technical and non-technical authoring, psychology, communication theory, and cultural studies. (Frank Thissen, [78]) Thissens Definition deutet auf die Interdisziplinarität hin, die das Informationsdesign auszeichnet. Allein die von Otto Neurath so vorbildlich durchgeführte Selektion von Daten und deren Reduktion auf das wesentliche ist schon ein Teil des Informationsdesigns, der wohldurchdacht sein muss, damit er den anderen Teilen des Entstehungsprozesses gerecht wird. Dass die Ersteller von Infographics verschiedene Disziplinen beherrschen müssen, wird auch bei Terry Irwins Definition aufgezeigt: Information designers are very special people who must master all of the skills and talents of a designer; combine them with the rigor and problem-solvinig ability of a scientist or mathematician; and bring the curiosity, research skills, and doggedness of a scholar to their work. (Terry Irwin, [40]) 3. Das Bild als Informationsträger 36 Geschichte Informationsdesign existierte natürlich schon vor der Zeit der Wiener Moderne, so ist etwa das Abbilden von geografischen Daten in Form von Kartografien der erste bekannten Vorreiter auf diesem Gebiet. Die ersten Karten (datiert auf etwa 1300 v. Chr.) waren noch sehr simpel und im Hinblick auf die Größe des abgebildeten Areals stark begrenzt, wurden aber nach und nach mit mehr Informationen angereichert und ermöglichten mit der Geographia (datiert auf etwa 150 n. Chr., siehe Abbildung 3.4) erstmals eine Aufzeichnung der Geografie des gesamten Planeten. Ein weiterer Vorreiter Neuraths ist der schottische Ingenieur William Playfair, der fest davon überzeugt war, dass die Aufbereitung von Daten in grafischer Form leichter verständlich ist als das geschrieben Wort. Dies äußerte sich in seinem 1786 erschienenen Buch The Commerical and Political Atlas, das sich erstmals heute so allgegenwärtiger grafischer Elemente wie Balken- und Tortendiagrammen bediente und seinen Author damit zum Vorreiter im Informationsdesign macht. Kurze Zeit Abbildung 3.4: Ptolemys Karte aus Geographia vniversalis aus dem Jahre 1540 – die Originalzeichnungen gingen im Laufe der Zeit verloren. nachdem Neuraths ISOTYPE entwickelt wurde, prägte der aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammende Ladislav Sutnar die Weiterentwicklung von Infographics wesentlich mit. Sein Stil ähnelte dem von Neurath, er setzte sowohl Bildzeichen wie Piktogramme, als auch typografische Elemente wie etwa Klammern und Pfeile ein. Sein methodischer Ansatz zur Strukturierung von Inhalten prägt das Informationsdesign bis heute: Durch den gezielten Einsatz von geometrischen Formen schaffte er es, die Aufmerksamkeit des Betrachters von einem Informationslevel zum nächsten zu befördern (Beispiel siehe Abbildung 3.5). Die Gebrüder Charles und Ray Eames gelten als weitere Vorreiter in Sachen Informationsdesign und führten mit der 1961 konzeptionierten und im später im kalifornischen Museum of Science and Industry gezeigten Ausstellung Mathematica: A World of Numbers and Beyond (siehe Abbildung 3.6) den Gedanken Otto Neuraths weiter: Die Ausstellung 3. Das Bild als Informationsträger 37 Abbildung 3.5: Skizze (li.) und fertiges Design (re.) von Ladislav Sutnar im Auftrag der Firma Vera. zeigte komplexe mathematische Konzepte in noch nie gesehener grafischer und interaktiver Form. Ziel war, zu zeigen, dass Mathematik auch Spaß machen kann – so wurde beispielsweise in der Probability Machine durch das Drücken eines Knopfes ein Mechanismus ausgelöst, der 30.000 Plastikbälle durch ein Raster fallen ließ und somit eine Gauß’sche Kurve entstehen ließ8 . Die Gebrüder Eames erschufen auch einige revolutionäre Filme, da sich dieses Kapitel aber vordergründig auf statische Infographics beschränkt, wird erst in Abschnitt 4.3.2 auf Seite 68 auf diese eingegangen. Mit der zunehmenden Verbreitung von Computern in den 1960ern nahm auch die digitale Domäne des Informationsdesigns an Bedeutung zu. Hierbei gilt Muriel Cooper als Schlüsselperson, sie legte in den 1970ern den Grundstein für den so genannten Visible Language Workshop, in dem sich Designer, Computerprogrammierer und -wissenschaftler mit der Beziehung zwischen Grafikdesign und Technologie auseinandersetzen. Im Hinblick auf die Organisation von Information im digitalen Raum wurden neue Maßstäbe gesetzt, natürlich spielte auch Interaktivität eine bedeutende Rolle bei der Forschungsarbeit am Media Lab des MIT (Massachusetts Institute of Technology), das 1978 mit Cooper als Leitfigur ins Leben gerufen wurde. Obwohl Computer schon seit über 50 Jahren die Möglichkeiten besitzen, über Telefonleitungen miteinander zu kommunizieren, wurde das Konzept des Internet erst 1989 von Tim Berners-Lee für das schweizer CERN 9 -Institut entwickelt. 1993 entwickelte Marc Andreessen, ein Student der University of Illinois, den ersten Browser der auch Bilddateien anzeigen konnte: Mosaic. Wenn man bedenkt, dass diese Entwicklung erst knapp 20 Jahre in der Vergangenheit liegt, wirkt es schon beinahe beängstigend, wie sehr die Weiterentwicklungen im World Wide Web unsere Lebensweisen seit dem geprägt haben und es voraussichtlich noch einige Zeit tun werden. Denn abgesehen 8 Unter der Adresse http://www.youtube.com/watch?v=AUSKTk9ENzg ist ein Beispiel für die Funktionsweise der Probabilty Machine zu finden. 9 Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, bzw. Europäische Organisation für Kernforschung. 3. Das Bild als Informationsträger 38 Abbildung 3.6: Ausschnitt aus The History Wall der Ausstellung Mathematica: A World of Numbers and Beyond des kalifornischen Museum of Science and Industry 1961. von etwa Veränderungen im Geschäftswesen oder einer völlig neuen (digitalen) Art zu kommunizieren oder Einkäufe zu tätigen ist auch der Zugang zu und der Umgang mit Informationen neuartig – ganz zu schweigen von den technischen Möglichkeiten der digitalen Domäne, die sich Vorreiter wie Otto Neurath noch nicht im Traum hätten vorstellen können. Mehr zur Thematik des Internet im Bezug auf das Informationsdesign, im Speziellen auf animierte Infographics, findet man in Kapitel 5 ab Seite 81. 3.5.2 Anwendungsgebiete und Klassifizierung So umfangreich wie die Definitionen von Informationsdesign sind auch dessen Anwendungsbereiche. Bekannte Vertreter von Infographics wären etwa Timelines, (Ablauf -)Diagramme, Beschilderungen, Symbole und Icons, Karten, 3D-Modelle, Storyboards, technische Illustrationen, Museumsausstellungen, Websites, Animationen 10 oder interaktive Installationen – man findet Infographics also praktisch in jedem Bereich des Lebens. Eine Klassifizierung anhand dieses riesigen Spektrums an Einsatzgebiete macht nur bedingt Sinn, es existieren aber andere Kriterien, die für eine solche Einordnung und Unterscheidung geeigneter sind. Diese Kriterien sind die Informationsdichte 10 Animationen werden nicht in diesem Kapitel nur sehr oberflächlich behandelt, eine ausführlichere Beschreibung von animierten Infographics befindet sich in Kapitel 4 ab Seite 51. 3. Das Bild als Informationsträger 39 – also wie viel Informationen sich im Dargebotenen befindet – und die Publikumsgröße – also die Anzahl an Personen, für die das Resultat des Informationsdesign gedacht ist. Verschiedene Beispiele und deren Einordnung werden in Abbildung 3.7 dargestellt. Abbildung 3.7: Beispiele der Klassifizierung verschiedener Bereiche des Informationsdesigns anhand Informationsdichte und Publikumsgröße. 3.5.3 Lernstile Bedeutend für eine erfolgreiche und den kommunikativen Ansprüchen gerecht werdende Gestaltung von Infographics (und weiters auch für Animationen, die der Wissensvermittlung dienen) ist ein gewisses Verständnis um die Art und Weise, inwieweit Rezipienten überhaupt fähig sind, solche visuellen Zeichen zu verarbeiten. Das weit verbreitete Dunn and Dunn Learning-Style Model ist zwar nicht auf solche Bildzeichen beschränkt, dennoch ist ein allgemeines Wissen über die verschiedenen Typen von Lernern vorteilhaft für die Disziplin des Informationsdesigns. Laut dem Modell kann man Lernende in drei verschiedene Kategorien einordnen11 : 11 Man vergleiche hierbei das Dunn and Dunn Learning-Style Model mit der in Abschnitt 2.4.2 auf Seite 13 ähnlich vorgenommenen Kategorisierung von Zeichen im Allgemeinen. 3. Das Bild als Informationsträger 40 1. Visuell: Visuelle Lerner bevorzugen Bilder und merken sich visuell aufbereitete Informationen dementsprechend besser als Sprachkonstrukte. Neben statischen Bildzeichen wie Diagrammen, Zeitreihen usw. gilt dies natürlich auch für Bewegtbilder. 2. Verbal/Auditiv: Verbale bzw. auditive Lerner bevorzugen das geschriebene oder gesprochene Wort um Informationen zu speichern. Konträr zu den visuellen Lernern denken sie daher eher in sprachlichen Konstrukten. 3. Taktil: Taktile Lerner eignen sich Wissen in Form von Experimenten bzw. des aktiven Beschäftigens mit der Materie an, sie lernen quasi „spielerisch“ durch taktile Erlebnisse. Betrachtet man Infographics als spezielle Art von Wissensvermittlung, so sind diese demnach am ehesten für visuelle Lerner geeignet. Einen besonderen Fall stellt die animierte Form von Infographics (mehr dazu im folgenden Kapitel) dar, da diese zwar vorrangig visuelle Lerntypen anspricht, aber durch die beigefügten sprachlichen Konstrukte in Form von Typografie und/oder gesprochenem Wort auch verbale Lerner bedient. Sind diese Animationen weiters mit Interaktivität versehen (wie etwa in Lernprogrammen am Computer), so werden auch taktile Lerner angesprochen. Generell ist die Informationsvermittlung umso erfolgreicher, je mehr Lernwege dabei benutzt werden, da nicht nur ein größerer Personenkreis Zugang zum dargebotenen Wissen erhält, sondern durch die oft entstehende Redundanz der Informationen diese auch besser abgespeichert werden können. Die Berücksichtigung der verschiedenen vorgestellten Lerntypen – und sei es nur anhand durch Auswahl eines geeigneten Mediums – ist also vorteilhaft für eine erfolgreiche Kommunikation. Generell gibt es verschiedene Theorien über die Funktionsweise des kognitiven Systems des Menschen, die auch im Hinblick auf die erwähnte Kombination von Möglichkeiten der medialen Informationsaufbereitungs. Mehr zu dieser Thematik – besonders in Berücksichtigung von Animationen, also der im Gegensatz zu Infographics nicht statischen Darstellung von Informationen – befindet sich in Abschnitt 5.3 ab Seite 91. 3.5.4 Gestaltungsprinzipien Schlichtheit Bereits zu Zeiten der soziologischen Grafik, die sich ihren Weg in die Sozialmuseen des Wiens des 20. Jahrhunderts bahnte, entwickelten sich aus den Anforderungen an diese darin vorkommenden Bildelemente12 bestimmte Gestaltungsziele: Reinheit, Klarheit und Funktionalität. Im Sinne einer 12 Siehe Abschnitt 3.4.4 auf Seite 32. 3. Das Bild als Informationsträger 41 eindeutigen Kommunikation wurde auf jegliche Verzierung – wie sie noch Jahrhundert davor etwa in Form von Ornamenten üblich war – verzichtet und der Fokus statt dessen auf klare und „schnörkellose“ Formen gesetzt. Diese angestrebte Eindeutigkeit in der formellen Gestaltung rührt aus einem reduktionistischen Prinzip, das nicht erst in der Transformation von Wissen in Bildform geschieht, sondern schon bei der Aufbereitung der dargebotenen Informationen: Bereits zu diesem Zeitpunkt ist Auswahl, Strukturierung und Reduktion der darzustellenden Erkenntnisse entscheidend für die erfolgreiche Kommunikation. Strukturierung von Daten: Die Millersche Zahl Für eine optimale Aufbereitung der von einer Infografik dargestellten Daten ist es von Bedeutung, einige elementare Dinge über die Funktionsweise des Gedächtnisses der Betrachter zu wissen. Der Psychologieprofessor George A. Miller etwa entdeckte in den 1950er-Jahren, dass das Gehirn Informationen in kleinen Einheiten (sog. Chunks) verarbeitet und die meisten Menschen nur sieben Informationseinheiten im Kurzzeitgedächtnis behalten können. Nur in seltenen Ausnahmefällen können auch maximal neun dieser Einheiten kurzfristig behalten werden, darum legte Miller sich auf die Schreibweise „7 ± 2“ fest. Diese Erkenntnis wird in der Praxis etwa bei amerikanischen Telefonnummern angewandt, in diesem Fall wird die tatsächlich zu wählenden Ziffernfolge „5417543010“ in drei Einheiten geteilt, in dieser Schreibweise lautet die Telefonnummer dann „(541) 754-3010“ und ist bei weitem einfacher im Gedächtnis zu behalten als die vorherige, in zehn gleiche Einheiten eingeteilte bloße Ziffernfolge. Einzelelemente im Zusammenspiel Bernd Weidenmann unterscheidet bei der Gestaltung von informierenden Bildern zwischen zwei Möglichkeiten der notwendigen bildhaften Codierung13 : • Darstellungscodes stellen bestimmte Inhalte in Form von so genannten visuellen Argumenten dar. Diese können wiederum in Abbilder und logische Bilder unterteilt werden – während sich Abbilder die unmittelbare Beobachbarkeit des Darzustellenden zu Nutze machen indem sie markante optische Eigenschaften adäquat wiedergeben, werden Sachverhalte bei logischen Bildern auf abstrakte bzw. symbolhafte Art und Weise dargestellt. Der Zweck des Einsatzes von Darstellungscodes ist also die angemessene Visualisierung eines Arguments. • Steuerungscodes versuchen, die Rezeption des Beobachters zu beeinflussen indem sie eine gewisse Ordnung in der Komposition aus einzelnen Bildelementen herstellen. Diese kann entweder explizit, also durch 13 Siehe [81]. 3. Das Bild als Informationsträger 42 den zusätzlichen Einsatz von grafischen Zeichen (z.B. Pfeile oder Hervorhebungen), oder implizit, also durch eine Abweichung von der als Norm betrachteten Darstellungsform (z.B. Variation von Größe oder Detailreichtum), geschehen. Der Zweck des Einsatzes von Steuerungscodes ist also die Steuerung der Extraktion eines Arguments. Unabhängig von ihrem konkreten praktischen Einsatz in einer Infografik betrachtet ist die Wahl der angemessenen Darstellungsform einzelner Begrifflichkeiten für das Verständnis dieser natürlich essenziell. Doch was Anfang des 20. Jahrhunderts noch so revolutionär erschien, gilt mittlerweile als Grundvoraussetzung für den sinnvollen Einsatz von Informationsdesign: Erst die Herstellung einer Relation zwischen den verschiedenen Einzelelementen macht es möglich, komplexe Sachverhalte bildhaft zu veranschaulichen und diese Elemente in eine nachvollziehbare Ordnung einzugliedern. Diese Tatsache, also dass das Ganze mehr als nur die Summe seiner Bestandteile ist, wurde von den Gestaltungspsychologen Kurt Koffka, Wolfgang Köhler und Max Wertheimer in den 1930er-Jahren in einer Reihe von Regeln zusammengefasst, die gemeinsam als Prinzipien der Wahrnehmung bekannt sind. Im folgenden werden einige dieser Regeln erläutert, Beispiele sind in den Abbildungen 3.8 und 3.8 dargestellt. • Das Gesetz der Nähe besagt, dass nahe beieinander liegende Objekte als eine zusammengehörige Gruppe gesehen werden, deren Bestandteile demnach deshalb gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen und eine Einheit bilden. • Das Gesetz der Ähnlichkeit besagt, dass ähnlich aussehende Objekte14 als zusammengehörig betrachtet werden. • Das Gesetz der Geschlossenheit besagt, dass man dazu eignet, Figuren und Objekte als geschlossen wahrzunehmen, obwohl sie es nicht sind. Dies erfolgt durch eine unterbewusste Vervollständigung der wahrgenommen visuellen Formen. • Das Gesetz der Einfachheit besagt, dass Figuren stehts in einer möglichst simplen und damit einprägsamen Weise interpretiert werden. • Das Gesetz der guten Fortsetzung besagt, dass wir im Fall zweier sich treffenden Linien davon ausgehen, dass sich diese schneiden, anstatt nur einen gemeinsamen Berührungspunkt aufzuweisen. • Laut der Figur-Grund-Beziehung unterscheidet man bei der Betrachtung einer Fläche immer zwischen Vorder- und Hintergrund. Der 14 Die formellen Attribute, durch die die Ähnlichkeit zu Stande kommt, werden in Abschnitt 2.4.3 auf Seite 18 aufgelistet. 3. Das Bild als Informationsträger 43 Vordergrund ist die wahrgenommene Figur, der Hintergrund quasi der Rest der zur Verfügung stehenden Fläche. Aber auch wenn beispielsweise ein Objekt kleiner als das andere dargestellt wird ist es wahrscheinlich, dass das kleinere der Objekte durch die Annahme einer perspektivischen Illusion als Hintergrundelement betrachtet wird. Abbildung 3.8: Links: Das Gesetz der Nähe sorgt dafür, dass wir eher die eingerahmen horizontalen als die vertikalen Punktreihen als zusammgenhörig erkennen. Mitte: Das Gesetz der Ähnlichkeit lässt uns die Objekte in 2 Gruppen (dunkle Kreise, helle Quadrate) einteilen. Rechts: Durch das Gesetz der Geschlossenheit sehen wir 2 Quadrate, obwohl diese keine vollständig durchgängigen Begrenzungen aufweisen. Abbildung 3.9: Links: Das Gesetz der Einfachheit lässt uns eher zwei übereinanderliegende Quadrate als acht ringförmig angeordnete Dreiecke sehen. Mitte: Das Gesetz der guten Fortsetzung besagt, dass wir eher die Liniensegmente a und b, bzw. c und d als jeweils durchgängige Linie erkennen, die sich im Punkt x kreuzt, und nicht etwa a und c bzw. d und b als Linien, die sich in Punkt x berühren. Rechts: Die Figur-Grund-Beziehung lässt uns (als wichtig erkannte) Vordergrundelemente – in diesem Fall das schwarze Quadrat – von (als unwichtig erkannten) Hintergrund unterscheiden. 3.5.5 Beispiel: Disk Space In diesem Abschnitt sollen anhand eines Beispiels einige der in diesem Kapitel beschriebenen Theorien, Prinzipien und Überlegungen zum Thema Infographics aufgezeigt werden. Hierfür dient die Grafik Disk Space von Section 3. Das Bild als Informationsträger 44 Design. Es zeigt die historische Entwicklung portabler Speichermedien und markante Eigenschaften wie etwa den verfügbaren Speicherplatz oder die Datendurchsatzrate. Außerdem werden wichtige Meilensteine in der Computergeschichte, die sich auf die behandelte Thematik auswirken, ebenfalls dargestellt. Im Hinblick auf Publikumsgröße und Informationsdichte15 könnte man die Grafik am ehesten in das rechte obere Viertel der auf Seite 39 dargestellten Abbildung 3.7 einordnen – sie weist also eine eher hohe Informationsdichte auf, die einem speziellen Publikum (EDV-Interessierte) vermittelt werden soll. Klassifiziert man die eingesetzten bildlichen Zeichen anhand ihrer Darstellungsart, so werden laut Kapitzkis Einordnung16 Ikonogramme für die im unteren Bildteil dargestellten Typen von Speichermedien und Diagramme (speziell in Form von so genannten Dataspheres) für die Darstellung der chronologischen Abläufe verwendet. Nach Alesandrini17 würde es sich also bei ersteren um representational graphics, bei zweiteren um arbitrary graphics handeln. Hinsichtlich der Gestaltungsprinzipien für Infographics18 ist anzumerken, dass die Gestaltungsziele (Reinheit, Klarheit und Funktionalität) durch eine klare Strukturierung der aufbereiteten Daten und der Einordnung dieser in die benutzte Diagrammart erreicht werden. Das einzige rein dekorativ wirkende Element ist der graue Hintergrund bzw. dessen besonders an der Rändern abgegriffener Look. Betrachtet man die bildhafte Codierung laut Weidenmann, so können beinahe alle vorkommenden Elemente den Darstellungscodes zugewiesen werden. Eindeutig als explizite Steuerungscodes beschreibbare Inhalte sind nicht vorhanden, als implizite Steuerungscodes könnte man etwa die chronologische Anordnung der Entwicklungen im Uhrzeigersinn identifizieren. 3.6 Instrumentalisierung von Bildern Es liegt auf der Hand, dass Bilder beim Betrachter bestimmte Reaktionen hervorrufen sollen, bzw. dass die bildhafte Darstellung im Allgemeinen gewisse Ziele verfolgt. Ein für diese Arbeit wichtiger Bereich ist der in den vorigen Abschnitten dieses Kapitels behandelte Wissens- bzw. Erkenntnisgewinn, in diesem Bereich sind Bilder bereits fest in didaktischen Konzepte eingebunden und etabliert. Das Spektrum der bildlichen Mittel ist jedoch riesig und reicht von fotografischen Abbildungen der Wirklichkeit über 15 Siehe Siehe 17 Siehe 18 Siehe 16 Abschnitt Abschnitt Abschnitt Abschnitt 3.5.2 3.3.1 3.3.1 3.5.4 auf auf auf auf Seite Seite Seite Seite 3.5.2. 26. 27. 40. 3. Das Bild als Informationsträger 45 Abbildung 3.10: Infographic Disk Space von Section Design aus dem Jahre 2009. Techniken zur Visualisierungen von für das menschliche Auge nicht unmittelbar sichtbaren Sachverhalten19 bis hin zur Verdichtung punktuellen Wissens durch kartografischen Abbildungen oder der bildhaften Darstellung rein abstrakter Gegebenheiten wie etwa der Machtverhältnisse in einem Staats19 Siehe Abschnitt 2.3.1 ab Seite 7. 3. Das Bild als Informationsträger 46 gefüge. Betrachtet man etwa die Möglichkeiten des Einsatzes von Farben, so zeigen sich klare Unterschiede hinsichtlich Intention und Bedeutungsvielfalt: Während diese etwa bei künstlerischen Werken dem Zweck dienen, Emotionen auszulösen, will die Werbung mittels Farbe meist die Suggestionskraft von Bildern nutzen, um eine Kaufentscheidung beim Betrachter zu bewirken. Fakt ist, dass alles Sichtbare eine Oberfläche darstellt, die zur Gestaltung auffordert. Das Vermitteln von Anschauungen ist fest mit diesem Prozess verbunden und lässt sich beinahe unmöglich vermeiden – wie auch im Bezug auf Sprache in Abschnitt 2.3.3 auf Seite 11 erwähnt wurde, beeinflusst jede gestalterische Entscheidung das entstehende Resultat und eröffnet demnach auch andere Interpretationsspielräume. Wie bereits in Abschnitt 3.2.2 auf Seite 24 erwähnt, besitzen Bilder eine Appellfunktion, die eine schnelle Verarbeitung der dargestellten Sachverhalte ermöglicht. Problematisch ist, wenn die Bilder durch konstant zunehmende Präsenz ungeprüft konsumiert werden: Dies resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass eine Bildkompetenz, also die kritische Auseinandersetzung mit Bildmedien, an Schulen kaum gelehrt wird. Dadurch werden Bilder oft unterschätzt, was im schlimmsten Fall nur einen oberflächlichen und unreflektierten Umgang mit ihnen ermöglicht. Da sie vom Betrachter trotz allem interpretiert werden müssen, kann eine Fehlinterpretationen nicht ausgeschlossen werden. Diese kann daher rühren, dass ein zu vermittelnder Inhalt auf der Seite des Bildschaffenden nicht ideal für die Darstellung als Bild aufbereitet worden ist und der Sender deshalb seine Botschaft nicht wie gewünscht kommunizieren konnte. Aber auch die willkürliche Manipulation und die Instrumentalisierung von Bildmedien geht seit jeher von Statten, beispielsweise machten und machen sich Propaganda-, Werbe-, Mode-, Filmund Musikindustrie den Identifikationswert von Bildern und deren Massenwirksamkeit zu Nutze. Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen. Nur diese schrecken oder verführen sie und werden zu Ursachen ihrer Taten. (Gustave LeBon, [73, S. 14]) Die Instrumentalisierung von Bildern erfolgt immer durch Manipulation des bildlichen Inhalts zum Zweck des Transports einer bestimmten Aussage oder Einstellung. Das wichtigste am Resultat ist lediglich die Glaubwürdigkeit – sind die Bilder nicht überzeugend, so kann natürlich auch keine Beeinflussung der Denkweise des Betrachters erreicht werden. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass mit in den letzten Dekaden stattgefundenen zunehmenden Digitalisierung, der damit einhergehenden Reproduzierbarkeit und immer einfacher zu bedienenden Programmen zur Bildbearbeitung im Vergleich zu der Zeit davor zwar sowohl die manipulativen Möglichkeiten, aber natürlich auch das Wissen der Menschen um diese Möglichkeiten zugenommen hat. 3. Das Bild als Informationsträger 3.6.1 47 Erschaffung neuer Weltbilder Wie erwähnt ist mit der Abbildung von Wissen und Erkenntnissen in Bildform der Prozess des Aufbereitung und Umstrukturierung von Informationen verbunden, welcher das Ergebnis und damit das im Gedächtnis des Beobachters geschaffenen Gedankenbild maßgeblich beeinflussen kann. Dies ist allgemein bei Gegebenheiten, die mit dem Auge nicht unmittelbar beobachtbar sind, der Fall – im Speziellen bei der Verdichtung punktuellen Wissens in Form von Kartografien ist seit ihrer Existenz eine Wechselwirkung zwischen diesen selbst und Weltbildern in den Köpfen der Menschen auszumachen. Die Realität wird allein schon durch Wahl des Ausschnitts der abgebildeten Region und die notwendige Reduktion auf das Wesentliche nicht objektiv und mit allen Details abgebildet, sondern lediglich in unseren Gedanken konstruiert. Beispielsweise befindet sich auf vielen Karten aus dem 13. Jahrhundert die Stadt Jerusalem im Mittelpunkt – allein hierdurch wird weit mehr als nur die geografische Lage der Stadt vermittelt. Generell spielen (natürlich neben der erwähnten Wahl des Bildausschnitts) zwei Faktoren im Zusammenhang zwischen Karten und Weltbildern eine wichtige Rolle: Farben und Verzerrungen. Zum Einsatz von Farben ist anzumerken, dass besonders die Farbe Rot eine spezielle Rolle in frühen Kartografien des 13. Jahrhunderts besetzte: Jene Orte, die in der christlichen Heilsgeschichte von Relevanz waren, wurden hauptsächlich mit dieser Farbe gekennzeichnet. Auch Gold wurde für die Hervorhebung der Heiligen Stätten verwendet, Blau galt anfangs ausschließlich als Farbe der christlichen Göttlichkeit. Erst im 16. Jahrhundert fand im Zuge der Renaissance eine Vereinheitlichung der Farbsymbolik statt, die die christliche Bedeutung nach und nach verschwinden lassen sollte: Das Meer wurde blau, das Land bräunlich-grün koloriert. Dies bedeutet aber nicht, dass Farben nicht dennoch symbolhaft eingesetzt wurden – dies zeichnet sich beispielsweise an der Imperial Federation Map of the World (siehe Abbildung 3.11) ab. Auch die in Abbildung 3.12 gezeigte Weltkarte von Sandór Radó macht sich die suggestive Wirkung der Farbe Rot zunutze, er bediente sich außerdem der Verzerrung des Gitternetzes der Längen- und Breitengrade, um die Sowjetunion so bedrohlich darzustellen, wie der Antikommunist sie empfand. 3.6.2 Manipulation von Fotografien Am häufigsten erfolgt die Instrumentalisierung von Bildern heutzutage durch die Technik der Fotomanipulation. Hierbei macht man sich den abbildendenden und damit authentisch wirkenden Charakter von Fotografien in Kombination mit ihrer Appellwirkung zu Nutze. Man muss auch an dieser Stelle anmerken, dass die virtuelle Manipulation am Computer die letzten Barrieren der analogen Retusche überwunden hat, und sich dies auch auf die 3. Das Bild als Informationsträger 48 Abbildung 3.11: Die 1886 in London angefertigte Imperial Federation Map of the World zeigt London als Mittelpunkt der Welt und benutzt die Farbe Rot, um die britischen Kolonien auf dieser Karte besonders hervorzuheben. Abbildung 3.12: Die 1919 von Sandór Radó erstellte Karte Die proletarische Großmacht - Die Sowjetunion, die sich sowohl der farblichen Hervorhebung, als auch einer Verzerrung bedient, um die Sowjetunion so bedrohlich wirken zu lassen, wie Radó sie empfand. Häufigkeit der praktischen Anwendung ausgewirkt hat: Praktisch kein Bild, das man etwa auf Titelseiten von Magazinen findet, ist unbearbeitet bzw. tatsächlich „echt“. So werden etwa Models auf Titelseiten von Modemagazinen zu beinahe surreal gut aussehenden Wesen, die man auf diese Art und Weise niemals in der Realität antreffen könnte. Die Fälschung von Bildern war aber natürlich schon vor dem Einsatz von 3. Das Bild als Informationsträger 49 Computern ein gängiges Prinzip – besonders zu politischen Zwecken steht die Bildmanipulation seit der Existenz von Bildern selbst an der Tagesordnung. Ein Beispiel hierfür befindet sich in Abbildung 3.13. Die Aussage, die mit der Manipulation transportieren werden soll, kann aber auch auf subtilere Art und Weise beeinflusst werden. So ist es – wie beispielhaft in Abbildung 3.14 dargestellt – auch durch die bloße Veränderung des Bildausschnitts möglich, eine komplett andere Wirkung beim Betrachter zu erzielen. Weiters ist die Bildcollage als Technik zur Bildmanipulation zu nennen. Hierbei muss besonders auf die Abstimmung der einzelnen Bildelemente und deren Anordnung geachtet werden, da jede (bewusst oder unbewusst) wahrgenommene Unstimmigkeit in der Komposition zu Lasten der Glaubhaftigkeit des Bildes geht. Ein Beispiel einer Bildcollage aus jüngerer Vergangenheit wird in Abbildung 3.15 dargestellt. Abbildung 3.13: Ein Beispiel für analoge Fotomanipulation aus politischen Zwecken: Die späteren Regimegegner Kamenew und Trotzki wurden aus dem 1920 entstandenen Originalfoto mit Lenin (li.) entfernt. 3. Das Bild als Informationsträger Abbildung 3.14: Beispiel für die Mehrzahl an möglichen Interpretationsmöglichkeiten, die sich aus der Wahl des Bildausschnitts ergeben können: Ein von amerikanischen Soldaten umgebener irakischer Soldat im Irak-Krieg 2003. Abbildung 3.15: Beispiel für die verloren gehende Glaubhaftigkeit durch grobe Mängel bei einer von der Firma BP im Jahr 2010 erstellten Bildcollage. 50 Kapitel 4 Motion Graphics 4.1 Einleitung Dieses Kapitel widmet sich zuerst dem Versuch der Begriffsbestimmung bzw. Abgrenzung des Begriffs Motion Graphics. Anschließend wird die Geschichte der Animation behandelt (siehe Abschnitt 4.2 ab Seite 53), bis dann ab Abschnitt 4.3 (ab Seite 68) auf das eigentliche Kernthema dieser Arbeit eingegangen wird – nämlich dem Einsatz von Motion Graphics speziell zum Zweck der Informationsvermittlung. Hierbei sei besonders auf die in Abschnitt 4.3.4 (ab Seite 72) vorgestellten Beispiele verwiesen, anhand denen die in dieser Arbeit bis zu diesem Kapitel behandelten Prinzipien und Theorien der visuellen Kommunikation erläutert werden. An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass einige für Motion Graphics als Wissensvermittler ebenfalls bedeutende Themen nicht im letzten Abschnitt dieses Kapitels, sondern erst in Kapitel 5 ab Seite 81 behandelt werden. 4.1.1 Begriffsbestimmung Es existiert keine wirklich offizielle Definition des Begriffs Motion Graphics. Generell handelt es sich um grafische Elemente, die eine Bewegungsillusion beim Betrachter hervorrufen und in den meisten Fällen auch akustisch untermalt sind. Obwohl Motion Graphics weitläufig in die Kategorie der elektronischen Medien eingeordnet werden, gelten auch die im Abschnitt 4.2 beschriebenen Gerätschaften zur Erzeugung einer Bewegungsillusion, wie z.B. das Thaumatrop, Zoetrop oder Praxinoskop, als Motion Graphics. Laut MoGraphWiki 1 handelt es sich dabei um kurze Sequenzen von zeitbasierten, visuellen Medien, welche die Sprache von Film und Grafikdesign kombinieren. Diese Kombination kann über die Einbindung verschiedener 1 MoGraphWiki ist eine Website ähnlich Wikipedia, die sich ausschließlich mit Motion Graphics beschäftigt. Zu finden ist die Seite unter der Adresse http://www.mographwiki.net/. 51 4. Motion Graphics 52 Elemente wie etwa 2D- und 3D-Animation, Video, Film, Typographie, Illustration, Fotografie und Musik bewerkstelligt werden. Das Spektrum dieser Domäne reicht demnach von subtilem Einsatz animierter grafischer Elemente bis hin zu aufwändigen, mit Spezialeffekten versehenen Kombinationen verschiedenster Stilmittel. Eine direkte Übersetzung des Begriffs würde die Bezeichnung Grafikdesign in Bewegung nahelegen, hinsichtlich der Breite des genannten Spektrums einsetzbarer Elemente würde der Terminus dieses aber bei weitem nicht abdecken, außerdem wäre nach dieser Definition auch ein rotierendes Logo vor einem Supermarkt ein Beispiel für Motion Design. Da sich eine eindeutige Begriffsbestimmung als schwierig erweist, wird im folgenden versucht, Motion Graphics anhand typischer Merkmalen zu klassifizieren. Matt Frantz definiert in seiner 2003 erschienen Publikation Changing Over Time: The Future of Motion Graphics 2 drei markante Charakteristika, durch die sich die schwer eindeutig definierbaren Animationen auszeichnen: 1. Motion Graphics sind per Definition zweidimensional, Dreidimensionalität kann lediglich als Illusion im Kopf des Betrachters entstehen. Das bedeutet, dass sie zwar eine bestimmte Höhe und Breite, aber keine physische Tiefe besitzen. 2. Hinsichtlich der Interaktivität stellt man fest, dass sie zwar auch in interaktiven Medien eingesetzt werden, der Betrachter aber im Regelfall keinerlei Kontrolle über deren Verlauf besitzt. 3. Weiters müssen sie sich – entgegen der Vermutung, die durch Deutung der Bezeichnung „Motion Graphics“ naheliegt – nicht zwingend bewegen. Beispielsweise könnte auch eine Animation, deren Elemente ihre Position nicht verändern, aber über den zeitlichen Verlauf die Farben wechseln, in die Kategorie Motion Graphics eingeordnet werden. Neben diesen Attributen zeichnen sie sich durch ihre oftmals nicht über wenige Minuten hinausgehende Spieldauer aus, welche hauptsächlich aus der Aufmerksamkeitsspanne der Betrachter resultiert. 4.1.2 Abgrenzungen Abgrenzung zum Bild Da es sich bei Motion Graphics um zeitbasierte Medien handelt, liegt auf der Hand, dass diese sich im Vergleich zu Bildern besser zur Veranschaulichung zeitlicher Abläufe eignen. Natürlich müssen Bilder nicht immer eine Augenblicks-Wirklichkeit festhalten, sie können auch eine kinematische Wirklichkeit zeigen. Dies ist allerdings nur in Form der erwähnten Bildfolgen (wie z.B. Comics) oder anhand auf einem Einzelbild dargestellten Bahnen 2 Siehe [30]. 4. Motion Graphics 53 von Bewegungen (wie etwa durch explizite Steuerungscodes 3 ) möglich. In diesem Zusammenhang ist auch der unterschiedliche Zeitaufwand zur Auswertung (bzw. der Interpretationsaufwand ) von Motion Graphics und Bildern erwähnenswert. Erstere sind im Idealfal so konzipiert, dass sie quasi „in Echtzeit“ interpretiert werden können, um eine erfolgreiche Kommunikation über die gesamte Spieldauer zu ermöglichen, während zweitere durchaus längere Zeit zur Auswertung in Anspruch nehmen können. Abgrenzung zum (Spiel-)Film Wie in Abschnitt 4.2 noch genauer erläutert wird, wurden die ersten Motion Graphics für Spielfilme produziert, um Informationen (in diesem Fall die Namen der Mitwirkenden in Form von so genannten Openern) optisch ansprechend darzustellen, welche mit ausschließlich fotografischen bzw. filmischen Mitteln in dieser Form nicht oder nur sehr bedingt festgehalten werden konnten (und können). Filme können also Motion Graphics, und Motion Graphics filmische Bestandteile enthalten. Neben den erwähnten Openern können sie auch zu narrativen Zwecken eingesetzt werden, ein Beispiele hierfür wäre etwa im Film Stranger Than Fiction (siehe Abbildung 4.1) auffindbar. Ein wichtiges Abgrenzungskriterium ist die Spieldauer: Während Filme im klassischen Sinn meist länger als eine Stunde4 dauern, sind Motion Graphics im Regelfall nur einige Minuten lang. Abgrenzung zu Visual Effects Als Visual Effects bezeichnet man Elemente in Filmen, die in der Postproduktion (also nach dem Vorgang des Filmens) hinzugefügt werden (Beispiel siehe Abbildung 4.2). Sofern in Filmen eingesetzt, trifft diese Eigenschaft natürlich auch auf Motion Graphics zu. Ein wesentliches Abgrenzungskriterium ist aber der Anspruch an Realismus, den Visual Effects stellen, um eine glaubhafte Illusion bei den Zuschauern zu ermöglichen. Dieser Anspruch ist bei Motion Graphics meist nicht vorhanden, da sie eher mit Grafikdesign verwandt sind und aus diesem Grund andere Zwecke erfüllen. 4.2 Geschichte In diesem Abschnitt werden die Ursprünge von Motion Graphics behandelt. Eingangs werden die technische Errungenschaften geklärt, die es im Laufe der Zeit überhaupt erst möglich gemacht haben, letztendlich mit dem zeitbasierten Medium Film zu arbeiten. Anschließend wird der Fokus von der 3 Siehe Abschnitt 3.5.4 auf Seite 41. Der Begriff Spielfilmlänge steht allgemein für eine zeitliche Dauer von mindestens 90 Minuten. 4 4. Motion Graphics 54 Abbildung 4.1: Stills aus dem Film Stranger Than Fiction (Columbia Pictures, 2006), in dem Motion Graphics sowohl als narratives Element (Bildreihe oben) als auch für die Credits (Bildreihe unten) einsetzen. Abbildung 4.2: Beispiel für Visual Effects anhand des Films Alice im Wunderland (Walt Disney Pictures, 2010). technischen Seite auf das konkrete Schaffen bzw. die Werke einiger bedeutender Künstler gesetzt, die eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet von Motion Graphics spielten. Der letzte Abschnitt5 widmet sich dann dem Einfluss von Computern und der zunehmenden Digitalisierung, die seit den 1960er-Jahren von statten gegangen ist. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass in diesem Abschnitt nicht das komplette Spektrum an Einsatzgebieten von Motion Graphics behandelt wird, sondern nur die für die Entstehung des Bewegtbilds als Informationsträger und Wissensvermittler relevanten Bereiche. Einsatzgebiete wie etwa Broadcast Design, Network Branding, Werbung oder DVD-Authoring werden nicht behandelt. 5 Siehe Abschnitt 4.2.5 auf Seite 66 4. Motion Graphics 4.2.1 55 Frühe optische Erfindungen Panathenäische Preisamphoren Bereits lange bevor sich das Bewegtbild, wie wir es heute in Form von Filmen und Animationen kennen, etablieren konnte, besaß der Mensch bereits einen Sinn für Bewegung, den sich in bestimmten Formen manifestierte. Eine solche Bewegung wird etwa auf den ca. 500 v. Chr. datierten Panathenäischen Preisamphoren (siehe Abbildung 4.3) durch mehrere Abbildungen der selben sich in Bewegung befindlichen Lebewesen vermittelt. Der Betrachter versucht instinktiv, die auf statischen Bildern fehlenden zeitlichen Abläufe durch das Herstellen von Zusammenhängen zwischen einzelnen Bildern zu verstehen. Ein anderes Beispiel hierfür wären etwa Fotoerzählungen und Comicstrips, bei deren Betrachtung durch das sequentielle Interpretieren von Bild- (und auch Text-)Informationen eine kinematische Wirklichkeit erzeugt will – ein Bild kommentiert also das vergangene bzw. folgende. Laterna Magica Die ersten Erfindungen, die man als animierte Unterhaltung bezeichnen könnte, wurden bereits im 17. Jahrhundert entwickelt. Die Laterna Magica (siehe Abbildung 4.4) etwa machte es erstmals möglich, dynamische bildliche Inhalte auf eine Wand zu projizieren. Dies wurde durch eine in der Gerätschaft befindliche Lichtquelle, die durch bemalte oder mit Fotografien versehene Glasplatten auf eine Projektionsfläche leuchtet, ermöglicht – ein Prinzip, das bis heute eingesetzt wird (z.B. in Dia- oder Filmprojektoren). Durch Wechseln und Bewegen der Laternbilder konnte so die Illusion einer fortlaufenden Bewegung erschaffen werden. Die Laterna Magica wurde beispielsweise bei Aufführungen von Goethe’s Faust eingesetzt: Auf der Bühne projizierte man (statische) Bilder auf (sich bewegenden) künstlichen Nebel, dadurch entstand ebenfalls der Eindruck von Bewegung. Abbildung 4.3: Panathenäische Preisamphore, ca. 500 v. Chr. Abbildung 4.4: Laterna Magica, erfunden um 1670. 4. Motion Graphics 56 Thaumatrop Eine Vorrichtung, die sich die Trägheit des Auges6 zu Nutze macht, wurde in den 1820er-Jahren unter dem Namen Thaumatrop (siehe Abbildung 4.5) bekannt. Hierbei handelt es sich um eine beidseitig bebilderte Papierscheibe, an deren Seiten zwei Fäden befestigt waren. Nimmt man die Schnüre in die Hand und dreht man die Papierscheibe schnell um die sich ergebende Achse, so entsteht die Illusion, dass die Motive beider Seiten übereinander gelegt werden. Abbildung 4.5: Thaumatrop, erfunden 1826. Phenakistoskop, Zoetrop und Praxinoskop Einige Jahre später wurde das Phenakistoskop 7 (siehe Abbildung 4.6 links) erfunden. Es besteht im Wesentlichen aus einer rotierbaren Scheibe, auf deren Außenring kreisförmig („tortenstückartig“) Zeichnungen angebracht sind, welche wiederum durch Schlitzen unterteilt werden. Steht der Betrachter vor einem Spiegel und dreht die Scheibe, so offenbart sich bei einem Blick durch die Schlitze auf die Scheibe im Spiegel eine Bewegungsillusion. Eine Variante des Phenakistoskops, die keinen Spiegel für die Betrachtung benötigt, ist das Zoetrop (siehe Abbildung 4.6 mitte). Hierbei wird ein nach oben offener Zylinder rotiert, in dem sich wie beim Vorgänger Einzelbilder eines Bewegungsablaufs befinden, die durch Schlitze betrachtet werden. Das Zoetrop wurde ebenfalls weiterentwickelt und bald vom daraus entstandenen Praxinoskop (siehe Abbildung 4.6 rechts) ersetzt. Dieses benutzt keine Schlitze, um die Bilder durch diese zu betrachten, sondern Spiegel, die auf der Außenseite eines eigenen Zylinder angebracht sind, welcher sich 6 Diese Eigenschaft des menschlichen Auges sorgt dafür, dass mehrere schnell aufeinander folgende Einzelbilder als zusammenhängende Sequenz gesehen werden. Grund hierfür ist die Tatsache, dass die Netzhaut im Auge jedes wahrgenommene Bild für einen kurzen Moment festhält. 7 1832 wurde die Gerätschaft unabhängig voneinander von zwei Personen entwickelt: Der Belgier Joseph Antoine Ferdinand Plateau nannte sein Schaffenswerk Phenakistoskop, der Österreicher Simon Ritter von Stampfer bezeichnete es als Stroboskop. 4. Motion Graphics 57 selbst im Praxinoskop befindet. Dieses Prinzip ermöglicht eine Vermeidung von Dunkelpausen zwischen den Einzelbildern und dadurch eine bessere Bildqualität. Auch diese Erfindung wurde weiter ausgebaut: So war es durch den Einsatz von längeren Papierrollen (anstatt von 8 oder 12 sich in einer Endlosschleife befindlichen Bilder in der ursprünglichen Variante) möglich, bei weitem längere Vorführungen durchzuführen. In Kombination mit einem Projektionsgerät entstand das Optische Theater (bzw. Théâtre Optique), welches sich für einige Jahre größter Beliebtheit erfreute. Abbildung 4.6: Links: Scheibe eines Phenakistoskops, erfunden 1832. Mitte: Zoetrop, erfunden 1834. Rechts: Praxinoskop, erfunden 1877. Zoopraxiskop Ende der 1860er-Jahre wurde der Fotograf Eadward Muybridge damit beauftragt, der Behauptung nachzugehen, dass die Bewegungsabläufe von Pferden8 nicht dem entsprachen was die Mehrheit der Menschen glaubten. Es galt zu beweisen, dass es während des Laufens eine Phase gibt, in der das Tier mit keinem Bein den Boden berührt („Flugphase“). Da dies nicht durch Beobachtung mit freiem Auge bewerkstelligt werden konnte, sollte die Fotografie Abhilfe schaffen: So entstanden nach und nach die berühmten Fotoserien9 von Muybridge, allem voran The Horse in Motion (siehe Abbildung 4.7 links). Die Studien sind nach wie vor eine große Hilfe für das Verständnis von Bewegung. Da sich die Bilderreihen größter Beliebtheit erfreuten, erfand Muybridge das Zoopraxiskop (siehe Abbildung 4.7 rechts), um seine Erkenntisse einem größeren Publikum vorführen zu können. Die Gerätschaft, deren Funktionsweise sich durch das Durchleuchten von sich drehenden, bemalten Scheiben 8 Pferde genossen in dieser Zeit ein hohes gesellschaftliches Ansehen, da sie sowohl als Verkehrs- und Transportmittel im alltäglichen Gebrauch als auch für die Kriegsführung unabdingbar waren. 9 Es entstanden insgesamt über 100.000 detaillierte Bewegungsstudien von Tieren und Menschen. 4. Motion Graphics 58 bzw. der Projektion der darauf befindlichen Einzelbilder auf eine Fläche auszeichnet, gilt als Vorläufer von Film- bzw. Diaprojektoren. Abbildung 4.7: Links: The Horse In Motion von Edward Muybridge. Rechts: Zoopraxiskop, erfunden 1879. Kinematograph Der Kinematograph (siehe Abbildung 4.8 links) der Gebrüder Auguste und Louis Lumière ist der erste Apparat in der Geschichte des Films, der es bis zur Massenproduktion schaffte. Mit seiner Hilfe konnten Filme der Öffentlichkeit erstmals auf großen Leinwände präsentiert werden. Eine Besonderheit der Gerätschaft war, dass sie sowohl für Aufnahme- als auch für Wiedergabe- und Vervielfältigungszwecke benutzt werden konnte. Vorteilhaft (besonders im Vergleich zum damals konkurrierenden Guckkasten) war, dass durch die Technik der Projektion eine hohe Zahl an Zuschauern pro Vorführung möglich war. Weiters handelte es sich um ein tragbares Gerät, das eine flexible und ortsungebundene Arbeitsweise der Filmschaffenden ermöglichte. Der erste mit dem Kinematographen gedrehte Film entstand im März 1985 und ist unter dem Namen La Sortie Des Usines Lumière (Arbeiter verlassen die Lumière-Werke, siehe Abbildung 4.8 rechts) bekannt. Noch im selben Monat wurde der Film der sogenannten Gesellschaft für die Förderung der nationalen Industrie in Paris vorgeführt – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Diese sollte erst ein paar Monate später an den Ergebnissen der technischen Errungenschaft teilhaben: Der 28. Dezember 1895 sollte als die Geburtsstunde des Kinos in die Geschichte eingehen. An diesem Tag zeigten die Gebrüder Lumière zehn ihrer Filme öffentlich im Grand Café in Paris. 4.2.2 Die ersten Animationen Neben diesen mit Hilfe einer frühen Ausführung einer Kamera aufgenommenen Filmen entstand auch das Konzept von Zeichnungen, die sich auf der (Kino-)Leinwand bewegen sollten. Die Urprünge dieser liegen in den meist in Zeitungen und Magazinen abgebildeten (häufig politischen) Karikaturen und Comic Strips – der erste animierter Film der Geschichte wurde im Jahre 1906 4. Motion Graphics 59 Abbildung 4.8: Links: Kinematograph, patentiert am 14. Februar 1895. Rechts: Still aus Arbeiter verlassen die Lumière-Werke von 1985. vom Zeitungs-Cartoonisten J. Stuart Blackton erstellt. Der Kurzfilm mit dem Titel Humorous Phases of Funny Faces (siehe Abbildung 4.9) hauchte durch die schnelle Aneinanderreihung von 20 Bildern pro Sekunde den auf eine Tafel gezeichneten Charakteren Leben ein. Kurze Zeit darauf entstand Fantasmagorie von Emile Cohl, das Werk gilt als erste voll animierte Animation – das bedeutet, jedes Bild wurde komplett aufs Neue gezeichnet. Abbildung 4.9: Stills aus Humorous Phases of Funny Faces von J. Stuart Blackton aus dem Jahre 1906. Dieses Prinzip machte sich auch der Cartoonist Windows McCay zu Nutze, er gilt ebenfalls als Pionier auf dem Gebiet der Animation. Nach einigen animierten Cartoons wie etwa Little Nemo in Slumberland (1911) oder How a Mosquito Operates (1912) führte sein Kurzfilm Gertie the Dinosaur (siehe Abbildung 4.10), den er in Bühnenauftritte einband, im Jahre 1914 zu nachhaltigem kommerziellen Erfolg. Durch die schnelle zeitliche Abfolge zusammengehöriger Bilder erschaffte McKay die Illusion der Dinosaurierdame Gertie, mit der er bei seinen Performances interagierte: So warf er ihr etwa Früchte zu oder verschwand am Endes des Films gleichzeitig mit Gertie hinter die Leinwand. Wie erwähnt wurden die in diesen Animationen benutzten Einzelbilder wurden allesamt Bild für Bild neu gezeichnet, erst im Jahr der Veröffentlichung begann die Cel Animation, sich nach und nach bei Filmschaffenden 4. Motion Graphics 60 Abbildung 4.10: Stills aus Gertie the Dinosaur von Windsor McKay aus dem Jahre 1914. durchzusetzen: Diese Technik ermöglichte eine Aufteilung von Vorder- und Hintergrundelementen (also den Charakteren und den Landschaften/Räumlichkeiten in denen sie sich befinden) durch den Einsatz von transparenten Zelluliod-Folien, die übereinander gelegt werden könnten, um so ein Einzelbild der Animation zu erhalten. Weiters wurde das Rotoskopie-Verfahren von Max Fleischer im Jahre 1917 patentiert, in diesem werden Animationen (klassischerweise Frame für Frame) mit gefilmtem Material als Vorlage erstellt – dadurch wirken die Bewegungablaufe sehr natürlich. Einer der erste animierte Cartooncharaktere, der es auf die Kinoleinwand schaffte und sich auch nachhaltig durch großen Erfolg auszeichnete, war eine später10 als Felix the Cat bekannte Cartoonkatze. Der von Pat Sullivan und Otto Mesmer erschaffene Stummfilm Feline Follies (siehe Abbildung 4.11) zeugte von den neuen Möglichkeiten, Zuschauern sympathische Lebewesen zu präsentieren, das eigentlich nur als Illusion in ihren Köpfen existieren. Da diese durchaus bereit waren, für die Vorführungen zu bezahlen, entwickelten sich schon bald größere Animationsstudios. Abbildung 4.11: Stills aus Pat Sullivans und Otto Mesmer s Kurzfilm Feline Follies von 1919. 10 Die Figur trug nicht von Beginn an den Namen Felix, außerdem wurde sie erst nach den ersten paar Filmen einer visuellen Überarbeitung unterzogen, die sie zu dem machte, was heute als Felix the Cat bekannt ist. 4. Motion Graphics 61 Nachdem der Animator Walt Disney durch seine Erstlingswerke Little Red Riding Hood und Four Musicians of Bremen (beide 1922 erschienen) auf sich aufmerksam machte, gründete er mit seinem Bruder Roy Disney im Jahre 1923 die Disney Studios in Los Angeles. Einige Filme11 später gelang der Durchbruch mit einem der bekanntesten Cartoon-Charaktere überhaupt: Mickey Mouse. Die an Felix the Cat erinnernde Figur erlangte u.a. in den 1928 erschienenen Filmen Plane Crazy und Steamboat Willie (siehe 4.12) große Berühmtheit. Abbildung 4.12: Stills aus Steamboat Willie der Disney Studios von 1919. Die etwa zur selben Zeit wie die Disney Studios gegründeten Fleischer Studios der Gebrüder Max, Dave, Joe und Lou Fleischer waren für erstere eine ernstzunehmende Konkurrenz. Sie erschufen im Laufe der Zeit nicht nur klassische Charaktere wie Koko the Clown, Betty Boop, Popeye oder Superman, sondern auch die erste animierte Dokumentation in der Geschichte des Films – den mit etwa einer Stunde Laufzeit ausgesprochen umfangreichen Film The Einstein Theory of Relativity 12 aus dem Jahre 1923. 4.2.3 Experimentelle Animation Gleichzeitig mit dem konkreten, mit einer Handlung und darin eingebetteten Schauspielern bzw. Cartoonfiguren versehenen Film der Jahrhundertwende entstand eine Gegenbewegung, die sich klar von genannten Charakteristika des klassischen Films dieser Zeit abgrenzte – die Bewegung des so genannten absoluten Films, auf den in diesem Abschnitt kurz eingegangen werden soll. Das Abstrakte und Irrationale wurde thematisiert, und mit dem Aufkommen und der zunehmenden Bedeutung des Mediums Film fingen viele Künstler an, mit zeitbasierten Medien zu experimentieren. Im Gegensatz zu den für die Massen und aus kommerziellen Gründen produzierten Mainstreamfilmen, bei denen zwar meist die Namen der Schauspieler, nicht aber die 11 Zuerst wurde eine Serie mit dem Namen Alice in Cartoonland geschaffen, später wurde der Character Oswald the Lucky Rabbit mit Kurzfilmen wie Trolley Troubles (1927) und Poor Papa bekannt. 12 Siehe auch [25]. 4. Motion Graphics 62 der Regisseure geläufig waren, entstanden die ersten experimentellen Animation aus persönlichen Motiven der Künstler, die das Medium Film als individuelle Ausdrucksform betrachteten. Generell kann man den absoluten Film der 1920er-Jahre als eine Reaktion bzw. einen Versuch der Verarbeitung der herrschenden chaotischen Zustände, die durch einen Weltkrieg und die zunehmendende Industrialisierung hervorgerufen wurden. Es ist heutzutage – bzw. im Zeitalter des Computers – schwer vorstellbar, wie groß der Aufwand der Filmschaffenden war, bis ihre avantgardistischen Experimente es letztlich auf die Leinwand schafften. Die Spektrum an Umsetzungsmöglichkeiten reiche von der Cut-Out-Technik, dem Pinscreen-Verfahren oder dem Bemalen und Zerkratzen von Filmmaterial bis hin zu Experimenten mit Oszilloskopen, Vaseline, Klebeband und Rasierklingen. Bevor nun einige Beispiele für den absoluten Film genannt werden, erscheint es an dieser Stelle vorteilhaft, zwei Grundbegriffe der visuellen Sprache zu erläutern: 1. Als visuelle Form bezeichnet man eine zeitunabhängige räumliche Anordnung bestimmter Elemente. Bei diesen Basiselementen kann es sich um einen Punkt, eine Linie, eine Fläche oder ein Volumen handeln. Jedes Element weist sieben Basisattribute auf: Die Art der Form, sowie deren Größe, Orientierung (bzw. Rotation), Position, Farbe und Textur. Durch die Kombination der Basiselemente und dem Versehen mit genannten Attributen können theoretisch unendlich viele visuelle Formen entstehen13 . 2. Eine visuelle Formation erweitert die visuelle Form um eine temporale Dimension. Sie ist also zeitabhängig, was bedeutet, dass sich die Elemente der visuellen Form bzw. deren Attribute – sich im Laufe der Zeit ändern (können). Besonders Maler sahen in den Anfängen der experimentellen Animation das große Potenzial des Einbringens einer zeitlichen Dimension in ihre Kunst. Dieser Drang manifestierte sich etwa im 1923 erschienenen Animationsfilm Symphonie Diagonale (siehe Abbildung 4.13) des schwedischen Musikers und Malers Viking Eggeling, der jegliche Art von Repräsentation zu vermeiden versuchte und sich statt dessen der Erschaffung bewegter Bilder widmet, die den Rhythmus der Musik transportieren sollen. Ähnlich abstrakt war der Ansatz des deutschen Dadaisten und Filmemacher Hans Richter in seiner Animation Rhythm 23 (siehe Abbildung 4.14), in der er sich auf noch simplere Formen als Eggeling beschränkte. Auch der deutsche Maler Walter Rutt13 Eine Anmerkung für die in diesem Abschnitt behandelten experimentellen Animation und das Filmtiteldesign, dessen Geschichte im Abschnitt danach erläutert wird: Je reduzierter und simpler die visuelle Form, desto einfacher ist es, die in Abschnitt 3.5.4 auf Seite 41 erläuterten Prinzipien der Wahrnehmung zu erkennen. 4. Motion Graphics 63 mann erkundete in seinen Werken Lichtspiel Opus I-IV das Zusammenspiel geometrischer Formen. Abbildung 4.13: Stills aus Symphonie Diagonale von Viking Eggeling von 1923. Abbildung 4.14: Stills aus Rhythm 23 von Hans Richter von 1923. Als weitere bedeutende Experimentalfilme dieser Zeit sind etwa Anémic Cinéma (1926) von Marcel Duchamp, Spook Sport von Mary Ellen Bute und Norman McLaren (1939) oder Komposition in Blau von Oskar Fischinger (1939). Bei den bisher genannten Werken handelt es sich ausschließlich um Kurzfilme, deren Länge zehn Minuten nicht übersteigt. Die 1926 erschienene Cut-Out-Animation The Adventures of Prince Achmed von Lotte Reiniger konnte sich aufgrund der Dauer von mehr als einer Stunde als die erste Animation in Spielfilmlänge etablieren. 4.2.4 Filmtiteldesign Die Filmtitel und Zwischeneinblendungen der ersten Stummfilme, wie etwa in Abbildung 4.12 auf Seite 61 dargestellt, gelten als die Vorreiter des Filmtiteldesigns. Sie zeichnen sich durch den geschickten Einsatz typografischer Mittel zur Erzeugung von Emotionen aus, so wurden beispielsweise große, zerschlissene Letter für Horrorfilme benutzt, während für den Einsatz in Romantikfilmen elegante Handschriften bevorzugt wurden. Da sich die ersten Filmtitel – natürlich neben dem notwendigen Einsatz von Typografie für die Kommunikation der Informationen über die Mitwir- 4. Motion Graphics 64 kenden des Films – dem Experimentieren mit visuellen Formationen widmeten, kann man das frühe Filmtiteldesign der 1950er-Jahre als experimentelles Filmschaffen im Umfeld kommerzieller Kinofilme betrachten. Die Pioniere dieser Disziplin hatten also große kreative Spielräume, dadurch wurden einzigartige und auch für das Motion Design bedeutende Opener geschaffen. Gelungene Werke waren mit einem eigenen, wiedererkennbaren Charakter versehen und demnach mehr als nur eine Auflistung der Mitwirkenden – oftmals handelte es sich um eine Art Vorspann des eigentlichen Spielfilms, die sogar fähig waren dessen Story noch zu erweitern. Saul Bass Der wahrscheinlich bedeutendste Vorreiter auf dem Gebiet des Filmtiteldesigns ist der 1920 in New York geborene Saul Bass, der für Regisseure wie Alfred Hitchcock, Martin Scorsese, Stanley Kubric und Otto Preminger arbeitete. Seine bekannten Titelsequenzen für Premingers Man With the Golden Arm (siehe Abbildung 4.15) und Anatomy of a Murder (siehe Abbildung 4.16) konnten als eine Art Film im Film betrachtet werden und brachten den Stil der experimentellen Animation wieder zurück auf die Leinwand. Auch der Opener von Hitchcock’s Vertigo (siehe Abbildung 4.17) gilt als Aushängeschild für die Arbeit von Saul Bass und als Paradebeispiel dafür, wie gelungenes Filmtiteldesign die Stimmung eines Films schon von der ersten Minute an transportieren kann. Abbildung 4.15: Stills aus dem Opener von The Man with the Golden Arm von 1955. Abbildung 4.16: Stills aus dem Opener von Anatomy of a Murder von 1959. 4. Motion Graphics 65 Abbildung 4.17: Stills aus dem Opener von Vertigo von 1958. Pablo Ferro Der Filmemacher Pablo Ferro ist (neben Saul Bass) zweifelsohne ein Filmtiteldesigner, der die Disziplin wesentlich mitgeprägt hat. Er zeichnet sich für die Opener zahlreicher Klassiker wie etwa Dr. Strangelove von 1964 (siehe Abbildung 4.18) oder A Clockwork Orange von 1971 (siehe Abbildung 4.19) verantwortlich. Ferros Experimente mit Stilelementen wie Jumpcuts, handgezeichneten Animationen und Schriftbildern, extremen Close-Ups und Split-Screens nahmen starken Einfluss auf den Look verschiedenster Animationen – besonders der Einsatz von schnellen Schnitten spiegelte sich später im so genannten MTV-Stil wieder. Abbildung 4.18: Stills aus dem Opener von Dr. Strangelove von 1964. Abbildung 4.19: Stills aus dem Opener von A Clockwork Orange von 1971. Kyle Cooper Der stark von Saul Bass und Kyle Cooper beeinflusste Grafikdesigner Kyle Cooper veränderte die Disziplin des Filmtiteldesigns in den 1990er-Jahren stark, indem er klassische Methoden mit digitalen Prozessen kombinierte. 4. Motion Graphics 66 Im seiner Laufbahn hat er mehr als 100 Titelsequenzen für Filme und Fernsehsendungen erstellt, allein diese Tatsache dient als gute Gelegenheit, einen Vergleich zwischen den „Urgesteinen“ des Filmtiteldesigns und den neueren Vetretern dieser Branche zu ziehen. Dass er stark von Saul Bass beeinflusst wurde, macht sich besonders in der Titelsequenz des 1998 erschienenen Films Sphere (siehe Abbildung 4.21) bemerkbar – gewisse Ähnlichkeiten zur Titelsequenz von Vertigo sind unverkennbar, aber besonders im Hinblick auf die Komplexität der Typografie und deren Einsatz im Zusammenspiel mit den Hintergründen merkt man sofort, dass sich die technische Möglichkeiten im Laufe der dazwischen liegenden 30 Jahre massiv erweitert haben. Dies ermöglichte eine weitaus schnellere und kreativ unlimitiertere Arbeitsweise als in Zeiten von Bass. Coopers mit Abstand berühmtestes Werk ist der Opener von David Finchers Se7en aus dem Jahre 1995 (siehe Abbildung 4.20) – durch seinen Einsatz von schnellen Schnitten, zwischen denen Szenen aus dem Schaffen eines Mörders zu sehen sind, gelingt die Synergie zwischen dem Vorspann und dem Film selbst so gut wie wenigen zuvor. Abbildung 4.20: Stills aus dem Opener von Se7en von 1995. Abbildung 4.21: Stills aus dem Film Sphere von 1998. 4.2.5 Einfluss des Computers Technology just frees us to realize what we can imagine. It’s like being given the power to do magic. (Robert Abel, [44]) Frühe Computergrafik Seit dem Beginn der Digitalisierung in den 1960ern nahmen Fortschritte in der digitalen Technologie wesentlichen Einfluss auf Animationskünstler. John Whitney ist als Vorreiter auf diesem Gebiet in die Geschichte eingegangen. Er 4. Motion Graphics 67 experimentierte unter anderem mit einem von ihm Cam Machine getauften analogen Computer, den er zuvor aus der Zielvorrichtung von Kriegsgeräten zur Luftabwehr gebaut hat. Weiters führte sein Schaffen zum erstmaligen Einsatz von Computergrafik in der Geschichte des Feature Films, nämlich in Westworld von 1973, in dem das Bild in ein Mosaik aus Pixeln verwandelt wird14 . Abbildung 4.22: Stills aus dem Film Westworld von 1973. Ein weiterer von den Möglichkeiten der Computer begeisterter Filmemacher ist Stan Vanderbeek. Er beschäftigte neben analogen Verfahren in der Filmproduktion wie der Collage oder handgezeichneten Animation auch mit computergenerierten Grafiken, die er unter anderem mit der Beflix Programmiersprache zur Produktion von rasterbasierten Animationen erstellte. Vanderbreek ist bekannt für seine digitalen Mosaikbilder, die bei näherer Betrachtung ihre hohe Komplexität anhand dem Einsatz vieler einzelner Objekte, und bei Betrachtung aus der Distanz ein wiedererkennbares Bild zeigen. Auch Robert Abel, der bereits mit Saul Bass zusammenarbeiten durfte, beschäftigte sich mit Computergrafik und eröffnete 1971 mit seinem Freund Con Pederson das Studio Robert Abel & Associates, das u.a. für die computergenerierten Effekte in Disneys 1982 erschienenen Klassiker Tron (siehe Abbildung 4.23) verantwortlich war. Abbildung 4.23: Stills aus dem Film Tron von 1982. Erweiterte Möglichkeiten Als die ersten Animationssequenzen entstanden, die man weitgehend als Motion Graphics bezeichnen kann, waren die Produktionskosten dafür so hoch dass sie beinahe ausschließlich für Titelsequenzen von Filmen und Fernsehserien hergestellt wurden. Hierbei ist anzumerken, dass es sich bei den Se14 Dieser Effekt ist auch unter der Bezeichnung Pixelation bekannt. 4. Motion Graphics 68 quenzen im Broadcastbereich bis zu der den 1980er-Jahren (bzw. bis zur zunehmenden Verbreitung des Kabelfensehens) um nicht viel mehr als einfache, bewegte Logos gehandelt hat. Mit der zunehmenden Popularität des Fernsehens stieg auch der Bedarf an animierten Grafiken, besonders mit dem Aufkommen des Senders MTV. Generell war es für alle außer den drei großen amerikanischen Hauptsendern15 von Bedeutung, sich mittels Motion Graphics von dem generalisierten Look derer zu distanzieren und sich damit im Markt zu positionieren. Die Umstellung von analogen auf digitalen Workflow erfolgte, nachdem Computer in den 1990er fähig wurden, Videobearbeitung durchzuführen. Anfangs kosteten Computer, mit denen Motion Graphics produziert werden konnte, mindestens 30.000 US-Dollar – dies machte es dem Großteil der Motion Designer praktisch unmöglich, an privaten anstatt kommerziellen Projekten zu arbeiten. Durch die zunehmenden technischen Möglichkeiten, die noch dazu immer erschwinglicher wurden, änderte sich dies aber im Laufe der Zeit. Mittlerweile ist es für jeden Designer, der im Besitz eines Computers ist und geeigneten Programmen zur Verfügung hat, möglich, Motion Graphics zu produzieren. 4.3 4.3.1 Motion Graphics als Wissensvermittler Einleitung In diesem Abschnitt soll die bisher recht generell erläuterte Thematik von Motion Graphics etwas eingeengt werden, besonders im Hinblick auf den Zweck, den die Animation zu verfolgen versucht. Bevor dies aber in Abschnitt 4.3.3 ab Seite 70 vorgenommen wird ist es sinnvoll, im folgenden kurz auf bedeutende Vorreiter auf diesem Gebiet bzw. deren Philosophie einzugehen. 4.3.2 Charles und Ray Eames Die Gebrüder Eames wurden bereits kurz in Abschnitt 3.5.1 auf Seite 36 im Hinblick auf ihre Vorreiterrolle in Sachen Informationsdesign erwähnt, sie waren aber ebenso in Bereichen wie Architektur, Möbeldesign, Literatur, Fotografie und auch Film tätig – von letzteren entstanden insgesamt mehr als 100 Werke. In jeder Disziplin zeichneten sie sich durch ihr innovatives und stets elegantes Design aus, was ihnen unter anderem Konzerne wie IBM oder Polaroid als Auftraggeber bescherte. Außerdem verstanden sie es so gut wie nur wenige ihrer Zeit, eigentlich trockene Sachthemen in Form von lebhaften und lehrreichen Filme zu behandeln. Ein Beispiel für diese Gratwanderung zwischen Entertainment und Wissensvermittlung ist SX-70 15 Diese Hauptsender bestanden aus der American Broadcasting Company (ABC ), dem Columbia Broadcasting System (CVS ) und der National Broadcasting Company (NBC ). 4. Motion Graphics 69 (siehe Abbildung 4.24) von 1972, der zwar als Promotionfilm für die Polaroid SX-70 -Kamera produziert wurde, aber sich dennoch mit Themen wie der Funktionsweise der eingebauten Spiegel oder Transistoren auseinandersetzt. Abbildung 4.24: Stills aus SX-70 von 1972. Da nur ein Teil der filmischen Werke der Gebrüder Eames überhaupt mit animierten grafischen Elementen versehen ist, gilt es zu klären, warum sie dennoch in diesem Kapitel aufscheinen. Grund hierfür ist weniger die technische Herangehensweise als die Philosophie von Charles und Ray Eames, welche – kohärent zu ihrem multitalentierten Schaffen – besagt, dass das Medium Film lediglich als Werkzeug für den Transport einer Idee fungiert. Man kann also behaupten, dass das erfolgreiche Kommunizieren dieser Idee von höchster Priorität war, diese selbst wird durch Informationen repräsentiert. Kein Film der Gebrüder lässt diese Philosophie so gut erkennen wie Powers of Ten (siehe Abbildung 4.25) von 1977, der Untertitel A Rough Sketch for a Proposed Film Dealing with the Powers of Ten and the Relative Size of Things in the Universe lässt die Thematik erahnen, die der Film behandelt: Größendimensionen, die mit dem Faktor 10 zueinander in Beziehung stehen. Um diese zu vermittlen, wird jede Zehnerpotenz – von einem Meter aufsteigend auf 1025 , dann wieder absteigend auf 10−16 Meter – mit einem Quadrat gekennzeichnet, das die Seitenlängen der aktuellen Zehnerpotenz aufweist. Mit einer durchgängigen Kamerafahrt wird dann jedes dieser Rechtecke in Relation zueinander gezeigt und die Größenverhältnisse währenddessen durch einen Sprecher genauer beschrieben. Diese Erkundung von Mikro- und Makrokosmos – und vor allem das Aufzeigen der Größenverhältnisse zueinander – wurde in solch leicht verständlicher und dennoch hochinteressanter Art und Weise noch nie durchgeführt, aufgrund dessen sei an dieser Stelle auf Abschnitt 2.3.1 auf Seite 7 verwiesen. Zweifelsohne dient auch Power of Ten der Horizonterweiterung des Publikums, mit dem wesentlichen Unterschied, dass diese für ein Massenpublikum aufbereitet wurde und nicht ausschließlich der Wissenschaft vorbehalten war. Diese Massentauglichkeit schafft einige spezielle Anforderungen, die im folgenden Abschnitt näher definiert werden. 4. Motion Graphics 70 Abbildung 4.25: Stills aus Powers of Ten von 1977. 4.3.3 Eingrenzung der Thematik Das breite Spektrum an Einsatzmöglichkeiten, das sich aus dem Versuch einer Begriffsbestimmung des Terminus Motion Graphics 16 ergibt, soll in diesem Abschnitt etwas eingegrenzt werden. Dies wird im Folgenden durch das Festlegen bestimmter Kriterien versucht, die Animationen erfüllen sollten, um als „Wissensvermittler“ in dem Sinn durchzugehen, der in dieser Arbeit das Kernthema bildet. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass diese Art der Animation aufgrund eines narrativen Charakters und dem oftmaligen Vorhandensein eines Sprechertexts auch als Visual Essay bezeichnet werden kann. Generell handelt es sich bei den hier beschriebenen Animationen um eine Abfolge von Bildern, wobei jedes Bild ein gewisses Maß an Veränderung zum vorangegangenen aufweist. Laut Richard E. Meyer 17 gibt es verschiedene Gründe, warum Animationen als Informationsvermittler eingesetzt werden: 1. Wenn der Sachverhalt nicht in räumlicher oder zeitlicher Realität beobachtet werden kann. 2. Wenn der Sachverhalt für das menschliche Auge nicht sichtbar ist. 3. Wenn eine Vorführung des Sachverhalts in Lernumgebungen aus praktischen Gründen nicht möglich ist. Obwohl gewisse Gemeinsamkeiten bestehen, sind Visual Essays daher klar von Videos zu unterscheiden, da zweitere Bewegungsabbildungen von realen Objekten darstellen. Oberflächlich formuliert handelt es sich bei der 16 17 Siehe Abschnitt 4.1.1 ab Seite 51. Siehe [53]. 4. Motion Graphics 71 zu definierenden Subkategorie von Animation um eine Mischform aus Information Design und Motion Graphics18 . Eines der wichtigsten Kriterien für die hier behandelte Kategorie von Motion Graphics ist freilich der Zweck den sie verfolgen, nämlich die Kommunikation von Informationen. Zu behaupten, dass auch hochstilisierte und aufwändig gestaltete Werbefilme – die eher als das Gegenteil von Wissensvermittlung wirken – eigentlich bestimmte Informationen vermitteln, wäre natürlich korrekt, deshalb gilt der Nutzen als weiteres Kriterium: Dieser soll zum größtmöglichen Teil beim Betrachter der Animation liegen, indem dieser durch das Wissen um die aufbereiteten Themen profitiert – und nicht etwa suggestiv zu einer Kaufentscheidung bewegt oder imperativ zu gewissen Handlungen gezwungen wird. Im Hinblick auf die Pragmatik von Zeichen19 sollte also dementsprechend eine indikative Absicht angestrebt werden, da man ja nur informieren und nicht (wie eben bei imperativer oder suggestiver Absicht) den Willen oder die Gefühle des Betrachters beeinflussen möchte. Auch dessen Einschätzung im Hinblick auf die Objektivität der dargebotenen Informationen ist von Bedeutung, da diese in direktem Verhältnis mit der Glaubhaftigkeit dieser steht. Anders formuliert: Der Betrachter darf nicht glauben, dass man „ihm etwas vorsetzen“ möchte – damit sind Image- oder Werbefilme bzw. jegliche Form von aufgrund wirtschaftlicher Interessen instrumentalisierter Motion Graphics von vornherein ausgeschlossen. Ein weiteres Kriterium ist die adäquate Aufbereitung der zu vermittelnden Informationen in Form der in Abschnitt 3.5.4 auf Seite 41 definierten Darstellungs- und Steuerungscodes. Wo immer es möglich ist, sollen für erstere schnell verständliche und (zumindest im gegebenen Kontext) eindeutige Zeichen verwendet werden, um bestimmte Entitäten bzw. „Rollen“ in der Animation zu repräsentieren – es bieten sich also beispielsweise die im Abschnitt 3.4.4 ab Seite 32 näher erläuterten Piktogramme an, oder – allgemeiner formuliert – auf das zur Wiedererkennung wesentlichste reduzierte Bildzeichen. Diese schnelle und effektive Kommunikation sollte natürlich auch für die dargestellten Zusammenhänge zwischen diesen Entitäten – also für die Steuerungscodes – gewährleistet sein. Reicht der Einsatz dieser bildlichen Mittel nicht aus, um eine Thematik auf ausreichend umfangreiche Art und Weise zu vermitteln, so werden zusätzlich typografische Elemente (in Form des geschriebenen Wortes) und/oder auditive Elemente (in Form des gesprochenen Wortes) eingesetzt – mehr hierzu findet man in Abschnitt 5.3.3 auf Seite 94. 18 Die genauen Unterschiede zwischen der statischen und der animierten Variante der Wissensvermittlung werden in Abschnitt 5.3.2 ab Seite 92 geanuer behandelt. 19 Siehe Abschnitt 2.4.3 auf Seite 19. 4. Motion Graphics 4.3.4 72 Beispiele In diesem Abschnitt soll versucht werden, das Spektrum und den Stand von Motion Graphics als Wissensvermittler anhand einiger Beispiele aufzuzeigen. Einige markante Eigenschaften, Funktionsweisen und mögliche Absichten der vorgestellten Animationen werden aufgezeigt, vor allem soll der enge Zusammenhang mit den in Kapitel 3 vorgestellten Theorien über den Einsatz und die Wahrnehmung von bildlichen Zeichen aufgezeigt werden. Die Beispiele sind als Videodateien auf der dieser Arbeit beiliegenden CD verfügbar, genauere Angaben befinden sich in Anhang A auf Seite 104. Melih Bilgil – History of the Internet Abbildung 4.26: Stills aus History of the Internet von Melih Bilgil aus dem Jahr 2009. Die im Jahr 2009 entstandene Animation History of the Internet des Designers Melih Bilgil ist ein Musterbeispiel für die Definition von Motion Graphics als Wissensvermittler als eine Kombination von Motion- und Informationsdesign. Die in Abschnitt 3.5.4 auf Seite 40 definierten Gestaltungsprinzipien von statischen Infographics werden hier auf sehr direktem Weg im Bewegtbild umgesetzt. Wie der Name vermuten lässt, beschäftigt sich das Visual Essay mit der Geschichte des Internets bzw. den markanten technischen Errungenschaften und deren Auswirkungen auf die Computerund Netzwerktechnologie. Hierbei gibt es einige für die effektive Informationsaufbereitung in Form des Bewegtbilds relevante Vorgehensweisen, die sich gut anhand von History of the Internet aufzeigen lassen: • Einsatz von Piktogrammen: Das Visual Essay benutzt die Piktogramme des PICOL-Systems20 , um einzelne darzustellende Entitäten 20 Das Akronym PICOL steht für Pictorial Communication Language. Hierbei handelt es sich um ein Projekt, das sich der Standardisierung von Bildzeichen mit piktogrammhaften Charakter in Form eines Zeichensystems für die elektronische Kommunikation widmet. 4. Motion Graphics 73 wie etwa Benutzer oder Computer darzustellen. Aufgrund der Schlichheit sind visuelle Formen bzw. Formationen21 einfach auszumachen, auch die Prinzipien der Wahrnehmungen22 können schnell als solche erkannt werden. Ihre praktische Anwendung erkennt man in Abbildung 4.26 etwa in Form des Gesetzes der Ähnlichkeit (oben in der Mitte) oder des Gesetzes der Geschlossenheit. • Weitgehender Verzicht auf dekorative Elemente: Ein Blick auf die in Abbildung 4.26 dargestellten Stills zeigt sofort, dass weitgehend auf rein dekorative Elemente – sowohl in Form der eingesetzten Bildzeichen, als auch des Farbschemas – verzichtet wurde und der Fokus eindeutig auf der Schlichtheit und der damit verbundenen kommunikativen Effektivität und Eindeutigkeit liegt. • Möglichst objektiv vermittelter Inhalt: Diese im vorigen Punkt erwähnte Schlichtheit ist nicht nur formell, sondern auch auf inhaltlicher Ebene klar im Konzept von History of the Internet verankert. Jegliche Form von Emotionalität oder Vermittlung eines Standpunktes wird vermieden – wobei man an dieser Stelle auch erwähnen muss dass sich die behandelte Thematik gut für eine solch objektive und unausgeschmückte Erzählweise eignet, da sie sich vordergründig auf den chronologischen Ablauf und die Auswirkungen bestimmter technischer Errungenschaften bezieht bzw. sehr wenig Personenbezug (und damit einhergehende Emotionalität) aufweist. Smart Bubble Society – Health Care Overhaul Abbildung 4.27: Stills aus John Green’s Thought Bubble: Health Care Overhaul der Smart Bubble Society aus dem Jahr 2009. 21 22 Siehe Abschnitt 4.2.3 auf Seite 61. Siehe Abschnitt 3.5.4 auf Seite 41. 4. Motion Graphics 74 Smart Bubble Society ist eine kanadisches Motion Design Studio, das unabhängig und gemeinnützig tätig ist und es sich zur Aufgabe gemacht hat, meist kritische Gedanken (so genannte Thought Bubbles) zu aktuellen Themen in Form von Animationen aufzubereiten. Diese Gedanken stammen hierbei nicht von den Mitarbeitern selbst sondern von Leuten, die sie diesen zum Beispiel per E-Mail zukommen lassen. Sie können also theoretisch von jedem eingereicht werden, sofern sie gewissen Kritierien entsprechen werden sie in Form eines Visual Essays aufbereitet. So geschehen ist das mit Gedanken des US-amerikanischen Schriftstellers John Green, der seit 2007 mit seinem Bruder Hank Green einen erfolgreichen Videoblog auf YouTube betreibt. 2009 veröffentlichte er ein Video23 , in dem er der YouTube-Community seine Ansichten über den aktuellen Stand des amerikanischen Gesundheitssystems mitteilt. Greens schnelle und emotionale Erzählweise, kombiniert mit ein paar wirklich interessanten Gedanken und Vergleichen, bilden den Grundstein für die Thought Bubble, die quasi um diesen auditiven Teil des Originalvideos herum entstanden ist und diesen als Sprechertext benutzt. Die Eigenschaften der Animation (Stills siehe Abbildung 4.27) lassen sich auf folgende Punkte zusammenfassen: • Einsatz von ikonischen Bildzeichen: Es werden auch hier wiederkehrende grafische Elemente für die Veranschaulichung der einzelnen vorkommenden Rollen und Institutionen verwendet, diese beschränken sich aber nicht ausschließlich auf Elemente, die im Stil von Piktogrammen auf das allerwesentlichste reduziert wurden. Es kommen auch visuell ausgeschmücktere Bildzeichen zum Einsatz – ein Beispiel hierfür wäre etwa das in Abbildung 4.27 links unten dargestellte Krankenhaus in der linken Bildhälfte. • Der Einsatz einer simplen Methapher für das Aufzeigen von Eigenschaften eines komplexen Sachverhalts: Ein auf einer Messe als weltgrößter Eber vorgestelltes Schwein, das so übergewichtig ist dass es nicht mehr fähig ist zu laufen – und ironischerweise den Namen Walkin’ Tall trägt – wird mit dem amerikanischen Gesundheitssystem verglichen, das sich ebenfalls durch seine Größe auszeichnet (siehe Abbildung 4.27 oben in der Mitte). Es werden drei Möglichkeiten zur weiteren Vorgehensweise betrachtet: Entweder das übergewichtige Schwein wird umgebracht, auf eine Diät gesetzt oder einfach weiter gefüttert wie bisher. Der erste Fall würde bedeuten, die in Amerika weit verbreiteten privaten Versicherungen durch größere staatliche Institutionen zu ergänzen (bzw. zu ersetzen). In zweiterem würden die privaten Versicherungen mit Non-Profit-Organisationen konkurrieren, im drittem Fall würde alles so weitergehen wie bisher. 23 Das Video mit dem Titel Heal Care Overhaul Summarized via Massive Pig ist auf http://www.youtube.com/watch?v=7Z_RVl-ph3s zu finden. 4. Motion Graphics 75 • Der Einsatz von multimodalen24 Repräsentationen zum Hervorheben besonders wichtiger Aussagen: Teile des Sprechertexts, die als besonders relevant betrachtet werden, werden nicht nur in Form des gesprochenen Worts, sondern zusätzlich auch in Form des geschriebenen Worts dargestellt. Ein Beispiel ist das in Abbildung 4.27 rechts unten dargestellte Ende der folgenden Aussage: „We don’t believe that health care is a privilege, we believe that it is a right. And if it is a right, like life, liberty, and the pursuit of happiness, it is the responsibility of a government to protect that right.“ • Der Einsatz von impliziten Steuercodes25 zum Aufzeigen bestimmter Verhältnisse zwischen einzelnen, gleichzeitig dargestellten Entitäten: Durch die etwa in Abbildung 4.27 (unten in der Mitte) durchgeführte Hervorhebung von privaten Versicherungen (rote Hintergrundfarbe, Bildzeichen ist wesentlich größer dargestellt) werden diese sowohl in den Vordergrund gerückt, als auch die Emotionalität der getroffenen Aussage verstärkt. • Emotionale Präsentation: Besonders im Vergleich zur eingangs vorgestellten History of the Internet wirkt Health Care Overhaul sehr emotionsgeladen. Dies rührt sicherlich von der zu Grunde liegenden Audiospur des Originalvideos von John Green, die allein schon sehr zackig und gefühlsbeladen wirkt, macht sich aber in der Folge auch beim Einsatz der ständig leicht wackelnden Kamera, dem Tempo der Animation und beim Sound Design bemerkbar. • Der Darstellung von Zusatzinformationen, die zwar weder eine unmittelbare grafische Repräsentation des Sprechertexts darstellt noch überhaupt während dem Betrachten der Animation erfasst werden kann26 . Solche sind etwa in Abbildung 4.27 links unten (weißer Text auf grünem Hintergrund) dargestellt. Aufgrund der Tatsache, dass dieser Informationsblock schon in Green’s Originalvideo vorhanden ist, lässt sich nicht eindeutig sagen, ob er nicht allein aus Gründen der Vollständigkeit im Visual Essay aufscheint. Dennoch sind solche Zusatzinformationen ein interessantes Phänomen, da sie meist erst durch aktives Eingreifen des Betrachters – in diesem Fall durch das Pausieren der Animation – vollständig wahrgenommen und verstanden werden können, da durch die Vergänglichkeit des Dargestellten bei Animationen schlicht und ergreifend die Zeit nicht ausreicht, um solche Informationen zu verarbeiten. 24 Für eine Beschreibung des Begriffs „multimodal“ siehe Abschnitt 5.3.3 auf Seite 93. Siehe Abschnitt 3.5.4 auf Seite 41. 26 Mehr zu den begrenzten menschlichen Aufnahmekapazitäten befindet sich in Abschnitt 5.3.3 auf Seite 94 25 4. Motion Graphics 76 Im Hinblick auf den letzten der genannten Punkte ist anzumerken, dass die Smart Bubble Society im Allgemeinen und Health Care Overhaul im Speziellen einen sehr starken Internetbezug aufweisen. Dies geht allein schon aus dem Ursprung der visualisierten Gedanken hervor: Das Studio meint in einem Blogeintrag27 , dass die behandelte Thematik an sich zwar schon gesellschaftlich relevant ist, aber erst durch die über 700.000 Views, die John Green’s Originalvideo innerhalb von zwei Wochen auf YouTube erreichte, wurde die Entscheidung gefällt, sie mittels Motion Graphics aufzubereiten. Grund für die letztliche Entstehung ist also die Überlegung, dass wenn viele Internet-User sich für die Thematik interessieren und darüber recherchieren, auch ein (ausschließlich) über das Internet publiziertes Visual Essay sinnvoll sei. Dieses kann dann durchaus mit den im letzten Punkt erwähnten Zusatzinformationen, deren Nutzung ein Eingreifen des Betrachters erfordern, kombiniert werden – man geht ja schließlich davon aus, dass die Betrachter zum Zeitpunkt der Wiedergabe jederzeit dazu fähig ist, im Videoplayer auf ihrem Computer auf Pause zu drücken. Jonathan Jarvis – The Crisis of Credit Visualized Abbildung 4.28: Stills aus The Crisis of Credit Visualized von Jonathan Jarvis aus dem Jahr 2008. Das Visual Essay The Crisis of Credit Visualized (Stills siehe Abbildung 4.28) wurde 2008 vom amerikanischen Designer Jonathan Jarvis erschaffen. Ziel der Animation ist es, einen so komplexen Sachverhalt wie die Finanzkrise – bzw. die Geschehnisse, die zu dieser Krise führten – anschaulich zu visualisieren und dem Zuschauer so innerhalb weniger Minuten begreifbar zu machen. Dieses Leitmotiv zieht sich per Definition durch die in diesem Kapitel vorgestellten Motion Graphics als Wissensvermittler, Jonathan Jarvis 27 Dieser ist unter der Adresse http://thoughtbubble.org/current-issues/john-greensthought-bubble auffindbar. 4. Motion Graphics 77 definiert diese Aufgabe mit einer besonders prägnanten Phrase: „From Complexity To Clarity“. So groß und einflussreich der globalisierte Finanzsektor innerhalb der letzten Jahrzehnte geworden ist, so kompliziert und uneinsichtig erscheinen auch die Vorgänge darin. Da sich solch desaströse Ereignisse wie der Finanzkrise sich aber auf die gesamte Gesellschaft auswirken, ist es für diese natürlich von großer Bedeutung, darüber Bescheid zu wissen. Jarvis’ Einstellung erinnert an die Motive von Otto Neurath und seinen Mitarbeitern innerhalb des Wiener Kreises28 – auch sie wollten langfristig die Lebensumstände der Mitglieder der Gesellschaft verbessern, indem diese über den aktuellen Stand der Dinge aufklärten. Im folgenden werden andere markante Charakteristika von The Crisis of Credit Visualized erläutert: • Einsatz von Piktogrammen: Generell ist die Animation – abgesehen vom Farbschema – dem Stil von History of the Internet sehr ähnlich, da es sich bei den primär mit Piktogrammen dargestellten vorkommenden Entitäten aber weniger um technische Gerätschaften als um Institutionen und Personengruppen handelt, kann nicht auf die standardisierten Bildzeichen des PICOL-Systems zurückgegriffen werden – Jarvis musste zur Darstellung des Sachverhalts also eine neue Bildsprache erfinden. Ein Auszug aus dieser ist in Abbildung 4.29 dargestellt, aufgrund des geringen formellen Spielraums der aus den Einsatzgebieten von solchen Piktogrammen resultiert ähnelt dieses System stark an das in Abschnitt 3.4.4 auf Seite 32 vorgestellte ISOTYPE. Diese Ähnlichkeit darf natürlich keinesfalls als Mangel an Kreativität des Designers verstanden werden, ganz im Gegenteil: Die im Hinblick auf das Bild-Verstehen notwendige Anknüpfung an Bekanntes wird dem Betrachter durch den Einsatz von bewährten Bildzeichen erheblich erleichtert, das ISOTYPE wird also „nur“ um Piktogramme aus jüngerer Zeit erweitert. So steht beispielsweise der in Abbildung 4.29 dargestellte Wolkenkratzer (erste Reihe, sechstes Zeichen von links) für eine große, mächtige Organisation – eine Entität, für deren piktogrammhafte Visualisierung in den Zeiten des Wiener Kreises noch keine so große Notwendigkeit bestand. • Einsatz von Händen bzw. Handgesten zur Darstellung von Handlungen ganzer Institutionen: Wie in Abbildung 4.28 im linken und rechten Bild der oberen Reihe dargestellt, werden Interessensvertretungen jeglicher Art – die in Form von Gebäuden mit einem zur Funktion dieser Interessensvertretung passenden Look dargestellt werden – mit Händen versehen, die verschiedene Gesten ausführen und so auch mit anderen Objekten interagieren können. Dadurch werden die Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten einzelner Rollen erheblich erweitert. 28 Siehe Abschnitt 3.4 auf Seite 29. 4. Motion Graphics 78 • Wiedererkennbares Farbschema: Vermutlich rührt das markante Farbschema aus der Tatsache, dass Grün in Amerika als die Farbe des Geldes bekannt ist, u.a. sind die Ein-Dollar-Scheine in Grüntönen bedruckt. Dieser kulturelle Kontext in Verbindung mit der Tatsache, dass die Finanzkrise ja zuerst in Amerika stattfand, ehe sie sich global ausweitete, verleiht dem in Grün gehaltenen Farbschema mehr als einen rein dekorativen Zweck. Außerdem weist die Animation aufgrund des Schemas einen hohen Wiedererkennungswert auf. • Explizite Steuerungscodes zum Herstellen von Beziehungen zwischen Institutionen: Besonders um Geld- und Informationsflüsse darzustellen, werden explizite Steuerungscodes29 wie etwa Verbindungslinien und Pfeile (siehe Abbildung 4.28 unten in der Mitte bzw. unten rechts) benutzt. Anzumerken ist hierbei, dass solche Verbindungen natürlich nur hergestellt werden müssen, wenn sich mehrere solcher Rollen im Bild befinden – um den Überblick zu behalten und diese Relationen genauer zu erklären, sind solche Zusammenstellungen demnach meist für einen längeren Zeitraum sichtbar. Abbildung 4.29: Auszug des von Jonathan Jarvis für seine Visualisierungen entworfenen Piktogrammsystem. Alexander Lehmann – Du bist Terrorist Das als Abschlussarbeit im Fach Virtual Design von Alexander Lehmann kreierte Visual Essay Du bist Terrorist hat in nicht nur in seiner unmittelbaren Zielgruppe (der deutschsprachigen Internet-User) Wellen geschlagen. Konzipiert und umgesetzt wurde es als eine Art Persiflage der 2005 erschienene Werbekampagne mit den Namen Du bist Deutschland, in der zu positiver Stimmung und mehr Tatendrang eines jeden deutschen Staatsbürgers zur Verbesserung der Lebensumstände in seinem Land aufgerufen wurde. Dies 29 Siehe Abschnitt 3.5.4 auf Seite 41. 4. Motion Graphics 79 Abbildung 4.30: Stills aus Du bist Terrorist von Alexander Lehmann aus dem Jahr 2009. fasste Lehmann dahingehend auf, dass er 2009 einige Fakten zur Lage der Nation im Hinblick auf staatliche Überwachungsmaßnahmen und Netzpolitik in seiner Animation Du bist Terrorist in einer Art und Weise aufbereitet, die die Situation äußerst kritisch beleuchtet. So wird besonders auf die damals gängige Vorratsdatenspeicherung30 und den damit verbundenen Möglichkeiten zum Ausspionieren jedes beliebigen deutschen Staatsbürgers hingewiesen. Begründet wurde der Beschluss des Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung ursprünglich durch die Notwendigkeit der Terrorbekämpfung in Deutschland – auch in der Animation wird darauf hingewiesen, dass bis dato noch nie ein international geplanter Terroranschlag in Deutschland vorgefallen ist. Wesentlich ist die Tatsache, dass durch solche (und weitere im Visual Essay aufgezählte) Überwachungsmaßnahmen sämtliche Bürger unter Generalverdacht gestellt werden und deren Recht auf Privatsphäre massiv gefährdet ist. Die Reaktion der Werbeagentur, die eins für die höchst medienpräsenten Du bist Deutschland -Kampagne verantwortlich war, ließ nicht lange auf sich warten: Prompt wurde Lehmann abgemahnt, mit Verweis auf das Markenrecht seien jegliche Bezüge zur urspünglichen Kampagne zu entfernen – inklusive der Bezeichnung Du bist Terrorist. Nach einem klärenden Telefongespräch zwischen dem Chef der Agentur und Lehmann wurde allerdings beschlossen, dass dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten sei und keinerlei rechtliche Schritte eingeleitet werden. Nun aber zu den markanten Eigenschaften des Visual Essays: • Emotionalität: Letztlich lässt sich der faktische Inhalt von Du bist Terrorist auf die Tatsache beschränken, dass das relativ schnell begreifbare Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen wurde und 30 Das so genannte Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermisslungsmaßnahmen sowieo zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG sah die Speicherung aller Telefon- und Internetdaten für ein halbes Jahr vor und war von Anfang 2008 bis März 2010 in Deutschland gültig. 4. Motion Graphics 80 damals dementsprechend im Einsatz war. Die erzählte Geschichte thematisiert aber nicht unmittelbar diesen nachweisbaren Beschluss, sondern die theoretischen Möglichkeiten, die dieses Gesetz liefert, um die Staatsbürger – um deren Sicherheit es den Beschließenden ursprünglich ja gegangen ist – auszuspionieren und sie damit in ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu berauben. Verbunden mit der beinahe unheimlich beruhigenden Stimme des Sprechers, der diese Möglichkeiten gelassen präsentiert, und der stimmungstechnisch ähnlichen Fahrstuhlmusik wirkt das Szenario eines möglichen Überwachungsstaats äußerst beunruhigend. • Anknüpfung an Bekanntes: Der für die Popularität der Animation sicher größte Vorteil ist die Persiflage auf eine so bekannte Werbekampagne wie Du bist Deutschland. Jeder Betrachter, der auch nur oberflächlich mit der Ursprungskampagne vertraut ist – also praktisch jeder deutsche Staatsbürger, der im Zeitraum der medialen Präsenz der Werbung fernsah, Zeitung las, Werbeplakate sah oder Radio hörte – erkennt den Bezug darauf, das misfällt den Herstellern natürlich und sorgte nach Lehmanns Veröffentlichung ihrer forschen Reaktion für Schlagzeilen. Diese sorgten dann wiederum für einen höheren Bekanntheitsgrad der Animation. • Vermitteln einer Anschauung: Ganz klar findet bei Du bist Terrorist eine Instrumentalisierung des Filmmediums statt – auch wenn diese eine aus Sicht der Gesellschaft positive Wirkung erzeugen will. Der Versuch, Vorteile der genannten Überwachungsmaßnahmen aufzuzeigen, wird gar nicht erst unternommen, und wirkliche Beweise für ihren Missbrauch gibt es nicht, obwohl sie beispielhaft (etwa bei der Passage mit dem Verfälschen von Daten auf Rechnern von Privatpersonen durch staatliche Behörden) sehr konkret ausgeführt sind. Von wirklich objektiver Berichterstattung kann hier also keinesfalls die Rede sein, vielmehr erscheint hier ein Vergleich mit der von Sandór Radó erstellten Karte Die Proletarische Großmacht – Die Sowjetunion 31 sinnvoll. Das Ziel, durch die Darstellung einer subjektiv empfundenen Bedrohung eine suggestive Wirkung beim Betrachter zu erzielen, wurde sowohl vor einigen Jahrzehnten von Radó in Bildform, als auch 2009 von Lehmann in Form einer Animation angestrebt. 31 Siehe Abbildung 3.12 auf Seite 48. Kapitel 5 Fragestellung und Analyse 5.1 Einleitung In diesem Kapitel werden drei Hypothesen im Bezug auf die Thematik der Wissensvermittlung in Form von Motion Graphics aufgestellt. Die erste davon beschäftigt sich mit der allgemeinen Notwendigkeit solcher Visual Essays, bzw. deren Rolle in der heutigen (Informations-)Gesellschaft. In Abschnitt 5.3 ab Seite 91 sollen anschließend Unterschiede von statischem und bewegtem Bild aufgezeigt werden – letzten Endes geht es um die Frage der Überlegenheit, also ob Motion Graphics sich im Vergleich zu statischen Darstellungen besser eignen, um Sachverhalte darzustellen und zu kommunizieren. Die letzte Hypothese (siehe Abschnitt 5.4 ab Seite 96) beschäftigt sich mit der Thematik der Redundanz anhand der Rolle von dekorativen Elementen in Informationsvisualisierungen und stellt hierbei zwei sehr konträre Ansichtsweisen gegenüber. Letztlich soll aufgezeigt werden, dass solche „Ausschmückungen“, die seit der Zeit des Wiener Kreises als redundant und unwichtig – ja fast sogar als störend – betrachtet werden, dennoch so eingesetzt werden können, um die Kommunikation bestimmter Inhalte zu erleichtern. 5.2 Hypothese 1: Notwendigkeit Die Visualisierung der Vorgänge in unserer komplexen Welt ist essenziell für die Weltanschauung der darin lebenden Informationsgesellschaft. 5.2.1 Erklärung der Fragestellung 1. Mit „Visualisierung“ ist jegliche Art der Transformation von Zahlen, Fakten und Zusammenhängen in grafische Veranschaulichungen gemeint. Es kann sich hierbei also sowohl um statische Infographics als 81 5. Fragestellung und Analyse 82 auch um Animationen handeln, bedeutend ist die Aufbereitung und Strukturierung der zu Grunde liegenden Daten. 2. Mit „unserer komplexen Umgebung“ ist die Welt gemeint, die wir Menschen bevölkern. Damit sind nicht nur konkrete, optisch erfassbare Gegebenheiten und Zusammenhänge gemeint; durch die zunehmende Vernetzung und Virtualisierung unserer Tätigkeiten in einer globalisierten Welt entsteht eine Unmenge an Daten, die allesamt gewisse Indizien darstellen, mit deren Hilfe gewisse Aussagen über unsere Existenz getroffen werden können. 3. Mit „Weltanschauung“ sind gedankliche Modelle gemeint, die den Grundstein für die Ansichten und Meinungen der Menschen bilden. Solche Weltanschauungen können grundsätzlich von jeder Art von Impulsen stammen, die das Gehirn zur Konstruktion eines mentalen Modells anregt – folglich auch von solchen, die nicht aus den im ersten Punkt definierten Visualisierungen hervorgehen. 4. Mit „Informationsgesellschaft“ ist die in unseren Breitengraden vorherrschende Gesellschaftsform gemeint, in der der Leitsatz Wissen ist Macht von so hoher Gültigkeit ist wie noch nie zuvor. Viele Mitglieder dieser Gesellschaft sind in der Branche der Informationstechnologie (kurz: IT ) tätig, und generell ist gute Bildung ein wichtiger Faktor für die Lebensumstände. Zur Informationsgesellschaft Allem voran soll hier der Versuch unternommen werden, die eigentliche Zielgruppe von Motion Graphics als Wissensvermittler – also im Wesentlichen die Mitglieder der Informationsgesellschaft – etwas genauer zu charakterisieren. Für diese gibt es eine Vielzahl verschiedenartiger Definitionen, die den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen würden. Fasst man etwa die Definitionen des britischen Soziologen Frank Webster 1 zusammen, so kristallisieren sich einige markante Eigenschaften dieser Gesellschaftsform heraus: • Telekommunikation und Computertechnologie sind in dieser Gesellschaftsform von hoher Bedeutung und wirken sich dementsprechen auf sie aus. • Die Vernetzung – also die Informationstechnologie – bildet die Infrastruktur dieser Gesellschaft und bestimmt ihr soziales Gefüge. • Der Arbeitsmarkt hat sich durch das Informationszeitalter stark verändert: Die Industriearbeit wurde sozusagen von der Wissensarbeit abgelöst. 1 Siehe [80]. 5. Fragestellung und Analyse 83 • Der Anstieg der verfügbaren Menge an Informationen im Alltagsleben durch (Massen-)Medien führt sowohl gesellschaftliche als auch kulturelle Konsequenzen mit sich. Manuel Castells 2 erkennt weiters eine komplexe Wechselwirkung zwischen politischen Ideen, kulturellen Rahmenbedingungen sowie ökonomischen und sozialen Strukturen auf der einen Seite und den zum jeweiligen Zeitpunkt verfügbaren Technologien auf der anderen Seite, die zur Bildung unserer heutigen Informationsgesellschaft geführt hat. 5.2.2 Von Komplexität zu Klarheit Informationsüberfluss Fest steht, dass der Wandel vom Industrie- zum Informationszeitalter die Welt in der wir leben um einiges komplexer werden hat lassen und sich dies mit der zunehmenen Virtualisierung unseres Daseins wohl auch nicht so schnell ändern wird. Nicht nur wenn man sich die Größe und Präsenz der (Massen-)Medien oder die umfassenden Möglichkeiten zur Internet-Recherche vor Augen hält merkt man, dass sich die Menschen in einem Zeitalter des Informationsüberflusses befinden. Diese Informationen sind selten für Menschen angepasst, die nicht Experten auf dem betreffenden Gebiet sind – dies kann jeder bestätigen, der sich als Laie schon einmal mit Gesetzestexten oder Vertragsklauseln auseinander gesetzt hat. Betrachtet man beispielhaft die Rechtsvorschrift für das Österreichische Datenschutzgesetz 2000 in der Fassung vom 31. Dezember 20103 , so erkennt man aber sowohl den Umfang an Daten als auch die hergestellten Relationen zwischen den vorkommenden Einzelteilen in Form der Referenzierung auf andere Paragraphen und Absätze. Anders formuliert sind die Informationen zwar vorhanden, aber nur sehr schwer lesbar – und damit auch nur schwer verständlich. Es bedarf also einem Maß an Aufbereitung dieser Informationen, um sie überhaupt zu vermittelbarem Wissen zu formen. Mit dieser zunehmenden Komplexität haben sich seit dem Aufkommen von Computern und besonders im darauf folgenden digitalen Zeitalter aber auch die technischen Möglichkeiten ständig weiterentwickelt: Wie in Abschnitt 4.2.5 auf Seite 67 erwähnt, hat sich der Aufwand, Motion Graphics zu produzieren, im Laufe der Jahre sowohl in finanzieller als auch in organisatorischer Hinsicht massiv verringert. Doch nicht nur die Umsetzung hat sich vereinfacht, auch die Möglichkeiten zur Recherche und Informationsbeschaffung mit immer größeren Mengen an digitalisierten Informationen, die meist bequem per Internet abrufbar sind, haben sich mittlerweile stark erweitert. 2 Siehe [10]. Die Rechtsvorschrift ist im Internet unter der Adresse http://www.ris.bka.gv.at/ GeltendeFassung.wxe?Abfrage=bundesnormen&Gesetzesnummer=10001597 einsehbar. 3 5. Fragestellung und Analyse 84 New Mediators Der Überfluss und die meist nur schwer verständliche Aufbereitung von Informationen ist auch im Finanzsektor anzutreffen. Hier finden mittlerweile Vorgänge statt, die eine solche Komplexität aufweisen dass es für Außenstehende schon fast unmöglich ist sie zu begreifen. Vor kurzer Zeit kollabierte dieses System, was sich aber zum Großteil negativ auf genau diese Außenstehenden (und in weiterer Folge auf die gesamte Weltwirtschaft) auswirkte. Die entscheidende Frage – die sich wohl auch Otto Neurath in der Zeit des Wiener Kreises4 stellte – lautet also, ob es denn überhaupt möglich ist, aus einer Krise zu lernen, wenn nur ein minimaler Anteil der Bevölkerung weiß, wie es zu dieser gekommen ist. Jonathan Jarvis, der im Rahmen dieser Arbeit bereits im Zusammenhang mit dem Visual Essay The Crisis of Credit Visualized 5 erwähnt wurde, hatte mit seinem Werk offensichtlich das Ziel, solch komplexe Vorgänge durch eine leicht verständliche Aufbereitung einer breiten Masse zugänglich zu machen. Er definierte auf einer seiner Websites6 die Rolle des New Mediators: New Mediators are practitioners who combine methods from design, journalism, and narrative analysis. The result is designed transparency – information that is not only made available, but accessible, relevant and beautiful. (Jonathan Jarvis) Ein solcher New Mediator muss also sowohl journalistische Qualitäten aufweisen, indem er ein bestimmtes Thema findet und darüber recherchiert, als auch fähig sein, die Thematik narrativ zu gestalten und in Form einer Animation zu behandeln. Dies bedeutet also, dass die in im Bezug auf statische Infographics von Frank Thissen erwähnte Interdisziplinarität7 nochmals erweitert wird: So sind neben der für die Erstellung von Infographics notwendigen Recherche, Selektion und Reduktion von Daten sowie deren designtechnisch gelungener grafischer Aufbereitung auch das für die Erstellung eines Visual Essays notwendige Aufbereiten der Daten in narrativer Form und die letztliche Erstellung einer dynamischen, mit Sprechertext versehenen und vor allem im kommunikativen Aspekt erfolgreichen Animation von Bedeutung. Durch diese Vielzahl an Fähigkeiten, die zur Erstellung von Motion Graphics zur Wissensvermittlung benötigt werden, ist es natürlich ratsam, die durchzuführenden Tätigkeiten auf mehrere Personen zu verteilen – dennoch handelt es sich bei drei der vier in dieser Arbeit vorgestellten Beispiele8 (alle außer Health Care Overhaul ) um jeweils eine einzige Person, die für 4 Siehe 3.4 auf Seite 29. Siehe Abschnitt 4.3.4 auf Seite 76. 6 Die Website ist unter der Adresse http://www.newmediators.com/ zu finden. 7 Siehe Abschnitt 3.5.1 auf Seite 35. 8 Siehe Abschnitt 4.3.4 auf Seite 72. 5 5. Fragestellung und Analyse 85 den Großteil der Umsetzung der Animation verantwortlich war. Diese Tatsache ist ein gutes Beispiel für das Ausmaß des technologischen Fortschritts, der sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat: Lässt man die Konzeption und die zu Grunde liegenden Überlegungen außen vor und betrachtet rein den zeitlichen und technischen Aufwand, mit dem die tatsächliche Umsetzung eines Visual Essays verbunden ist, so beträgt dieser selbst im Vergleich zu den ersten (statischen) Infographics nur einen Bruchteil. 5.2.3 Beispiele Ob nun gewollt oder nicht, jede Transformation von Daten und Fakten in visuelle Form führt schon in der Phase der Auswahl, Strukturierung und Aufbereitung – bzw. der damit verbundenen Selektion und Reduktion – von Daten eine gewisse Subjektivierung einer objektiven (weil zahlenmäßig erfassbaren) Sichtweise auf die Materie mit sich. Diese zieht sich natürlich durch den gesamten Erstellungsprozess, so kann auch die Art und Weise der visuellen Aufbereitung von bereits strukturierten Daten das beim Betrachter hervorgerufene mentale Modell wesentlich beeinflussen. Um im Zuge dieser Arbeit ein letztes mal aufzuzeigen, wie sehr die visuelle Aufbereitung von Daten und Fakten die Anschauung von Betrachtern beeinflussen kann, sollen im folgenden ein Beispiel aus der Kartografie und eines aus dem Bereich der Animation untersucht werden. Zum einen handelt es sich um die kartografische Darstellung der Wahlergebnisse der USamerikanischen Präsidentenwahl des Jahres 2008 zwischen Barack Obama und John McCain, zum anderen um die Veranschaulichung der tragenden Bedeutung eines funktionierenden Bildungssystems für zukünftige Generationen – ebenfalls am Beispiel Amerika. Amerikanische Präsidentenwahl 2008: Obama vs. McCain Bevor näher auf das Beispiel der Visualisierung von Wahlergebnissen des Jahres 2008 eingegangen wird, ist es nötig, ein wenig weiter auszuholen9 . Bis zu den Wahlen zwischen George W. Bush und Al Gore im Jahre 2000 existierten keine fixen Farben für Republikanische bzw. Demokratische Partei, bis dahin wurden sie weitgehend willkürlich von den Medien für ihre Berichterstattung festgelegt. Meist handelte es sich dabei jedoch um die Farben Rot und Blau, erst bei den Berichten über die Wahl im Jahr 2000 einigte man sich erstmals auf eine einheitliche Zuordnung, um die Wahlergebnisse zu visualisieren. So wurde den Demokraten die Farbe Blau, den Republikanern die Farbe Rot zugeteilt (siehe Abbildung 5.1). Von diesem Zeitpunkt an hat sich die Rede vom „roten“ und vom „blauen“ Amerika durchgesetzt, die 9 Die Schilderungen zur Etablierung des „roten“ und „blauen“ Amerika beruhen auf der Darstellung, die in [68, S. 84-93] beschrieben wird. 5. Fragestellung und Analyse 86 vor allem durch Medienberichte10 verbreitet wurde und das Land gewissermaßen in zwei Lager spaltete: Das blaue Amerika steht für großstädtisch, urban, hohe Bildung, säkular und hohem Anteil an Minderheiten, während das rote Amerika das ländliche Amerika mit große Farmen, kleinen Städten, gut besuchten Kirchen, Menschen mit geringer Schulbildung und einem niedrigen Anteil an Minderheiten symbolisierte. Abbildung 5.1: Kartografische Darstellung der Ergebnisse der USamerikanischen Präsidentenwahl zwischen George W. Bush und Al Gore des Jahres 2000, die das Gedankenbild vieler Amerikaner stark geprägt hat. Betrachtet man Abbildung 5.1, so kann man den Eindruck gewinnen, dass die roten Blöcke im Landesinneren von blauen Blöcken in Küstennähe umklammert werden. Dementsprechend könnte – allein schon durch die rein bildlichen Informationen, fernab jeglicher daraus resultierender Vermutungen oder Schlussfolgerungen – der Eindruck entstehen, dass die USA ideologisch tatsächlich in zwei Lager gespalten ist. Weiters ist die Tatsache, dass es sich bei dieser Wahl um eine der knappsten Präsidentenwahlen in der Geschichte der USA handelt, in genannter Abbildung keinesfalls ersichtlich. Unabhängig vom tatsächlichen Ausgang der Wahlen – also rein auf die generelle Art der Darstellung beschränkt – stellen sich vor allem zwei Eigenschaften der Visualisierung als problematisch heraus: 1. Es gibt natürlich in den „blauen“ Staaten auch Wähler, die für „rot“ gestimmt haben – und umgekehrt. In der Abbildung wird dies aber in keinster Weise berücksichtigt, vielmehr täuscht die Karte eine Homo10 Ein bekannter Bericht ist etwa der von David Brooks verfasste Artikel One Nation, Slightly Divisible: A Report from „Red“ and „Blue“ America, den er Ende 2001 für die Zeitschrift The Atlantic verfasste – siehe [7]. In diesem stellt Brooks u.a. folgende Frage: Do our differences effectively split us into two nations, or are they just cracks in a stillunited whole? 5. Fragestellung und Analyse 87 genität vor, die keinesfalls der Wirklichkeit entspricht11 . Diese zeichnet sich effektiv auch in den erwähnten Vorurteilen und Wertevorstellungen ab, die man durch diese Kolorierung der Gesamtheit – nicht nur der Mehrheit, die für diese Einfärbung sorgte – der Bewohner eines Bundesstaats zuordnet. 2. Selbst wenn man über die Aufteilung der Stimmen in den einzelnen Bundesstaaten Bescheid wüsste, könnte man keinerlei Aussagen über die Relation zwischen der Stimmenzahl in den Bundesstaaten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung treffen, da die Bevölkerungsdichte der Staaten die Visualisierung nicht beeinflusst. So glaubt man, dass etwa die Anzahl der Stimmen für „rot“ in Montana etwa derer für „blau“ in Kalifornien entspricht. Aufgrund der Unzulänglichkeiten der in Abbildung 5.1 beispielhaft dargestellten Karte zur Visualisierung der Wahlergebnisse und den daraus resultierenden Fehleinschätzungen der Betrachter wurde eine Art der kartografischen Visualisierung entwickelt, die besser für die Darstellung solcher Gegebenheiten geeignet ist: So genannte Kartenanamorphoten (engl. Cartograms). Bei dieser Form der Darstellung wird zumindest die zweite der vorher erwähnten Schwachstellen der normalen kartografischen Visualisierung ausgemerzt: Mittels Verzerrungen werden einzelne Elemente nicht in ihrer tatsächlichen Größe, sondern proportional zu einem beliebigen Attribut dargestellt – dieses Attribut kann also auch die Einwohnerzahl sein. Entscheidend ist, dass sich die relative Lage der abgebildeten Flächen zueinander (bzw. die Topologie der Kartenzeichen) nicht von der unverzerrten Form unterscheidet. Betrachtet man ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit, so merkt man schnell die Vorzüge der Darstellung durch Kartenanamorphote. So werden die Wahlergebnisse der Amerikanischen Präsidentenwahl zwischen Barack Obama und John McCain des Jahres 2008 in Abbildung 5.2 auf herkömmliche Art und Weise – also wie in Abbildung 5.1 – und in Abbildung 5.3 in Form einer Kartenanamorphote visualisiert. Durch die Anpassung der Größe der abgebildeten Bundesstaaten an ihre Bevölkerungsdichte ergibt sich ein wesentlich wahrheitsgetreueres Bild der Ergebnisse, immerhin suggeriert Abbildung 5.2 durch den höheren Anteil von Rot fälschlicherweise, dass die Republikaner die Wahl gewonnen hätten. Weiters sei an dieser Stelle auf die beispielhaft erwähnten Bundesstaaten Montana und Kalifornien verwiesen: Man sieht sehr deutlich, als wie falsch sich die obige Vermutung bezüglich des mengenmäßigen Verhältnisses zwischen den Wählerstimmen herausstellt. 11 Dies lässt sich gut am Beispiel des Bundesstaates New Mexico demonstrieren: Die Anzahl der für die Demokraten abgegebenen Stimmen betrug hier offiziell 286.317, die Anzahl derer für die Demokraten 286.783 – der Unterschied beträgt gerade mal 0,06 Prozent der insgesamt abgegebenen Wählerstimmen im Bundesstaat New Mexico. 5. Fragestellung und Analyse Abbildung 5.2: Wahlergebnisse der US-Amerikanischen Präsidentschaftswahl 2008 in herkömmlicher kartografischer Form. 88 Abbildung 5.3: Wahlergebnisse der US-Amerikanischen Präsidentschaftswahl 2008 in Form einer Kartenanamorphote. Noch deutlicher kann man die Unterschiede zwischen klassischen Kartografien und Kartenanamorphoten demonstrieren, indem man die beispielhaft behandelten Wahlergebnisse detaillierter darstellt. In den Abbildungen 5.4 und 5.5 wird dem entsprechend eine Unterteilung der Bundesstaaten in Countys vorgenommen, hier merkt man die Verschiedenartigkeit der Visualisierungen besonders deutlich. Abbildung 5.4: Wahlergebnisse der US-Amerikanischen Präsidentschaftswahl 2008 in herkömmlicher kartografischer Form. Abbildung 5.5: Wahlergebnisse der US-Amerikanischen Präsidentschaftswahl 2008 in Form einer Kartenanamorphote. An dieser Stelle sei auf eine Website namens Worldmapper verwiesen, die zum Zeitpunkt der Verfassung dieser Arbeit knappe 700 Kartenanamorphote zu verschiedensten Messgrößen in verschiedensten Formaten enthält. Die Website ist unter der Adresse http://www.worldmapper.org/ aufrufbar und gibt detaillierte Einblicke des Zustands unserer Zivilisation im Hinblick auf einige äußerst interessante Kriterien. Ein Teil dieser Sammlung wurde 5. Fragestellung und Analyse 89 auch in Form eines Buchs mit dem treffenden Namen The Atlas of the Real World: Mapping the Way We Live 12 veröffentlicht. Jr.canest – Waiting for Superman Infographic Der als Jr.canest bekannte Motion Designer Jorge R. Canedo Estrada erstellte im Jahr 2010 eine kurze Sequenz, die als eine Art Teaser für eine Dokumentation mit dem Namen Waiting For Superman verstanden werden kann. Wie der Film selbst beschäftigt sich die Animation mit der tragenden Rolle, die ein effizientes Bildungssystem für die Entwicklung einer funktionierenden Gesellschaft ist und zeigt dies am Beispiel des maroden Systems in Amerika. Besonders wichtig scheint die Aussage, dass langfristig nur ein gutes Bildungssystem für die Verbesserung des Zustands des Gesundheitswesen, der Wirtschaft, der Energiepolitik und der Gesellschaft – Schlagwörter sind hier etwa Diskriminierung, Armut, Einwanderung und Arbeitslosigkeit – sorgen kann. So wird etwa die schlechte Platzierung des Amerikanischen Bildungssystems im internationalen Vergleich visualisiert (siehe Abbildung 5.6 links oben). Auch andere statistische Daten werden veranschaulicht: Alle 26 Sekunden verlässt ein Schüler die High School, das ergibt 1.2 Millionen pro Jahr (siehe Abbildung 5.6 oben in der Mitte). Bei jedem dieser Leute ist die Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen, 8 mal höher als bei denen, die einen Abschluss machen. Von jedem Dollar, den eine Person mit High School-Abschluss ausgibt, werden 40 Cent für solche Schulabbrecher ausgegeben (siehe Abbildung 5.6 rechts oben). Besonders wichtig scheint die Aussage, dass sich mit der Verbesserung der Chancen für junge Menschen der Effekt auf lange Sicht potenziert, da auch die Kinder von glücklichen Mitgliedern der Gesellschaft von der besseren Lage profitieren (siehe Abbildung 5.6 unten in der Mitte bzw. unten rechts). 5.2.4 Resümee Man führe sich die im Laufe dieses Abschnitts gestellte Frage wieder vor Augen: Ist es denn überhaupt möglich ist, aus einer Krise zu lernen, wenn nur ein minimaler Anteil der Bevölkerung weiß, wie es zu dieser gekommen ist? Die Antwort darauf liegt auf der Hand, es ist sogar unbedingt notwendig, komplexe Sachverhalte so aufzubereiten, dass sie auch von Laien auf dem behandelten Gebiet verstanden werden können – besonders wenn diese Laien so schlimm davon betroffen sind wie von der Finanzkrise. Der Überfluss an Daten, die mittlerweile in digitalisierter Form im Internet aufzufinden sind und von dort heruntergeladen werden können, ist schier nicht mehr von einem einzigen Menschen, Computer oder klassischem Speichermedium erfassbar. Es ist entscheidend, die schon so oft in dieser 12 Siehe [15]. 5. Fragestellung und Analyse 90 Abbildung 5.6: Stills aus dem Visual Essay von Jr.canest, das als Teaser für den Film Waiting for Superman aus dem Jahr 2010 verwendet wurde. Arbeit erwähnte Auswahl, Strukturierung und Reduktion der Informationsblöcke des abrufbaren Datenstroms vorzunehmen, um diesen gleichermaßen zu reduzieren und zu vernetzen wie für eine breitere Masse verständlich zu machen. Jede Form von Informationsaufbereitung – sei es ein Zeitungsartikel, ein Film oder eine Infografik – dient dem Verständnis eines Sachverhalts, der auf verschiedenste Arten und Weisen vermittelt werden kann. Je stärker die Informationen im Verlauf der Aufbereitung reduziert sind, desto oberflächlicher wird zwar die Thematik erklärt, aber desto wahrscheinlicher wird bei Laien auf dem behandelten Gebiet die Schwellenangst überwunden, sich überhaupt mit einer bestimmten Materie zu beschäftigen. Besonders bei den behandelten kartografischen Visualisierungen, die im Zuge der Präsidentschaftswahlen in den USA angefertigt wurden, zeigt sich neben der unmittelbaren Attraktivität eine starke suggestive Kraft, die Visualisierungen von nicht unmittelbar darstellbaren Sachverhalten auszeichnet: Die Unterscheidung eines „roten“ und eines „blaues“ Amerikas rührt im Wesentlichen aus der nicht annähernd realitätsgetreuen aber dennoch von den Medien publizierte Abbildung der Ergebnisse der Präsidentenwahl des Jahres 2000. Die Objektivität solcher Darstellungen sei dahingestellt, dennoch wurde in den Köpfen vieler Amerikaner eine kognitive Karte mit roten und blauen Farbblöcken erzeugt, die durch die politische Diskussion noch verfestigt wurde und für eine Vielzahl an Werten, Zuschreibungen und Auffassungen steht. Ziel solcher Visualisierungen soll ja eigentlich der gesellschaftliche Nutzen sein, besonders in der Animation von Jr.canest zeigt sich die Analogie zur Philosophie von Otto Neurath in der Zeit des Wiener Kreises13 : Eine Verbesserung der Lebensumstände ist langfristig nur durch Informationsaufbereitung und -vermittlung möglich. Damals versuchte Neurath die Gesell13 Siehe Abschnitt 3.4.2 auf Seite 30. 5. Fragestellung und Analyse 91 schaft damals über für sie bedeutende Themen wie Säuglingssterblichkeit, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus aufzuklären, heute stellt man erneut fest dass nur eine solche Aufklärung der Gesellschaft (im Fall des Beispiels durch eine generelle Verbesserung des Bildungssystems) eine langfristige Lösung für die heutigen gesellschaftlichen Problemstellen, die unser aller Leben beeinflussen, darstellen kann. Die Animation zeichnet sich zwar nicht durch eine hohe Informationsdichte aus, vermittelt aber sehr wohl einen Standpunkt, der durch die objektive Darstellung statistischer Daten an Glaubhaftigkeit gewinnt. Hält man sich diese Daten in narrativer Form einer mit Sprechertext (und damit einer Geschichte) versehenen Animation vor Augen, so merkt man, wie wichtig ein funktionierendes Bildungssystem für zukünftige Generationen ist – und besonders, wie falsch das kurzfristige Denken vieler Politiker, die auch in unseren Breitengraden das Bildungssystem nach und nach abbauen um Ausgaben zu senken, aus dieser vernünftig wirkenden Perspektive erscheint. 5.3 Hypothese 2: Überlegenheit Motion Graphics sind hinsichtlich ihrer Effektivität klassischeren Formen der Wissensvermittlung überlegen. 5.3.1 Erklärung der Fragestellung Zunächst gilt es, die in der Fragestellung vorkommenden Begriffe genauer zu bestimmen: 1. Mit „Motion Graphics“ sind die in Abschnitt 4.3.3 auf Seite 70 definierten Motion Graphics als Wissensvermittler gemeint, die bestimmte Kritierien zu erfüllen haben um als solche bezeichnet werden zu können. Es handelt sich also ausschließlich um Bewegtbildsequenzen, die ähnlich den in Abschnitt 4.3.4 auf Seite 72 vorgestellten Beispielen funktionieren. 2. Mit „klassischeren Formen der Wissensvermittlung“ sind alle Medien gemeint, die im Laufe der Geschichte zur Bewahrung und zur Vermittlung von Information gedient haben und/oder diesem Zweck noch immer dienen, also etwa Bücher, Zeitungen oder (Fach-)Magazine. Konkret kann dies also jegliche Form multimedialer Repräsentation sein, die keine temporäre Dimension aufweist und in der ein Zusammenspiel zwischen Bild und Text14 stattfindet. 3. Mit „Effektivität“ wird versucht, das Ausmaß der Fähigkeit der in Punkt 2 beschriebenen Medien im Hinblick auf die schnelle und einfache Kommunikation (bzw. Wissensvermittlung) aufzustellen. Obwohl 14 Siehe Abschnitt 3.2 auf Seite 22 5. Fragestellung und Analyse 92 es nur schwer möglich ist, „Gelerntes“ oder „Verstandenes“ – bzw. eben die Effektivität des eigentlichen Lernvorgangs – zahlenmäßig zu erfassen, ergibt sich dieser Wert aus dem Umfang und der Komplexität des zu vermittelnden Sachverhalts und dem Zeitraum, innerhalb welchem dieser Sachverhalt verstanden wird. Laut [39] kann der Mensch grundsätzlich besser durch Animationen als statischen Darstellungen lernen, da die sinnliche Erfassung und gedankliche Verarbeitung beweglicher Objekte die evolutionär ältere (und damit gewohntere) Art der Informationsverarbeitung darstellt. Inwieweit diese Behauptungen als korrekt bezeichnet werden kann, soll in diesem Abschnitt überprüft werden. Fakt ist jedoch, dass die Verarbeitung von statischen und dynamischen Inhalten auf unterschiedliche Art und Weise erfolgt. 5.3.2 Vergleich mit statischen Grafiken Wie am Beginn des Kapitels 3 auf Seite 22 angemerkt, können viele Prinzipien, die bei der Erstellung von Infographics zum kommunikativen Erfolg führen, auch auf Motion Graphics, die der Wissensvermittlung dienen sollen, angewandt werden. So ist etwa die Benutzung von kommunikativ effektiven Bildzeichen auch bei der animierten Variante vorteilhaft. Betrachtet man das mit Sicherheit bedeutendste Unterscheidungsmerkmal – nämlich die temporale Dimension – so ergibt sich natürlich auch ein anderer Umgang mit der Darstellung zeitlicher Abläufe. Während bei den statischen Infographics alle darzustellenden Informationen auf einer Fläche mit einer bestimmten Größe Platz finden müssen, können bei der BewegtbildVariante kleinere Informationsblöcke über die Spieldauer verteilt werden. Dies macht beispielsweise die Berücksichtigung der Miller’schen Zahl15 leichter möglich, als dies bei statischen Grafiken der Fall wäre. Diese Anordnung auf der Zeitachse, bzw. die daraus resultierende zeitlich beschränkte Sichtbarkeit von Informationen, bindet den Zuseher strikt an die vorgenommene Reihenfolge, in der diese kommuniziert werden. Aus dieser zeitlichen Gebundenheit resultiert aber auch der Nachteil, dass der Betrachter die Reihenfolge, in der er die dargebotenen Informationen konsumiert, nicht selbst bestimmen kann. Man kann also behaupten, dass der Zuseher bei animierten Grafiken strikter an Steuerungscodes gebunden ist, da diese den Ablauf des Dargebotenen maßgeblich beeinflussen. Es liegt auf der Hand, dass das Vorhandensein einer temporalen Dimension beim Bewegtbild eine gewisse Flüchtigkeit der dargebotenen Informationen mit sich bringt, die ebenfalls ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal darstellt: Während die bildlichen Inhalte bei statischen Infographics für beliebige Zeit verfügbar sind und bei Bedarf wiederholt betrachtet werden können, ist dies bei Animationen nur 15 Siehe Abschnitt 3.5.4 auf Seite 41. 5. Fragestellung und Analyse 93 bedingt – sprich, über den Zeitraum, in dem die bildlichen Informationen sichbar sind – der Fall. Ein wesentlicher Vorteil von Motion Graphics gegenüber statischen Abbildungen ist auch die Möglichkeit zum vermehrten Einsatz von multiplen Repräsentationen gewisser Inhalte, die im Wesentlichen aus dem Vorhandensein einer Tonspur resultiert. Dies bedeutet, dass ein Sachverhalt sowohl visuell als auch auditiv dargestellt werden kann – eine derartige Redundanz wurde bereits in Abschnitt 3.2.2 auf Seite 24 im Hinblick auf die effektivere Bildung eines mentalen Modells bei Bildern im Vergleich zu Texten erwähnt. Diese so genannte Multikodalität wird im folgenden Abschnitt genauer behandelt. 5.3.3 Kognitive Verarbeitung multimedialer Inhalte Um mehr Einblick in den Vergleich zwischen der Wahrnehmung von statischen und animierten Bild- und Textinhalten zu erlangen, ist es zunächst nötig, etwas weiter auszuholen und den Begriff Multimedia genauer zu definieren. Joachim Hasebrook definiert diesen folgendermaßen: Multimedia kann in psychologischen Begriffen definiert werden als eine vom Lernenden unmittelbar beeinflussbare Computeranwendung, die Informationen durch mehrere Symbolsystem, d.h. bildlich-analog oder sprachlich-sequentiell, vermittelt und dabei verschiedene Sinne anspricht. (Joachim Hasebrook, [34, S. 361]) Kernpunkt der Aussage ist die Verwendung von verschiedenen Symbolsystemen, aus der das Ansprechen mehrerer Sinne resultiert – dies ist ganz im Sinne der Berücksichtigung der drei verschiedenen Lerntypen16 und bringt dementsprechende kommunikative Vorteile mit sich. Betrachtet man dieser Definition entsprechende Inhalte im Zusammenspiel mit dem Betrachter, so zeichnet sich auch hier der Grundgedanke der Semiotik17 in der Entstehung eines Gedankenbilds auf Basis eines abgebildeten Inhaltes ab: Im Bezug auf das menschliche kognitive System wird ersteres als interne Repräsentation – da innerhalb des kognitiven Systems – und zweiteres als externe Repräsentation – da außerhalb des kognitiven Systems – bezeichnet. Weiters unterscheidet man im Bezug auf die externe Repräsentation drei Ebenen18 : 16 Siehe Abschnitt 3.5.3 auf Seite 39. Siehe Abschnitt 2.4.1 auf Seite 13. 18 Siehe [52]. 17 5. Fragestellung und Analyse 94 1. Die technische Ebene besteht aus den Zeichenträgern – also Geräten und Technologien, die für die Präsentation der multimedialen Inhalte notwendig sind (z.B. Netzwerken und Computern) – sie wird auch als multimediale Dimension bezeichnet. 2. Die semiotische Ebene besteht aus den Zeichenarten – also den Darstellungsformaten, die für die Kommunikation von Inhalten benutzt werden(z.B. Bilder, Texte und Ton). Werden mehrere Darstellungsformate kombiniert, wird sie auch als multikodalen Dimension bezeichnet. 3. Die sensorische Ebene bezeichnet die Zeichenrezeption – also die Sinnesmodalitäten, die angesprochen werden (z.b. visuell oder auditiv). Werden mehrere Sinne angesprochen, wird sie auch als multimodale Dimension bezeichnet. Bei der in dieser Arbeit beschriebenen Art von Motion Graphics handelt es sich also zum Großteil um multikodale, multimodale Animationen. Die technische und semiotische Ebene wurden in vorangehenden Kapiteln dieser Arbeit bereits behandelt, im folgenden wird die sensorische Ebene – besonders der Vergleich von visuellen und verbalen Inhalten – untersucht. Sensorische Ebene: visuelle und auditive Elemente In der Einleitung dieses Abschnitts wurde bereits erwähnt, dass die Fähigkeit der Nutzung mehrerer „Kanäle“ einen wesentlicher Vorteil von animierten gegenüber statischen Inhalten darstellt. Konkret bedeutet dies, dass bei einer rein visuellen Darbietung natürlich auch nur der visuelle Teil vom Betrachter verarbeitet werden kann, während bei der audiovisuellen Darbietung zusätzlich auch der auditive Teil die Wahrnehmung und das daraus entstehende Gedankenbild beeinflusst. Diese Tatsache zeigt sich besonders in der Kombination von bildlichen und sprachlichen Inhalten: Geht man nun davon aus, dass dem Betrachter für beide dieser angesprochenen Sinnesmodalitäten nur begrenzte Aufnahmekapazitäten zur Verfügung stehen, so kann bei rein visuellen Darbietungen von Bild und Text ein so genannter Split-AttentionEffekt19 entstehen, der zu einer Überlastung des für den visuellen Teil zuständigen Sinneskanals führen kann. Dieser Überlastung kann jedoch entgegengewirkt werden, so ist es möglich, das Auge des Betrachters zu entlasten, indem Text auditiv anstatt visuell – also in Form des gesprochenen anstatt des geschriebenen Worts – präsentiert wird. Man spricht hierbei vom Modalitätseffekt20 Die unterschiedliche Beanspruchung der Sinneskanäle wird in Abbildung 5.7 dargestellt. 19 20 Siehe [29, S. 17]. Siehe [29, S. 18]. 5. Fragestellung und Analyse 95 Abbildung 5.7: Split-Attention- und Modalitätseffekt bei visuellen und audiovisuellen Darbietungen. Im Hinblick auf die eingangs erwähnte Flüchtigkeit von Informationen sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass diese auch für auditive Elemente besonders bedeutend ist, da solche nicht einmal im Falle der Pausierung der Animation für längere Zeit wahrgenommen werden können. 5.3.4 Resümee Man kann nicht pauschalisieren, ob sich die dynamische Aufbereitung besser für die Kommunikation von Wissen eignet als die statische Variante – es hängt zu einem großen Teil von der Thematik und der Art und Weise ab, wie diese dem Betrachter vermittelt werden soll. Man führe sich die in Abbildung 3.7 auf Seite 39 vorgenommene Einteilung der Bereiche des Information Design (anhand Informationsdichte und Publikumsgröße) vor Augen: Sofern der Informationsbeschaffer von einer großen Menge an Informationen nur wenige tatsächlich benötigt (wie etwa bei einem Telefonbuch, oder bei einem Research-Portal), so ist natürlich eine Darstellung, die den Betrachter nicht in einen festgelegten zeitlichen Ablauf der Informationswahrnehmung zwingt, vorzuziehen.21 Das Zuordnen einer zeitlichen Abfolge lässt dem Betrachter keine Möglichkeit, eigene Abläufe und Assoziationsfolgen zu kreieren, sondern bindet ihn an eine vorgegebene, fortschreitende Erzählweise, in der die Informationen aufbereitet sind. Mentale Modelle gelten in der Regel als dynamisch, das bedeutet, dass sie nicht nur die einzelnen Bestandteile von Sachverhalten, sondern auch die Interaktion unter ihnen enthalten. Da dynamische Darstellungen durch ihre zeitliche Gebundenheit besser (als statische Darstellungen) in der Lage sind, Prozesse und Abläufe zu präsentieren, beinhalten sie im Umkehrschluss also 21 Es stellt sich bei genannten Beispielen die Frage, ob diese überhaupt (für einen sinnvollen Zweck) in Form von Motion Graphics aufbereitet werden können – diese Extreme sollen lediglich helfen, die bedeutende Thematik der Vergänglichkeit von dargestellten Informationen bei Motion Graphics zu verstehen. 5. Fragestellung und Analyse 96 schon viele Bestandteile, die für die Bildung eines mentalen Modells benötigt werden. Diese explizite „Entlastung“ des Betrachters kann zwar zu tieferem Verständnis des erklärten Sachverhalts führen, aber auch dafür sorgen dass er sich weniger intensiv mit der Materie beschäftigt, weil ihm ein Großteil der Konstruktion eines eigenen Gedankenbilds bereits abgenommen wurde – Richard E. Mayer nennt dies die Illusion von Verständnis 22 . Eine mögliche Schlussfolgerung aus dieser Art gedanklicher Unterstützung, die die dynamische Aufbereitung für den Rezipienten mit sich bringt, ist auch die Tatsache, dass mit Hilfe der Mehrzahl an angesprochenen Sinnen auch mehr zum mentalen Modell beigetragen wird – was Animationen zweifelsfrei emotionaler wirken lässt als statische Darstellungen. Diese Emotionalität wird etwa in der in Abschnitt 4.3.4 auf Seite 78 vorgestellten Animation Du bist Terrorist klar ersichtlich und ruft offensichtlich die vom Motion Designer gewünschte Wirkung hervor. Man kann sich sicher sein, dass eine Persiflage in Form eines statischen Bilds keine so große Wirkung gezeigt hätte. 5.4 Hypothese 3: Redundanz Für die erfolgreiche Kommunikation von Daten und Sachverhalten sind für das Verständnis der Thematik redundante visuelle Elemente dennoch sinnvoll. 5.4.1 Erklärung der Fragestellung Zunächst gilt es, die in der Fragestellung vorkommenden Begriffe genauer zu bestimmen: 1. Mit „erfolgreiche Kommunikation“ ist die Fähigkeit einer Visualisierung im Hinblick auf die Vermittlung eines Sachverhalts – etwa in Form der Aufbereitung statistischer Daten in Form eines Diagramms – gemeint. Wie erfolgreich die Kommunikation funktioniert, lässt sich durch zwei wichtige Faktoren bestimmen: Zum einen ist dies die Genauigkeit, mit der der Betrachter die dargestellten Daten interpretiert, zum anderen die Nachhaltigkeit, also wie lange sich Betrachter den vermittelten Sachverhalt merken können. 2. Mit „Daten und Sachverhalten“ ist die Gesamtheit des Spektrums an Informationen, die sich für eine Visualisierung eignen, gemeint. Es kann sich grundsätzlich um beliebige Themen handeln, aufgrund der besseren Messbarkeit liegt der Fokus aber eher auf der Aufbereitung statistischer Daten in Form von Infographics als dem Darstellen von Prozessen in Form von Visual Essays. 22 Siehe [53]. 5. Fragestellung und Analyse 97 3. Mit „für das Verständnis der Thematik redundante visuelle Elemente“ sind Verzierungen, Ausschmückungen und Verschönerungen jeglicher Art gemeint, die keinerlei Daten oder Sachverhalte visualisieren, sondern auf den ersten Blick lediglich die in Abschnitt 3.3.2 auf Seite 28 erwähnte dekorierende Funktion erfüllen. 5.4.2 Chart Junk vs. Minimalismus Zunächst soll der Versuch unternommen werden, den in der Erklärung der Fragestellung letztgenannten Terminus näher zu definieren. Der im Zusammenhang mit Informationsdesign (und dabei speziell mit Diagrammen jeglicher Art) geläufiger Begriff des Chart Junk wird gemeinhin folgendermaßen definiert: Chartjunk refers to all visual elements in charts and graphs that are not necessary to comprehend the information represented on the graph, or that distract the viewer from this information. (Edward R. Tufte, [77]) Bei Chart Junk handelt es sich sozusagen um für das Verständnis des erklärten Sachverhaltes überflüssig befundene visuelle Elemente jeglicher Art. In diesem Zusammenhang wird oft auch von der Data-Ink-Ratio gesprochen: Diese gibt das Verhältnis zwischen der Tinte, die ausschließlich zur Datendarstellung verwendet wird, und der Gesamtmenge an Tinte zum Erstellen der Infografik an. Demnach zeichnen sich unausgeschmückte bzw. auf das Wesentlichste reduzierte Grafiken durch eine hohe Data-Ink-Ratio aus. Aus einer minimalistischen Perspektive, wie sie etwa Edward R. Tufte einnahm, galt es, eine möglichst hohe Data-Ink-Ratio anzustreben, bzw. Chart Junk zu vermeiden. Dieser Einstellung zufolge ist letzteres nicht nur überflüssig für das Verständnis einer Visualisierung von Daten, sondern sogar schädlich, da sie den Betrachter von den relevaten visuellen Elementen ablenken und damit Verständnisprobleme hervorrufen. Dieser minimalistischen Ansatz, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offensichtlich auch von Otto Neurath und seinen Mitarbeitern verfolgt wurde, wird in der Realität aber eher selten eingesetzt, da mit der maximalen Reduktion von visuell ansprechenden Bildelementen natürlich auch die Attraktivität verloren geht, die in Zeiten des Informationsüberflusses23 aber als wichtiger Faktor gilt, um Betrachter zu einer Auseinandersetzung mit bestimmten Themen zu führen. Konträr zur Ansicht von Tufte ist besonders die des britischen Designers Nigel Holmes, der bereits für Zeitschriften wie das Time Magazin oder den New York Times arbeitete – laut ihm müssen Grafiken so aufbereitet werden, dass sie das Interesse des potenziellen Betrachters schon beim bloßen Überfliegen wecken. 23 Siehe Abschnitt 5.2.2 auf Seite 83. 5. Fragestellung und Analyse 98 Ein Beispiel für die Verschiedenartigkeit der Resultate aus diesen beiden Standpunkten, obwohl diesen die selben Daten zu Grunde liegen, befindet sich in Abbildung 5.8. Abbildung 5.8: Minimalistische (links) und visuell ausgeschmückte (rechts) Visualisierung des selben Datensatzes. 5.4.3 Studie zur Thematik Aufgrund von nur mangelnden und uneindeutigen vorhandenen Erkenntnissen über die Sinnhaftigkeit von dekorativen visuellen Elementen wurde im Jahr 2010 eine Studie durchgeführt24 , in der 19 Personen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren teilnahmen. Eine Reihe von Diagrammen war jeweis in einer minimalistischen und einer ausgeschmückten Variante vorhanden (ähnlich wie in Abbildung 5.8 dargestellt), jeder Teilnehmer bekam im Zuge der Untersuchung aber nur eine dieser beiden Varianten zu sehen. Durch Eye-Tracking, also der Aufzeichnung der Blickrichtungen der Teilnehmer zu bestimmten Zeitpunkten, konnten weitere Rückschlüsse über die Wahrnehmung der Infografiken gemacht werden. Interpretationsgenauigkeit Um Aussagen über die Interpretationsgenauigkeit treffen zu können, wurden die Teilnehmer zunächst während der Betrachtung der Diagramme zu vier Eigenschaften der Visualisierungen befragt: 1. Thema: Worum geht es bei der Visualisierung? 2. Werte: Was sind die angezeigten Kategorien und Werte? 3. Trend: Welche Tendenzen zeichnen sich ab?25 4. Aussage: Versucht der Autor, eine Nachricht zu vermitteln? 24 25 Siehe [S. 4-8] [3]. Diese Frage wurde bei Tortendiagrammen nicht gestellt. 5. Fragestellung und Analyse 99 Die Studie hatte zum Ergebnis, dass es für das unmittelbare Verständnis der Visualisierungen weitgehend egal ist, ob man nun minimalistische oder ausgeschmückte Grafiken betrachtet. Die Annahme von Edward R. Tufte, dass Chart Junk gar störend für die Wahrnehmung bzw. kognitive Extraktion der den Visualisierungen zu Grunde liegenden Daten ist, kann also widerlegt werden. Im Hinblick auf die unmittelbare Beschreibbarkeit einer kommunizierten Aussage (Punkt 4) ist die visuell aufwändigere Variante sogar erfolgreicher als die reduzierte. Kurzfristige Erinnerungsfähigkeit Um die kurzfristige Einprägsamkeit zu ermitteln, wurde nach obiger Befragung während der Betrachtung ein fünfminütiges Spiel mit den Teilnehmern gespielt, um visuelle und sprachliche Erinnerungen an die Visualisierungen aus dem Kurzzeitgedächtnis zu löschen. Danach folgte die Aufforderung, möglichst viele Informationen im Bezug auf die vier gestellten Fragen zu Thema, Werten, Trends und Aussagen der Visualisierungen preiszugeben. Zum Ergebnis der Studie ist anzumerken, dass bezüglich der kurzfristigen Erinnerungsfähigkeit kein allzu großer Unterschied zwischen den beiden Herangehensweisen der Visualisierung nachzuweisen ist, die ausgeschmückte Variante jedoch in allen vier vorgestellten Punkten die andere übertrifft, am markantesten ist der Unterschied aber (wie auch bei der vorher behandelten Interpretationsgenauigkeit) sich dies im Hinblick auf die Aussage (Punkt 4). Langfristige Erinnerungsfähigkeit Zur Ermittlung der Nachhaltigkeit der Informationsbewahrung, also der Fähigkeit, sich nach einem längereren Zeitraum noch an die dargestellten Informationen erinnern zu können, wurde den Probanden erzählt, die Studie wäre in zwei voneinander unabhängige Phasen aufgeteilt, die zwei bis drei Wochen auseinander liegen. Dass die zweite Phase einen Test zur Ermittlung der langfristigen Erinnerungsfähigkeit darstellte, wussten die Teilnehmer vorher nicht – durch diese Maßnahme wurde unterbunden, dass Teilnehmer absichtlich versuchen, besser in diesem Punkt abzuschneiden. In diesem Punkt machen sich die größten Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen zur Visualisierung statistischer Daten bemerkbar: So ist in allen der vier genannten Punkte eine markante Verbesserung der langfristigen Erinnerungsfähigkeit zu beobachten, wenn die Data-Ink-Ratio nicht zwangsweise hoch gehalten wurde bzw. „verzierte“ Infographics gezeigt wurden. Subjektives Empfinden Neben den genannten Ergebnissen, die allesamt aus den Testergebnissen der Studie stammen, gibt es noch solche, die rein auf das subjektive Empfinden 5. Fragestellung und Analyse 100 der Teilnehmer zurückzuführen sind. Die Testpersonen wurden dazu aufgefordert, im Hinblick auf diese Eigenschaften eine bevorzugte Art der Visualisierung auszuwählen – im Ergebnis dieser Befragung fällt auf, dass bei allen dieser Kriterien die visuell aufwändiger gestaltete im Vorteil gegenüber der reduzierten Variante ist. Die folgende Auflistung der Eigenschaften ist absteigend nach dem Ausmaß dieses empfundenen Vorteils sortiert26 : Einfach merkbar (18:1), attraktiv (17:2), schnell merkbar (17:2), angenehm (16:3), Details einfach merkbar (16:3), schnell beschreibbar (14:5), genau merkbar (13:6), einfach beschreibbar (12:7), genau beschreibbar (10:9) und generell bevorzugt (10:9). 5.4.4 Dekorative Elemente im Bewegtbild Durch die im Zuge dieser Arbeit bereits mehrfach erwähnten Unterschieden zwischen statischen und animierten Infographics ergibt sich natürlich auch ein anderer Umgang mit redundanten Elementen. Allem voran ist diese Redundanz nicht wie bei statischen Infographics auf visuelle Elemente beschränkt, sondern kann auch auf auditiver Ebene stattfinden. Betrachtet man Visual Essays aus den sehr unterschiedlichen Blickwinkeln von Edward R. Tufte und Nigel Holmes, so stehen sich wiederum die Ansätze des Minimalismus und der Attraktivität gegenüber. Am besten kann man diese Kontrapunkte an den in Abschnitt 4.3.4 ab Seite 72 vorgestellten Beispielen demonstrieren: Während History of the Internet sowohl in visueller als auch auditiver Hinsicht ausgeprochen reduziert wirkt, kann man bei Health Care Overhaul in beiden Sinnesebenen einen wesentlich größere Menge an dekorativen Elementen erkennen. Betrachtet man das Umfeld, in dem die vorgestellten Visual Essays sich behaupten müssen, so ergeben sich schnell gute Gründe für den Einsatz von dekorativen Elementen, allem voran ist hierbei der Wiedererkennungswert zu nennen. Hierbei ist anzumerken, dass History of the Internet eine Art Sonderfall darstellt: Durch die Tatsache, dass es nur sehr wenige Animationen gibt, die so entschieden auf Verzierung jeglicher Art verzichten, entsteht auch hier eigentlich ein Wiedererkennungswert. Führt man sich den in Abschnitt 4.3.3 ab Seite 70 vorgestellten Zweck von Motion Graphics als Wissensvermittler vor Augen, so ist dieser Faktor besonders wichtig: Er dient nicht nur dem Wiedererkennen der Animation an sich, sondern automatisch auch der gedanklichen Auseinandersetzung mit der behandelten Materie. Dass auch die Attraktivität ein bedeutendes Resultat aus dem Einsatz dekorierender Elemente bei der Aufbereitung von Daten und Sachverhalten ist, liegt auf der Hand. Dies bedeutet natürlich nicht, dass das Fehlen solcher Elementen zwangsweise zu einer geringeren Attraktivität führt – man 26 Die Zahlen in den Klammern bedeuten jeweils die Menge an Personen, die diese Eigenschaft den visuell aufwändiger gestalteten Visualisierungen (links vom Doppelpunkt) bzw. den reduzierten Darstellungen (rechts vom Doppelpunkt) zuordnen. 5. Fragestellung und Analyse 101 betrachte nur beispielhaft die in Abschnitt 5.2.3 auf Seite 89 vorgestellte Animation von Jr.canest. Fakt ist zweifelsfrei, dass eine überlegte und ansprechende Aufbereitung förderlich für ein angenehmes Betrachten von Visual Essays ist. An dieser Stelle ist aber auch anzumerken, dass besonders die Interpretationsgenauigkeit durch die Vergänglichkeit der dargestellten Informationen beim Bewegtbild eine besonders große Rolle spielt. Es sollten also keine bzw. keine so große Menge an Elementen einsetzt werden, die zu einer kognitiven Überladung durch die Überbeanspruchung der beiden in Abschnitt 5.3.3 auf Seite 94 beschriebenen Sinneskanäle führen könnten – die wirklich wichtigen Informationen sollten auch als erstes wahrgenommen werden. So dient etwa das Farbschema von The Crisis of Credit Visualized eindeutig der Wiedererkennbarkeit, und wirkt (vorausgesetzt, man hat keine geschmackliche Abneigung gegen die Farbe Grün) attraktiv, es lenkt aber keineswegs von den eigentlich vermittelten Informationen ab. 5.4.5 Resümee Im Hinblick auf den Einsatz von dekorativen Elementen bemerkt man, dass nur ein Mittelweg zwischen den beiden vorgestellten und maximal konträren Anschauungen Sinn macht. Die Reduktion auf das Wesentlichste ist zwar notwendig, es ist aber nicht zielführend, dies bis zum äußersten zu praktizieren ohne dabei den Betrachter und dessen Wahrnehmungsverhalten zu berücksichtigen. Als einfaches Beispiel hierfür ist etwa die Aufteilung einer Telefonnummer mit Berücksichtigung der Miller’schen Zahl, die in Abschnitt 3.5.4 auf Seite 41 erklärt wird: Trotz einer deutlichen Redundanz von Zeichen ist es leichter möglich, sich an die Zahlenfolge zu erinnern. Betrachtet man die in Abschnitt 5.2.2 auf Seite 84 erwähnte Definition eines New Mediators laut Jonathan Jarvis, so sei hier besonders auf das letzte Wort der Begriffsbestimmung hingewiesen: beautiful. Die Informationen sollen also nicht nur verfügbar, sondern auch attraktiv aufbereitet sein, um die maximale kommunikative Effektivität zu erreichen, die der Wissensvermittlung in Form der Transformation von Daten in Infographics oder Visual Essays im Sinne der Schaffungs von Klarheit über gewisse Gegebenheiten eigentlich zustehen sollte. Man kann also behaupten, dass dekorative Elemente (bzw. Chart Junk ) trotz der Tatsache, dass sie kein unmittelbares Resultat aus der Transformation von Zahlen und Fakten ins Visuelle darstellen, sinnvoll eingesetzt werden können. Eine Beschränkung auf das Wesentliche kann deshalb nur bis zu einem gewissen Grad als zielführend bezeichnet werden. Kapitel 6 Schlusswort Aufgrund ihrer hohen Emotionalität und der unanstrengenden Art und Weise, sich mit bestimmten Themen auseinander zu setzen, erfreuen sich Visual Essays besonders bei der Internet-Community immer größerer Beliebtheit. Die heutigen technischen Möglichkeiten machen sämtliche Vorgänge, die zur Konzeption und Erstellung von Motion Graphics als Wissensvermittler nötig sind, einfacher als je zuvor: Sowohl die Recherche, als auch die Aufbereitung der Information und die Umsetzung dieser in Form einer Animation kann theoretisch auf jedem Computer durchgeführt werden, der mit einer Internetverbindung, genügend Leistungsfähigkeit und den notwendigen Programmen ausgestattet ist und von einem fähigen Motion Designer bedient wird. Weiters ist durch die Vernetzung – bzw. in weiterer Folge durch die Existenz von Videoportalen und speziellen Websites, die sich mit Informationsdesign auseinandersetzen – auch eine einfache Verbreitung solcher Animationen möglich. Das Ausmaß der gesamtgesellschaftlichen Relevanz der Thematik, die man mittels Motion Graphics zu vermitteln versucht, beeinflusst den Bekanntheitsgrad der Animationen natürlich erheblich. Generell werden Informationsvisualisierungen in der Praxis meist für die Veranschaulichung abstrakter Sachverhalte eingesetzt. Man kann folglich behaupten, dass der Betrachter solcher Darstellungen bei der Konstruktion eines mentalen Modells wesentlich mehr Denkarbeit durchzuführen hat als würde er sich etwa ein Foto ansehen, das die Realität im Vergleich sehr konkret wiedergibt. Diese Erstellung eines Gedankenbilds wird durch das bei Animationen übliche Ansprechen mehrerer Sinneskanäle aber wesentlich erleichtert. Man muss anmerken, dass Motion Graphics natürlich nicht in allen erdenklichen Bereichen der statischen Darstellung überlegen sind, und sich eher für die Darstellung von Abläufen und Prozessen als für eine große Menge an statistischen Daten eignen – dies resultiert aus der Vergänglichkeit der dynamischen Darstellung bzw. der begrenzten Zeitdauer, für die präsentierte Informationen sichtbar sind. Ein Telefonbuch in Form eines Visual Essays zu 102 6. Schlusswort 103 visualisiern würde nicht besonders viel Sinn machen, genauso wenig wie eine rein verbale Bauanleitung eines IKEA-Kastens zielführend wäre. Es kann also festgestellt werden, dass Motion Graphics aufgrund ihrer Eigenschaften im Hinblick auf die Effektivität der Kommunikation einzigartig, aber nicht per Definition allen anderen Formen der Informationsvermittlung überlegen sind. Müsste man eine Faustregel für den Einsatz solcher Animationen aufstellen, würde diese besagen, dass eine dynamische Darstellung einer statischen eindeutig vorzuziehen ist, sofern sich der zu vermittelnde Inhalt in narrativer Form aufbereiten lässt. Anhang A Inhalt der CD-ROM Format: CD-ROM, Single Layer, ISO9660-Format A.1 PDF-Dateien Pfad: / dm08027_mueller_da.pdf Diese Arbeit im PDF-Format A.2 Videodateien Pfad: /MotionGraphicsBeispiele HistoryOfTheInternet.flv History Of The Internet von Melih Bilgil, siehe Abschnitt 4.3.4 auf Seite 72. 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