82. Jahresbericht - Altmärkischer Verein für vaterländische

Transcrição

82. Jahresbericht - Altmärkischer Verein für vaterländische
82. Jahresbericht
des
Altmärkischen Vereins
für
vaterländische Geschichte
zu Salzwedel e.V.
Im Auftrag des Vorstandes herausgegeben
von
Ulrich Kalmbach
und
Dieter Fettback
Salzwedel
2012
82. Jahresbericht des Altmärkischen Vereins
für vaterländische Geschichte zu Salzwedel e.V.
Im Auftrage des Vorstandes herausgegeben von
Ulrich Kalmbach und Dieter Fettback
Salzwedel 2012
Impressum
Altmärkischer Verein für vaterländische Geschichte zu Salzwedel e.V.
c/o Stadtarchiv Salzwedel, An der Mönchskirche 5, 29410 Salzwedel
Redaktion: Ulrich Kalmbach, Dieter Fettback
Druck: DruckManufaktur, Nicolaistraße 28, 39576 Stendal
3
Inhaltsverzeichnis
Ulf Frommhagen und Falko Grubitzsch
Die Kirche von Steinfeld und ihr romanischer Taufstein
5
Bernd-Wilhelm Linnemeier
Leveke von Mengersen geb. Schenk von Flechtingen (1564-1644)
Eine altmärkische Adelige im weserländischen Exil
31
Ulrich Kalmbach
Die Fotografenfamilie Rudolf Oberst in Salzwedel
Zur Jahresausstellung 2011 im Danneil-Museum Salzwedel
89
Sigrid Brückner
Geschichte in Bronze und Stein:
Wie die Denkmale von Kaiser Karl IV. und Kurfürst
Friedrich I. auf die Burg Tangermünde kamen
115
Henning Krüger
Zur Geschichte des Brauwesens in der Stadt Kalbe (Milde)
133
Ulrich Kalmbach
Vereinsbericht
157
Jürgen Kayser
Kassenbericht
161
5
Die Kirche von Steinfeld und ihr romanischer Taufstein1
von Ulf Frommhagen und Falko Grubitzsch
Auf der einzigen natürlichen Erhebung, einer saaleeiszeitlichen Düne im
Norden der Ortslage von Steinfeld, hinterlässt die stauferzeitliche Saalkirche
umgeben von einer mittelalterlichen Feldsteinmauer einen trutzigen Eindruck im platten Land der Altmark und ist schon von weitem sichtbar (Abb.
1). Vor dem Nordhang des erhöhten Kirchenstandortes befindet sich das
größte erhaltene Megalithgrab der Altmark. Es ist wohl kaum zu bezweifeln,
dass sich der Ortsname Steinfeld von der aus glazialem Geschiebe errichteten, neolithischen Grabanlage ableitet.
Abb. 1
1
Die Kirche in Steinfeld, Ansicht von Südwesten, um 1930
Der vorliegende Text ist in leicht gekürzter Form in der Zeitschrift Denkmalpflege in SachsenAnhalt, 1/2012 erstmals erschienen.
6
Abb. 2
Kirche von Südosten, 2011
Abb. 3
Priesterpforte in der südlichen
Chorwand, 2011
Die ebenfalls aus glazial abgelagerten Findlingen erbaute Kirche besitzt einen
dreiteiligen Grundriss (Abb. 2), bestehend aus eingezogenem quadratischem
Altarraum mit geradem Abschluss, rechteckigem Langhaus und einem in den
Obergeschossen ergänzten, spätmittelalterlichen Westquerturm von gleicher
Breite.
Um 1900 wurden die großen Fensteröffnungen an der Südseite des Langhauses und des Altarraumes eingebrochen sowie das abgestufte Hauptportal
zugesetzt. An der Nordseite des Langhauses sind drei Rundbogenfenster aus
der Bauzeit von den Modernisierungsmaßnahmen verschont geblieben. Das
spätromanische Türgewände der Priesterpforte ist im Originalzustand belassen worden. Es besteht zum Teil aus präzise zugeschnittenen und geglätteten
Monolithen.2 Der überdimensionale Schlussstein hinterlässt eine beeindrukkende Wirkung auf die gesamte Südwand des Altarraumes (Abb. 3). An der
Pfarrtür sind noch die ursprünglichen Beschläge erhalten.3
2
Eine Lösung, die an zahlreichen romanischen Kirchen in der Altmark nachgewiesen ist,
bevorzugt an den Priesterpforten.
3
Romanische Beschläge auf alten Türblättern sind in der Umgebung von Steinfeld an den
Kirchen Groß Möringen, Häsewig, Uchtenhagen, Altmersleben und Winterfeld erhalten.
7
Abb. 4
Chor und Schiff nach der Neugestaltung, um 1900
Im Inneren der Kirche verbindet ein rundbogiger Triumphbogen Altarraum
und Langhaus. Beide Räume sind flach mit hölzernen Decken geschlossen
und im Altarraum 1901 kassettenartig verschalt, das Langhaus schmückt
eine Deckenmalerei vom Anfang des 18. Jahrhunderts (Abb. 4).
8
Abb. 5
Steinfeld, Innenansicht von Westen, 2011
Abb. 6
Steinfeld, Taufstein, 2011
9
Auf dem Altartisch befindet sich ein Schnitzaltar aus der Mitte des 15.
Jahrhunderts mit einer Madonna im Mittelschrein, die von Heiligen flankiert
wird.
Abb. 7 Kirche Schorstedt mit erhaltenem Glockengiebel und frühneuzeitlich
angefügtem Dachreiter, 2012. Im Gegensatz zu Steinfeld war der Glockengiebel für
die Aufnahme von zwei Glocken ausgelegt.
Die hölzerne Kanzel datiert 1610 (Abb. 5). Das bedeutendste Ausstattungsstück ist jedoch die Taufe aus dem 12./13. Jahrhundert (Abb. 4, 6). Es stellt
sich die Frage, ob dieser Taufstein tatsächlich von Beginn an in diese Kirche
gehört.
Außen an den Fluchten des Turmes ist deutlich an einer Zäsur in Form
eines Mauerrücksprungs zu erkennen, dass die Errichtung des romanischen
Turmstumpfes nur bis in Traufhöhe des Langhauses ausgeführt wurde. An
der Westseite befindet sich ein Mauerabsatz oberhalb der Traufhöhe. Darüber setzt sich im unregelmäßigen jüngeren Turmmauerwerk die Struktur
eines Glockengiebels ab, der eine (jetzt zugesetzte) rundbogige Öffnung, in
der die Glocke aufgehängt war, besessen hatte.
Über die ursprüngliche Funktion des Turmuntergeschosses, das durch eine
Bogenöffnung vom Langhaus getrennt ist, können keine Aussagen getroffen
werden. Überlegungen in Richtung einer Vorhalle bleiben bei der mangeln-
10
den Befundlage spekulativ, das abgetreppte rundbogige Westportal bestärkt
allerdings eine solche Vermutung. Zum Turm kann festgestellt werden, dass
keine Befunde auf einen frühen, hoch aufragenden querrechteckigen Turmvorgänger in Massiv- oder Holzbauweise hinweisen; der Westbau wurde nur
im Untergeschoss angelegt. Warum der Weiterbau in der Kubatur des Breitturmes eingestellt wurde, kann nicht beantwortet werden. Ein Planwechsel
hin zum Glockengiebel mit rundbogigem Glocken-träger kann jedoch noch in
der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfolgt sein (Abb. 7).4
An dem in seiner heutigen Gestalt vollendeten Kirchturm sind die Ecken in
Backsteinen gesetzt, wie es mehrmals für das 15. Jahrhundert in der Altmark
nachgewiesen ist.5 Der spätmittelalterliche Turm unterscheidet sich nicht
nur mit dem unregelmäßigen Findlingsmauerwerk von der Steinquaderarchitektur der Kirche, sondern auch in seiner Funktionalität.
Im Gegensatz zu den romanischen Quertürmen des Umlandes, an denen
profane Komponenten nicht bestritten werden können, ist der Steinfelder
Turm primär als Glockenträger zu verstehen. Er besitzt keinen Hocheingang,
keine Gewölbe, Mauertreppen und Sperrriegelverschlüsse wie an den frühen
massiven Türmen der Umgebung, an denen das Glockengeschoss ursprünglich eine nachgeordnete Bedeutung besaß.6 Die einzige Gemeinsamkeit
besteht in der landschaftsbeherrschenden Stellung. Vielleicht entstand diese
in Konkurrenz zu benachbarten Dörfern oder es führte die Lage direkt an
der wichtigen Fernstraße zur Ausbildung einer repräsentativen Landmarke.
Die größte Auffälligkeit jedoch ist bei der Steinfelder Kirche in dem Fehlen
des lang gestreckten, tonnengewölbten Turmuntergeschosses zu sehen, denn
der romanische Turmtyp in der Altmark ist in der Regel durch ein aus Findlingen gefertigtes Tonnengewölbe zum Untergeschoss abgeschlossen. Ein
Turmeinstieg war ursprünglich nur über einen Hocheingang möglich.7 Die
4
Ganz ähnliche Bauphasen sind in der näheren Umgebung besonders an der Kirche Schorstedt
ablesbar. An dem flachgedeckten Feldsteinbau mit eingezogenem rechteckigem Altarraum
besitzt der erhaltene Glockengiebel zwei rundbogige Öffnungen. In Schorstedt ist der
Westquerturm ebenfalls nur im Untergeschoss angelegt. Dem Glockengiebel wurde im 18.
Jahrhundert ein Fachwerkturm angefügt.
5
Z. B. Algenstedt, Baben, Lüffingen, Polkau, und das Glockengeschoss in Zierau (alle 15.
Jahrhundert).
6
Prägnante Beispiele in nächster Nähe in Büste, Kläden, Schartau und Rochau.
7
Es sind auch hoch angelegte Turmeinstiege im Kircheninneren belegt. Diese sind vom
Langhaus oder Turmuntergeschoss aus zugänglich; z. B. in Kläden, Groß Möringen, Kleinau
und Uchtenhagen.
11
Untergeschosse sind in der Altmark durch einen Bogen oder eine Arkatur8
zum Langhaus geöffnet, dadurch entsteht unweigerlich der Eindruck einer
Doppelpoligkeit. Unter den beiden Polen sind der Turm im Westen und der
ausgeschiedene Altarraum im Osten zu verstehen. Ähnlich wie der Altarraum durch den Triumphbogen vom Langhaus getrennt ist, so hat auch der
oft schmalere Bogen oder die Arkatur am Turmuntergeschoss eine raumteilende Funktion besessen. In vorreformatorischer Zeit muss dieser heute
völlig funktionslos anmutende separate Raum im Westturm eine nicht unbedeutende Stellung eingenommen haben, die sich zwar nicht mehr erschließen lässt, aber doch gegenpolig in Erscheinung tritt. Das tonnengewölbte
Untergeschoss ist der am weitesten nach Westen gerückte Raum der Kirche,
jedoch im Gegensatz zum Altarraum in ganzer Breite des Langhauses. Die
hier ursprünglich angesiedelten Praktiken müssen in einer mittelalterlichen
Landkirche überwiegend profaner Natur gewesen sein.9
Die Kirche Steinfeld besitzt über Schiff und Chor mittelalterliche Dachwerke. Neben der spätmittelalterlichen Dachkonstruktion über dem Langhaus datiert das binderlose Kehlbalkendachwerk über dem Altarraum in die
Bauzeit. Die Eichen für das Dachwerk wurden im Winter 1218 (d) geschlagen und im folgenden Jahr verbaut. Die Bauzeit fällt somit in die Periode des
Landesausbaus, der in der Altmark in der Mitte des 12. Jahrhunderts
einsetzte. Die ersten Massivbauten, insbesondere in der Umgebung um
Stendal, gehören zum ältesten Kirchentyp.10 Dieser ursprüngliche Grundriss
repräsentiert sich in der vollständigen bzw. vierteiligen Anlage mit klarer
geometrischer Durchbildung des Baukörpers, der sich aus querrechteckigem
Turm, einschiffigem Langhaus, Altarraum mit halbkreisförmiger Apsis
zusammensetzt. Der Turm tritt an mehreren Beispielen auch über die Fluchten des Langhauses hinaus.
8
In der Kirche Rochau, einem vollständigen Typ aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts,
verbinden zwei Rundbögen das Turmuntergeschoss mit dem Langhaus. Am romanischen
Backsteinvorgänger der Nikolaikirche in Gardelegen, einer Saalkirche, sind es gleich drei
Rundbögen, die das Turmuntergeschoss (Westquerturm) mit demLanghaus verbinden.
9
Die heute »toten« Turmuntergeschosse haben wohl für liturgische Handlungen zur Verfügung
gestanden, die eher weltlich bestimmt waren wie Taufen, Kommunion, Sendgerichte oder in
Verbindung mit Labfesten. Die Taufe befand sich ursprünglich im Westen der Kirche.
Beispielsweise ist in der ursprünglich turmlosen romanischen Einraumkirche in Lüffingen bei
Gardelegen der Taufstein noch an seiner ursprünglichen Stelle geblieben, nämlich im
Turmuntergeschoss des quadratischen spätgotischen Turmes.
10
Die dendrochronologisch untersuchten Kirchen Groß Schwechten, Buchholz, Groß Möringen
datieren mit den Kern-Splint-Grenzen in die 1150er und 1160er Jahre. Sämtliche im Text
angegebenen Dendro-Ergebnisse berufen sich auf Probenentnahmen der Herren Dr. Karl-Uwe
Heußner vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Berlin und Dipl.-Rest. Ulf
Frommhagen, Seethen. Untersucht wurden die Proben von Karl-Uwe Heußner im Dendrolabor
des DAI Berlin.
12
Noch im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts setzte sich auf dem Gebiet der
heutigen Altmark bei den Findlingsbauten ein reduzierter Grundriss durch,
bei dem auf die Apsis verzichtet wurde.11 Da die frühesten steinernen
Kirchenbauten in der Altmark dendrochronologisch bereits in die 1150/60er
Jahre datieren, fällt die Bauzeit der Kirche Steinfeld schon in die jüngere
Phase des Landesausbaus.12 Unter dem eigentümlichen Bautyp ohne Apsis
sind Anlagen zu unterscheiden mit Westquerturm, rechteckigem Langhaus
und rechteckigem bzw. quadratischem Altarraum, daneben häufig auch
turmlose Formen wie Langhaus mit eingezogenem Altarraum, seltener Einraumkirchen oder Langhaus mit Westquerturm.13 Die schon früh aufgestellte
These der Spätdatierung des reduzierten Grundrisses erhält durch die
Dendrochronologie in den letzten beiden Jahrzehnten eine eindeutige Bestätigung. Demnach datiert dieser Formenapparat ab etwa 1220 bis in die Mitte
des 13. Jahrhunderts für das altmärkische Verbreitungsgebiet und durch den
Übergangsstil nahtlos bis in die reine frühgotische Stilepoche hinein.
Die Erbauung der zahlreichen großen altmärkischen Landkirchen war
vermutlich so kosten- und aufwandsintensiv, dass die Mittel eines einzelnen
Grundherrn in seiner Funktion als Eigenkirchenherr nicht ausreichten.14
Die netzartige flächendeckende Errichtung der Kirchen, die besonders in der
östlichen Altmark landschaftsprägend sind, machte ein Raumkonzept erforderlich, das nur durch landesherrliche Verordnung umgesetzt werden
konnte. Dabei ist der zeitlich eng gesteckte Rahmen zu betrachten, in dem
der askanische Kirchenbau in der Altmark erfolgte. Er deckt sich hauptsächlich mit der Regierungszeit Markgraf Ottos I. und seiner Söhne Otto,
Albrecht und Heinrich, die aber auch andere Großprojekte förderten und
finanzierten.
Die 1218/19 unter Dach gekommene Kirche Steinfeld gehört mit der den
gleichen Grundriss aufweisenden Saalkirche Möllenbeck zu den bisher frühesten untersuchten Beispielen dieses Bautyps im altmärkischen Verbreitungsgebiet. An der Kirche des 12 km nordwestlich von Steinfeld gelegenen
11
Der eingezogene Altarraum ist in der Altmark nicht das typische Kennzeichen der Frühgotik
wie in den ostelbischen Gebieten der Mark Brandenburg.
12
Dendrochronologisch untersuchte Kirchen mit reduziertem Grundriss: Garlipp um 1226,
Flessau 1223d, Krügen 1232d, Vielbaum 1242d, Möllenbeck 1218d (vgl. Text).
13
Das nicht geringe Vorkommen von turmlosen Bauten nährt die Überlegung, dass ein
Kirchturm nicht unbedingt ein religiöses Erfordernis war.
14
In der Altmark ist für die 2. Hälfte des 12. bis in die 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts eine Form
des traditionellen Eigenkirchenrechts nachgewiesen. Bedeutsam sind dabei besonders die
topografischen Verhältnisse zwischen Burg, Dorf, adligem Herrenhof und Kirche.
13
Dorfes Möllenbeck sind über Langhaus und Altarraum gleich zwei Dachwerke erhalten, die ein Fälldatum der Eichenhölzer von 1218 (d) aufweisen.
Die erste schriftliche Erwähnung von Steinfeld erfolgte 1209 (stenuelde).15
Im etwa 10 km nordöstlich von Steinfeld gelegenen Dorf Groß Schwechten
wird 1293 ein Heinrich von Stenvelde erwähnt.16 Ursprüngliche Beziehungen einer Ministerialen-Familie Stenvelde zum altmärkischen Ort Steinfeld
lassen sich nicht nachweisen, ein Zusammenhang kann nur vermutet werden. Wie an den allermeisten altmärkischen Kirchen herrscht auch in Steinfeld dokumentarische Stille hinsichtlich der Bauzeit. Lediglich die mutmaßliche Gestalt des Sakralbaus lässt sich für das 13. Jahrhundert erschließen:
eine Saalkirche ohne Apsis mit einer Vorhalle und einem Glockengiebel mit
einer Glocke.
Der Ort Steinfeld befand sich im Mittelalter in der regio Balsamorum17 an
einer wichtigen Straße, die vom Burgwart Kalbe nach Stendal, Arneburg und
Tangermünde führte. Das Balsamland gehörte kirchengeschichtlich als
Archidiakonat Balsambann18 seit dem 9. Jahrhundert zum Bistum Halberstadt.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist für Steinfeld eine hufeisenförmige Dorfanlage überliefert, welche noch heute in der sackförmig endenden Dorfstraße ablesbar ist.19 Demnach handelte es sich bei dem ursprünglichen Grundrissbild überraschenderweise um einen Rundling, der in der
östlichen Altmark selten nachgewiesen ist. Wahrscheinlich erlag der Rundling in Steinfeld einem ähnlichen
15
Das Kollegiatstift St. Nikolai in Stendal besaß 1209 zwei Hufen Land in Steinfeld (Wohlbrück,
Sigmund Wilhelm: Geschichte der Altmark bis zum Erlöschen der Markgrafen aus
Ballenstädtschem Hause, Berlin 1855, S. 201). Weiterhin hatten St. Marien und St. Jakobi sowie
das St. Katharinenkloster in Stendal und das Zisterziensernonnenkloster in Neuendorf Besitz in
Steinfeld.
16
Wohlbrück, wie Anm. 14, S. 337.
17
Bezeichnung des Balsamgaues in den Pegauer Annalen. Der Balsamgau lag westlich von
Tangermünde, war ursprünglich durch Elbe, Milde, Biese und Tanger begrenzt und ist wohl
später durch das Archidiakonat Balsambann in der ehemaligen Diözese Halberstadt bis zur Ohre
ausgeweitet worden. Die Angaben zu den frühmittelalterlichen Gaubezeichnungen bleiben
uneindeutig: 9. Jahrhundert Pagus Belkesheim?, 1006 Belcsem. Ab dem 12. Jahrhundert sind die
Bezeichnungen Balsamland und Balsamien bis in das 16. Jahrhundert üblich.
18
Das Archidiakonat Balsambann ist durch die Zusammenlegung mehrerer Sendbezirke zu
einem Bannsprengel entstanden; vgl. Diestelkamp, Adolf: Der Balsambann am Ausgange des 15.
Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der mittelalterlichen Pfarrorganisation und der
Diözesangrenzen in der Altmark, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz
Sachsen und des Freistaates Anhalt, Magdeburg 1932, S. 107–143.
19
Zahn, Wilhelm: Heimatkunde der Altmark, Stendal 1891, S. 83.
14
Schicksal wie es für viele andere Platzanlagen im ehemaligen deutsch-slawischen Kontaktgebiet nachgewiesen wurde. Wenn nicht durch verheerende
Dorfbrände, dann sind viele Rundlinge durch Umgestaltungsvorgänge während oder nach dem Dreißigjährigen Krieg, Wüstlegungen, Hofteilungen
oder grundrissbeeinflussend während der Separation deformiert oder durch
völlige Neuplanung verschwunden. So bestünde in Steinfeld die Möglichkeit,
dass durch Aufteilung des ehemaligen Dorfplatzes unter den Hofstellen ein
Wandel von einer Platzanlage zu einem sackförmigen Grundriss vollzogen
wurde.20 Bemerkenswert sind die topografischen Beziehungen, die sich hieraus ergeben, denn der Standort der Kirche befindet sich zum ehemaligen
Platzdorf in einer Entfernung von 300 Meter in nordöstlicher Richtung. Die
ehemals exponierte Lage des Kirchenstandortes scheint in seiner Entstehungszeit eher eine bewusste Nähe zum bedeutenden Verkehrsweg und/oder
zu einem Edelsitz besessen zu haben, als zur Siedlung.
Der mittelalterliche Verkehrsweg, der die Kirche Steinfeld unmittelbar
berührte, verband hauptsächlich die beiden Städte Salzwedel und Stendal.
Salzwedel war im 12. Jahrhundert der bedeutendste Handelsplatz in der
Altmark. Später wurde Salzwedel von der gegen 1160 vom Markgrafen
Albrecht dem Bären gegründeten Stadt Stendal überflügelt. Beide Städte
hatten frühe Beziehungen zu Lübeck und den Ostseeländern. Salzwedel hatte
nachweislich Handel bis nach Visby auf Gotland betrieben.21 In Stendal bildete sich wegen seines Fernhandels sogar eine eigene Seefahrergilde heraus.
Diese frühen Verbindungen bildeten die Voraussetzungen, die den Beitritt
der beiden Städte in den Hansebund herbeiführten.
Wandfeste Ausstattung (Altarmensa, Wandmalerei, Sakramentsnische u. a.)
aus der Bauzeit oder zumindest aus dem Mittelalter hat sich in vielen
Altmarkkirchen in situ überliefert. Dagegen war mobiles Inventar des
Kirchenraums immer wieder intensiveren Veränderungen ausgesetzt.22 Taufgerät war im Mittelalter zumeist fest installiert.23 Liturgisch bedingt besaß es
20
Meibeyer, Wolfgang: Die Rundlingsdörfer im östlichen Niedersachsen (= Braunschweiger
Geographische Studien 1), Braunschweig 1964; ders.: Der Rundling – eine koloniale
Siedlungsform des hohen Mittelalters, in: Niedersächsisches Jahrbuch 44 (1972), S. 27–49; ders.:
Rundlingsdörfer im Hannoverschen Wendland und anderen Gebieten, in: Schmidt, Roderich
(Hrsg.): Wendland und Altmark in historischer und sprachwissenschaftlicher Sicht, Lüneburg
1992, S. 63–86.
21
Zahn, wie Anm. 18, S. 16.
22
Stellvertretend für die in der Altmark zum Teil gut überlieferte immobile Ausstattung aus
dem Mittelalter seien die Kirchen von Audorf, Dambeck und Winterfeld genannt.
23
In der romanischen Kirche von Wallwitz steht der pokalförmige Taufstein fest eingemauert
im westlichen Kirchenschiff, nahe dem Gemeindeeingang auf der Nordseite.
15
einen bestimmten Standort, in der Regel im Schiff, dem Raum der Gemeinde.
Daher kann auch der heutige Standort der Taufe von Steinfeld unter dem
Triumphbogen nicht der angestammte Platz sein, sondern wurde erst in
nachmittelalterlicher Zeit durch die Reformation bestimmt (Abb. 5).24
Ursprünglich, und dafür finden sich auch in der Altmark noch vereinzelt
Beispiele, war der Aufstellungsort einer Taufe in Pfarrkirchen nahe dem
Eingang für die Gemeinde (z. B. Jeeben), symbolisierte doch das Taufsakrament gleichwohl den Eintritt in die Gemeinschaft der Gläubigen.
Auf den Wandel des Taufrituals im Verlaufe der Geschichte und die damit
verbundene Entwicklung des Taufgeräts kann hier nicht im Einzelnen
eingegangen werden. Trotzdem muss die regionale Ausbreitung des Christentums und die Kolonisationsbewegung des Mittleren 12. Jahrhunderts im
Zusammenhang mit der Herausbildung der liturgischen Praxis und der
Herausbildung von Taufgefäßformen gesehen werden. Seit der Entstehung
des Christentums stellt die Taufe den elementaren Initiationsritus dar,25 und
dies immer im unmittelbar symbolischen Bezug zum Archetypus: der Taufe
Christi im Jordan durch Johannes den Täufer. Daher war die Flusstaufe die
ursprünglichste Form des Rituals, das in den Missionsgebieten bis ins Hochmittelalter praktiziert wurde.26 Für die anfangs im Verborgenen agierenden
Christen bedeutete der Taufakt u. a. die Reinigung von heidnischem Irrglauben und Götzenverehrung sowie ein Zeichen der Zugehörigkeit zur
Glaubensgemeinschaft, zum Bund mit dem einzig wahrhaften Gott.27
24
Fotografische Aufnahmen, die anlässlich der historisierenden Neugestaltung 1901 angefertigt
worden sind, zeigen die Taufe unter dem Triumphbogen. Ob dieser Standort schon in früherer
Zeit gewählt wurde, ist bisher ungeklärt. Auslöser für die Veränderung des Taufenstandorts war
im Allgemeinen die Beschränkung der Sakramente auf die Taufe und das Abendmahl im Zuge
der Reformation, wodurch das Taufzeremoniell liturgisch nahe an Altar oder zumindest in den
Chorraum rückte.
25
Lurker, Manfred (Hrsg.): Wörterbuch der Symbolik (= Kröners Taschenausgabe 464)
Stuttgart 1991, S. 683.
26
Die Massentaufe von Sachsen im Jahre 776 durch Karl den Großen (Schieffer, Rudolf: Die
Karolinger, Stuttgart 1992, S. 77).
27
In der Frühzeit des Christentums war die Flusstaufe unter freiem Himmel die allgemein
gebräuchliche Form. Erst mit dem Einzug in Gebets- und Versammlungsräume sowie später mit
der Errichtung von geweihten Gotteshäusern änderte sich der Ritus. Mit der
Institutionalisierung der Kirche war die strenge Regelung der Liturgie verbunden. So besaßen in
den ersten Jahrhunderten die Bischöfe das alleinige Recht zur Taufe (Bergner,
Heinrich: Handbuch der kirchlichen Kunstaltertümer in Deutschland, Leipzig 1905, S. 274). Zu
den frühen Diözesanzentren gehörte daher ein Baptisterium, das über oder in der Nähe von
Wasserquellen, je nach lokalen Gegebenheiten errichtet worden war. Auf das ursprünglich
»lebende« Wasser weisen auch die zum Teil bis heute geläufigen Bezeichnungen Taufbrunnen
(lat. fons baptismalis, engl. font, frz. fons) hin. Die anfangs überwiegende Ganzkörpertaufe
(Immersion) machte geräumige Becken mit umlaufenden Treppenabgängen notwendig (Ein
16
Obwohl die Taufe in unterschiedlichen, häufig mobilen Behältnissen wie
Fass, Kübel und Wanne seit dem Frühmittelalter belegt ist, findet sie als
zumeist freistehendes liturgisches Gerät erst nach und nach Verbreitung. 28
Im Jahrhunderte später christianisierten Nord- und Osteuropa wurden Taufgefäße im Zuge des seit dem 12. Jahrhundert einsetzenden Baus von steinernen Gotteshäusern als wesentliches Ausstattungsstück gefertigt. Baptisterien bildeten die Ausnahme, sie entstanden vorzugsweise in vormals
römisch kolonisierten Gebieten, beispielsweise der Rheinprovinz.
Welches Taufgerät es in der Altmark vor dem steinernen Kirchenbau gab, ist
nicht belegt. Immerhin lassen archaische Gefäßformen wie Kübel oder Fass
bei der Gestaltung steinerner Taufen darauf schließen, dass profane
Gebrauchsgegenstände aus vergänglichem Material in Nutzung waren.29 Seit
dem Hochmittelalter setzte sich die Kelchform zunehmend durch. Diese
besteht aus Fuß, Schaft und Kuppa. Häufig war die Größe der Kuppa so
bemessen, dass ein Kleinkind darin vollständig untergetaucht werden
konnte.30 Mit dem Abschluss der Christianisierung verlor die Erwachsenentaufe fast vollkommen an Bedeutung, da in der Regel Neugeborene im
ersten Lebensjahr die Taufe erhielten. Vermehrt erfolgte nun auch ein
Wandel des Taufrituals, wobei das Begießen des Hauptes (Infusion) das
Untertauchen des Täuflings (Immersion) ablöste. Die symbolisch sinnhafte
Handlung trat an Stelle der wörtlichen, wie Pudelko es formulierte.31 Dafür
konnte ein kleineres Becken benutzt werden.
Der Taufstein in der Kirche von Steinfeld weist eine klare Gliederung mit
ausgewogenen Proportionen auf (Abb. 6). Aus einem grauen, in den
frühes Beispiel einer Taufkirche des 4./5. Jahrhunderts ist das Baptisterium von Koúrion an der
Südküste Zyperns). Diese ersten Taufkirchen standen in der Tradition antiker Wasserbecken in
Thermenanlagen. Bis ins hohe Mittelalter entstehen Baptisterien als selbstständige Bauten.
Entsprechend dem Herkunfts- und Verbreitungsgebiet der christlichen Religion sind
Taufkirchen im Mittelmeerraum daher am weitesten verbreitet gewesen. An der »Piazza dei
Miracoli« in Pisa erhebt sich eine der imposantesten freistehenden Taufkirchen des Mittelalters.
In der apulischen Stadt Bari besitzt das Baptisterium zwar einen eigenen Baukörper, dieser ist
aber von Beginn an funktional mit der Bischofskirche verbunden.
28
Einen Hinweis auf den frühen Gebrauch von Taufgerät gibt ein Erlass auf der Synode von
Lerida 524 (Müller, Hermann/Mothes, Oskar: Illustriertes Archäologisches Wörterbuch,
Berlin/Leipzig 1878, S. 908).
29
In Häsewig steht eine Granitkufe aus dem 12. Jahrhundert höchstwahrscheinlich noch am
mittelalterlichen Standort.
30
In Groß Möringen gibt es einen romanischen Taufstein mit entsprechend großer Kuppa,
vermutlich aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Die Klosterkirche in Jerichow besitzt eine
Sandsteintaufe mit einer mächtigen Kuppa, die für Taufen im Immersionsverfahren geeignet ist.
31
Pudelko, Georg: Romanische Taufsteine, Berlin 1932, S. 12.
17
Sedimentschichtungen stark geklüfteten Kalkstein hergestellt, hat das Gefäß
folgende Abmessungen: seine Gesamthöhe beträgt 1,14 m; an seiner
breitesten Stelle, am Rand der Kuppa, misst es 0,96 m; am Fuß beträgt der
Durchmesser 0,89 m und ist damit nur unwesentlich geringer, als der des
Beckens.
In seiner jetzigen Form besteht der Taufstein aus drei Einzelteilen: Fuß,
Schaft und eigentlichem Taufbecken, der Kuppa. Ob eine Fertigung in
Einzelteilen wegen eines beschwerlichen und weiten Transportweges gewählt wurde oder wegen der morphologischen Charakteristik des Materials
geraten schien, kann nur vermutet werden. Eine monolithische Bearbeitung
wäre wohl ebenso denkbar und ist für andere Beispiele belegt.32 Nach jetzigem Kenntnisstand kann eine spätere Zerlegung in Segmente weitgehend
ausgeschlossen werden.33 Letzte Sicherheit bringt allerdings erst eine gezielte
Befunduntersuchung.
In ihrem tektonischen Aufbau aus den tragenden Elementen Fuß und Schaft
und dem aufliegenden Funktionselement, dem Taufbecken, weisen alle Teile
eine klare, ihrer Bestimmung entsprechende Formgebung auf. Die breite
Basis trägt die Hauptlast und verteilt diese mit ihrer großen runden Standfläche auf den Boden. Aus dem 0,14 m hohen Sockelfuß erwächst eine flache
Kehle und geht in die sich verjüngende Stütze über. Diese bildet somit die
Form eines Kegelstumpfs aus. Den Übergang zwischen Basis und Stütze
markiert eine, sicher überarbeitete, etwa 2 cm breite Fuge. Am oberen Ende
des Schafts tritt eine kräftige Wulst hervor, die – neben ihrer plastischen
Erscheinung – die Auflagefläche verbreitert und vermittelnd zu dem zylindrischen, flach gewölbten Becken wirkt.
32
Die Granitkufe in Klein Schwechten ist aus einem Monolith gearbeitet. Bei kelchförmigen
Taufen sind uns keine Untersuchungsergebnisse bekannt.
33
Im Zuge einer ersten visuellen Untersuchung (14.12.2011) hat Torsten Arnold, Restaurator
beim Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt (LDA), Hinweise zu
Herstellung und Bearbeitung der Taufe gegeben. Für die schnelle fachliche Unterstützung
möchten wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken.
18
Abb. 8
Die vier Köpfe der Steinfelder Taufe
Vier nahezu vollplastisch ausgearbeitete Köpfe ragen weit aus Schaft und
Wulstring hervor (Abb. 8). Nur einer von ihnen hat Verbindung zur Kuppa,
gleichsam wie ein Träger bzw. eine Konsole.34 Alle Köpfe sind aus dem Block
des Schafts geschlagen. Erkennbare Hiebe des Beizeisens prägen die fein
ausgearbeiteten Details an Gesichtszügen, Haartracht und Kopfbedeckung.
34
Möglicherweise ist beim Versetzen der Taufe die Kuppa nicht wieder in die ursprüngliche
Lage gebracht worden, so dass die Passgenauigkeit zu den Köpfen verloren ging.
19
Bei genauer Betrachtung fällt allerdings auf, dass trotz der sehr akkuraten
Steinbearbeitung alle Köpfe identisch gestaltete Gesichtszüge aufweisen.
Pudelko spricht in diesem Zusammenhang vom Formmittel des Parallelismus.35
Abb. 9
Kopf mit Reif
Abb. 11 Kopf mit Krone
Abb. 10 Kopf mit Reif
Abb. 12 Kopf mit Kappe
In der byzantinischen Kunst bediente man sich dieser Ausdrucksform, um
Strenge und Erhabenheit hervorzuheben. Die Augen sind bei allen Steinfelder Köpfen in der seit frühromanischer Zeit üblichen Mandelform ausgeprägt. Ansatzlos geht der stilisiert wirkende Brauenbereich in den immer
gleichen, schmalen Nasenrücken über. Dieser wiederum läuft bei allen
Gesichtern auf ähnliche Weise in breite, gedrückt wirkende Nasenflügel aus.
Die kaum variierte, schmale Mundform mit leicht vorgeschobener Unter35
Wie Anm. 30, S. 140.
20
lippe und hängenden Mundwinkeln verleiht den Gesichtern einen – aus
heutiger Sicht – etwas »mürrischen« Ausdruck, könnte aber auch dem
Bedeutungsinhalt geschuldet sein. Mit einer angenommenen Fassung (s. u.)
ist von einer subtileren Mimik auszugehen. Alle Köpfe prägt zudem eine
schwellende, leicht hängend anmutende Kinnpartie. Fast könnte man glauben, die Köpfe entstammen einem Musterbuch, deren Individualisierung
mittels der Details Bart, Haare und Kopfbedeckung vorgenommen wurde.
Zwei der Köpfe tragen einen reifartigen Kopfschmuck, ein Kopf ist mit
einem Diadem oder gar einer Krone besetzt (Abb. 9–11). Diese Interpretation wird noch durch die runden Ausarbeitungen bestärkt, die sicher
als Fassungen für Schmucksteine dienten. Der vierte Kopf ist mit einer
weichen flachen Kappe bedeckt, die wie eine breite Zunge über seine Stirn
hängt (Abb. 12). Nur dieser Kopf hat streng über den Ohransatz gelegtes
Haar, die Ohrmuscheln sind überhaupt nur bei ihm sichtbar. Ihre Form hat
nichts Natürliches, sie wirken vielmehr wie angeheftet. Die Haartracht der
anderen drei Köpfe wiederum erinnert an einen Pagenschnitt, der jeweils
scharf konturiert das Gesicht rahmt und tief in die Stirn ragt.
Neben der schon im Inventar erwähnten Verschleifung der Oberfläche mit
einer Gipsschlemme, ist der Hinweis auf Farbspuren ganz wesentlich.36 Bei
näherer Betrachtung erkennt man unschwer blaue und fast überall rote
Pigmente.
Im Inneren des Beckens ist der Stein nur grob zugehauen (Abb. 13). Das
trifft gleichermaßen für den Rand wie auch den sich zur Mitte hin
senkenden Boden zu. Ferner sind hier weder Spuren einer ausgleichenden
Schlemme noch Farbreste zu sehen. Dies lässt darauf schließen, dass hier
eine Schale als Einsatz Verwendung fand. Im unweit gelegenen Ort Ristedt
hat sich ein derartiger Taufeinsatz erhalten (Abb. 14). Zudem befinden sich
am äußeren Rand des Beckens zwei in Blei eingegossene Metallösen (Abb.
6), die auf einen gleichfalls metallenen Deckel hindeuten. Vergleichbare
Gestaltungen sind in einzelnen Fällen im Original überliefert.
In der Vergangenheit fand die Taufe von Steinfeld nur wenig Beachtung. Das
Inventar der Kunstdenkmale der Provinz Sachsen von 1933 beschreibt einen
Taufstein in Pokalform aus dem 13. Jahrhundert. Dieser besteht aus drei
Sandsteinteilen, am Schaft zwei Frauen- und zwei Männerköpfe.37 In der
Neuausgabe des »Dehio« wird diese Beschreibung wiederholt.38 Auf eine
36
Hossfeld, Friedrich/Haetge, Ernst: Kunstdenkmale der Provinz Sachsen. Bd. 3: Kreis Stendal,
Burg 1933, S. 180.
37
Hossfeld/Haetge, wie Anm. 35.
38
Dehio, Georg: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Sachsen-Anhalt I, Regierungsbezirk
Magdeburg, München/Berlin 2002, S. 877 f.
21
ikonografische Bewertung verzichtete man und es fehlen Aussagen, woraus
eine Differenzierung nach dem Geschlecht abzuleiten ist. Eine genauere
Deutung wäre unter Umständen schon mit einer vollständigeren
Überlieferung der Bemalung möglich gewesen. Zweifelsfrei kann nur der
bärtige Kopf als Mann bestimmt werden. Die Physiognomie oder der individuelle Kopfschmuck lassen keine sichere Aussage zu. Im Hochmittelalter
waren Frauendarstellungen auf einen kleinen Kreis von biblischen und
Heiligengestalten begrenzt. Die Naumburger Stifterfiguren aus einem profanen Personenkreis kündigen zwar einen Umbruch an, allerdings kommt
der Platz an einem Taufgefäß nur für einen thematisch begrenzten Figurenkreis infrage. Neben alt- und neutestamentarischen, insbesondere christologischen Bildinhalten finden sich zahlreiche Beispiele mit allegorischem
Themenbezug.
Abb. 13 Steinfeld, Innenseite des Taufsteinbeckens
22
Abb. 14 Taufstein in der Kirche von Ristedt mit bronzenem Taufeinsatz
Im Zeitalter der Romanik (1050–1250) gewann die figürliche Darstellung in
der Plastik größeren Raum, in aller Regel aber architektur- bzw. objektgebunden. Gewählte Sujets waren biblische Gestalten (Propheten, Evangelisten u. a.) oder Szenen und Ereignisse (z. B. Thronende Muttergottes,
Kluge und Törichte Jungfrauen, Taufe Christi) mit sinnbildhaftem Inhalt,
der häufig Bezug zum Anbringungsort aufweist. Die aus der Kleinkunst (z.
B. Elfenbeinarbeiten), der Buchmalerei oder der Goldschmiedekunst herrührenden Einflüsse fanden im 11. Jahrhundert Eingang in die Plastik. In Italien
und allen römisch kultivierten Regionen wirkten die Einflüsse natürlich
unmittelbarer, nach und nach eroberte diese Art der Gestaltung Gebiete
Nord- und Osteuropas, ohne dass hier entsprechende Vorbilder bekannt
waren. In aller Regel entstanden dort die ersten Werke der Bildhauerkunst
unter äußerem Einfluss, welcher sich vor allem durch Künstler aus Oberitalien und dem Rheinland ergab.
23
Seit dem 12. Jahrhundert nahmen die künstlerischen und handwerklichen
Impulse aus Frankreich und den angrenzenden nördlichen Gebieten
zwischen der Normandie und dem Maasgebiet zu. Die Plastik stand zunehmend unter dem Einfluss von Bauhütten an den Kathedralneubauten wie
Chartres, Reims, Amiens und Laon.
Zahlreiche Beispiele von Taufgefäßen des 12./13. Jahrhunderts weisen
Gestaltungen auf, die unmittelbar mit dem Taufritual und dem christlichen
Heilsverständnis zu verbinden sind. Die Taufe ist gleichbedeutend mit dem
ersten Schritt des Menschen zum rechten Glauben und erst mit diesem
Mysterium eröffneten sich die Aussichten auf Erlösung und Eingang ins
Paradies. Daher steht Taufe, Tod und Auferstehung in unmittelbarem
Zusammenhang.39 Die Taufe ist das magische Ritual, für das auch das Gefäß
in Steinfeld geschaffen wurde.
Die Versinnbildlichung des möglichen Paradieses erfolgt in der Gestaltung
des Taufbeckens mit den vier Köpfen. In Zentren der romanischen Bildhauerkunst, im belgischen Tournai und in Namur, entstanden beispielsweise
die archaisch anmutenden Taufen für die Kirchen in Laon40 und Gosnes.41 In
Köln ist eine pokalförmige Taufe mit einem ähnlichen Formenrepertoire
ausgestattet (vier Masken zwischen Löwenreliefs). All diese etwas grob
wirkenden Stücke haben zylindrische Becken und plastisch ausgearbeitete
Köpfe. Eine erheblich elegantere Arbeit hat sich in Archennes (Abb. 15)
erhalten.42 In der Detailbehandlung von Haaren, Gesichtszügen und vor
allem mit der Darstellung eines gekrönten Hauptes weist die Taufe gewisse
formale Bezüge zu Steinfeld auf.
Die Fünte im Dom zu Hildesheim stammt aus der Zeit um 1220/30. Hier
strömt Wasser aus Amphoren, die von antik anmutenden Trägerfiguren
gehalten werden. Eine der Figuren ist wie in Steinfeld als Bärtiger wiedergegeben. Der Topos mit vier Figuren oder Köpfen als Allegorie auf die Paradiesflüsse hielt seit der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts Einzug in die Bildgestaltung an Taufgefäßen. Auch in Mitteldeutschland finden sich Beispiele
für Taufen mit derartigen Bildwerken.
Die Kirche in Nedlitz bei Leitzkau besitzt einen Taufstein mit jetzt drei,
ehemals vier Trägerfiguren. Im Dom zu Merseburg sind im Sockelrelief die
Paradiesflüsse dargestellt. Im Bremer Dom reiten vier Trägerfiguren auf
Löwen, während in Brandenburg grazile stehende Figuren die Bronzefünte
tragen.
39
Pudelko, wie Anm. 30, S. 129.
Pudelko, wie Anm. 30, S. 129.
41
Pudelko, wie Anm. 30, Taf. V, 4.
42
Pudelko, wie Anm. 30, Taf. VII, 2.
40
24
Abb. 15 Archennes/Belgien, Kuppa der Taufe mit bekröntem Haupt
Abb. 16 Isterbies, Taufstein mit
Fries und Fassung
Abb. 17 Zeddenick, Taufstein mit
Fassung
Die christliche Ikonografie, die sich auf die alttestamentarische und diese
wiederum auf die ältere persische Tradition bezieht, geht von vier Paradiesflüssen aus. Phison, Geon, Tigris und Euphrat sind die vier Teile des Stromes, welcher das Paradies bewässert.43 Als Synonym der Paradiesflüsse gilt
die Verbreitung der Evangelien, die das Wort Gottes in die Welt tragen. Da
die Taufe immer auch der Reinigung vom Irrglauben und der Überwindung
43
Lexikon der Christlichen Ikonographie, Freiburg i. Br. 1971, Ausg. 1994, Bd. 3, S. 382 f.
25
teuflischer Mächte diente, vor allem in der personifizierten germanischen
Götterwelt, kam der Abwehr des Bösen außerordentliche Bedeutung zu.
Daher wurden häufig Ungeheuer und starre Masken an Taufen angebracht,
die apotropäische Wirkung entfalten sollten.44 Folgt man dieser Interpretation, dann hat der Schöpfer der Steinfelder Taufe – wie andere Künstler
seiner Zeit – eine Summe bildhafter Visionen in einer abstrakten Form
vereint, deren Inhalt den Gläubigen geläufig war und der sie emotional stark
berührte.
Mittelalterliche Taufen wurden fast ausschließlich aus Metall oder Stein
gefertigt.45 Das vorgestellte Taufgefäß gehört zu den aus Naturstein
gearbeiteten Exemplaren. Neben häufig verwendeten Materialien Sandstein
und Granit finden sich Beispiel aus Kalkstein und verputztem oder
überfasstem Backstein in den Landkirchen der Altmark. Allerdings besteht
die Taufe in Steinfeld nicht aus Sandstein, wie »Inventar« und »Dehio«
angeben, sondern aus einem grauen, sehr grob strukturierten Kalkstein.46
Untersuchungen zum Herkunftsort des verwendeten Steinmaterials haben
bisher zu keinem gesicherten Ergebnis geführt.47 Augenscheinlich vergleichbares Material verwendete der Steinmetz in Jeeben. Dieser folgte aber einer
anderen stilistischen Tradition. Während in Steinfeld ein sehr flaches
zylindrisches Becken geformt wurde, hat die Jeebener Taufe eine hohe
Kuppa, die deutlich mehr der Pokalform entspricht. An ihr ist keine gemalte
oder plastische Dekoration erkennbar, was nicht bedeutet, dass es in der
Vergangenheit keinen Schmuck gab. Wie vielfältig man sich solche Dekorationen vorstellen muss, zeigen die romanische Taufe in Wallwitz mit
Bogenfries am Beckenrand, von Isterbies mit Akanthusrelief und roter
Fassung (Abb. 16) sowie die frühgotische Fünte in Zeddenick mit Ornamentfries und einer markanten Marmorierung (Abb. 17). Die schon erwähnte
Taufe in Ristedt besitzt mit einem kleinen Kreuzigungsrelief an der
Vorderseite, eines der wenigen Beispiele von Figurenschmuck aus spätromanischer Zeit in der Region. Mithin ist dies auch Zeugnis der archaischen
44
Pudelko, wie Anm. 30, S. 129.
Reinle, Adolf: Die Ausstattung deutscher Kirchen im Mittelalter, Darmstadt 1988, S. 32.
46
Hossfeld/Haetge, wie Anm. 35; Dehio, wie Anm. 37.
47
Eine erste Analyse durch Frau Dr. Jeannine Meinhardt vom Institut für Diagnostik und
Konservierung an Denkmalen in Sachsen und Sachsen-Anhalt e. V. (IDK) hat kein
zweifelsfreies Ergebnis erbracht. Ihr sei an dieser Stelle für die kurzfristige Unterstützung
herzlich gedankt. Die geringen Kalksteinvorkommen in der Altmark, in Brüchen bei
Altmersleben, kommen wegen ihrer Zusammensetzung nicht in Betracht. Die durch
weitreichende Exporte im Hoch- und Spätmittelalter gestreuten gotländischen Varietäten
bedürfen weiterer Überprüfung.
45
26
Formensprache, die weder auf ein tradiertes Repertoire noch auf bildhauerisch geschulte Handwerker zurückgreifen konnte (Abb. 18).
Abb. 18 Taufstein in der Kirche von Ristedt mit Kreuzigungsrelief auf der Kuppa
Abb. 19 Altenkirchen, Taufstein, 2012
Abb. 20 Altenkirchen, Taufstein, nach Westen gerichteter Kopf mit Spuren einer
graublauen Schlemme
27
Auf Fassungsreste an der Taufe in Steinfeld wurde schon hingewiesen.1 Sie
deuten auf eine Farbgebung, die den gesamten sichtbaren Außenbereich des
Steins umfasste. Bemerkenswert ist der Umstand, dass die Taufe vor ihrer
Bemalung geglättet wurde. Das bedeutet, dass das wertvolle Natursteinmaterial mit einer Stuckschlemme überzogen und geschliffen wurde, um eine
saubere und leichter zu bearbeitende Oberfläche bzw. einen Malgrund zu
erhalten. Dass dieser Arbeitsschritt nicht nur die planen Flächen betraf,
sondern auch die plastischen Bereiche, kann man gut an dem Wulstring, aber
mehr noch an den Köpfen erkennen. Sicher folgte die Ausführung einem
bestimmten Schema im Arbeitsablauf. Aufgrund einer Reihe von ähnlich
gestalteten Taufen ist anzunehmen, dass es sich um ein Auftragswerk
handelte, bei dem ein versierter Bildhauer auf bekannte Motive zurückgriff.
Seine künstlerische Ausdruckskraft ermöglichte ihm allerdings eine sehr
individuelle Umsetzung.
Der Typus der pokalförmigen Taufe trat ab dem frühen 12. Jahrhundert auf
und verbreitete sich dann schnell in ganz Europa. Das Motiv mit Köpfen
tauchte in der Mitte des 12. Jahrhunderts vermehrt in Namur im heutigen
Belgien auf, wo die romanische Bildhauerkunst im Maasgebiet eine frühe
Blüte erlebte. Zahlreiche Taufen aus Metalllegierungen und Stein sind für
diese Region, das angrenzende Nordfrankreich, das Rheinland, England und
den Nordseeraum belegt. In Schleswig-Holstein gibt es eine Anzahl von
Taufsteinen, die ihre Entstehung Werkstätten an Maas und Rhein
verdanken bzw. aus gotländischer Provenienz stammen.48 Mit Sicherheit
fand ein befruchtender Austausch zwischen den Regionen statt. Darauf
hingewiesen haben schon Raphael Ligtenberg und Adolph Goldschmidt.49
Georg Pudelko kommt das Verdienst zu, in einer ersten großen
Zusammenschau des Themas die vielen regionalen Untersuchungsergebnisse
und fachwissenschaftlichen Erkenntnisse im Kontext betrachtet und kritisch
ausgewertet zu haben.
Für Gotland hat Johnny Roosval 1918 in einer grundlegenden Studie die
stilistische Verbindung von dortigen Bildhauerwerkstätten aufgezeigt, die in
der Nachfolge der Bauhütte des Doms von Lund standen.50 Deren intensive
48
Sauermann, Ernst: Die mittelalterlichen Taufsteine der Provinz Schleswig-Holstein, Flensburg
1904.
49
Ligtenberg, Raphael: Die romanische Steinplastik in den nördlichen Niederlanden. T. 1: Die
Reliefplastik und der Bauornamentik erster Teil, Den Haag 1918; Goldschmidt, Adolph:
Romanische Plastik, in: Clemen, Paul (Hrsg.): Belgische Kunstdenkmäler, München 1923.
50
Roosval, Johnny: Die Steinmeister Gottlands. Eine Geschichte der führenden
Taufsteinwerkstätte des schwedischen Mittelalters, ihrer Voraussetzungen und
Begleiterscheinungen, Stockholm 1918.
28
Kontakte zur aufstrebenden Hanse, die in Visby einen bedeutenden Stützpunkt unterhielt, bewirkte die Verbreitung ihrer Bildwerke im gesamten
Ostseeraum. Die reich gestalteten Arbeiten der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts können hier nur wegen der Entwicklung des Kelchtyps mit
zylindrischem Becken von Interesse sein. Sie sind überwiegend aus weichem,
gut zu bearbeitendem Sandstein hergestellt. Erst um 1200 wurde bevorzugt
härterer Kalkstein verwendet, der schwierigere Bearbeitungsmöglichkeiten
bot, sich dafür aber eher für geglättete bis polierte Steinoberflächen eignete.
Roosval sieht darin eine Entwicklung zur gotischen Formensprache, die
Mitte des 13. Jahrhunderts figurenlose Pokaltaufen mit muschelförmiger
Kuppa hervorbrachten (z. B. Böel, Schleswig-Holstein, nach 1230).51
Demnach gehört die Taufe in Steinfeld einem Übergangsstil an, der noch den
zylindrischen Kuppatyp und eine stark reduzierte, figürliche Dekoration
besaß. Roosval schreibt einige dieser Arbeiten einem »Calcarius« bezeichneten Bildhauer zu.52 Dass der Taufentypus mit zylindrischer Kuppa und
Köpfen an der Stütze eine Zeit lang sehr beliebt war, belegen Beispiele aus
Attmar und Stöde (Schweden), Satorp (Schleswig-Holstein) und Vaale
(Norwegen).53
Ein bemerkenswertes Werk, das ebenfalls zu diesem Typus gehört, ist der
Taufstein von Altenkirchen/Rügen (Abb. 19).54 Dieser zeigt vier
Maskenköpfe, die als Allegorien der Paradiesflüsse gedeutet werden. Als
Material fand wie in Steinfeld ein grauer Kalkstein Verwendung. Reste einer
blauen Farbfassung sind an den Steinoberflächen beider Taufen zu
erkennen. Ob in Altenkirchen das gleichfalls stark geklüftete Material mit
einer Stuckschlemme geglättet wurde, kann nur eine restauratorische
Analyse klären. Die Köpfe in Altenkirchen sind zwar am Kupparand
angeordnet, stehen den Steinfeldern aber qualitativ in nichts nach. Das
Becken, obwohl etwas kleiner, weist ähnliche Proportionen, einen vergleichbaren formalen Aufbau bis hin zu bemerkenswerten Detailanalogien wie der
scharf konturierten, zylindrischen Kuppa mit flacher Wölbung auf. Die
Köpfe stehen in Altenkirchen weit aus dem Beckenrand hervor (Abb. 20).
Wie in Steinfeld sind auch hier die Köpfe streng nach vier Seiten ausgerichtet, ohne untereinander einen Bezug aufzuweisen. Zwei der Altenkirchener Gesichter wenden sich auf eigentümliche Weise aus der starren
Blickachse, was an eine stilistische Weiterentwicklung denken lässt. Übereinstimmend wirkt dagegen die formale Stilistik der schematisch aufge51
Roosval, wie Anm. 49, S. 198.
Roosval, wie Anm. 49, S. 197.
53
Roosval, wie Anm. 49, S. 197, 201, Taf. LXI 4.
54
Ohle, Walter/Baier, Gerd: Die Kunstdenkmale des Kreises Rügen, Leipzig 1963, S. 65.
52
29
bauten Köpfe, die nur durch die individuelle Haartracht unterschieden sind.
So ist die Mimik auch hier bei allen Figuren nahezu gleich, die Mundwinkel
sind allerdings zu einem ‚gefrorenen Lächeln‘ nach oben gezogen. Beide
Taufsteine besitzen einen Bartträger, aber im Unterschied zu Steinfeld sind
alle Köpfe der Taufe in Altenkirchen ohne Kopfbedeckung dargestellt. Die
geringen formalen Abweichungen lassen auf eine zeitnahe Entstehung der
beiden Steinbildwerke schließen. Das offensichtlich vergleichbare Herangehen an die Umsetzung des ikonographischen Programms legt eine
Herkunft, zumindest aber eine gemeinsame Schule der Bildhauer nahe.
In Ermanglung von inschriftlicher Datierung oder anderer Quellen zum
Gegenstand konnte nur über formale und stilistische Merkmale eine
Annäherung an die Entstehungszeit erfolgen, Gleiches gilt für die Herkunft.
Verbindet man die Errichtung der Kirche (1218d) mit der Anfertigung der
Taufe, so wäre von einer Entstehung um 1220/25 auszugehen. Ob das Werk
überhaupt für die hiesige Kirche angefertigt worden ist, bleibt ungewiss.
Rein formal gehört die stark stilisierte, fast vollplastische Ausbildung der
Maskenköpfe in die hochromanische Bildwelt des mittleren 12. Jahrhunderts, während die Gefäßform selbst schon eine Weiterentwicklung des
Kelchmotivs des 13. Jahrhunderts verkörpert.
Zweifellos ist die Taufe von Steinfeld für die Altmark in jeder Beziehung
ungewöhnlich. Da wäre zunächst das Material, das in der notwendigen
Qualität in der natursteinarmen Altmark nicht zu finden war. Die
Materialbehandlung mit einer bis ins Detail fein bearbeiteten Steinoberfläche
findet in den Dorfkirchen der Region keine Parallele. Schließlich fällt die
Gestaltung des Taufsteines selbst aus dem üblichen Rahmen. Auffallend sind
die ausgewogenen Proportionen des Steinwerks und die bildnerische
Qualität der Köpfe. Es ist daher kaum vorstellbar, dass ein lokaler Handwerker in der zeit- und ortsbezogen noch sehr bilderarmen Welt zu
derartigen Schöpfungen gekommen ist. Vermutung kann nur bleiben, ob ein
auswärtiger Künstler Anfang des 13. Jahrhunderts an einem der großen
Domprojekte in Stendal, Halberstadt oder Magdeburg tätig war und sein
Können auch anderen Auftraggebern zur Verfügung stellte. Rein formal
weisen Material, Formensprache und Gestaltungsmerkmale auf eine skandinavische Herkunft, am ehesten nach Gotland, wo es seit der Mitte des 12.
Jahrhunderts mehrere Werkstätten mit weit überregionaler Ausstrahlung
gab. Wenn auch nicht vorbildlich, so doch bei Material, Steinbehandlung,
Formgebung und Ikonografie steht der Taufstein in Altenkirchen auf Rügen
zur Steinfelder Taufe in enger Beziehung.
30
Abbildungen
LDA: 1, 4 (Fotoarchiv), 2, 3, 5–6, 8-13, 15-17, 19-20 (Falko Grubitzsch)
Ulf Frommhagen, Seethen: 7, 14, 18
Pudelko, wie Anm. 30, Taf. VII, 2: 14
31
Leveke von Mengersen geb. Schenk von Flechtingen
(1564-1644)
Eine altmärkische Adelige im weserländischen Exil
von Bernd-Wilhelm Linnemeier
„...von wegen der liebe so ich zu meinem stammen und geschlechte der
Schencken drage...“1
1. Vorbemerkung
Das im Jahre 1853 mit Carl Jacob Friedrich von Schenck2 ausgestorbene
ältere Haus der Schenken von Flechtingen3 ist bis dato keiner ernst zu nehmenden historischen Betrachtung unterzogen worden, wenngleich historiographische Bemühungen hinsichtlich dieser hochangesehenen Adelsfamilie
der südlichen Altmark bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückreichen, um im frühen 19. Jahrhundert nochmals aufgenommen zu werden.
Die entsprechenden Passagen bei Samuel Walther4 oder bei Peter Wilhelm
Behrends5 dürften zwar angesichts ihres mehr oder minder hohen Gehalts an
legendären bzw. spekulativen Elementen aus heutiger Sicht kaum noch als
zitierfähig gelten; gleichwohl scheint sich ihre unkritische Rezeption und der
1
Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Bückeburg (im Folgenden abgek. „StABÜ“),
Dep. 6, GH, A, Nr. 105, Testament der Leveke v. Mengersen geb. Schenk von Flechtingen, 1617
Januar 10 (notariell beglaubigte Abschrift d. 17. Jhs.), unpaginiert. Da Leveke das – offenbar
verlorene – Original ihres Testaments nach eigener Angabe selbst verfasst hat, besteht kein
Zweifel daran, dass auch die oben angeführte Passage kaum als Schöpfung eines beratenden
Juristen, sondern als ihre eigene Formulierung gelten kann.
2
Gothaisches genealogisches Taschenbuch der Uradeligen Häuser, Jg. 18, 1917, S. 777-780; hier:
S. 780.
3
Die aus außerehelicher Verbindung hervorgegangene briefadelige Nachkommenschaft des
preußischen Generalleutnants a.D. Wilhelm Friedrich von Schenck (1730-1811), durch
Adelslegitimation 1788 November 11 mit dem Namen „von Schenck“ versehen (Gothaisches
Genealogisches Taschenbuch der Briefadeligen Häuser Jg. 12, 1918, S. 751-52), sowie die erst
durch Namens- und Wappenänderung zu dem Namen „von Schenck“ gelangten Nachkommen
des Generals von Peucker (Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Briefadeligen Häuser
Jg. 11, 1917, S. 749) können hier außer Betracht bleiben.
4
Samuel Walther, Magdeburgische Merckwürdigkeiten [...], Teil VII, Magdeburg/Leipzig 1737,
S. 112-150.
5
Peter Wilhelm Behrends, Neuhaldenslebische Kreis-Chronik oder Geschichte aller Oerter des
landräthlichen Kreises Neuhaldensleben im Magdeburgischen, Teil 2, Neuhaldensleben 1826, S.
129-160.
32
Rückgriff auf fragwürdige familienhistorische Elaborate der 1930er Jahre6 zu
einer lokalen Gepflogenheit ausgewachsen zu haben7.
Eine knappe Skizze zur älteren Geschichte der Schenken dürfte daher als
Einführung sinnvoll sein, bevor mit Leveke von Mengersen geb. Schenk von
Flechtingen eine frühneuzeitliche Exponentin der Familie in den Mittelpunkt dieser Arbeit tritt.
Die Schenken, deren historische Präsenz seit dem Jahre 1196 als gesichert
gelten kann8, während ältere, bislang unbeachtete Spuren innerhalb der
urkundlichen Überlieferung bis in das erste Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts
hinaufreichen mögen9, zählten zum landsässigen Adel einer „vielherrigen“
Übergangsregion, innerhalb derer sich der spätmittelalterliche Territorialisierungsprozess vor dem Hintergrund rivalisierender Mächte wie des Erz6
Gemeint ist jene zweiteilige Arbeit der Maria von Schenck geb. von Roux, die unter dem Titel
„Die Schencken-Chronik – ein Sippenschicksal aus der Altmark“ erstmals 1936 in BerlinHermsdorf erschien und, nachdem alle „lesbaren Exemplare“ aus naheliegenden Gründen
vernichtet worden waren, 1965 in Bad Neuenahr erneut zu Drucke kam. Die Verfasserin dieses
ideologisch überfrachteten Werkes gehörte durch Heirat dem 1788 legitimierten Zweig der
Familie (s.o. Anm. 3) an.
7
In diesem Zusammenhang ist zunächst der weitestgehend von der „Schencken-Chronik“
abhängige Friedrich Draffehn zu nennen (Ders., Chronik Luftkurort Flechtingen, o.O. 2003, S.
33-45 inklusive einer S. 46-48 angehängten Stammtafel von Kurt Buchmann); sodann sind die
lokalgeschichtlichen Aufzeichnungen des Flechtinger Pfarrers Hermann Willing anzuführen,
die im Jahre 2011 von der Kirchengemeinde Flechtingen herausgegeben wurden (Auf steinigem
Grund – Flechtinger Chronik des Pastor Willing mit Fotografien von Albert Jennrich, hrg.
anlässlich der 1050-Jahr-Feier von Flechtingen durch die Evangelische Kirchengemeinde
Flechtingen, o.O., 2011). Ohne die Qualität der Willing’schen Aufzeichnungen als
zeitgeschichtliche Quelle für das 19. Jahrhundert in Abrede stellen zu wollen, muss auf die
deutlichen methodisch-inhaltlichen Schwächen seiner Ausführungen zur lokalen
Adelsgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit und seine Abhängigkeit vor allem von
Behrends sowie die vielfach fehlerhaften Quellenangaben hingewiesen werden.
8
Und zwar mit Alvericus de Donstede 1196 und 1216 (Gustav Schmidt (Bearb.),
Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe, Teil 1-4, Leipzig 1883-1889 (im
Folgenden abgek.: UBHBS I usw.), hier: I, S. 333, Nr. 371, ad 1196 sowie S. 439, Nr. 494 ad
1216 [jeweils als ministerialer Zeuge bischöflicher Urkk. an bevorzugter Stelle]). Auch um 1210
erscheint „Alvricus de Tonstete“ im Gefolge Bischof Friedrichs von Halberstadt (Urkundenbuch
des Augustinerchorfrauenstifts Marienberg b. Helmstedt, bearb. durch H.-R. Jarck (im
Folgenden abgek.: UB Marienberg), Hannover 1998, S. 24-25, Nr. 10, undat.).
9
Angesichts der bei den mittelalterlichen Schenken unübersehbaren Dominanz des Leitnamens
Alvericus ist mit Blick auf die Frühzeit des Geschlechts eine Corveyer Urkunde von 1106 im
Auge zu behalten, wonach sich damals u.a ein Freier namens Alvericus mit Einverständnis
seines Vaters Reding und seines Großvaters Alvericus sowie seiner beiden Onkel namens
Alvericus und Adelbertus in den Dienst der von Corvey abhängigen Kirche Gröningen begibt
(UBHBS I, S. 85-86, Nr. 123 ad 1106). Genannt werden in diesem Zusammenhang Güter in
Dalethorp (bei Kroppenstedt) und Horslevi (Harsleben?). Dieses Stück ist umso mehr von
Wichtigkeit, als wir die Schenken noch bis zum Jahre 1296 als Corveyer Lehnsleute antreffen
(Regest: UBHBS II, S. 579, Nr. 1660 ad 1296), die dem Kloster damals zwei Hufen in Wiby bei
Wegeleben zugunsten des Hochstifts Halberstadt aufließen.
33
stifts Magdeburg, des Stifts Halberstadt, der welfischen Herzogtümer Braunschweig und Lüneburg, der Markgrafschaft Brandenburg sowie einiger gräflicher Häuser nur langsam vollzog und, wie die spätere Existenz zahlreicher
Exklaven zeigt, unvollkommen blieb10. Durch den Lehnsbesitz u.a. des
zunächst namengebenden Stammhauses Dönstedt11 sahen sich die Vorväter
der Schenken offenbar zunächst dem Erzstift Magdeburg verbunden12; das
seit 1234/35 als erbliches Lehen der Herren von Dönstedt nachgewiesene
Schenkenamt des Hochstifts Halberstadt13 inklusive der zugehörigen Güter
hatte die dauerhafte Übernahme dieser Amtsbezeichnung als Teil des Familiennamens zur Folge. Als Vasallen der in der Region begüterten Grafen von
Schwerin lassen sich Angehörige des Geschlechts seit den 70er Jahren des
13. Jahrhunderts ebenso beobachten14 wie schon zu Beginn der 1280er Jahre
im Umfeld der Grafen von Regenstein15. Mit dem Aussterben der Regensteiner und dem Heimfall der Grafschaft an das Haus Braunschweig ging die
10
Etwa Burg und Amt Oebisfelde als Magdeburger Exklave im brandenburgischen
Hoheitsgebiet, die erst spät unter welfische Oberherrschaft gelangte, die zuvor brandenburgische
Wolfsburg der v. Bartensleben, das braunschweigische Klötze oder das halberstädtische
Weferlingen nordnordöstlich von Helmstedt (vgl. u.a. Wolfgang Podehl, Burg und Herrschaft in
der Mark Brandenburg – Untersuchungen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte unter
bes. Berücksichtigung von Altmark, Neumark und Havelland, Köln u.a. 1975 (Mitteldeutsche
Forschungen 76), S. 159 sowie Berent Schwineköper, Hdb. d. Historischen Stätten Bd. 11
(Provinz Sachsen-Anhalt), Stuttgart 1975, S. 241-242; 351-352).
11
Der im Schenkungsdiplom Ottos I. 961 erstmals greifbare Ortsname Dönstedt (MGH DD O I,
Nr. 232 ad 961 Juli 29) wurde im Jahre 1950 in Bebertal II geändert und ist seitdem aus den
amtlichen Verzeichnissen verschwunden. Das historische Kernstück des Dorfes, bestehend aus
Kirche und Gutsanlage, bietet gegenwärtig ein Bild fortschreitenden Zerfalls, der offenbar erst
um 1989 einsetzte (vgl. dagegen: Marie-Luise Harksen u.a., Die Kunstdenkmale des Kreises
Haldensleben, Leipzig 1961, S. 200-208).
12
Die älteren Lehnsverhältnisse der Schenken liegen für Dönstedt allerdings noch im Dunkeln.
Erst für das Jahr 1500 wird eine summarische Beschreibung der eigentlichen Gütersubstanz
greifbar, die dem Jacob Schenk damals nach ihrer Wiedereinlösung aus Gläubigerhand durch
den Magdeburger Dompropst Adolf von Anhalt erneut verliehen wurde (Behrends,
Kreischronik 2 (wie Anm. 5), S. 136 ad 1500 August 25) und von nun an bis zu deren
Aussterben bei der Familie blieb. Lehen der Erzbischöfe von Magdeburg lassen sich für die
Schenken seit der Regierungszeit Albrechts II. (1368-1371) u.a. in Domersleben, Groß
Drakenstedt, Haldensleben, Hundisburg, Nord- und Hohendodeleben nachweisen (Gustav
Hertel (Bearb.), Die ältesten Lehnbücher der Magdeburgischen Erzbischöfe, Halle 1883
(Geschichtsquellen der Provinz Sachsen Bd. 16), S. 55.
13
UBHBS I, S. 565, Nr. 636 ad 1234 Juni 19 sowie S. 570-71, Nr. 643, ad 1235 Juni 1.
14
UB Marienberg, S. 86-87, Nr. 95, ad 1273 Juli 9 (Erxleben). Hiernach verkaufen die Gebrüder
Heinrich und Alverich Schenk dem Stift Marienberg damals 8 Hufen in Kl.-Hakenstedt (Lehen
des Gfn. Gunzelin, um deren Auflassung sie sich bemühen wollten). Auch in der zeitlich
zwischen 1276-1299 liegenden Lehnrolle der Gfn. von Schwerin treten Johannes und Albericus
de Donstede als Inhaber von Lehen in Klein Wanzleben, in Remekeresleve und Klein
Hakenstedt in Erscheinung (Wilhelm Frhr. v. Hammerstein, Die Besitzungen der Grafen von
Schwerin am linken Elbufer [...], in: Zs. d. Hist. Vereins f. Niedersachsen, Jg. 1857, S. 13-14).
15
UB Marienberg, S. 103 ad 1283 April 23.
34
erst spät fassbare Lehnsherrschaft der Grafen gegenüber den Schenken auf
die Herzöge zu Braunschweig-Wolfenbüttel über16.
Erste Kontakte der Halberstädter Erbschenken zu den askanischen Markgrafen von Brandenburg lassen sich 1273 feststellen und in der Folgezeit
scheinen sich die Beziehungen intensiviert zu haben, um sich von 1314 bis
zur Mitte des 14. Jahrhunderts wiederum spürbar zu lockern17. Die Gründung der Burg Flechtingen vor 1308 dürfte jedoch, wie Wolfgang Podehl zu
Recht gegen die nicht zu verifizierenden Vermutungen der älteren Literatur
annimmt, kaum auf brandenburgischem Lehngut, sondern auf Eigengut der
Schenken erfolgt sein18. Dieser Sachverhalt würde eine spätere Lehnsauftragung der Burg zugunsten Brandenburgs vor 1375 nicht ausschließen,
selbst wenn sich die Herren auf Flechtingen möglicherweise zuvor vorübergehend den Lüneburger Herzögen angenähert haben sollten19.
Die bis hierhin nur grob skizzierte „Mehrfachvasallität“ kann als Charakteristikum u.a. der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Schenken angesehen
16
Als Regensteiner Lehen sämtlicher Linien der Schenken werden ab 1569 Güter und Rechte in
Domersleben, Aumersleben (Emersleben?), Wiedringen (?) und Steinforde (wohl zw.
Haldensleben und Satuelle) greifbar (Georg Hermann Müller, Das Lehns- und Landesaufgebot
unter Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel, Hannover/Leipzig 1905, S. 425 (Quellen
und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens Bd. XXIII)); die weiteren, offenbar den
Schenk’schen Nebenlienien Hasselburg und Lemsell zustehenden Lehen regenstein‘schen
Ursprungs (Müller, wie vor, S. 425-426) können hier übergangen werden.
17
Hier ist auf die Nähe des Heinrich Schenk von Flechtingen zu Markgraf Hermann und dessen
unmündigem Sohn Johann V. ebenso hinzuweisen wie auf die jähe Abkehr u.a. der Schenken,
der v. Alvensleben, v. Kröcher und v. Wanzleben von Johann V. und ihr Bündnis mit Dänemark
(Podehl (wie Anm. 10), S. 157-162). Dem Hochstift Halberstadt blieben die Flechtinger u.a.
durch die Übernahme der Pfandschaft Schwanebeck 1328 verbunden (UBHBS III, Nr. 2200;
siehe dazu: Michael Scholz, Der Bischof als Landesherr. Zur Entwicklung des Hochstifts
Halberstadt zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Territorium, in: Harz-Zeitschrift,
63. Jg., 2011, S. 25-50; hier: S. 34).
18
Podehl (wie Anm. 10), S. 635. Er wendet sich damit zu Recht gegen Behrends, der
romantisierend von einer Belehnung der Schenken für die den Markgrafen erwiesenen treuen
Dienste fabuliert (Behrends, Kreis-Chronik 2 (wie Anm. 5, S. 147); eine Darstellung, die auf
lokaler Ebene begeistert kolportiert wurde (Willing (wie Anm. 7), S. 21).
19
Peter Michael Hahn, Fürstliche Territorialhoheit und lokale Adelsgewalt. Die herrschaftliche
Durchdringung des ländlichen Raumes zwischen Elbe und Aller (1300-1700), Berlin/New York
1989 (Veröffentlichungen der HiKo zu Berlin, Bd. 72), S. 61. Die auf Podehl (wie Anm. 10), S.
159 zurückgehende Feststellung Hahns ist, soweit sie das Fehlen der Schenken in
markgräflichen Urkunden zwischen 1314 und 1351 betrifft, durchaus nachvollziehbar; der bei
Hahn S. 159, Anm. 72 genannte Barthold Schenk dürfte zwar dem Gesamthaus angehört, aber
in keiner Beziehung zu Flechtingen gestanden haben. Wichtiger scheint da schon der von Hahn
offenbar übersehene Weferlinger Dienstvertrag der beiden Flechtinger Schenken Johann und
Heinrich gegenüber den Herzögen Otto und Wilhelm von Lüneburg aus dem Jahre 1327 (siehe
Anm. 21).
35
werden20, die mit der Anlage eines festen Hauses auf dem Grauwackefelsen
im Flechtinger See (Abb. 2) nicht nur die Voraussetzung erfolgreicher
Herrschaftsverdichtung im räumlichen Umfeld ihres von nun an namengebenden Hauptsitzes schufen21, sondern damit auch in die innerhalb des
regionalen Adels besonders herausgehobene Gruppe der beschlossten
Geschlechter aufstiegen22. Auf die wohl zu Beginn des 14. Jahrhunderts
längst vollzogene, in ihrem Ablauf bis dato völlig unklare Aufteilung des
Geschlechts in wenigstens zwei Linien sei hier nur der Vollständigkeit halber
hingewiesen23. Wichtiger ist der Sachverhalt, dass die Schenken von
Flechtingen neben ihrem namensgebenden Halberstädter Hofamt spätestens
seit dem Jahre 1442 auch das Erbkämmereramt der Kurmark innehatten24.
Als herausragende Figuren des 15. Jahrhunderts sind in diesem Zusammenhang die urkundlich erstmals 1439 auftretenden Gebrüder Rudolf und
Werner Schenk zu nennen25. Beide gehörten 1443 zu den ersten Rittern des
20
Vgl. mit Blick auf die den Schenken in dieser und sonst vielerlei Hinsicht vergleichbaren v.
Alvensleben Hahn (wie vorige Anm.), S. 51-80.
21
Bezeichnend für den selbstgewählten und rasch vollzogenen Namenswechsel ist die Urkunde
der beiden Brüder Heinrich und Johann Schenk von Flechtingen, durch die sie sich mit ihrem
offenbar pfandweise gehaltenen Anteil des Schlosses Weferlingen 1327 für drei Jahre in die
Dienste der Herzöge Otto und Wilhelm von Lüneburg begeben. Während sie im Text als
„Hinrik un[de] Johan broedere gheheten de Schenken van Vlechtighe“ erscheinen, lautet die
Siegelumschrift Johanns noch „S[igillum] Johannis pincerne de Donstede“ (H. Sudendorf,
Urkundenbuch der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg und ihrer Lande, (im Folgenden
abgek. „UB Herzöge“), Teil I, S. 234, Nr. 430 ad 1327 Juni 7; dort das ‚Donstede‘ als ‚Dorstede‘
verlesen).
22
Zum schlossgesessenen Adel der Altmark: Podehl (wie Anm. 10), S. 200-212.
23
Zumindest lässt das Halberstädter Lehnregister von 1311 (Adolph Friedrich Riedel, Codex
diplomaticus Brandenburgensis, Berlin 1838-1869 (im Folgenden abgek.: ‚Riedel, CDB‘), A
XVII, S. 448) eine solche Trennung erkennen, die sich in der Vergabe unterschiedlicher
Güterkomplexe an das Brüderpaar Hinricus und Alvericus pincernae de Donstede (=die hier
noch mit ihrem früheren Herkunftsnamen auftretenden und zu gesamter Hand belehnten
Erbauer der Burg Flechtingen) einerseits sowie an Hinricus pincerna de Emersleve andererseits
ausdrückt, wobei letzterem als dem damals offenbar ältesten Vertreter des Hauses u.a. das
Halberstädter Schenkenamt inklusive der zugehörigen Güter und Rechte verliehen wurde.
24
Riedel, CDB, A XXV, S, 324, Nr. 200 ad 1442. Die durch Podehl (wie Anm. 10), S. 160 unter
Rückgriff auf regionale Burgenliteratur ins Spiel gebrachte und noch jüngst durch Winkelmann
übernommene Zahl 1414 (Jan Winkelmann, Die Mark Brandenburg des 14. Jahrhunderts [...],
Berlin 2011 (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 5), S. 308)
hat sich bis dato nicht verifizieren lassen. Ich danke Herrn Dr. Christoph Volkmar,
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Magdeburg, Standort Wernigerode, für seine prompte
Auskunft auf eine entspr. Anfrage betr. den Urkunden-Bestand des dort bewahrten Archivs von
Schenck (E 76).
25
Und zwar damals zusammen mit zwei weiteren, offenbar jung verstorbenen Brüdern
(Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Wolfenbüttel (im Folgenden abgek. „StAWO“),
23 Urk 317, ad 1439 Januar 20). 1449 leben nur noch der sich inzwischen als Ritter
bezeichnende Rudolf und sein Bruder Werner (UB Marienberg, S. 348-349, Nr. 414, ad 1449
Mai 4).
36
Schwanenordens26; Rudolf tritt außerdem zwischen 1444 und 1467 als
brandenburgischer Rat27 sowie zeitweilig gemeinsam mit dem Bruder
Werner als Pfandherr auf Plaue sowie auf dem magdeburgischen Altenhausen in Erscheinung28. 1474 wird er letztmalig greifbar und war 1498
wohl schon seit Längerem nicht mehr am Leben29.
Rudolf ist es offenbar nicht gelungen, seine offenkundige Dynamik in
politisch-wirtschaftlicher Hinsicht an seine Nachkommen weiterzugeben,
denn die Exponenten der folgenden drei Generationen der Flechtinger
Schenken traten, soweit bislang erkennbar, innerhalb der umrissenen Tätigkeitsfelder kaum in Erscheinung. Bereits unter Rudolfs drei Söhnen30 tritt
ein Phänomen auf, welches für jene Linie der Schenken, in deren Hand sich
u.a. drei Viertel des Hauses Flechtingen befanden, während des gesamten 16.
Jahrhunderts beinahe symptomatisch sein sollte: Gemeint ist eine erkennbare Kürze der Lebensspanne, die es schwer, wenn nicht gar unmöglich
machte, längerfristige Aktivitäten zu entfalten mit dem Ziel, eine Erweiterung der ökonomischen Basis nicht nur anzubahnen, sondern auch
dauerhaft zu sichern. Lediglich Jacob, Rudolfs Sohn (urk. 1483-1500. + vor
26
Korrekterweise: Orden Unserer lieben Frauen auf dem Berge zu Brandenburg. Verz. von 1443
bei Riedel, CDB A I, S. 273.
27
Kurfürst Friedrich verlieh seinem Rat Rudolf und dessen Bruder Werner 1444 August 4 die
Anwartschaft auf einen Hof in Lichterfelde, welchen Claus Kannenberg zu Lehen trug (Riedel,
CDB A XXV, S. 327); im gleichen Jahr reversierten sie sich gegenüber dem Kurfürsten wegen
der Burg Flechtingen (Geheimes StaatsA Preußischer Kulturbesitz Berlin (im Folgenden abgek.
„GStAPK“), VII. HA, Märk. Ortschaften, Flechtingen Nr. 7 ad 1444 Mai 11). Als Rat des
Kurfürsten erscheint Rudolf letztmalig 1469, als der Kurfürst die bereits zuvor erteilte Erlaubnis
zum Bergwerksbetrieb bei Flechtingen erneuerte (Riedel, CDB A XXII, S. 500-501, ad 1469
September 28).
28
Riedel, CDB A X, S. 21, wonach die beiden Markgrafen Friedrich dem Achim v. Kerkow
sowie den Gebrüdern und Rittern Rudolf und Werner Schenken zu Flechtingen für 1700 rh.
Gulden Schloss und Städtchen Plaue unter gewissen Bedingungen verpfänden, Spandau 1447
November 29. Zur Pfandschaft Altenhausen: Walther (wie Anm. 4), S. 135-137 ad 1448
Donnerstag nach Dionysii ohne konkrete Quellenangabe.
29
1474 quittierte er den von Alvensleben die Rückzahlung eines Kredits, wofür sie ihm die
halbe Burg Exleben verschrieben hatten (Siegmund Wilhelm Wohlbrück, Geschichtliche
Nachrichten von dem Geschlechte von Alvensleben, 2. Teil, Berlin 1819, S. 115 ad 1474 Juni 9),
nachdem er sich selbst 1472 als zu Erxleben wohnhaft bezeichnet (Walther (wie Anm. 4), S. 133
ad 1472 Mai 1). Jedenfalls ist er vor 1498 Oktober 31 verstorben. Damals gab nämlich sein
bereits mündiger Sohn Jacob gegenüber dem Vetter und Familiensenior Sievert seine
Einwilligung zur Vergabe eines Afterlehens (Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg (im
Folgenden abgek.: „LHASA, MD“), E 76, Nr. 89 ad 1498 Oktober 31 sowie GStAPK, VII. HA.
Nichtmärkische Urkunden, Flechtingen Nr. 4).
30
Nämlich Werner, der, obwohl verehelicht, offenbar ohne überlebende Nachkommen vor 1497
starb, Ludolf, der nur ein einziges Mal, nämlich 1483, genannt wird, sowie schließlich Jacob
(urk. seit 1483, + vor 1521), der die Linie fortsetzte.
37
152131), konnte mit dem Rückerwerb des Stammgutes Dönstedt aus Gläubigerhand und der Neubelehnung im Jahre 1500 offenbar einen gewissen
Erfolg verbuchen, denn Dönstedt schied nunmehr aus dem Komplex der
Samtlehen aus und kam in die alleinige Verfügungsgewalt der Hauptlinie auf
Flechtingen32.
Ein Kontinuum anderer Art lässt sich mit Blick auf das Heiratsverhalten der
Schenken von Flechtingen seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert
beobachten: Man bewegte sich bei der Auswahl der Partnerinnen in einem
durch Rang und Ansehen streng abgegrenzten Rahmen, der sich ausnahmslos durch den Besitz fester Häuser und – möglichst zusätzlich – durch die
Inhaberschaft erblicher Hofämter definierte. In diesem Zusammenhang sind
die von Honlage als langfristige Herren auf Burg Weferlingen und Erbküchenmeister der Herzöge von Braunschweig mit Blick auf Werner den
Alten (urk. 1384-1427)33 ebenso zu nennen wie die gleich mehrfach schloßgesessenen von Alvensleben als Erbtruchsessen des Hochstifts Halberstadt
im Falle seines Sohnes Rudolf (urk. 1439-1474)34.
31
Riedel, CDB C II, S. 498 ad 1521 Dezember 9, wo er im Zusammenhang mit der Belehnung
seines offenbar einzigen Sohnes Barwert als verstorben genannt wird.
32
Zur Belehnung des Jahres 1500 s.o. Anm. 12. Im Jahre 1532 belehnte jedenfalls Georg von
Anhalt in seiner Eigenschaft als Dompropst von Magdeburg die Witwe Barwerts und deren
unmündigen Sohn mit Dönstedt (Hercynisches Archiv 1805, Bd. I, Stück 3, S. 483-489).
33
Seit dem späten 17. bzw. frühen 18. Jahrhundert spukt eine Angehörige des Meißener
Geschlechts von Holleuffer als Ehefrau Werners des Alten in den Stammtafeln der Schenken
herum (vgl. u.a. den handschriftl. „Stammbaum des Geschlechts der Schencken zu Diepen“ in
StAWO, 26 Slg 304 H); diese durch keinerlei Quellen gestützte Spekulation wird noch im
„Gotha“ von 1917 kolportiert (s.o. Anm. 2). Offenbar trat der Name Holleuffer schon frühzeitig
an die Stelle des im 16. Jahrhundert zu „Honleben“ verschliffenen und nicht mehr verstandenen
„Honlage“. Der gelehrte Ludolf v. Münchhausen (1570-1640) führt dagegen unter den
mütterlichen Ahnen seiner Ehefrau Anna v. Bismarck an entsprechender Stelle die Eheleute
„Warner Schenck und Gödel von Hohnleben“ an (StABÜ, Dep. 3 GR, Nr. 1269, fol. 39v,
undatiert, nach 1599). Hinter „Hohnleben“ verbirgt sich, wie die entspr. Wappendarstellung an
der Flechtinger Herrschaftsempore von 1592 deutlich macht, zweifelsfrei das Geschlecht v.
Honlage, welches bis ins späte 15. Jh. auf Weferlingen saß (Scholz (wie Anm. 17), S. 38) und bis
zu seinem Erlöschen im frühen 16. Jh. das Erbküchenmeisteramt des Herzogtums Braunschweig
innehatte (Johann David Köhler, Historische Nachricht von den Erb- Land- Hof-Aemtern des
Herzogthums Braunschweig und Lüneburg [...], Göttingen 1746, S. 16-17).
34
Die eheliche Verbindung Rudolfs mit einer Tochter des Hauses Alvensleben wird einerseits
anhand der 16-stelligen Ahnenprobe für Werner Schenk von Flechtingen von 1592 an der
Flechtinger Herrschaftsempore nachvollziehbar; andererseits benennt Ludolf v. Münchhausen
(siehe vorige Anm.) die Ehepartnerin Rudolfs konkret als „Gödel von Alvensleben“. Der
Wolfenbütteler „Stammbaum“ (siehe vorige Anm.) liefert bei Rudolf gleichfalls den Vermerk:
„uxor eine von Alvensleben“. Die Tatsache, dass einer der Söhne Rudolfs den zuvor bei den
Schenken unüblichen Namen Ludolf trug, der als Leitname der Alvensleben auf Kalbe und
Hundisburg gelten kann, mag einstweilen als Zuordnungshilfe für die anhand zeitgenössischer
Quellen bisher nicht nachweisbare Ehefrau Rudolfs dienen.
38
Auch Jacob Schenk von Flechtingen als Repräsentant der folgenden Generation verband sich mit einer schlossgesessenen Familie, nämlich den von
Jagow auf Aulosen, welchem Hause seine Gattin Leveke entstammte35.
Jacobs einziger nachweisbarer Sohn, der früh verstorbene Barwert (+ vor
153236), ehelichte schließlich Hippolyta v. Wenckstern aus einer der in der
Lenzerwisch ansässigen Linien dieser Familie37. Die Wencksterne sind durch
den Vermerk des Landbuchs von 1375 als burgbesitzende Vasallen der Markgrafen von Brandenburg gesichert38; sie stehen später mit immerhin vier
Herrensitzen nahe der alten Wencksternburg in ihrer Bedeutung den
bekannteren Familien der Region während des 15. und 16. Jahrhunderts
kaum nach und treten zudem als Lehnsleute, vor allem aber als finanzkräftige Gläubiger des welfischen Herzogshauses während der ersten Hälfte
35
Auch sie entzieht sich bislang einer konkreten Einbindung in das personelle Gefüge ihrer
Herkunftsfamilie. Sie wird bei dem nicht eben zuverlässigen Amtmann Behrendt im Rahmen
der großangelegten Genealogie für Jacob von Schenck (als Teil der Leichenpredigt, Magdeburg
1732: Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Niedersächs. Landesbibliothek, Cm 9) als Tochter
des Claus auf Aulosen und der Armgard v. Alvensleben bezeichnet; die zeitlich nähere
Ahnenprobe für Werner Schenk von 1592 (vorige Anm.) lässt als Eltern der Leveke ein Ehepaar
v. Jagow / v. Veltheim sichtbar werden. Zu den von Jagow auf Aulosen als Beschlosste der
Altmark siehe Podehl (wie Anm. 10), S. 196-197, 629-630.
36
Seine Ehefrau wird jedenfalls 1532 (s.o. Anm. 32) sowie nochmals 1536 als Witwe genannt
(Riedel, CDB A XXII, S. 348 ad 1536).
37
Zu den mit mehreren dicht beieinander gelegenen Herrensitzen in der Lenzerwische
angesessenen v. Wenckstern siehe neuerdings den instruktiven Beitrag von Gordon Thalmann,
Adelssitz in der Prignitz – das Wenckstern’sche Wasserschloss in Kietz, in: Clemens Bergstedt
u.a. (Hrg.), Im Dialog mit Raubrittern und schönen Madonnen – Die Mark Brandenburg im
späten Mittelalter, Berlin 2011, S. 321-328. Die dem Aufsatz beigegebene Stammtafel (S. 324)
lässt noch keinen Anknüpfungspunkt für Hippolyta erkennbar werden; als Indiz für ihre
möglichen Herkunft aus der Linie Wootz könnte der Sachverhalt gelten, dass der bei den
Schenken bis dahin ungebräuchliche Eigenname Christoph (siehe unten Anm. 43) 1568 bei den
Wencksternen auf Wootz belegt ist (Liselott Enders, Die Prignitz. Geschichte einer
kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Potsdam 2000
(Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Bd. 38), S. 289). Die
Ahnenprobe des Kersten (I.) Schenk (siehe dessen Grabmal und steinernes Epitaph in der
Kirche Flechtingen) und die seines Sohnes Werner von 1592 (s.o. Anm. 34) lassen des Weiteren
den Rückschluss zu, dass Hippolytas Mutter eine v.d. Knesebeck aus der Weißen Linie zu
Tylsen bzw. Kolborn war und keineswegs eine v. Bodendieck, wie Behrendt in den 1730er
Jahren behauptet hat (ders. wie Anm. 35). In der 1661 gedruckten Leichenpredigt für Karsten
Werner v. Dorstadt auf Emersleben, Nienburg usw. (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel
(im Folgenden abgek. ‚HAB‘), X a 1:8 (21)), der durch seine Mutter Elisabeth Schenk zu den
Nachkommen der Hippolyta v. Wenckstern zählte, wird der Name ihrer Mutter mit „Pollite v.d.
Knesebeck aus dem Hause Collenbien“ (=Kolborn) möglicherweise zutreffend überliefert.
38
Podehl (wie Anm. 10), S. 205-206. Der umfangreiche brandenburgische Lehnsbesitz des
Geschlechts in der Lenzerwische und umliegenden Orten wird im Jahre 1491 deutlich greifbar
(Riedel, CDB A III, S. 504 ad 1491).
39
des 16. Jahrhunderts durchaus deutlich in Erscheinung39. Ein wohlerhaltener Wappenstein am Südflügel der Flechtinger Burg dokumentiert
Barwerts und seiner Ehefrau Bautätigkeit bzw. deren Abschluss 152640.
Angesichts der Tatsache, dass sich das in Wernigerode bewahrte Archiv der
Schenken von Flechtingen als mutmaßlich im frühen 19. Jahrhundert hemmungslos dezimierter Urkunden- und Aktenbestand darbietet41 sowie mit
Blick auf den Sachverhalt, dass internes Schriftgut für die allermeisten der
bis etwa 1550 mit diesem Geschlecht verschwägerten Familien verloren zu
sein scheint, lässt sich die Frage nach der konkreten Form und Gestaltung
verwandtschaftlicher Kontakte nicht wirklich klären. Selbst die Verbindung
zu den an Flechtingen beteiligten Lehnsvettern der Schenk’schen Nebenlinie
Lemsell bleibt, abgesehen von dürftigen Hinweisen der älteren Literatur,
einigermaßen undeutlich42. Erst ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert lässt
eine zwar spärliche, aber doch brauchbare Überlieferung den Versuch zu,
solche und ähnliche Fragen zu beantworten.
39
Unter der beachtenswerten Überlieferung im Niedersächsischen Landesarchiv,
Hauptstaatsarchiv Hannover, seien lediglich die Stücke Celle Or. 30, Nr. 1384 (ad 1532), Cal.
Br. 22, Nr. 1644 (ad 1534-38) und Dep. 37 A, Nr. 35 (ad 1538) besonders genannt.
40
Der über dem hofseitigen Eingang zum Südflügel im inneren Burghof angebrachte Stein (Abb.
3) zeigt die Wappen Schenk und Wenckstern beiderseits eines gepanzerten Schildhalters. Die
Helmzieren werden jeweils flankiert durch die Initialen B[arwert] S[chenk] und P[ollite]
W[enckstern]. Darüber die Inschrift: „Anno d[omi]ni Mo CCCCCo XXVI heft Barwert Schencke
dut huß gebuwet“.
41
LHASA, MD, E 76. Der Archivbestand charakterisiert sich u.a. durch einen Mangel an
persönlich-privatem Schriftgut sowie das weitestgehende Fehlen serieller Quellen zur
Gutswirtschaft nach 1650. Ersteres existierte noch im späten 17. Jh. - etwa in Gestalt der
Reisetagebücher des Werner Schenk aus der Zeit vor 1621 (HAB Xa 4o 1:32 (8), S. 29). Die bei
Walther kolportierte Erzählung vom Untergang des nach Magdeburg geflüchteten Hausarchivs
1631 (Walther (wie Anm. 4), S. 115) entbehrt jedenfalls jeder Grundlage. Die chaotischen
inneren Verhältnisse des im Aussterben begriffenen älteren Hauses Schenk während des späten
18. und frühen 19. Jhs. und der geplante Verkauf der Herrschaft Flechtingen 1826 dürften
dagegen als Gründe für die größten Überlieferungsverluste weit eher in Frage kommen.
42
Bei Behrends (wie Anm. 5), S. 152-153 ist lediglich von der Vormundschaft des angeblich
1551 verstorbenen Albrecht Schenk zu Lemsell für Kersten (I.) die Rede, ohne dass die Quelle
dieser Feststellung genannt würde.
40
2. Das familiäre Umfeld der Schenken von Flechtingen in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts
Der die Linie Flechtingen/Dönstedt als einer von zwei Söhnen43 fortsetzende
Kersten (I.) Schenk (1523-157144) blieb, was die Wahl seiner ersten, um
1551 sehr jung verstorbenen Ehefrau Agnes v. Bodendieck45 betraf, der
familiären Tradition insofern treu, als auch er auf die herausgehobene
Abkunft der Partnerin Wert legte, konnten doch die v. Bodendieck nicht nur
mit einem altmärkischen Landeshauptmann des 15. Jahrhunderts, sondern
auch mit dem Sachverhalt aufwarten46, als Beschlosste 1436 vom altmärkischen Hofgericht eximiert worden zu sein47. Der Witwer Kersten Schenk
schritt schon bald - jedenfalls vor 155848 - zu einer zweiten Ehe. Seine Wahl
43
Neben ihm gab es noch einen Sohn namens Christoph, von dem man annehmen darf, dass er
bei der Belagerung von Magdeburg 1550/51 in Gefangenschaft geriet (G. Hertel, Eine
Magdeburger Handschrift über die Belagerung der Stadt in den Jahren 1550/51, in: Gesch.-Bll.f.
Stadt und Land Magdeburg 15, 1880, S. 1-21; hier: S. 7) und schließlich am 9. Juli 1553 in der
Schlacht bei Sievershausen zu Tode kam. Lt. Wilhelm Havemann, Geschichte der Lande
Braunschweig und Lüneburg, Bd. 2, Göttingen 1855, S. 277, fiel ein gewisser, dem verbündeten
Heer der Braunschweiger und Sachsen angehörender „Carsten Schenck“ in dieser überaus
blutigen Schlacht. Da Kersten (I.) aber noch knapp 20 Jahre später lebte, könnte hier der Bruder
namens Christoph gemeint sein. Die Eigennamen Kersten und Christoph wurden auch bei
anderer Gelegenheit verwechselt, so im Verzeichnis der altmärkischen Rossdienste von 1565,
wo „Christoff [statt zutreffend: Kersten] Schenck zu Flechtingen“ aufgeführt wird (Carl v.
Eickstedt, Beiträge zu einem neuen Landbuch der Marken Brandenburg [...], Magdeburg 1840,
S. 26).
44
Das Geburtsdatum errechnet aus der Altersangabe des in Flechtingen erhaltenen Grabsteins
(Abb. 6), wonach Kersten (I.) am 28. Mai 1571 im Alter von 48 Jahren verstarb. Danach wäre
er im Jahre 1523 geboren.
45
Ihr Todesdatum lässt sich anhand eines bis 1885 in der Flechtinger Kirche (Willing (wie
Anm. 7), S. 40) befindlichen, dann auf Schloss Flechtingen bewahrten, später nach Magdeburg
gelangten und inzwischen ohne gründliche Dokumentation den Vorbesitzern zurückerstatteten
doppelseitig bemalten Tafelbildes festmachen: Sie und ihr als damals 28-jährig bezeichneter
Ehemann knien zusammen mit einer Tochter namens „Pollite“ (=Hippolyta) vor einer
Kreuzigungsgruppe. Berücksichtigt man das anhand seiner Grabinschrift zu errechnende
Geburtsdatum Kerstens (I.) (= etwa 1523), so ergibt sich das Jahr 1551 als mögliches Todesjahr
der Agnes, die neben der einen Tochter noch ein weiteres Kind zur Welt brachte, welches als
ein ihr zu Füßen liegender namenloser Säugling dargestellt ist (Abb. 4).
46
Nämlich Gebhard, der 1430 zu diesem Amt berufen wurde (Philipp Wilhelm Gercken, Codex
diplomaticus Brandenburgensis, Bd. VII, Stendal 1782, S. 218-219 ad 1430 November 21).
47
Podehl (wie Anm. 10), S. 198, wonach sie zwar nur kurze Zeit (1430-1478) im Besitz
Osterwohles blieben, gleichwohl aber noch 1577 zum schlossgesessenen Adel der Altmark
gezählt wurden. 1436 waren die Kinder Gebhards v. B. ebenso wie andere Beschlosste vom
altmärkischen Hofgericht eximiert worden (Riedel, CDB, A XXII, S. 486-487 ad 1436 Juli 17).
48
In diesem Jahr kam eine der älteren Töchter, nämlich Agnesa Schenk, verehelicht 1588 mit
Hermann v. Veltheim, gest. 1621 Januar 29, zur Welt. Die Tochter Anna, später Ehefrau des
Abraham v. Bismarck auf Krevese, wurde sicher noch vor Agnesa geboren, denn Leveke v.
Mengersen geb. Schenk von Flechtingen bezeichnet ihre Nichte Anna v. Münchhausen geb. v.
41
fiel dabei auf Catharina v. Bülow aus dem Hause Gartow bzw. Oebisfelde
(1531-1575)49. Angesichts dieser Verbindung wird deutlich, dass die gruppeninterne Reputation mit Blick auch auf jene Familien, zu denen man
Heiratsbeziehungen im Wege einer Zweitehe anknüpfte, von ungeschmälerter Bedeutung war und dass familiäre Beziehungen zwischen den v.
Bodendieck und den Bülows dieser neuerlichen Ehe des Kersten (I.) Schenk
möglicherweise förderlich gewesen sind50. Mit Burg und Stadt Gartow (seit
1438/1441) hatten die v. Bülow im elbnahen Wendland eine ebenso stabile
wie unabhängige Position erlangen und durch stetigen Zuerwerb von Gütern
und Rechten ausbauen können. In Gestalt der magdeburgischen Pfandschaft
Oebisfelde kam seit 1485 noch eine bedeutende Komponente hinzu, die bis
1587 behauptet wurde51.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass Kerstens zweite Eheschließung bereits
kurze Zeit nach dem Tode der ersten Gemahlin erfolgte, ist die Zahl der von
Catharina v. Bülow in maximal 18 bis 19 Ehejahren geborenen 13 Kinder
beachtlich; die vergleichsweise hohe Kinderzahl entsprach dabei allerdings
den zeittypischen Norm- und Wertvorstellungen. Fünf der Kinder – zwei
Söhne und drei Töchter – starben bereits im Säuglings- bzw. Kleinkindalter52, während drei Söhne und fünf Töchter überlebten. Es waren dies
der 1560 geborene Werner53, der als junger Reisender zwischen 1590 und
1600 verstorbene Christoph54 und der als Posthumus vier Monate nach des
Bismarck in ihrem Testament als „meiner eldesten schwester dochter“ (StABÜ, Dep. 6 HG A
Nr. 105, 1617 Januar 10).
49
Ihre Lebensdaten werden anhand des in Flechtingen erhaltenen Grabsteines greifbar:
Hiernach starb sie am 19. April 1575 im 44. Lebensjahr, wurde also im Jahre 1531 geboren.
50
Gottfried v. Bülow nimmt nicht ganz zu Unrecht an, dass Catharinas Großmutter, Ehefrau des
vor 1516 verstorbenen Georg v. Bülow auf Gartow und Oebisfelde eine geborene v. Bodendieck
gewesen sei (Ders., Geschichtliche Nachrichten über die von Bülow zu Oebisfelde [...],
Magdeburg 1860, S. 30, 49-50). Er stützt sich hierbei in erster Linie auf die in Stein gehauenen
Ahnenwappen der Catharina in Flechtingen (1575). Die große, noch eine Generation weiter
hinaufreichende Ahnenprobe Werners von 1592 (s.o) lässt er ebenso unerwähnt wie den
Grabstein des Vicke v. Bülow (1546) in Oebisfelde, dessen vier Ahnenwappen den Flechtinger
Befund bestätigen (Beschreibende Darstellung der älteren Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen
[...], XX. Heft, Kr. Gardelegen, Halle 1897, S. 133).
51
Vgl. hierzu: v. Bülow (wie vorige Anm.), S. 26-27.
52
Die erst nach 1571 unbeholfen ausgeführte Rückseite des ehedem in Flechtingen bewahrten
Tafelbildes von 1551 (s.o.) sowie eine offenbar gleichzeitige, noch heute in der Flechtinger
Kirche befindliche zweite Fassung (Abb. 5) zeigen die als Kleinkinder verstorbenen Söhne
Rudolf und Barwert Vicke, die gleichfalls sehr jung verstorbenen Töchter Dorotia und Margreta
sowie einen namenlosen, als verstorben gekennzeichneten Säugling weiblichen Geschlechts.
53
Das Geburtsjahr errechnet nach der Altersangabe seines in Flechtingen erhaltenen
Grabsteins.
54
Über ihn, den die beiden Fassungen der nach 1571 entstandenen Tafelbilder als drittältesten
Sohn darstellen, ist wenig bekannt. Lt. StABÜ, Dep. 3, GA 22, Nr. 2, fol. 44 waren „Werner
und Christopher Schencke“ noch 1588 als Gäste der Hochzeit des Klaus v. Münchhausen mit
42
Vaters Tode am 26. September 1571 geborene Kersten (II.)55. Unter den
Töchtern ist als erste Anna zu nennen, die vor 158556 den 1589 auf tragische
Weise zu Tode gekommenen Abraham v. Bismarck auf Krevese heiratete,
später nach Magdeburg ging und dort vor 1600 verstarb57. Die zweite
überlebende Tochter war die am 18. Februar 1558 geborene Agnesa58. Seit
1580 Ehefrau des Hermann v. Veltheim auf Groß-Bartensleben und Alvensleben59 und Mutter von sechs Kindern, verstarb sie am 29. Januar 1621 und
Ursula v. Quitzow geladen, während die Gästeliste der Hochzeit des Ludolf v. Münchhausen mit
Anna v. Bismarck (StABÜ, Dep. 6, GH A Nr. 520) im Jahre 1600 ihn nicht mehr nennt. Der
brandenburgische Lehnbrief von 1590 rechnet ihn noch zu den Lebenden (LHASA, MD, E 76,
Nr. 26 ad 1590 Januar 27). Der bei Willing (wie Anm. 7), S. 44 kolportierten Version, wonach
er „zur See auf einem Zuge nach dem heiligen Lande“ verstorben sei, wird in etwa so viel
Wahrheitsgehalt beizumessen sein wie der Legende von der Beteiligung des jüngsten Bruders
Kersten (II.) am venezianischen Türkenkrieg (s. u. Anm. 161). An seinem Tod fern der Heimat
besteht allerdings kaum Zweifel. Seine Schwester Leveke beklagt seinen Tod und den anderer
Verwandter noch 1621 in einem Brief an Ludolf v. Münchhausen wie folgt: „...mein bruder
Christopher Schencke, Jacob Schencke (=ihr Neffe, Werners Sohn), [und] mein sone sein leider
alle außen bliben“ (StABÜ, Dep. 6, GH A Nr. 476, unpaginiert., undatiert – nach 1621 Januar
29).
55
Das Geburtsdatum 1571 Mittwoch vor Michaelis (=September 26) nach seiner
Leichenpredigt in SUB Göttingen, CONC FUN 231 (3).
56
Die Tochter Anna, offenbar das einzige überlebende Kind der Eheleute Bismarck, wurde
jedenfalls 1585 April 26 geboren (StABÜ, Dep. 3 GR Nr. 1269, fol. 37; siehe auch Brage Bei der
Wieden, Außenwelt und Anschauungen Ludolf von Münchhausens (1570-1640), Hannover
1993 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXII,
Niedersächs. Biographien 5), S. 88. Georg Schmidt kann in seinem genealogischen Werk: Das
Geschlecht von Bismarck, Berlin 1908 (im Folgenden abgek.: „Schmidt, Bismarck“), S. 65 keine
konkreten Lebensdaten für Anna beibringen; angesichts eines von ihm zitierten Dokuments
1590 November 27 betr. Annas Forderungen aus Krevese und Schönhausen muss sie damals
noch gelebt haben. Die Ahnenwappen dreier 1586/1587 im Säuglingsalter verstorbener Kinder
der Eheleute Bismarck-Schenk sind - was das Wappen der Mutter betrifft – unrichtig. Ebenso
unzutreffend ist das bei Schmidt (wie vor) S. 75 angegebene Geburtsdatum der Tochter Anna v.
Bismarck.
57
Zum gewaltsamen Tod des Abraham v. Bismarck am 14. Juni 1589: Schmidt, Bismarck (wie
Anm. 56), S. 65. Der sonst so sorgfältige Ludolf v. Münchhausen vermochte das Sterbedatum
seiner Schwiegermutter nicht anzugeben, wusste aber, dass sie ihre letzten Lebensjahre in
Magdeburg verbracht hatte: Sie habe nach ihres Ehemannes Tod dort gewohnt und sei „daselbst
gestorben und begraben“, auch sei sie „eine züchtige, fromme, gottselige Frau gewesen“ (StABÜ,
Dep. 3 GR Nr. 1269, fol. 39); die Angabe bei Schmidt (wie vor), wonach Anna zu Krevese
verstorben sei, trifft nicht zu.
58
Ihre Lebensdaten nach Georg Schmidt, Das Geschlecht von Veltheim, II. Teil: Die Stammreihe
des Geschlechts von der Teilung der Linien an, Halle (Saale) 1912 (im Folgenden abgek.:
„Schmidt, Veltheim II“) , S. 134.
59
Er wurde im Jahre 1533 geboren, war also erheblich älter als seine Ehefrau. Sein exaktes
Sterbedatum ist nicht überliefert; nach seiner Leichenpredigt in HAB (wie Anm. 37), Alv. Em
253 (5) sowie Fritz Roth, Restlose Auswertungen von Leichenpredigten [...], Boppard 19591980 (im Folgenden abgek.: „Roth, Auswertungen“), R 8907) wurde er jedoch schon bald nach
seinem Tode am 20. November 1603 in Groß-Bartensleben beigesetzt.
43
fand - entgegen aller Gewohnheit – ihre letzte Ruhe nicht an der Seite ihres
Mannes und Sohnes, sondern in Flechtingen60. Mit der dritten Tochter
Leveke werden wir uns vom folgenden Abschnitt an noch ausführlicher zu
befassen haben. Die vierte Tochter Margreta – vielleicht nur wenig jünger
als Leveke - ehelichte Matthias Schenk aus der Nebenlinie Lemsell, starb
1617 in Lemsell und wurde in Flechtingen begraben61. Auch Elisabeth,
jüngste überlebende Tochter des Kersten (I.) Schenk und der Catharina v.
Bülow, erreichte das Erwachsenenalter. Sie heiratete 159662 Bethmann v.
Dorstadt auf Nienburg (Saale) und Schneidlingen und starb als Mutter von
acht überlebenden Kindern zwischen 1617 und 163463.
3. Leveke Schenk von Flechtingen: Biographische Aspekte
3.1 Kindheit und Jugend
Leveke Schenk von Flechtingen wurde am 21. Dezember 1564 als Tochter
des Kersten (I.) Schenk, Erbherrn auf Flechtingen und Dönstedt, sowie
dessen Ehefrau Catharina von Bülow aus dem Hause Gartow/Oebisfelde
geboren. Am Dreikönigstag 1565 wurde sie getauft und erhielt entsprechend
zeit- und standesüblicher Gepflogenheiten den Namen einer ihrer väterlichen Urgroßmütter64. Ihr Geburtsort ist nicht überliefert; man wird jedoch
mit einiger Sicherheit annehmen dürfen, dass sie auf dem Hause Flechtingen, dem offenkundigen Hauptsitz der Familie, zur Welt gekommen ist:
Noch im Sterbejahr des Kersten (I.) Schenk wurde der Abschluss größerer
Neubaumaßnahmen auf Burg Flechtingen durch einen Wappenstein sowie
60
Dies nach dem Trauergedicht in HAB (wie Anm. 37), 50.6 Poet. (59). Siehe auch unten Anm.
160.
61
Siehe Kurt Bartels (Bearb.), Familienbuch Flechtingen (Ohrekreis), 1616-1778, o.O., 2004
(Mitteldeutsche Familienbücher der AMF; im Folgenden abgek.: „OFB Flechtingen“), S. 321.
Danach gest. 27.7.1617 in Lemsell und 21.8.1617 in der Kirche Flechtingen begraben. Ihr und
ihres Ehemannes jeweils geschätztes Geburtsjahr (1590 bzw. 1585) ist so abwegig wie
zahlreiche andere, die Schenken betreffende Einträge des offenbar völlig überforderten
Bearbeiters, die aufzuzählen den Rahmen dieser Fußnote sprengen würde. Es sei allerdings auf
den Sachverhalt hingewiesen, dass sich die hohe Fehlerquote betr. die Schenken in den
gleichfalls durch Bartels bearbeiteten Ortsfamilienbüchern Dönstedt (2009) und Wegenstedt
(2004) in bedenklicher Weise fortsetzt.
62
Das konkrete Heiratsdatum 1596 März 1 wird in der Leichenpredigt des 1565 geborenen und
1611 verstorbenen Bethmann v. Dorstadt (HAB (wie Anm.37) Qu N 323.1 (2)) angegeben.
63
Während sie das Testament ihrer Schwester Leveke 1617 Januar 10 noch nennt, findet sie in
dessen Kodizill 1634 November 2 keine Erwähnung mehr (StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 105).
64
Nämlich der Leveke von Jagow aus dem Hause Aulosen (s.o. Anm. 35). Levekes Schenks
Geburtsdatum (St. Thomastag (=Dezember 21) 1564) ist dem im Rahmen ihrer Leichenpredigt
1644 vorgelegten Lebenslauf entnommen.
44
entsprechende Bauinschriften für die Nachwelt dokumentiert65. Man
gewinnt in diesem Zusammenhang den Eindruck, dass Kersten – damals der
einzige Exponent seiner Linie – das ihm zustehende Verfügungsrecht an drei
Vierteln der Burganlage auch ausgeschöpft hat66.
Während die Kinder nach dem Tod des Vaters 1571 noch in der Obhut der
Mutter verblieben sein werden, dürfte sich ab 1575, dem Todesjahr der
Catharina v. Bülow, die Frage gestellt haben, wo und durch wen die
Erziehung der Waisen für die folgenden Jahre sichergestellt werden könnte.
Da mit der Großmutter Margaretha v. Marenholtz, Witwe des längst
verstorbenen Vicke v. Bülow, bis 1584 noch eine nahe Blutsverwandte der
Kinder im nur rd. 25 km entfernten Oebisfelde lebte67, war eine Lösung
rasch gefunden: Leveke und auch ihr jüngster Bruder Kersten (II.) wuchsen
nach 1575 zunächst auf Burg Oebisfelde heran, wo die Enkelin durch ihre
Großmutter „in der Gottesfurcht und in allen adelichen Tugenden [...]
aufferzogen“ wurde. Ob die Geschwister nach dem Tode der Großmutter
vorübergehend Aufnahme bei anderen Oebisfelder Verwandten68 gefunden
haben, lässt sich nicht klären; ein solches Verfahren hätte dem
zeitgenössischen Normen- und Wertesystem des Landadels jedenfalls
65
Ein ursprünglich vielleicht dem Nordflügel zuzurechnender Wappenstein – später in der
nördlichen Außenwand des Torhauses unmittelbar rechts neben dem prunkvollen Erker des 17.
Jahrhunderts eingelassen – zeigt die einen geharnischten Schildhalter flankierenden Wappen
Schenk und Bülow und trägt die Inschrift: „ANO 1571 IAR HABE ICH KERSTEN SCHENCKE
VNT MEINE HAUSFRAVWE DIS HAVS GEBAVWET“ (Abb. 7). Willing (wie Anm. 7), S. 39
überliefert eine weitere Bauinschrift auf einem Balken des 1881 umgebauten südöstlichen
Nebengebäudes der äußeren Burg: „Anno Domini 1571 hab ich Kersten Schencke Gott und den
Rechten vertraut und dis Haus gebawt“.
66
Bauliche Aktivitäten der mit einem Viertel der Burg belehnten Nebenlinie Lemsell sind
jedenfalls nicht überliefert.
67
Nach der entsprechenden Angabe im Inventarband Beschreibende Darstellung der älteren
Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen [...], Kr. Gardelegen, Halle 1897, S. 133 war damals
sowohl der Grabstein des am 20. Mai 1546 verstorbenen Vicke v. Bülow als auch der seiner am
29. Januar 1584 verstorbenen Ehefrau Margaretha v. Marenholtz noch in der dortigen
Katharinenkirche zu sehen. Nach entspr. schriftlicher Anfrage vom August 2011 konnte
lediglich das Vorhandensein des letztgenannten Grabmals bestätigt werden. Aus den
Leichenpredigten auf Leveke und ihren Bruder Kersten (II.) wissen wir mit Bestimmtheit, dass
beide bei der Großmutter aufwuchsen; im Falle Kerstens wird konkret angegeben, dass er
zwischen seinem vierten und zehnten Lebensjahr in Oebisfelde gelebt habe (SUB Göttingen, 4
CONC FUN 226 (3) sowie 4 CONC FUN 231 (3)); aus der Leichenpredigt Levekes auch das
folgende Zitat.
68
Zu denken ist dabei an Fredeke v.d. Asseburg (1534-1604), Ehefrau und seit 1571 Witwe des
Busso v. Bülow auf Oebisfelde und Gartow (eines Vetters der Catharina Schenk geb. v. Bülow),
die später, d.h. nach Ablösung der Pfandschaft Oebisfelde 1587, in Magdeburg lebte (v. Bülow
(wie Anm. 50), S. 54-55). Auch Cordt, ein Bruder der Catharina und Onkel der Waisen (siehe
unten Anm. 88), wäre in diesem Zusammenhang zu nennen.
45
weitestgehend entsprochen und lässt sich gerade im familiären Umfeld der v.
Bülow zu Gartow/Oebisfelde in jener Zeit auch anderweitig beobachten69. Es
kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich auch die Lehnsvettern Schenk
von der Linie Lemsell einiger Kinder des älteren Kersten angenommen
haben: Ob man dort allerdings über die entsprechenden personellen Möglichkeiten verfügte, muss einstweilen offenbleiben70. Sicher ist, dass Leveke auch
nach 1584 bei Verwandten lebte und dabei mehrfach ihren Aufenthaltsort
wechselte; Einzelheiten, die sie offenbar in einem autobiographischen „Verzeichniß“ vermerkt hatte71, sind nicht mehr rekonstruierbar.
Es ist davon auszugehen, dass sie eine ihrem Stand entsprechende und in
ihrem Fall durchaus solide Elementarbildung72 genossen hat, die es ihr später
leicht machte, u.a. eine umfangreiche Korrespondenz zu unterhalten. Ihre
Briefe an Ludolf v. Münchhausen (1570-1640) auf Oldendorf und Remeringhausen in der Grafschaft Schaumburg und dessen Ehefrau Anna v.
Bismarck-Krevese, Levekes Nichte (1585-nach 1650), haben sich in größerer
69
Anhand der Leichenpredigt auf Catharina v. Post geb. v. Veltheim (Roth, Auswertungen (wie
Anm. 59), R 8905) ergeben sich entsprechende Beobachtungen für zwei bislang „unentdeckt“
gebliebene Schwestern der Catharina Schenk geb. v. Bülow, nämlich Armgard, die seit 1570 mit
Jobst v. Veltheim auf Bartensleben verheiratet war (vgl. Georg Adalbert v. Mülverstedt,
Sammlung von Ehestiftungen und Leibgedingsbriefen [...], Magdeburg 1863, S. 11) und früh
verstarb. Ihre Töchter wurden zu ihrer Schwester gegeben, die sich als Dorothea v. Bülow,
Witwe des 1567 verstorbenen braunschweig-lüneburgischen Obersten Georg v. Dannenberg
identifizieren ließ (Zedlers Universallexikon, VII, Sp. 151-152), identifizieren ließ. Dorotia, eine
der früh verstorbenen Töchter der Eheleute Schenk-Bülow (s.o. Anm. 52) trug übrigens den
Namen dieser Tante.
70
Unter den Nachkommen des Henning Schenk auf Lemsell und seiner bereits 1564
verstorbenen Ehefrau Felicitas v. Alvensleben a.d.H. Erxleben (1522-1564) käme hauptsächlich
die 1544 geborene Anna (später verehelicht mit Hans v. Honrodt auf Veltheim/Ohe) in
Betracht, die nach Ausweis ihrer Grabinschrift am 12. Januar 1594 starb. Ob auch der lt. OFB
Flechtingen (wie Anm. 61), S. 321 am 12. September 1625 auf Lemsell verstorbene Matthias
Schenk, der spätere Ehemann der Margreta Schenk a.d.H. Flechtingen, in diesem
Zusammenhang zu nennen ist, kann mangels zuverlässiger Daten nicht entschieden werden.
71
Zum Zeitpunkt ihres Todes waren diese Aufzeichnungen noch vorhanden: Dies ergibt sich
anhand der Ausführungen ihrer Leichenpredigt (SUB Göttingen, 4 CONC FUN 226 (3), S. 32).
Dieses Manuskript dürfte mit dem größten Teil ihres schriftlichen Nachlasses untergegangen
sein, was umso bedauerlicher ist, als sich autobiographische Zeugnisse adeliger Frauen aus jener
Zeit kaum erhalten haben. Die verkürzte Darstellung bei Roth, Auswertungen (wie Anm. 59), R
7355 erweckt den falschen Eindruck, als sei sie in ihrer Kindheit und Jugend als ungeliebte
Ziehtochter herumgereicht worden; realiter heißt es jedoch, „daß sie bey allen ihren
Anverwandten große Gunst und geneigten Willen befunden, als welche sie alle lieb und werth
gehalten, und offt ungerne verlassen wollen, wenn sie von dem einen zum andern ist
fortgeschicket worden“ (wie vor).
72
Vgl. dazu Anke Hufschmidt, Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570 und 1700. Status Rollen – Lebenspraxis, Münster 2001 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für
Westfalen XXII A – Geschichtliche Arbeiten zur Westfälischen Landesforschung [...] Bd. 15),
S.95-96.
46
Anzahl erhalten73. Sie zeigen die etwas flüchtige Hand einer geübten Schreiberin (Abb. 8) und gewähren vielfältige Einblicke in den keineswegs sorgenund konfliktfreien Alltag der späteren Witwe v. Mengersen. In ihrer
schriftlichen Kommunikation agierte Leveke insofern „zweisprachig“, als sie
sich in Brie-fen an die Nichte Anna des niederdeutschen Idioms der eigenen
Kindheit bediente74, während Annas gebildeter Ehemann stets Schreiben in
der von ihm selbst bevorzugten hochdeutschen Sprache erhielt75.
3.2 Heirat, Ehe und Tod des Ehemannes
Es bleibt unklar, warum Leveke erst relativ spät76, nämlich im Alter von 30
Jahren heiratete und wie der vorbereitende Kontakt zwischen ihrer Familie
und den in der relativ entfernten Grafschaft Schaumburg ansässigen v.
Mengersen zustande kam. Was den Gutsbesitz anging, hatte der vermögende
schaumburgische Landdrost Hermann XI. v. Mengersen (ca. 1520/25-1593)
bereits mit dem Erwerb des Gutes Börnecke bei Blankenburg weit nach
Osten ausgegriffen77. Zeitnahe Hochzeitsfeierlichkeiten bei den schaumburgischen v. Münchhausen und den Prignitzer v. Quitzow (1588), wo
neben den Gebrüdern Schenk auch die Mengersens präsent waren, mögen
hierbei aber eine wichtigere und letztlich entscheidende Rolle gespielt
haben78.
73
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476 (umfangreiches, unpaginiertes Konvolut aus losen Blättern; die
meisten Schreiben undatiert).
74
Als eines von zahlreichen Beispielen: StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Anna v.
Bismarck 1633 oder 1635 August 16: „Fruntlige leve wesche (=niederdeutsch eigentl.
„Tante/Tantchen“, aber auch - wie hier - weibl. Verwandte allgemein; siehe Grimm, Dt. WB,
Bd. 27, Sp. 2245) und gefatter [...] ach leve gott, ich bin offt so bedruwt vm dine dochter...“.
75
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, undatiert: „frunhtliger liber
schwager, ich wünsche euch einen gutten dag und ist hirmit zu euch mein frunhtlige bite, ihr
wollet [...] morgen auff mitdag zu mich komen undt die alte mume Elissabete besuchen...“. An
anderer Stelle, undatiert: „Mein liber schwager, ich wünsche euch einen gutten morgen undt das
ihr gesunt moegen zu haus kommen, ich sorge vur euch wegen der großen kultte (=Kälte)“.
76
Zum Heiratsalter adeliger Frauen zwischen 1550 und 1700 Hufschmidt (wie Anm. 72), S.
119-129.
77
Johannes Meyer, Geschichte des Geschlechts v. Mengersen, Leipzig 1937 (Beiträge zur
deutschen Familiengeschichte 15), S. 13-14.
78
StABÜ, Dep. 3 GA 22, Nr. 2, fol. 44, wonach zur Hochzeit des Klaus v. Münchhausen, der
1588 Juli 7 in Oldendorf Ursula v. Quitzow heiratete, „Werner und Christopher Schencke“
eingeladen waren. „Christof Schencke“, der mit 6 Pferden zu erscheinen gedachte, sagte seine
Teilnahme schriftlich zu. Zu den geladenen Gästen, die zusagten, gehörte lt. fol. 36 auch
„Herman v. Mengersen, Lan[d]rost“ sowie lt. fol. 36v auch dessen sämtliche Söhne Hermann,
Otto, Jürgen und Cort, die lt. fol. 37r mit 12 Pferden in Oldendorf einzureiten gedachten.
47
Jedenfalls kam es – zunächst wohl unter Einschaltung Dritter aus dem
Kreise der „vorwanten freundtschafft“ 79 - zu Verhandlungen zwischen den
Familienverbänden, in deren Verlauf „Jürgen von Mengersen die eddele und
ernveste Werner und Kersten Schencken gebrüdere umb [...] ihre freundtliche liebe schwester, ihme dise zu einem ehegemhall zu vorsprechen,
bitlichen angelangt“ hatte. Dem Ansuchen Mengersens wurde seitens der
Gebrüder Schenk und der Angehörigen entsprochen und so schritt man denn
im November 1593 in Flechtingen zum Vollzug des die Eheschließung vorbereitenden Vertrages. Hiernach wurde der jungen Frau neben der standesgemäßen Aussteuer an Mobiliar und Kleidung eine stattliche bare Mitgift in
Höhe von 4.000 Talern zugesagt; eine Summe, die der Bräutigam durch seine
Gegengabe um weitere 4.000 Taler aufstockte. Bemerkenswert ist dabei, dass
dies nicht unbeträchtliche Vermögen ihr selbst dann erhalten bleiben sollte,
wenn Georg v. Mengersen vor Leveke verstürbe, ohne Leibeserben zu hinterlassen. Für den umgekehrten Fall beanspruchten die Mengersens ihrerseits
lediglich die Rückerstattung der genannten 4.000 Taler. Neben diesen Geldern wurde der Braut noch eine Morgengabe in Gestalt eines nicht näher
bezeichneten Kleinods, gewisser Getreidemengen sowie einer jährlich aufkommenden Geldsumme zugesagt80. Wichtiger als diese Bestimmung war
jedoch die in gleichem textlichen Zusammenhang erfolgte Leibzuchtsverschreibung zugunsten Levekes, die im Wesentlichen in der Zusage
bestand, ihr für den Fall ihrer Witwenschaft eine Behausung in Magdeburg
oder an einem anderen, ihr genehmen Ort zu verschaffen. Für den Ankauf
eines Hauses wurden noch einmal 1.000 Tlr. ausgesetzt81. Dass man von
dieser Zusage - vor allem mit Blick auf das ins Auge gefasste und bei adligen
Witwen der Altmark und hier speziell solchen aus den Familien Schenk und
Schulenburg - offenbar besonders beliebte Magdeburg82 - später deutlich
abwich, wird noch darzustellen sein.
79
LHASA, MD, E 76 Nr. 159, 1593 November 4, fol. 1.
Wie vor, fol. 2v. Zugesagt wurden 3 Wispel (=3 x 24 Scheffel, entspr. in Brandenburg etwa
3.800 Ltr.) Roggen und 2 Wispel Weizen sowie jährliche Geldrenten von 15 Tlr. jährlich.
81
Da hierbei offenbar Einkünfte aus den Lehn- bzw. Familiengütern der v. Mengersen
herangezogen werden sollten, wurde der lehnsherrliche Konsens sowie die Einwilligung der
„nächsten Agnaten“ vorausgesetzt.
82
Zu nennen ist hier primo loco Anna Schenk von Flechtingen, Levekes älteste Schwester (s.o.
Anm. 57), die möglicherweise 1593 noch in Magdeburg lebte. Auch Bertha Sophie v.
Bartensleben (1550-1606), Witwe des 1581 verstorbenen Landeshauptmanns Werner XVII. v.d.
Schulenburg, verbrachte ihre letzten Lebensjahre in Magdeburg (HAB (wie Anm. 59) Alv. Em
253 (10)). Armgard Schenk von Flechtingen aus dem Hause Böddensell (gest. 1603), Witwe des
1598 verstorbenen Hans v.d. Schulenburg auf Trebsen, verlegte ihren Wohnsitz später ebenso
dorthin (HAB (wie Anm. 59) Db 4612 (23)) wie Fredeke v.d. Asseburg (1534-1604), Witwe
des bereits 1571 verstorbenen Busso v. Bülow auf Oebisfelde (Roth, Auswertungen (wie Anm.
59), R 2729).
80
48
Die Hochzeitskosten – so wurde vereinbart – sollten von beiden Familien je
zur Hälfte getragen werden83. Auch die standardisierte Formel, wonach
Georg v. Mengersen versicherte, seiner Gattin zukünftig „alle trewe, ehr und
liebe zubeweisen, alß einem frommen christlichen ehemann eigenet und
seinem adelichen herkommen nach ihm gebühret“, fehlt nicht84.
Mit Siegel und Unterschrift des Bräutigams sowie der anwesenden Angehörigen beider zukünftiger Eheleute erlangte die Eheberedung Rechtsgültigkeit. Anhand dieser Namen lässt sich das allernächste personelle Umfeld der Schenken von Flechtingen gegen Ende des 16. Jahrhunderts erfassen; auch ist es denkbar, dass sich unter den Genannten unerkannt einige
frühere Vormünder Levekes verbergen. Es siegelten neben den Mengersens
und deren Schwägern Streithorst85 Jobst v. Veltheim auf Glentorf86, Hans v.
Bülow auf Oebisfelde87 und dessen wohl älterer Bruder Cordt auf Gartow88,
Hermann v. Veltheim auf Alvensleben89 sowie der den Flechtinger Schenken
nahestehende Lehnsvetter Matthias Schenk auf Lemsell90. Dass Werner und
Kersten (II.) Schenk die Eheberedung ihrer Schwester besiegelten und
unterzeichneten, sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt.
83
LHASA, MD, E 76, Nr. 159, 1593 November 4, fol. 3r.
Wie vor, fol. 1v. Beinahe wortgleich findet sie sich in den Ehepakten für Kersten (II.) Schenk
und Maria Magdalena v.d. Schulenburg (LHASA, MD, E 76, Nr. 191, 1596 Juli 7); vgl.
ansonsten dazu: Hufschmidt (wie Anm. 72), S. 178-179, die feststellt, dass solche
Verpflichtungen eher selten belegt seien.
85
Als „Prominentester“ kann Joachim v.d. Streithorst auf Rottorf, verheiratet mit Ilse v.
Mengersen, einer Schwester Georgs, gelten. Er fungierte später als höchst umstrittener
Landdrost der wolfenbüttelschen Harzämter und beraubte das Grab Kaiser Lothars III. in
Königslutter. Die Christian IV. von Dänemark zugeschriebene Propagandaschrift „Königlicher
Wecker“ von 1620/23 bemerkt u.a., dass er sich „zur Landdrostschaft gleichwie die Sau zum
Tanze [habe] schmücken lassen“ (A.F. Büsching, Magazin für die neue Historie und
Geographie, 22. Teil, Halle 1788, S. 18-19). Wie Joachims Bruder, der Drost zu Königslutter,
Hinrich Christoff v.d. Streithorst in den Kreis der Familie v. Mengersen kam, bleibt unklar.
86
Er starb nach Schmidt, Veltheim II (wie Anm. 58), S. 168 im Jahre 1600. Seine zweite
Ehefrau war seit 1570 Armgard v. Bülow a.d.H. Gartow/Oebisfelde (s.o. Anm. 69), eine Tante
der Leveke.
87
Bei v. Bülow (wie Anm. 50), S. 48 nur knapp angesprochen. Er starb nach Levekes eigener
Mitteilung an Ludolf v. Münchhausen im November 1599 (StABÜ, Dep. 6, GH A Nr. 476, 1599
Dezember 3) und dürft nach dem Ende der Pfandschaft Oebisfelde auf dem dortigen Allodialgut
der Familie gelebt haben, denn der Vertragstext bezeichnet ihn als zu „Obisfeldt“ ansässig. Die
Inschrift seines in Oebisfelde erhaltenen Grabmals nennt erstaunlicherweise den 20. Dezember
1599 als Todestag.
88
Er wird urkundlich erstmals 1557 greifbar (v. Bülow (wie Anm. 50), S. 43).
89
Geb. 1533, gest. 31.10.1603 (Schmidt, Veltheim II (wie Anm. 58), S. 132-134). Er war durch
seine Heirat mit Agnesa Schenk ein Schwager der Braut.
90
Siehe oben Abschnitt 2, vor Anm. 61.
84
49
Die im November 1593 vereinbarte Hochzeit ließ nicht lange auf sich warten: Am 5. Mai 159491 wurde die Vermählung in Flechtingen schließlich mit
dem üblichen Zeremoniell vollzogen. Knapp vier Wochen vor dem Hochzeitstermin hatte Georg v. Mengersen u.a. dem Ludolf v. Münchhausen eine
entsprechende Einladung zugesandt, nachdem er sich „auf furgehenden
zeitigen rath und bewilligung beiderseits freundtschafft und verwanten die
eddelen und viell tuegentreichen jungfer Leve Schencken, Cersten
Schencken ehelieblichen92 dochter hiebevor ehelich [...] versprechen und
zusagen lassen“. Mengersen wollte Münchhausen als seinen „viellgeliebten
und vertrauten bruder“ gerne „vor anderen auf [seinem] hochzeitlichen
ehrentage“ sehen und lud ihn deswegen für den Freitag zuvor in die
Behausung des (Land-)Vogtes zu Bettmar unweit Vechelde ein, um von dort
aus gemeinsam mit ihm nach Flechtingen zu reisen. Mit der Flechtinger
Hochzeit sollten sich die familiären Kontakte der v. Mengersen und v.
Münchhausen zum verwandtschaftlichen Umkreis der Schenken intensivieren: Es wird in Abschnitt 3.4 darauf zurückzukommen sein.
Nach der Hochzeit bezog das junge Ehepaar das schaumburgische Schloss
Sachsenhagen, welches die Familie des Georg v. Mengersen seit 1571 mit
allem Zubehör für 45.000 rhein. Gulden von den Grafen von Schaumburg in
Pfandbesitz hatte, und welches Georg noch im Jahr seiner Verlobung als
väterliches Erbteil zugefallen war93. Hier wurde am 10. Juni 1595 der Sohn
Hermann Christian geboren94, der die Vornamen seiner beiden Großväter
Mengersen und Schenk erhielt95. Lange sollte aber das Glück in Sachsen91
So die Einladung Mengersens an Ludolf v. Münchhausen. Das „eheliche beilager“ war für
Sonntag vocem jocunditatis (Mai 5) in Flechtingen geplant (StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 201,
Sachsenhagen 1594 April 8). Es wurde um Mitteilung gebeten, wie viele Pferde Münchhausen
mitbringe, um wegen der Herberge alles richtig zu bestellen. Nach dem genannten Schreiben
auch das Folgende.
92
Müsste heißen: „eheleiblichen“
93
Meyer (wie Anm. 77), S. 44, 47-48; hiernach das Folgende. In diesem Zusammenhang ist
darauf hinzuweisen, dass Meyers stenographische Quellenangaben u.a. auch einen Bestand
„Archiv Oldendorf“ nennen, der sich aber trotz intensiver Recherche nicht mehr nachweisen
lässt und mit jenem archivalischen Restbestand, der unmittelbar vor Abbruch des Gutshauses
Oldendorf 1965 von der Stadt Hessisch-Oldendorf an das Staatsarchiv Bückeburg abgeliefert
wurde (StABÜ, D 4 (=21 Archiveinheiten 1719-1877)) nicht identisch ist.
94
Das Geburtsdatum ist aus der exakten Altersangabe in der Leichenpredigt seiner Mutter (SUB
Göttingen, 4 CONC FUN 226 (3) ansonsten Roth, Auswertungen (wie Anm. 59), R 7355) sowie
dem durch Leveke selbst überlieferten Sterbetag (StABÜ, Dep. 59, Nr. 482, pag. 2) zu
berechnen.
95
Die Namensvariante „Christian“ ist dabei offenbar den weserländischen
Sprachgepflogenheiten der Zeit angepasst; Frau Leveke und ihr Sohn selbst benutzten bisweilen
das bei den Schenken übliche „Karsten“; so Letzterer bei seiner Immatrikulation in Gießen 1611
(Ernst Klewitz, Karl Ebel, Die Matrikel der Universität Gießen 1608-1707, Gießen 1898, S. 191)
und seine Mutter noch in der Einleitung ihres Testaments vom 10. Januar 1617 (StABÜ, Dep. 6
50
hagen nicht währen: Schon nach nur einem Jahr und 14 Tagen seit der
Eheschließung wurde Georg v. Mengersen „von dem lieben goth mit schwerer leibes schwachheit [...] heimgesucht, daß er ein gantz jahr und fünff
wochen ist bettreißig gewesen“96. Schon angesichts dieser Erkrankung war
nicht daran zu denken, dass er die Funktion eines Drosten weiterhin innehaben könne; hinzu kam, dass die Schaumburger die Pfandschaft von Schloss
und Amt Sachsenhagen ohnehin im gleichen Jahre aufkündigten und Sachsenhagen zu Ostern 1596 für 53.000 Taler wieder einlösten97. Bereits zuvor,
nämlich am 13. Juni 1595, überließ Otto v. Mengersen seinem Bruder Georg
das Lehngut Oldendorf, welches ihm 1593 in der Erbteilung zugefallen war98.
Georg bezog den Herrensitz Oldendorf am 26. April 1596 und durchlitt dort
noch gut sieben Wochen seiner „lanckweilige[n] sehr beschwerliche[n]
kranckheit und viele schmertzen an seinem leibe“, bevor er am 17. Juni des
gleichen Jahres starb99. Der von seiner jungen Witwe versandte Trauerbrief
drückt die gefasste Haltung der gläubigen Christin aus, zumal das Ende nicht
unerwartet kam und ärztliche Kunst nichts auszurichten vermocht hatte; der
kurze Zeitraum zwischen Tod und Begräbnis deutet darauf hin, dass Trauergäste aus der Altmark nicht erwartet wurden.
3.3 Das Schicksal des einzigen Sohnes
Frau Leveke blieb nach dem Tode ihres Ehemannes auf dem Stadthof in
Oldendorf. Es mutet erstaunlich an, dass der dem Georg bereits 1595 abgetretene Hof durch dessen Bruder Otto im März 1598 dem noch nicht dreijährigen Neffen Hermann Christian für 7.354 Taler verkauft wurde100, ohne
GH A Nr. 105, unpaginiert). Ein Neujahrsgruß des jungen Mengersen an seine Mutter vom 1.
Januar 1610 ist allerdings mit „Herman Christian von Mengersen“ signiert (H. Rausch,
Studentenbriefe aus Stadthagen, in: Otto Bernsdorf (Hrg.), Das alte Stadthagen und seine
Höhere Schule [...], Bückeburg 1939, S. 171).
96
Diese Formulierung beinahe wortgleich sowohl in Levekes Legatenstiftung 1616 April 3
(StABÜ, Dep. 59, Nr. 482, pag. 1) und in ihrem Testament 1617 Januar 10 (StABÜ, Dep. 6 GH
A Nr. 105).
97
Meyer (wie Anm. 77), S. 47. Die Verschreibung von 1571 war für maximal 22 Jahre erfolgt
(Meyer (wie Anm. 77, S. 44); man hatte diesen Zeitraum demnach nur geringfügig erweitert.
98
Meyer (wie Anm. 77), S. 47.
99
Das genaue Sterbedatum des Georg v. Mengersen stand bislang nicht fest. In StABÜ, Dep. GH
A Nr. 323, unpaginiert, findet sich jedoch die briefliche Mitteilung Levekes an Ludolf v.
Münchhausen betr. den Tod ihres Mannes Georg (Jürgen) v. Mengersen, 1596 Juni 19.
Demnach war er am Freitag zuvor, also dem 17. Juni, gestorben; als Begräbnistag wurde der 29.
Juni ins Auge gefasst. Levekes Leichenpredigt (s.o. Anm. 94) nennt als Todestag irrtümlich den
Tag des Einzugs in Oldendorf.
100
Meyer (wie Anm. 77), S. 47.
51
dass dieser Vertrag Rechtskraft erlangt hätte, denn Otto verstarb wenige
Monate später. Am 11. Oktober 1598 wurde der Verkauf gleichwohl von den
überlebenden Brüdern bestätigt101.
Die 1596 erst 32jährige Witwe v. Mengersen hat eine zweite Heirat offenbar
nie in Erwägung gezogen. Sie widmete sich für die folgenden Jahre ganz und
gar der Erziehung ihres einzigen Sohnes und - stellvertretend für diesen - der
Verwaltung des Gutes Oldendorf. Ob sie von Anfang an auch Hauslehrer
beschäftigte, lässt sich nicht feststellen; eindeutig belegt ist dagegen, dass die
Ausbildung des Hermann Christian v. Mengersen seit 1607 in den Händen
des fähigen Magisters Theodor Steding lag, der ihr von berufener Seite
empfohlen worden war und an dessen Gehalt sie nicht sparte102.
Steding begleitete seinen Schüler auf die Lateinschule nach Hannover und
von dort 1609 auch auf die Lateinschule in das näher gelegenen Stadthagen,
deren Umwandlung in ein Gymnasium Illustre der junge Mengersen im
April 1610 miterlebte103. Aus dem offenbar in alle Himmelsrichtungen
zerstreuten Hausarchiv Oldendorf hatte sich eine kleine Sammlung von
Briefen erhalten, die Hermann Christian v. Mengersen seiner Mutter von
Stadthagen aus nach Oldendorf schrieb104. Die heute nicht mehr auffindbaren Briefe105 vermitteln uns das Bild eines sprach- und schreibgewandten
101
Meyer (wie Anm. 77), S. 21.
Nach dem in seiner Leichenpredigt (Roth, Auswertungen (wie Anm. 59), R 4471) gegebenen
Lebenslauf hatte der Handwerkerssohn Steding in Helmstedt überaus erfolgreich studiert und
dort 1607 den akademischen Grad eines Magisters erlangt. Er trat seine Stelle als Hauslehrer für
Hermann Christian v. Mengersen auf Empfehlung des Stadtsyndikus von Hannover, Dr. Conrad
Bünting, „zu einem guten Gehalt“ an. Nach Tätigkeit u.a. als Konrektor des Gymnasium Illustre
zu Stadthagen amtierte er seit 1613 als Pfarrer in Oldendorf und wurde 1645 zum
Superintendenten der Niedergrafschaft Schaumburg berufen. Der überzeugte Lutheraner
Steding publizierte u.a. zur 100jährigen Wiederkehr des Wittenberger Thesenanschlags die
Memoria Lutheri Das Ist: Christliche Ehrengedechtniß des grossen Tewren Mans Gottes D.
Martini Lutheri [...] Stadthagen 1617 (SUB Göttingen, 4 CONC FUN 151 (17)).
103
Als Vorläufer der Universität Rinteln durch Graf Ernst von Schaumburg 1610 gegründet.
104
Rausch (wie Anm. 95) S. 161-172. Die lediglich knappe Auszüge liefernde Darstellung
Rauschs genügt heutigen Anforderungen leider nicht mehr. Die Briefe wurden – so ein entspr.
Vermerk S. 161, Anm. 1 – durch den Besitzer, einen gewissen Richard Schander (Magdeburg),
zu Verfügung gestellt und dem StadtA Stadthagen schließlich als Geschenk überlassen. Die bei
Rausch gegebenen Auszüge wurden durch Angelika König etwas flüchtig rezipiert (Dies., „...zu
Wittenberg und in Frankreich seine studia wol angelegt“. Bildungswege junger Adeliger, in:
Vera Lüpkes u. Heiner Borggrefe (Hrg.), Adel im Weserraum um 1600, München, Berlin 1996
(Katalog zur Ausstellung im Weserrenaissance-Museum Schloss Brake 15. September-8.
Dezember 1996 – Schriften des Weserrenaissance-Museums Schloss Brake Nd. 9), S. 73-94; hier:
S. 80-81).
105
Im Stadtarchiv Stadthagen sind unter der Signatur P 474 1b lediglich zwei Briefe von 1609
Oktober 12 sowie 1610 Januar 1 als moderne Abschriften erhalten. Die Suche nach weiteren
Stücken aus der Sammlung verlief bisher erfolglos (frdl. Mitteilung von Herrn Stadtarchivar
Tatje vom 31. Januar 2012).
102
52
Jugendlichen, für den die Aneignung der trockenen juristischen Stoffe nicht
immer ein reines Vergnügen war. So schrieb er aus dem abgelegenen Hülsede, dem Sitz seines Onkels Jobst v. Mengersen, wohin er sich auf Anordnung der Mutter wegen der 1609 in Stadthagen grassierenden Pest zurückgezogen hatte, nach Oldendorf: „lieber gott, darff ich den kegen soviel unseliger tage, welcher mir doch fast keiner fürbei gehet, nicht eine gute stunde
unterweilen haben. Den die mutter kan ja wol gedenken, das wen ich den
abent spat, den morgen früe, für der malzeit, nach der malzeit [...] auch offt
wieder meines praeceptoris willen meine studia traktiere, den mir unterweilen das wol gefallen lasse, und mich ein wenig damit ergetze, das ich
sonst, wen ich ander kurzweil triebe, wol nicht achtete...“106. Da bot das
städtische Umfeld des Gymnasium Illustre, wohin er bald zurückkehrte,
denn doch wohl mehr Abwechslung. Frau Leveke ließ es ganz im Sinne
streng-lutherischer Erziehungsideale an Ermahnungen nicht mangeln, die
aber – wenigstens aus Sicht Hermann Christians – unnötig schienen107.
Offenkundigen Vorhaltungen der Mutter hinsichtlich der hohen Kosten des
Studiums vor dem Hintergrund beschränkter finanzieller Ressourcen begegnete er etwas ungehalten, wusste aber auch, Frau Leveke durch rasches
Einlenken versöhnlich zu stimmen108. Seine Schilderungen kleiner Missgeschicke verraten eine humoristische Begabung, wie man sie gelegentlich
auch bei seinem Onkel, Kersten (II.) Schenk, zu spüren glaubt109. So berichtete er im Mai 1610 nach Oldendorf, dass er im Zuge einer Neckerei unter
Jugendlichen im „Krautgarten“ des Kanzlers v. Wietersheim ins Straucheln
geraten sei und sich den Kopf an einer Brunneneinfassung blutig gestoßen
habe. Frau Leveke hatte ihm daraufhin wohl Vorhaltungen wegen seiner
Ungeschicklichkeit gemacht, die er trefflich zu parieren verstand: „das ihr
106
Rausch (wie Anm. 95), S. 164.
„Betreffent auch die geselschafft, für welche mich die mutter warnet, so hoffe ich nicht, das
deßhelben jenige klage an die mutter kommen solte, den ichs ja noch also gemacht, das unser
Magnificus (=der Rektor Dr. jur. Hermann Wesling), welcher mich den bisweilen selber lesset
zu sich fodern, kegen den ern kanzeler (=Julius Adolph v. Wietersheim) newlich geret hatte,
das er wol müchte wüntschen, es waren alle studiosi, wie der eine Mengersen von Oldendorff“
(Rausch (wie Anm. 95), S. 166 ad 1610 Juli 15).
108
Rausch (wie Anm. 95), S. 167-168. Die durch Leveke gelegentlich ins Spiel gebrachten
Aufwendungen von 300 Tlrn. jährlich für das Studium des Sohnes scheinen angesichts der
Tatsache, dass die um 1610 erlassene Kammerordnung der nahen Grafschaft Lippe für den
Kanzler ein Jahresgehalt von 450 Tlrn. sowie für Drosten bzw. adelige Räte Gehälter von
jeweils 250 Tlrn. vorsah, etwas hoch veranschlagt.
109
Als der Münchhausenhof in Oldendorf im Jahre 1601 unter einer Mäuseplage litt und Ludolf
v. Münchhausen sich bei Kersten (II.) Schenk offenbar darüber beklagt hatte, schickte dieser
ihm von Dönstedt aus zwei Jagdhunde und zwei Katzen. Mit Blick auf letztere wünschte er, dass
„die Dönstedtischen kazenn auch die Oldendorffischen meuse tilgen unnd uberweldigen
mugen“ (StABÜ, Dep. 6 GH A 479, 1601 März 8).
107
53
aber von meiner plumpheit bei den junkfrauwen schreibet, so ist die nicht
mein, sondern den junkfrauwen, welche mich gedachten zu küssen, und weil
sie zu scharfbissig waren, bissen sie mir eine schramme in den kopf“.110
Das „Valet“, die Abschiedsfeier von Stadthagen, anlässlich derer er der
Mutter zwei Tonnen Broyhan und die Bewirtungskosten für die Professoren
und andere Gäste abtrotzen musste111, fand im März 1611 statt. Nach einem
vielleicht längeren Besuch in Oldendorf112 begab er sich nach Gießen, um
dort das begonnene Studium der Rechtswissenschaft und Sprachen fortzusetzen113. Hierbei begleitete ihn als „paedagogus und preceptor“ der etwas
ältere Henricus vom Haus aus Oldendorf, welcher ihm seit seiner Kindheit
offenbar besonders nahestand114 und der dem erst 13-jährigen Hermann
Christian v. Mengersen seine juristische Helmstedter Disputation von 1608
gewidmet hat115.
Es bedarf keiner langen Suche, wenn man nach möglichen Impulsgebern für
die wissenschaftlichen Neigungen des jungen Mengersen fragt. Da gab es
einerseits den mehrfach genannten hochgebildeten Ludolf v. Münchhausen,
auf dessen Oldendorfer Hof nach und nach eine der bedeutendsten Privatbibliotheken Nordwestdeutschlands geschaffen wurde116, und welcher so110
Rausch (wie Anm. 95), S. 166 ad 1610 Mai 28.
Rausch (wie Anm. 95), S. 165. König (s.o. Am. 103, S. 80) hat die entsprechenden
Briefpassagen gründlich fehlinterpretiert, denn derartige Bewirtungen hatten mit den viermal
wöchentlich veranstalteten Disputationen nichts zu tun. Auch das von ihr angegebene
Flüssigkeitsmaß (1 Tonne = 199 Ltr.) ist nicht zutreffend: Realiter wird man das für Hannover
anhand primärer Quellen zwischen 1617 und 1642 errechenbare Broyhan-Maß (1 Tonne = 40
Stübchen a 3,76-3,88 Ltr., mithin 150,4-155,2 Ltr.) zu Grunde legen müssen (vgl. Otto Jürgens
(Hrg.), Hannoversche Chronik, Hannover 1907 (Veröffentlichungen zur nieders. Geschichte 6),
S. 548 (zu 1642) sowie Rüdiger Kröger, Das Schuldbuch der Zilly Rosenworm aus Hannover
(1616-1619), in: Hannoversche Geschichtsbll. NF 53, 1999, S. 167-199 (zu 1616/17).
112
Rausch (wie Anm. 95), S. 167.
113
Ernst Klewitz u. Karl Ebel (Bearb.), Die Matrikel der Universität Gießen 1608-1707, Gießen
1898, S. 191. Demnach immatrikulierten sich Mengersen und der offenbar im Manuskript
verlesene „Henric. von Gauß Oldendorpiensis Schaumburgensis“ gemeinsam am 5. Juli 1611.
Hierbei ist bemerkenswert, dass vom Hauß nicht unter den üblicherweise separat notierten
Präzeptoren geführt wird. Zur fachlichen Ausrichtung Mengersens: Meyer (wie Anm. 77), S.
48.
114
Heinrich vom Haus, der offenbar einer unebenbürtigen Linie der gleichnamigen Adelsfamilie
auf Eimbeckshausen entstammte, wurde durch Hermann Christian testamentarisch bedacht,
„weille er von kleinem kinde auff bei ihm gedient und sein paedagogus auch praeceptor gewesen
bis an sein seliges ende“ - so beschrieb es Leveke rückschauend in ihrem Testament von 1617
(siehe oben Anm. 1).
115
Exercitationum Iustineanearum Decas IX. De Obligationibus [...], Helmstedt 1608 (SUB
Göttingen, COLL DISS CELL 381, R-Z (2)). Neben Mengersen galt eine weitere Widmung
allerdings auch dem Ludolf v. Münchhausen zu Oldendorf/Remeringhausen.
116
Erstmals gewürdigt bei Albert Neukirch, Niedersächsische Adelskultur der Renaissance,
Hannover 1939 (Renaissanceschlösser Niedersachsens, Textbd. 2. Hälfte), S. 251-252, sowie
ausführlich durch Bei der Wieden (wie Anm. 56), S. 51-72.
111
54
wohl der lesefreudigen Leveke117 als auch ihrem Sohn persönlich nahestand;
da gab es aber auch in Gestalt des Jacob Schenk von Flechtingen, Werners
ältestem Sohn, den etwa zehn Jahre älteren, durch den bekannten
„Adelslehrer“ Johann Caselius in Helmstedt118 erzogenen Vetter. Nur wenigen jungen Herren von Adel hat Caselius so persönliche, von großer Sympathie getragene Zeilen gewidmet wie Jacob Schenk119, der 1603 von Helmstedt nach Leipzig ging, 1608 von dort nach Helmstedt zurückkehrte120 und
während einer zweiten Frankreichreise, 23 Jahre alt, 1610 in Paris starb121.
Man wird die Vorbildfunktion dieses altmärkischen Verwandten mit Blick
auf den Stadthäger, später Gießener Studenten Mengersen nicht unterschätzen dürfen.
Dass die universitäre Ausbildung des Hermann Christian v. Mengersen
keineswegs bloßer Selbstzweck war, sondern sich mit mehr oder weniger
konkreten Vorstellungen von einer späteren Tätigkeit verknüpfte, hat seine
Mutter rückschauend in ihren eigenen Worten angedeutet, wenn sie 1616
schrieb, dass ihren Sohn „nicht allein jederman geliebet und gefallen an ihm
gehabt, sondern freundt und frembde haben große hoffnung zu ihm getragen
117
Sie versorgte sich gelegentlich mit Lesestoff aus Ludolfs Beständen: Einer ihrer Briefe wurde
zusammen mit einem zuvor geliehenen Buch – einem theologischen Werk - an den Eigentümer
zurückgesandt (StABÜ, Dep. 6, GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, undatiert:
„Mein liber schwager, ich wünsche euch einen gutten morgen undt das ihr gesunt moegen zu
haus kommen [...] ich sende euch euer buch wider...“. Es folgen inhaltliche Betrachtungen. Sie
nahm derartige Stoffe nicht nur auf, sondern reflektierte sie offenkundig in eigenen
Niederschriften: Der Verfasser ihrer Leichenpredigt rühmt ihr jedenfalls nach, dass sie „von
allen Stücken der christlichen [...] Religion ein schönes Bekäntniß gemacht und mit eigener
Hand geschrieben, und alles so ordentlich und verständlich gesetzet, daß man sich höchlich
darüber verwundern muß“ (SUB Göttingen, 4 CONC FUN 226 (3), S. 38).
118
An das in diesem Zusammenhang wohl wichtigste Werk des Caselius, nämlich Eugenes sive
de Nobilitate, Helmstedt 1600, sei hier der Vollständigkeit halber erinnert.
119
Das Abschiedsgedicht des Caselius vom Oktober 1603 wurde mehrfach gedruckt. Hier wird
Bezug genommen auf: Joan Caselii Ad generosum adolescentem Jacobum Schenck / In
Flechtingen / Parainesis, Amberg 1606 (HAB 394.26 Qoud. (3)). Zu nennen wären unter den
Schülern des Caselius in diesem Zusammenhang allenfalls noch Ludolf KlenckeHämelschenburg (Neukirch (wie Anm. 116), S. 272-273) sowie der Altmärker Matthias v.d.
Schulenburg (Georg Schmidt, Das Geschlecht von der Schulenburg, II. Teil: Die Stammreihe,
Beetzendorf 1899 (im Folgenden abgek.: „Schmidt, Schulenburg II“), S. 363-364).
120
Theodor Surland widmete ihm jedenfalls im Jahre 1608 eine Begrüßung mit dem Titel:
Generoso iuveni Jacobo Schenck In Flechtingen, Equiti Marchico, e longinqua peregrinatione
reduci [...], Helmstedt 1608.
121
Todesjahr, Alter und Sterbeort werden in der Leichenpredigt auf seinen Onkel Kersten (II.)
von 1622 - und damit recht zeitnah - angegeben (SUB Göttingen, 4 CONC FUN 231 (3)). Im
August 1609 weilte Jacob jedenfalls noch in seinem Flechtinger Elternhaus und unterzeichnete
gemeinsam mit seiner Mutter Sabina geb. v. Bredow eine Einladung an Ludolf v. Münchhausen
anlässlich der für Sonntag den 1. Oktober in Altenhausen geplanten Hochzeit seiner Schwester
Margaretha mit Matthias v.d. Schulenburg auf Altenhausen (StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 231,
1609 August 22).
55
wegen seines verstandes und fromikeit, Gott würde einen man auß ihm
machen, der land und leuten nutzlich wehre...“122. Man dachte dabei wohl an
eine künftige Mitwirkung in der schaumburgischen Landesverwaltung etwa
in der Funktion eines Landdrosten, wie sie bereits der Großvater Hermann
v. Mengersen innegehabt hatte und wie sie der Onkel Jobst v. Mengersen auf
Hülsede seit dem Frühjahr 1621 für kurze Zeit gleichfalls bekleiden sollte123.
Auch die in Stadthagen immer wieder gesuchte Nähe zu dem schaumburgischen Kanzler Julius Adolph v. Wietersheim ließe sich entsprechend
interpretieren. Wie immer die Zukunftspläne des jungen v. Mengersen auch
ausgesehen haben mögen: Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm, wenn
es ihn zusammen mit seinem Begleiter aus dem pestbedrohten Gießen124
nach Köln ziehen ließ. Hier ergriff ihn jedenfalls ein „hitziges fieber“, dem er
nach 20 Tagen am 21. Juni 1612 erlag125.
Die Todesnachricht löste bei der Mutter des jungen Mannes offenbar eine
Schockstarre aus, die es ihr unmöglich machte, in üblicher Weise mit ihrer
Umwelt zu kommunizieren: Wenigstens das Konzept des Trauerbriefs an
fern wohnende Angehörige hatte Ludolf v. Münchhausen zu übernehmen126,
während Frau Leveke selbst mit ungewohnt fahriger Hand die Namen der zu
benachrichtigenden bzw. zum Begräbnis zu ladenden Verwandten sowie eine
heraldisch fehlerfreie Ahnenprobe - wohl zu dekorativen Zwecken während
der Beisetzungsfeierlichkeiten – zu Papier brachte127. Insgesamt 13
Angehörigen in der Altmark bzw. in Anhalt wurde die Trauerbotschaft
122
StABÜ, Dep. 59, Nr. 482, 1616 April 3, pag. 2).
Meyer (wie Anm. 77), S. 45, 81. Jobst I. war zuvor seit dem Jahre 1600 Drost auf der
Schaumburg gewesen.
124
Zu den Pestepidemien in Gießen u.a. 1611 und 1612 vgl. Norbert Werner, Hans Georg
Pfeifer, 375 Jahre Universität Gießen 1607-1982 – Geschichte und Gegenwart, Gießen 1982, S.
25.
125
Erkrankung und Todestag überliefert seine Mutter in StABÜ, Dep. 59, Nr. 482, pag. 1. Die
noch 1996 kolportierte Version, wonach er „an den Folgen eines Duells“ verstorben sei (König
(wie Anm. 104), S. 81, Text zu Abb. 58) sowie Anm. 419) ist unkritischer Rezeption
heimatkundlicher Literatur geschuldet: Eine Überprüfung des Oldendorfer Kirchenbuchs ergab
keinerlei diesbezüglichen Hinweis.
126
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 323, Mitteilung Levekes an diverse Verwandte betr. den Tod des
Sohnes Hermann Christian 1612 Juli 3 (Entwurf von Hand des Ludolf Münchhausen).
127
Wie vorige Anm.; hier: handschriftlich (durch Leveke) notierte 16 Wappen für eine –
möglicherweise am Sarg anzubringende – Ahnenprobe. Berücksichtigt wird hier nur die
mütterliche Seite: „van der Mutter wegen sindt Schencken, die von Bulow, die von Wenkstern,
die von Marrenholte, die von Jagauwe, die von Bodendike, die von Knesebeke, die von
Bodendorff...“. Die Reihung der Wappen entspricht hierbei der für die Herrschaftsempore in
Flechtingen 1592 geschaffenen Ahnenprobe des Werner Schenk; sie wird am Epitaph für Marie
Agnese v. Lenthe geb. Schenk von Flechtingen (1602-1641), einer Cousine des Hermann
Christian v. Mengersen, in der Kirche zu Lenthe, Region Hannover, in unveränderter Form
wiederholt.
123
56
übermittelt, wobei die noch lebenden Geschwister Schenk die ersten Positionen der Liste einnahmen128.
Man überführte den Verstorbenen von Köln nach Oldendorf, wo er am 15.
Juli 1612 im südlichen Seitenschiff der Stadtkirche nahe dem Chor 129 neben
seinem Vater beigesetzt wurde130. Paul Schmied, damals Pfarrer in Oldendorf, hielt gleich zwei Gedächtnispredigten, die noch 1612 in Druck
gingen131. Diesen Predigten wurden sechs Textbeiträge beigegeben, die Verwandte und Freunde des Verstorbenen beigesteuert hatten; so etwa Hermann Justus (Jobst) v. Mengersen aus der Linie Helpensen, der dem Vetter
schon bald im Tode nachfolgte132, und der bereits erwähnte Theodor Steding.
Während zwei weitere Autoren zuverlässig als Kölner Studenten der Rechtswissenschaft identifizierbar sind und ein dritter sich einer Zuordnung
entzieht133, lässt ein vierter Name besonders aufhorchen: Gemeint ist der
junge sächsische Adlige Rudolf v. Dieskau (1593-1656), der zunächst als
Student in Jena, später als fürstlicher Rat am Weimarer Hof, Hauptmann zu
Weißenfels und Hofmeister des sächsischen Kurprinzen in Erscheinung tritt,
128
Und zwar: 1) Kersten (II.) Schenk auf Flechtingen (Bruder), 2) Agnes geb. Schenk, Witwe
des Hermann v. Veltheim auf Alvensleben (Schwester), 3) Matthias Schenk auf Lemsell nebst
Ehefrau (Schwager und Schwester), 4) Elisabeth geb. Schenk, Witwe des Bethmann v. Dorstadt
auf Nienburg/Saale (Schwester), 5) Sabina geb. v. Bredow, Witwe des Werner Schenk von
Flechtingen (Schwägerin), 6) Matthias v.d. Schulenburg auf Altenhausen (Ehemann einer
Nichte), 7) Henning v.d. Schulenburg zu Angern (dto.), 8) Werner v.d. Schulenburg zu Angern
nebst Ehefrau (Nichte nebst Ehemann), 9) Dietrich v.d. der Schulenburg zu Apenburg
(Ehemann einer Nichte), 10) Christoph v. Veltheim zu Bartensleben (Neffe) nebst Hausfrau,
11) Christoph v. Veltheim, Domherr zu Halberstadt (Vetter), 12) Henning Carl Schenk auf
Lemsell (Neffe), 13) Anna geb. v. Veltheim, Ehefrau des Arndt v. Stammer auf Ballenstedt
(Nichte). In der Akte hat sich auch die schriftliche Absage des Christoph v. Veltheim auf
Bartensleben betr. seine Teilnahme am Begräbnis in Oldendorf erhalten (wie vorige Anm., 1612
Juli 12): Er erkrankte, nachdem er schon seine Wechselpferde abgeschickt hatte, an einem
Fieber.
129
„Vur dem cur“ im Inneren der Kirche wünschte auch Leveke begraben zu werden (StABÜ,
Dep. 6 GH A Nr. 105, 1617 Januar 10).
130
So der entspr. Vermerk im „Diarium“ des Ludolf v. Münchhausen (StABÜ, Dep. 6 GH M Nr.
250, fol. 112).
131
Und zwar am 2. Juli 1612, dem mutmaßlichen Tag der Ankunft der Leiche in Oldendorf,
sowie am 15. Juli, dem Tag des Begräbnisses (Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer
Kulturbesitz (im Folgenden abgek.: ‚SBPK‘), Ee 708-47).
132
Meyer (wie Anm. 77), S. 53, mit nur knappen Angaben, darunter der nicht durch entspr.
Quellenangabe abgesicherten Feststellung, dass er zusammen mit Hermann Christian erzogen
worden sei. Als Respondent in Stadthagen nachgewiesen 1611 (HAB (wie Anm. 59) J 71a. 4o
Helmst. (22)).
133
Es handelt sich um Heinrich Hattingen, Jurist aus Köln, später Respondent in Straßburg und
Basel, Johannes Praetorius aus Nieheim, Respondent in Köln 1612, sowie einen gewissen
Henricus Prins, zu dem keine näheren Angaben vorliegen (Nachweise in VD17).
57
der aber vor allem als schöpferisches Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft bekannt geworden ist134.
Der geistliche Zuspruch konnte Leveke von Mengersen kaum dauerhaft trösten, denn sie verlor nach eigenen Worten mit dem Sohn „ihren negst Gott
einigen trost, hoffnung und freude in dießer welt“135 und auch in der autobiographisch aufzufassenden Einleitung ihres Testaments vom Januar 1617
spricht sie den knapp fünf Jahre zurückliegenden Schicksalsschlag nochmals
an: „Hernacher sösten (=16) jahr nach meines lieben junckern dott hat
mich der libe Gott noch hertter angegriffen und mich meinen hertze allerlibesten einigen sone Hermen Karsten von Mengerßen, nachdem er 17 jahr
und 11 tage erreicht, durch einen seligen abscheidt von disem jammerdall
abgefurdert und mich ellenden betrübten weibe durch disses meines frommen und wolerzogen und ihn allen gehorsamen sones fall alles erdeßken
trostes lieb und gutt beraubet, undt ob ich woll von meiner jugent auff viele
ellendes vursucht, so ist es doch unter alle was einem menschen auff disser
welt widerfaren kan, kein hoiger creutz, den ein einigen gehorsamen son,
den Gott mit vurstande begabet und iederman gute hoffenung zu dreget, zu
vurlieren...“136. In ihrem wohl schon bald nach dem Verlust des Sohnes
einsetzenden Bemühen, dessen Andenken u.a. durch die Errichtung eines
aufwendigen Grabdenkmals (Abb. 9) dauerhaft zu sichern137, wird die
zeittypische Manifestation adeliger Memoria möglicherweise durchdrungen
von dem Wunsch, die eigene Trauer wenigstens ein Stück weit zu
bewältigen.
3.4 Der Kampf um den Witwensitz Oldendorf
Das frühe und unerwartete Ableben des Hermann Christian v. Mengersen
gab seiner Mutter nicht nur das Gefühl gänzlicher Verlassenheit, sondern
schuf offenkundig auch rechtliche Probleme, die es zu meistern galt.
134
Zu ihm Martin Bircher, Im Garten der Palme [...], Teil 2, Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler
Arbeiten zur Barockforschung Bd. 32), S. 123. Noch im März 1611 ist er in Jena nachgewiesen.
Ob er sich 1612 in Köln aufgehalten hat, bleibt eine offene Frage; denkbar wären auch
anderweitig vermittelte Kontakte, denn Alhard v. Mengersen, ein Vetter des Hermann Christian
aus der Erdeborner Nebenlinie, war mit Marie v. Dieskau verheiratet (Meyer (wie Anm. 77), S.
50), die sich bis dato einer sicheren genealogischen Zuordnung entzieht.
135
StABÜ, Dep. 59, Nr. 482, pag. 2.
136
StA BÜ, Dep. 6, GH, A, Nr. 105, 1617 Januar 10.
137
In ihrem Testament vom 10. Januar 1617 (wie vorige Anm.), spricht sie davon, dass sie
inzwischen nicht nur ihre eigene Grabstelle inklusive des „Leichsteins“ habe herrichten,
sondern auch ein „Epittaffium“ habe setzen lassen (siehe unten Kap. 6). Für die drei Gräber in
der Stadtkirche zu Oldendorf zahlte sie dem Rat 70 Goldgulden, deren Zinsen beiden Pfarrern
des Ortes zugute kommen sollten (StABÜ, Dep. 59, Nr. 482, pag. 1-2).
58
Letztwillige Verfügungen, die der junge Mann auf seinem Kölner Krankenlager zugunsten der Armenversorgung seines Heimatortes Oldendorf138
sowie seines Begleiters Heinrich vom Hauß139 getroffen hatten, wurden von
den Brüdern seines Vaters als Lehnserben des jungen Mannes - wohl angesichts seiner Minderjährigkeit - nicht als rechtsgültig anerkannt; hier trat,
wie noch zu schildern sein wird, die Mutter für den Verstorbenen ein, da sie
dessen „lesten willen nicht [wollte] laßen feilbar (=fehlbar/ungültig)
machen“. Auch ihr Sitz Oldendorf schien nach dem Tode des einzigen Sohnes, der ja nach den innerfamiliären Verträgen nominell auch als Minderjähriger Inhaber des Hofes gewesen war, keineswegs auf Dauer gesichert,
wenngleich es ihr gelang, den noch lebenden Schwägern v. Mengersen
Zugeständnisse wegen des Hofes nebst Zubehör abzuringen, wofür sie ihrerseits auf alle noch offenen allodialen Erbansprüche ihres verstorbenen
Ehemannes verzichtete140. Von Dauer waren diese Abmachungen jedoch
nicht, denn schon bald begann ihr Schwager, der Schaumburger Drost Jobst
v. Mengersen, ihr auf wenig ritterliche Art zuzusetzen. Auf ihn dürften sich
– wenigsten zu einem guten Teil – jene bitteren Klagen beziehen, die sie
ihrem Testament vom Januar 1617 voranstellte: „Ich bin – so sagt sie – von
jederman trostloß vurlaßen gewesen, kein freundt hat umme meinet willen
iemals ein pert gesadelt oder ein wort vurlieren wollen, ich habe must
iedermans fußschemel sein, immer nachgeben und schweigen...“141. Sie griff
hierbei nicht ganz von ungefähr eine Redewendung aus dem „Adelsspiegel“
des Cyriacus Spangenberg auf142, dessen Empfehlungen zur Versorgung
138
Er hatte „seinem vaterland denen von Oldendorff, da er erzogen“ in seinem – nicht
erhaltenen – Testament 1.000 Rtlr. zugunsten der örtlichen Armenpflege vermacht (StABÜ,
Dep. 59, Nr. 482, pag. 3).
139
Leveke nennt in ihrem Testament einen Betrag von 600 Rtlr. (StA BÜ, Dep. 6, GH, A, Nr.
105, 1617 Januar 10). Nach dem Wortlaut des Testaments auch das folgende Zitat.
140
Nach Meyer (wie Anm. 77), S. 48, 50, 80 waren dies Alhard auf Kloster Mansfeld sowie
Anton auf Erdeborn und Jobst I. auf Hülsede, der lt. Meyer S. 81 offenbar besondere Anrechte
an Oldendorf geltend machen konnte. In der Präambel ihres Testaments (StA BÜ, Dep. 6, GH,
A, Nr. 105, 1617 Januar 10) hielt Leveke fest: „so habe ich mich auff dissen betrubten fall
(=den Tod ihrer nächsten Angehörigen) mit meines seligen junckern brudern vurglichen und
ihnen alles an siegell und brieffen wieder zugestalt, was mein juncker seliger von seinem
vätterligen erb so woll von seines bruderen Otten von Mengerßen valle (=Erbfall) bekommen,
habe nichts dafon behalten, allein dießen hoff zu Ollendorffe neben seiner zubehörung vur
meine leibzucht mein lebelang, nach meinem dotte sollen meine erben denen von Mengerßen
dissen hoff ohne entgelttniße wider zustellen, laut des vurdrages, so hirbei vurwart“. Der hier
genannte Vertrag scheint ebenso wie das Original des Testaments verloren zu sein.
141
StA BÜ, Dep. 6, GH, A, Nr. 105, 1617 Januar 10.
142
Anke Hufschmidt führt an entsprechender Stelle die Passage aus Cyriacus Spangenberg,
AdelsSpiegel. Historischer Ausführlicher Bericht: Was Adel sey vnd heisse, woher er komme,
wie mancherley er sey, Vnd was denselben ziere vund erhalte [...], 2 Bde., Schmalkalden 1591
59
adliger Witwen ihr offenbar geläufig waren. Die Aktivitäten des feindseligen
Schwagers Mengersen werden in den Briefen Levekes sicher nur zum Teil
erkennbar; jeder einzelne Vorstoß war aber wohlgezielt und daher schmerzhaft. So brachte er den Fürsten Ernst von Schaumburg gegen sie auf, indem
er u.a. den Verdacht streute, sie verstoße gegen das landesherrliche Salzmonopol, was zu unmäßigen Strafandrohungen des Fürsten, zum Vorwurf
„halsstarriger hoffart“ und unangenehmen Auftritten landesherrlicher
Beamter auf ihrem Hof führte143. Sie schließt einen schriflichen Hilferuf an
Ludolf v. Münchhausen mit einer bitteren Klage: „...ehs mag gott erbarmen,
das ich in meinem elende keinen friede haben mus, ich und meine bruder,
gelaube ich, mussen unsser sinne gar sein beraubet gewessen, wi ich mich
auß meiner angeboren friheit ihn disse tureksche (=türkische) dinstbarkeit144 geben habe. Meines vattern kruger (=Krugpächter) haben mer
fryheit [besessen] wie ich hier habe, der schwager wolle mich nicht vur
denken und mich mit weinig worten sein bedenken schreiben...“.
Die Angriffe Mengersens ließen, wie sie dem Ehemann ihrer Nichte im Jahre
1619 in höchster Erregung schrieb, auch in den Folgejahren keineswegs
nach, sondern nahmen eher noch zu145: Dreimal in einer Woche hatte er ihr
„zeugen und nottarien“ ins Haus geschickt, den Hof „cümmeren“ lassen146
und dabei überlaut gerufen, sie sollte das Anwesen „stüntlig“ (=umgehend)
räumen. Er ließ die Witwe vor die Regierung nach Bückeburg laden, wo sie
ihre Ehestiftung vorzulegen hatte und wo man sie offenbar zu einem
Verzicht auf Oldendorf zu bewegen oder doch wenigstens ihre Leibzucht
„nach landes gebrauch“ zu regeln, d.h. zu vermindern suchte, wozu die
Schaumburgische Polizeiordnung von 1615 vielleicht eine Handhabe geboten
und 1594; hier: Bd. 2, S. 130r, wonach eine adlige Witwe nicht „jederman an unter den Füssen
liegen“, d.h. nicht von Anderen abhängig sein solle (Hufschmidt (wie Anm. 72), S. 376).
143
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, 1617 November 19. Jobst
v. Mengersen, der hinter allem steckte, hatte noch vor wenigen Tagen gesagt, er wolle die
Schlacht (=die Schlagde, wesernahes Grundstück des Oldendorfer Hofes) „bei meinem leben
[zu ihren Lebzeiten] haben“. Während ihrer 14-wöchigen Abwesenheit hatte er ihre Knechte
und Mägde bedroht; Hirten waren angesichts der Drohungen aus dem Dienst entwichen. Jobsts
Schreiber hatte ihre Abwesenheit außerdem genutzt, den Zaun zwischen den Grundstücken
seines Dienstherrn und denen Levekes einreißen zu lassen. Aus dem o.angeführten Brief auch
das folgende Zitat.
144
Auch dieser Begriff kann als Zeugnis für Levekes Belesenheit gelten: Von der „jämmerlichen
Türckischen Dienstbarkeit“ im Sinne von Sklaverei ist im Zusammenhang mit „Exempel[n] des
fünfften Gebots – Von etlichen großen geschehenen Schlachten“ erstmals bei Andreas Hondorff
u. Vincentz Sturmius, Promptuarium Exemplorum – Historien- und Exempelbuch, Bd. 1,
Leipzig 1580, S. 243 die Rede.
145
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, „ihlig“, daher undatiert,
errechnet: 1619 (nach der Zeitangabe „7 iar nach meines sones dotte“). Aus diesem Schreiben
auch die folgenden Zitate.
146
D.h. beschlagnahmen lassen.
60
hätte147. „Ich bat“ – so Leveke – „man müchte die zeit vurlengern, ich kuntte
mich mit Iost von Mengerssen on meiner freunt rat nicht einlassen.“ Als sie
nach harten Verhandlungen148 wieder heimkam, fand sie dort eine neue
Klageschrift und Vorladung Mengersens, in der es um Geldforderungen ging.
„Ich mag mit Davit wol sagen: ‚ich werde schir vmgebracht auf ehrden‘149 –
mir ist mein leben mein lebe (=mein Lebtag) so saur nicht gemacht wie itzo,
gott mag mich helffen“. Während all dieser Auseinandersetzungen brach
gelegentlich der - sonst bezähmte - blanke Zorn aus ihr hervor, wenn sie an
Münchhausen schrieb: „freuntlicher liber schwager, ich kan euch nich vur
halten, das der duffel abermal dul ist (=der Teufel – gemeint ist Mengersen abermals toll ist), wi ihr aus bigefugtem schreiben zu ehrsehen...“150.
Nachdem Jobst v. Mengersen offenbar nicht davon abließ, die Schwägerin zu
bedrängen, entschloss sie sich im Jahre 1621 zu juristischen
Gegenmaßnahmen151; Ruhe kehrte aber erst ein, als ihr Widersacher im
September 1621 an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb. Leveke deutete
die zunächst nicht lebensbedrohlich erscheinende Erkrankung Mengersens
als Fingerzeig Gottes: „dem lan[d]rosten j v m (=Jobst von Mengersen) hat
gott einen starken briff gesant“ [es folgt die Beschreibung der
Krankheitssymptome] „es ist eine scharffe bus predi[gt], gott gebe, das ehr si
zu hertzen neme„ [...] „gott hilffe und beßer in (=ihn), das ehr selig
werde...“152. Eine völlige Aussöhnung zwischen ihr und den Nachkommen
des Jobst v. Mengersen hat es auch später wohl nicht gegeben: Selbst
147
Vgl. hierzu Hufschmidt (wie Anm. 72), S. 378-379.
„nun bin ich gestern mit Doctor Kipen dahin gewesen, habe einen harten streit gehat – ist zu
lank, kan wegen schwachheidt des [unleserlich] nicht alles schreiben...“. Der später
hochangesehene Diplomat im Dienste des Herzogtums Calenberg, Dr. jur. Justus Kipius (15881664), war damals Stadtsyndikus in Stadthagen.
149
Sie bezieht sich dabei auf Psalm 119, Vers 87: „Sie haben mich schier vmbbracht auff
Erden...“ (so die Wittenberger Lutherbibel von 1545).
150
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen – sicher mit Blick auf Jobst
v. Mengersen, undatiert.
151
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen 1621 (Tages- und
Monatsangabe unleserlich, aber wohl vor der Berufung des Jobst zum Landdrosten im
Frühjahr), wo sie berichtet, dass sie ihre Klage nach Bückeburg eingereicht habe – gleichwohl
habe ihr „der Droste“ wieder 12 Kopfweiden oben abhauen lassen: „das weis gott, was ich mit
dem gottlossen menschen besorgen(?) sol, got stur [=steuere im Sinne von: ‚wehre‘] ihm, er
fraget nirgen nach...“. In den Beständen des StABÜ findet sich leider keinerlei
Gegenüberlieferung.
152
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen 1621 September 2. Jobst v.
Mengersen starb bereits eine Woche später am 9. September (Meyer (wie Anm. 77), S. 81). Sie
war über die Geschehnisse auf dem nahen Adelssitz Stau, wo Mengersen am 26. August in
Anwesenheit des Fürsten „vber diske schwerlig kranck geworden“, d.h. eine halbseitige
Lähmung erlitten hatte, durch ihren Vertrauten Theodor Steding genauestens unterrichtet
worden. Von einer Überanstrengung bei der Jagd, wie sie durch Meyer als Auslöser der
Erkrankung dargestellt wird, ist bei Leveke nicht die Rede.
148
61
Einladungen stießen bei Leveke allenfalls auf Skepsis und sie versuchte, sich
solchen Verpflichtungen nach Möglichkeit zu entziehen153. Gleichwohl
wuchs sich die Auseinandersetzung zwischen Frau Leveke und ihrem
Schwager nicht zum Dauerkonflikt zweier Familienkreise aus: Zu eng waren
und blieben die personellen Verbindungen zwischen den Schenken und
ihrem verwandtschaftlichen Umfeld einerseits und den Mengersens andererseits, die mit der Flechtinger Heirat 1594 ihren Anfang genommen hatten154.
3.5 Die späteren Witwenjahre
„Von jederman trostloß vurlaßen“, wie Leveke v. Mengersen es 1617 in der
Einleitung zu ihrem Testament ausdrückte, war sie natürlich nicht, wenngleich sie dies angesichts ihrer nicht eben beneidenswerten Situation bis
1621 subjektiv so empfunden haben mag. Schon vor dem Schicksalsjahr
1612 weilte ihr jüngster Bruder Kersten (II.) Schenk sicherlich nicht zum
ersten Male bei ihr in Oldendorf155; auch später fand er sich dort zuweilen
153
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, undatiert. Sie sei „heute
auf den sonnabent wan bei mich und dem gemeinen man die potte ledig sein“ nach Stau „zum
gaste gebeten“ worden und fragt, ob Ludolf nebst Gemahlin auch dorthin müssten bzw. wollten.
Sie wüsste gern, was er ihr rät: „wor ich da mit hin gehe oder nicht, sie meinens doch nicht von
hertzen undt ich bin auch nicht alzu lustig...“.
154
In diesem Zusammenhang ist zunächst die Heirat des Heinrich v. Mengersen (1576-1606),
Schwager der Leveke Schenk, mit deren Cousine Dorothea v. Veltheim a.d.H. Glentorf im Jahre
1600 zu nennen (Meyer (wie Anm. 77), S. 49). Eine weitere verwandtschaftliche Verknüpfung
zwischen einer Nebenlinie der Schenken einerseits und dem kurzlebigen Mansfelder Zweig der
v. Mengersen andererseits kam später hinzu: Victor Jobst Schenk (1588-1634) aus der Linie
Lauingen/Langeleben, der 1624 zum Rittmeister der wolfenbüttelschen Landschaft berufen
wurde (Philipp Christian Ribbentrop, Sammlung der Landtagsabschiede [...], Teil II, Helmstedt
1797, S. 2), 1629 als Drost zu Vienenburg amtierte (Nieders. Landesarchiv, HStA Hannover,
Cal. Br. 7, Nr. 2142) und 1632 als Gesandter Wolfenbüttels bei Gustav II. Adolf von Schweden
nachgewiesen ist (Friedrich Gf. v.d. Decken, Herzog Georg von Braunschweig und Lüneburg
[...], Teil 2, Hannover 1834, S. 293) heiratete zu einem nicht bekannten Zeitpunkt vor 1623
Maria Magdalena v. Mengersen (Meyer, wie Anm. 77), S. 50-51), Tochter des Anton auf
Erdeborn und damit Cousine des Hermann Christian v. Mengersen (+ 1612). Auch Dorothea v.
Müchhausen (1620-1684), die Großnichte Levekes, ist hier anzuführen: Sie heiratete Cord
Philipp v. Mengersen, einen Neffen sowohl des Jobst als auch des früh verstorbenen Georg
(Meyer (wie Anm. 77), S. 54).
155
StABÜ, Dep. 6 GR Nr. 1295, pag. 76. Dort Anweisung des Ludolf v. Münchhausen an seinen
Oldendorfer Schreiber betr. Beantwortung und Beförderung eines Briefes an Kersten (II.)
Schenk, der sich entweder noch in Oldendorf aufhält oder schon wieder abgereist ist, 1607
Sonntag Exaudi (Mai 17). Sollte Schenk wieder nach Hause gereist sein, möge der Bote nicht
nur den Brief nach Dönstedt befördern, sondern bei der Gelegenheit auch gleich „Glocknern
den jagdhund“ dorthin mitnehmen.
62
persönlich ein156. Nicht nur sein reger Briefwechsel mit dem „freundlichen
lieben schwager und vertrauten guten gesellen“157 Ludolf v. Münchhausen
dürfte dafür gesorgt haben, dass Leveke mit Blick auf das Wohl und Wehe
ihrer altmärkischen Angehörigen stets hinreichend informiert blieb. Ob ihre
14-wöchige Reise im Herbst 1617158 sie in die Altmark und ins Anhaltinische
geführt hat, bleibt eine offene Frage, ist aber ebenso zu vermuten wie ein
Gegenbesuch ihrer Schwester Elisabeth zu einem unbekannten Zeitpunkt159.
Leveke selbst zog zudem auch Erkundigungen über ihre Angehörigen ein,
indem sie Boten aussandte. So gab sie die auf diesem Wege erhaltene
Nachricht vom Tode ihrer Schwester Agnes 1621 umgehend an Ludolf v.
Münchhausen weiter und beschrieb nähere Einzelheiten, die ihr offenbar
durch den Bruder Kersten (II.) übermittelt worden waren160, dessen militärische Aktivitäten im Solde Venedigs übrigens ebenso als Produkt überhitzter Phantasie lokaler Geschichtenschreiber zu gelten haben wie seine
langjährige Gefangenschaft und glückliche Rückkehr vor dem Jahre 1616161.
156
StABÜ, Dep. 6 GH M Nr. 250, „Diarium“ des Ludolf v. Münchhausen, 1614-1624,
unpaginiert. Unter der Rubrik „Notabilia“ des Jahres 1616 November 26 und 27 vermerkt
Münchhausen: „zu Oldendorf bey Carsten Schencke auff der Witwe von Mengersen Hoffe
gewesen“. Das Treffen wird auch im Futter-Register vermerkt.
157
So die durch Kersten (II.) gegenüber Ludolf v. Münchhausen des öfteren gebrauchte Anrede
(StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 479, hier: Dönstedt 1604 Juli 10).
158
Sie erwähnt dieselbe in ihrem Schreiben an Ludolf v. Münchhausen 1617 November 19
(StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476).
159
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, undatiert, mit folgender
Einladung: „...und ist hirmit zu euch mein frunhtlige bite, ihr wollet [...] morgen auff mitdag zu
mich komen undt die alte mume Elissabete besuchen...“. Mit der „mume“ (=Tante) Elisabeth
könnte Levekes jüngste Schwester gemeint sein.
160
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, undatiert, aber zeitlich
einzugrenzen auf Februar 1621 durch das bekannte Todesdatum der Agnes (lt. Schmidt,
Veltheim II (wie Anm. 58), S. 134 gest. 1621 Januar 29). Demnach habe sie einen Boten „nach
der marcke gehat, nach meinen schwestern und brudern zu fragen“. Als der Bote eintraf, sei
ihre Schwester Veltheim eben verstorben. Wie ihr berichtet würde, seien ihr Bruder (=Kersten
(II.)), dessen Frau und die vier Töchter Veltheim bis zum Ende bei ihr gewesen. „Si[e] sol zu
Flecht[ingen] begraben werden, das hat si begert [...] ich kan aber nicht dahin komen, der weg
ist bosse (=böse/schlecht wegen der Jahreszeit)“. Sie (=Leveke) habe auch an ihren Bruder
wegen seines (damals wohl auswärts weilenden) Sohnes geschrieben. Kersten habe die
briefliche Antwort in aller Eile an seinen Amtmann zu Leimbach gesandt mit Bitte um
Weiterbeförderung des Schreibens (nach Oldendorf).
161
Die Geschichte von Kerstens (II.) Beteiligung an einem Feldzug gegen die Türken und seiner
„unvermutheten Wiederkunfft“ inklusive der angeblich aus Dankbarkeit vorgenommenen
Altarstiftung in Wegenstedt von seiten seiner Ehefrau 1616 wird erstmals durch Walther (wie
Anm. 4), S. 123) erzählt und seitdem weitergegeben (so etwa durch Behrends (wie Anm. 5), S.
137 und selbst noch Joh. Friedrich Danneil, Das Geschlecht v.d. Schulenburg, Bd. 2, Salzwedel
1847, S. 148-149 sowie Schmidt, Schulenburg II (wie Anm. 119), S. 326). Willing schmückt das
Ganze dann unter Rückgriff auf die feuilletonistischen Ergüsse des Bardenitzer Pfarrers
Büchner im Altmärkischen Intelligenz- und Leseblatt weiter aus (Willing (wie Anm. 7), S. 47-
63
Der Tod des Bruders im Dezember 1621 wird Frau Leveke hart getroffen
haben162 und es ist davon auszugehen, dass sie sich ebenso wie ihre
Schwester Elisabeth v. Dorstadt zu den Beisetzungsfeierlichkeiten im
Februar 1622 in Flechtingen eingefunden hat: Sie zählt jedenfalls zu jenem
Personenkreis, dem der Pfarrer Schardius die auf Kersten (II.) Schenk
gehaltene Leichenpredigt widmete163.
Einerseits ist also von intensiven Kontakten zu ihren nächsten Angehörigen
auszugehen, die über lange Strecken nur brieflich aufrecht erhalten werden
konnten; andererseits bewegten sich weitere Verwandte Frau Levekes schon
frühzeitig in ihrem engsten räumlichen Umfeld. Zunächst ist hierbei natürlich Anna v. Bismarck, Levekes verwaiste Nichte, zu nennen, die bereits vor
ihrer Heirat an die Weser kam, wo ihre Tante sie für die Dauer eines Jahres
in ihrem Oldendorfer Haushalt aufnahm164. Die Rolle der Witwe Mengersen
bei den Voranfragen der Münchhausens hinsichtlich einer Eheschließung
des Ludolf v. Münchhausen und der Anna v. Bismarck, ist durch Brage Bei
der Wieden eingehend dargestellt worden165. Frau Levekes Engagement ging
48, 113). Nirgendwo wird dabei auch nur ein einziger konkreter Quellennachweis geliefert –
ganz abgesehen davon, dass zwischen Venedig und dem Osmanischen Reich seit 1573 Frieden
herrschte! Stattdessen lässt sich die Anwesenheit des „Türkenkriegs-Kombattanten“ in
Dönstedt bzw. Flechtingen anhand seiner von dort an Ludolf v. Münchhausen gerichteten
Briefe für den Zeitraum 1600-1612 lückenlos belegen (StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 479). Im
November 1612 steht er sogar Pate bei Ludolfs Sohn Hermann Christian (StABÜ, Dep. 3, GR
Nr. 1269, fol. 59v). 1614 kündigt Margarethe v. Saldern, Witwe des Achaz v. Veltheim, bei ihm
und Gebhard Johann v. Alvensleben als Bürgen ein dem Kurfürsten von Brandenburg
vorgestrecktes Kapital (Schmidt, Veltheim II (wie Anm. 58), S. 152); am 18. Oktober 1615 sagt
er seine und seiner Ehefrau Teilnahme am Begräbnis der Margarethe v. Saldern in Harbke zu,
muss die Zusage aber kurzfristig rückgängig machen (LHASA, MD, H 95 Nr. 2773, fol. 2, 9). Im
November 1616 weilt er zu Besuch bei seiner Schwester Leveke in Oldendorf (StABÜ, GH M
Nr. 250, ad 1616 November 26). Für kriegerische Unternehmungen in der Levante, die übrigens
auch in dem seiner Leichenpredigt beigegebenen Lebenslauf mit keinem Wort erwähnt werden,
blieb da wahrlich wenig Zeit.
162
Kersten (II.) Schenk starb am 22. Dezember 1621, nachdem er fast fünf Monate am
„Quartanfieber“ gelitten hatte (so das Sterberegister von Flechtingen, zitiert bei Willing (wie
Anm. 7), S. 48). Die knappe Beschreibung der Erkrankung in der Leichenpredigt (SUB
Göttingen, 4 CONC FUN 231 (3)) deutet auf den tödlichen Verlauf einer Infektion mit der
damals nicht ungewöhnlichen autochthonen Malaria hin; die Angaben zur Todesursache bei
Draffehn (wie Anm. 7), S. 37 dürften den entstellenden Phantasien der „Schencken-Chronik“
geschuldet sein.
163
SUB Göttingen CONC FUN 231 (3).
164
StABÜ, Dep. 3 GR 1296, pag. 114-115, Ludolf v. Münchhausen an Leveke v. Mengersen 1625
Januar 21. Dort u.a. Hinweis darauf, „das meine haußfrauwe ihn ihrem jungfern stande ein jahr
auff der von Mengerssen hoeffe gewesen“.
165
Bei der Wieden (wie Anm. 56), S. 87-89; hierbei unterläuft dem Autor allerdings das
Versehen, Rinteln als Wohnort Levekes und ihrer Nichte anzugeben. Auch übersieht er den
Sachverhalt, dass Kersten (II.) Schenk in der Nachfolge seines schon 1597 verstorbenen Bruders
Werner neben Pantaleon v. Bismarck gleichfalls als Vormund der Anna v. Bismarck
64
aber noch darüber hinaus, denn auch beim Abschluss der Ehestiftung
Münchhausen-Bismarck übernahm sie - wenigstens partiell - die organisatorische Regieführung im Hintergrund: Ungewöhnlich für einen Rechtsakt, dessen Vollziehung eigentlich reine Männersache war. So schrieb ihr der
mit den Angelegenheiten ihrer eigenen Familie bestens vertraute, in Gardelegen ansässige Arnold Bergh im Februar 1600 u.a.:
[...] Das auch die frauw begeret, das ich neben Kersten Schencken am 8.
Martii zu Oldendorff anlangen und der jungfer Anneken von Bismarck
ehesachen, die alsdan vollenzogen werden sollen, mit beiwohnen möge,
darzu erkhenne ich mich schuldig und ganz willig, aber der frawen sollte ich
gleichwoll nicht vorhalten, das im stifft Halberstadt ein lehntag außgeschrieben am 12. Martii des tages zuvor einzukhommen, dahin Kersten
Schencke und meines unmündigen junckers166 vormunder auch beschieden.
Und weil nun der halberstädtischen lehne halber vor dieser zeit Irrunge
vorgefallen und den Schencken viell daran gelegen, das solche dinge wieder
in richtigkeit gebracht werden, besorge ich, man werde mich hier schwerlich
weglassen, weil ich die lehensachen underhanden habe und sonst niemandt
als ich bericht weis, dennoch wil ichs mit Kersten Schenck und einestheils
andern vormündern reden, und, wo ich mich kan loßwürcken, gelegenheit
schaffen“.167
Dass Frau Leveke ihrer Nichte große Zuneigung entgegenbrachte168, ändert
nichts an der Tatsache, dass es zwischen den beiden Frauen auch schon
einmal zu heftigen Auseinandersetzungen kommen konnte, wenn die Witwe
v. Mengersen meinte, das Verhalten der jungen Frau v. Münchhausen durch
scharfe Zurechtweisungen erzieherisch beeinflussen zu müssen, was zu
kurzfristigen Entzweiungen führte169, die aber bald beigelegt wurden.
anzusprechen sein dürfte. Zu Werners Vormundschaft StABÜ, Dep. 6 GH J Nr. 67 (Obligation
Pantaleons v. Bismarck zugunsten Werner Schencks als [Mit-]Vormund der Erben (d.h. der
Witwe und Tochter) des Abraham v. Bismarck über 2.900 Tlr. 1591 Dienstag in den Ostern).
166
Gemeint ist wohl Jacob, der Sohn des bereits 1597 verstorbenen Werner Schenk.
167
StABÜ, Dep. 6 GH J 96, Flechtingen 1600 Februar 29.
168
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 476, Leveke v. Mengersen an Ludolf v. Münchhausen 1609 Januar
9: „wie ich den in meinem gewissen das ein gut gezeugnisse habe vur Gott, das ich ehs mit ihr
(=Anna) nicht anders gemeint, alsse mit meinem einigen (=hier: eigenem) kinde, vndt habe si
vur disser zeit in meinem hertzen dem geleich gehalten...“.
169
So gegen Ende des Jahres 1608, als Frau Leveke ihrer Nichte deren „vnzeitigen eiffer“ in
Gestalt abfälliger Äußerungen über ein Mitglied der gräflich-schaumburgischen Familie sowie
über die Mengersens vorhielt: „und wen es so were alsse es ia nicht were, so solte si[e] ehs
dennoch mich vndt meinem son nicht zu schimpf reden, den der were des geblütz des si[e] were
vndt hetten eine grossemutter gehat“. Die schwangere Anna ging ihr nach einem boshaften, auf
Leveke gemünzten Abschiedswort („gottlob das die zeit komen ist, das ich des driffers
(=Antreibers) vndt homeisters (=Hofmeisters, Aufsehers) abe kommen“) für mehr als zwei
Monate demonstrativ aus dem Wege und als Leveke sich dennoch bei Gelegenheit nach ihrer
Gesundheit erkundigte, erhielt sie eine derartige Antwort, „das ich (=Leveke) auch bei mich
65
Außer der Nichte Anna, die wenigstens zeitweilig auf dem Oldendorfer Hof
der Münchhausens – und damit gewissermaßen in Rufweite zum Wohnsitz
ihrer Tante lebte, kam im Jahre 1605 eine weitere Verwandte Levekes in die
Kleinstadt an der Weser. Die Rede ist von Levekes Cousine Catharina v.
Veltheim, Tochter des Jobst v. Veltheim auf Glentorf und Ehefrau des
Johann Post, die den Oldendorfer Hof ihres Ehemannes bis zu ihrem Tode
1646 bewohnte und wie Leveke in der Oldendorfer Stadtkirche begraben
wurde170. Die Witwe v. Mengersen konnte sich also insofern glücklich
schätzen, als gleich zwei Frauen aus ihrer ursprünglichen familiären
Umgebung in ihrer Nähe ansässig waren - eine davon sogar dauerhaft an ein
und demselben Ort (Abb. 10).
Dadurch, dass Frau Leveke ihre Großnichte, die 1620 geborene und ihr
schon als Kleinkind zur Erziehung anvertraute Dorothea v. Münchhausen
zehn Jahre lang auf ihrem Oldendorfer Hof um sich hatte171, blieben die
Beziehungen zur Nichte Anna und ihrem Ehemann Ludolf v. Münchhausen
trotz zeitweiliger Störungen172 stabil und intensiv. Die Großtante stand wahbeschlos, ich wolte si hinferner nicht mer fragen“. Leveke beschrieb Ludolf v. Münchhusen den
Hergang in aller Ausführlichkeit; er wird daraufhin vermittelnd eingegriffen haben (Quelle wie
vorige Anm.).
170
Sie wurde 1574 geboren, war also deutlich jünger als ihre Cousine Leveke (Catharina war
eine Tochter der Armgard v. Bülow a.d.H. Oebisfelde). Ihr Ehemann starb 1626 und während
der Zeit ihrer Witwenschaft - so klagte sie dem Pfarrer - wurde sie „oftmals bedrängt und
betrübt“. Lange Jahre vor ihrem Tode 1646 litt sie offenbar an asthmatischen Beschwerden,
damals als „Brustkrankheit“ bezeichnet. Dies und die übrigen Angaben aus ihrer 1616 in
Rinteln gedruckten Leichenpredigt (Roth, Auswertungen (wie Anm. 59), R 8905).
171
Der zehnjährige Aufenthalt Dorotheas im Haushalt der Großtante wird bei Meyer (wie Anm.
77), S. 54 erwähnt; es fehlt allerdings eine nachvollziehbare Quellenangabe. Dorotheas
Leichenpredigt (SUB Göttingen, 4 CONC FUN 184 (9), S. 42) stellt lediglich fest, dass sie sich
„eine geraume Zeit“ bei ihrer Großtante aufgehalten habe. Der bei Hufschmidt (wie Anm. 72),
S. 68-69, Anm. 249 gegebene Hinweis, wonach Dorothea „einige Jahre vor ihrer Heirat“
(=1639) bei ihrer bereits 1629 (!) verstorbenen Tante Magdalena in Kletzke in der Prignitz
gelebt habe, ist irrig; die dort als Quelle genannte Leichenpredigt des Anton Bencken bezieht
sich auf Lucia v. Münchhausen (1589-1651) aus dem Hause Schwöbber!
172
StABÜ, Dep. 3 GR 1296, pag. 114-115, Ludolf v. Münchhausen an Leveke v. Mengersen,
1625 Januar 21: „undt sehe ich nicht, aus waß ursachen man (gemeint ist Leveke) sodanes
zettergeschrey machet. Dieweill aber wollgemelte wittbe ihn ihren gestrichen (=gestrigen)
schreibenden mihr und den meinigen alle freundtschafft auffsaget, wo nun mein tochterlein
Dorotheyken auch damit gemeinet, so bitte ich, sie muge sodanes kindt etliche weinige tage
unbetruebt bey sich behalten, ich undt meine hausfrauwe wollen die folgende tage in Oldendorff
kommen undt unser tochterlein wieder abholen...“. Für den Fall, dass es der Wwe. Mengersen
ungelegen wäre, das Kind einige Tage „in ihrem hause zugedulden“, soll sie es auf den Hof der
Witwe des Otto v. Münchhausen oder in des Magisters Haus senden. Grund für die kurze, aber
heftige Auseinandersetzung war offenbar ein Einmischungsversuch Levekes in Angelegenheiten
Ludolf v. Münchhausens, der darauf scharf reagierte, was wiederum zwei zornige Briefe der so
Gescholtenen an Ludolf zur Folge hatte. Dies ist das einzige Zeugnis einer ernsthafteren, aber
rasch beigelegten Verstimmung zwischen den beiden.
66
re Höllenqualen aus, als das damals gut 6-jährige „Dorotiken“ im Oktober
1626 schwer erkrankte. Sie ließ es sich nicht nehmen, die Pflege des Kindes
selbst zu übernehmen, kam aber dabei ihrem eigenen Zusammenbruch
gefährlich nahe. Ihr Großneffe Ludolf d.J. v. Münchhausen berichtete den
Eltern mit Blick auf die Verfassung der älteren Dame: „weinet sehr, helt sich
gar ubell, saget, es sei ihrer grosesten unglück eine...“173.
Ausführlicher äußerte sich Heilwig v. Münchhausen (1604-1643), die ältere
Schwester der Kleinen, in einem Schreiben aus Oldendorf an die Mutter174:
„kan euch meine hertzelibe mutter auch nicht fur endthalten, das Dordticken wider beyfallen ist und hadt sich ihr kranckheit aus gewissen, das
man fur meinet, die beytrubete kranckheit die peste sei‘s; sie sol sie am
rechteren arem haben, der sol ihr ser dicke sein, sie sol aber nicht uber grosse
schmertzen haben und sol ser geduldich sein, das man vermeinet, sie es noch
wol wider verwunne, man weis aber nicht was der libe gott bey ihr dun wil,
den es ein geferlich kranckheit ist. [...] die gude von Mengerssen ist aber ihn
ser grosser bekummernisse, den sie sol ser betrubet sein, ich sende ofte dar
hin und las nach ihr fragen, so wirdt mich altzet (=allzeit) berichtet, das sie
sol ser weinen und sich ubel halten undt sagen, wen es gottes wille were, sie
das libe kindt gern behalten wole, den sie hete sie soe lib und wolt bey ihr
dun, [dass] sie es fur gott wol fur anttworten wole, sie sol auch altzeit selber
bey ihr sein, hadt ihr auch was ihn geben soe gut fur die peste ist undt als
(=alles) gedan was mugellich ist, das halben sich die mutter nicht
befruchten (=befürchten) darf als wen sie wor verseumet würde.“
Die ökonomischen Verwerfungen der Kipper- und Wipperzeit ließen auch
die Oldendorfer Gutswirtschaft der Witwe v. Mengersen nicht unberührt.
Eine deutliche Unmutsäußerung vom September 1621 gegenüber Ludolf v.
Münchhausen ist gleich in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Sie schreibt:
„ich hette gern einen botten nach euch gesant, so kan man doch nicht einen
menschen weder zu botten odder zu erbeitten mechtig werden wegen der
vurfluchten müntze. Das meiste korn ist noch hir aussen, ehs ist kein wetter
vndt ist kein volck zubekomen...“175. Demnach war sie in der
Eigenbewirtschaftung ihrer Ländereien auf freie Arbeitskräfte angewiesen,
die sich offenbar angesichts rapider Geldwertverluste nur unter größten
Schwierigkeiten bzw. nicht in gewünschtem Umfange rekrutieren ließen.
Nachdem die Schrecknisse des Dreißigjährigen Krieges 1622/23 über das
Wesergebiet hereinbrachen, teilte sie die Sorgen ihrer Angehörigen um die
Sicherheit des außerhalb des Elternhauses weilenden Nachwuchses. Als es
173
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 411, 1626 Oktober 14.
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 451, undatiert, aber zeitnah dem in der vorigen Anm. angeführten
Schreiben.
175
StABÜ, Dep 6, GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, 1621 September 2.
174
67
gelegentlich darum ging, einige der Münchhausen’schen Kinder vom Oldendorfer Stadthof der Familie nach Remeringhausen in Sicherheit zu bringen,
widerriet sie solchen Vorschlägen nachdrücklich, denn selbst die schwach
befestigte Kleinstadt Oldendorf schien ihr gegenüber einem ganz und gar ungeschützten Herrensitz wie Remeringhausen noch vergleichsweise sicher176.
Dass auch die Mauern Oldendorfs auf die Dauer kaum Schutz vor Plünderungen bieten konnten, hat Frau Leveke am eigenen Leibe erfahren müssen, als ihr Hof zu einem nicht bekannten Zeitpunkt von erpresserischen
Besatzern des nahen Rinteln überfallen wurde177. Im Juli 1633 brandeten die
Wellen des Krieges bis vor die Mauern Oldendorfs, wobei es Georg von
Braunschweig-Lüneburg in einer kurzen, aber blutigen Schlacht gelang, eine
militärische Wende zugunsten der evangelischen Seite in Norddeutschland
herbeizuführen.
Es ist davon auszugehen, dass nicht nur Levekes Gutswirtschaft infolge der
kriegerischen Auseinandersetzungen in Mitleidenschaft gezogen wurde;
auch die Zinseinnahmen aus langfristig angelegten Krediten kamen, da die
ökonomischen Kreisläufe insgesamt schweren Schaden nahmen, ins Stocken.
Das 1634 verfasste Kodizill zu ihrem Testament von 1617 zeigt jedenfalls,
dass vermeintlich sicher angelegte Gelder vielfach seit Jahren nicht verzinst
worden waren178.
Die allgemeine Hoffnungslosigkeit des nicht enden wollenden Krieges ergriff
auch Frau Leveke: Ein Neujahrsgruss an die Nichte Anna v. Münchhausen
drückt ihre zutiefst pessimistische Grundstimmung aus, wenn sie schreibt:
„Fruntlige leve wesche undt gefatter, ich wunsche dich und alle di deinen ein
frolig undt geluckselig neues jar, der libe got geb, das das neue jar besser ist
wi das alte gewesen ist, wi wol ich nicht gelove, das ehs vor dem iungsten
176
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 451, Heilwig v. Münchhausen an ihre Mutter Anna, undatiert: „Ich
bin auch bey der von Mengerssern gewesen undt ihr der mutter brif zu lessen gedan, dar aus sie
gesehen das die von Quitzawen schreibet wir hir nicht lenger verbleiben sollen. [...] Die von
Mengersen die saget, es duchte ihr, [dass] es hir alzeit noch sicher were als zu
Reimrinchhaussen, die von Mengersen die hat mich auch einen brif gedan, den die von Quitza
geschriben hadt, den solt ich der mutter zu schicken...“.
177
StABÜ, Dep 6, GH A Nr. 476, Leveke an Ludolf v. Münchhausen, undatiert, betr. einen
Überfall auf ihren Hof, Erpressung von Metallgefäßen und die dabei ausgestoßenen Drohungen
bzw. Beschimpfungen übelster Art.
178
StABÜ, Dep. 6, GH A Nr. 105, 1634 November 2. Lange rückständig waren u.a. die Zinsen
von 2.000 Tlrn. bei der braunschweigischen Landschaft, die v. Münchhausen zu Ohsen standen
mit der Verzinsung von 1.800 Tlrn. lediglich zwei Jahre zurück. Carl v. Mandelsloh schuldete
ihr seit neun Jahren die Zinsen eines Kapitals von 450 Tlrn; die Kersten Werner Schenk
vorgestreckten 760 Tlr. waren bereits seit 1619 nicht mehr verzinst worden und auch für die bei
der hoya’schen Landschaft angelegten 4.700 Tlr. waren seit Jahren keine Zinsen entrichtet
worden. Selbst Levekes Verwandte, die Erben v. Dorstadt, hatten auf einen Kredit von 1.500
Tlrn. seit 1626 keine Zinsen mehr entrichtet.
68
dage besser wert. Goht mache alles elendes ein mahl ein ende“179. Die
Schreiberin dieser Zeilen hat weder das Ende des großen Krieges erlebt noch
blieben ihr weitere Schicksalsschläge erspart: Ihr „freuntliger liber schwager
und gefatter“ Ludolf v. Münchhausen, dem jahrzehntelang manche Bitte um
Rat gegolten hatte, starb im Jahre 1640 und im gleichen Jahre verlor sie ihr
Augenlicht180. Hiermit sah sich die eifrige Schreiberin eines wesentlichen
Kommunikationsmittels beraubt und die vier letzten Jahre ihres Lebens
werden nur noch ein Warten auf das Ende gewesen sein, dem sie offenbar
gefasst entgegensah, als zunehmende Schwäche sie für die letzten sechs
Wochen ihres Lebens ans Bett fesselte: Sie ließ ihren Neffen und Haupterben
Werner Schenk (1597-1667) nach Oldendorf kommen und besprach mit ihm
ihr Begräbnis, nachdem andere Dinge längst geregelt waren. Am 18. April
1644 ist sie verstorben und am 23. Mai neben ihrem Ehemann und Sohn in
der Oldendorfer Stadtkirche beigesetzt worden. Theodor Steding, ehedem
Hauslehrer des Sohnes und nun längst Pfarrer in Oldendorf, widmete
Werner Schenk die auf Frau Leveke als dessen „hertzlieber seeliger Wasen
und Mutter“ gehaltene Leichenpredigt über die beiden abschließenden Verse
des 126. Psalms, die als Predigtgrundlage von der Verstorbenen selbst
ausgewählt worden waren, die auch hier nichts dem Zufall überlassen hatte.
4. Die Legatenstiftungen von 1616 und 1638
Unter Rückgriff auf eine lange Tradition religiös motivierter Schenkungen
beim Adel und Teilen des städtischen Bürgertums und in der Absicht, die
Erinnerung an sie und ihre nächsten Angehörigen in Oldendorf möglichst
auf Dauer zu gewährleisten, begründete Leveke v. Mengersen im Jahre 1616
eine aus mehreren Komponenten bestehende wohltätige Stiftung181.
179
StABÜ, Dep. 6 GH A 476, Leveke an Anna v. Münchhausen, undatiert (teilw. zit. bei Bei der
Wieden (wie Anm. 56), S. 169).
180
So ihre Leichenpredigt (SUB Göttingen, 4 CONC FUN 226 (3)), S. 36-37. Sie hat - so der
Verfasser der Predigt - sehr unter der Erblindung gelitten, die ihr das Lesen u.a. religiöser Texte
unmöglich machte. Auch das Folgende nach dem der Leichenpredigt beigegebenen Lebenslauf.
181
Die Abschrift der Stiftungsurkunde 1616 April 3 („Mittwochen in den Ostern“) mit
Darlegung der bis dahin getroffenen Verfügungen in StABÜ, Dep. 59, Nr. 482. Hiernach, wenn
nicht anders vermerkt, das Folgende. Frau Leveke bestätigte den Rechtsakt, nachdem beide
Pfarrer, zwei Bürgermeister und drei Ratspersonen die Urkunde unterzeichnet hatten, mit
folgender eigenhändiger Erklärung: „daß diß oben gesetzte von mich alsso aus wolbedachthem
gemuthe also geordneth vundt vullenzogen, auch die lage [=Verteilung] selber eingestelt,
bekenn ich Leveke geborene Schencken iunckern [im Or. wohl: Iurgen] von Mengerssen seligen
nachgelassene wittwe mit diesser meiner hant“.
69
Schon 1612, wenn nicht bereits früher, hatte sie dem Rat zu Oldendorf 70
Goldgulden bzw. 80 Tlr. für drei Begräbnisse in der Stadtkirche entrichtet182,
deren Zinsen alljährlich den beiden Pfarrern des Ortes ausgezahlt werden
sollten. Im gleichen Jahre trat sie in das Vermächtnis des früh verstorbenen
Sohnes in Höhe von 1.000 Tlrn. ein, dem sie selbst später noch 500 Tlr.
hinzufügte.
Zunächst legte sie Ostern 1615 ein finanzielles Fundament durch 680 Tlr.,
die sie dem Oldendorfer Rat auszahlte und dessen auf 46 Tlr. festgelegte
Jahreszinsen nach einem von ihr entworfenen Plan zu verteilen waren: Je 6
Tlr. flossen den beiden Pfarrern, dem Kantor und dem Rektor zu, welch
letztere als Lehrer an der Stadtschule wirkten. Die Gehaltsaufbesserung der
beiden Lehrkräfte war an die Bedingung gebunden, dass dafür jährlich 12
arme Bürgersöhne aus Oldendorf vom Schulgeld und allen anderen Gebühren befreit würden. Weitere 6 Tlr. bestimmte sie zur winterlichen Beheizung
der Schule und die verbleibenden 16 Tlr. widmete sie der baulichen Unterhaltung der Weserbrücke. Dieses erste Teillegat sollte gelten „ein jahr und
alle jahr, so lange die kirche zu Oldendorff stehet und [- dies war der überzeugten Lutheranerin offenbar besonders wichtig -] Gottes wortt rein darin
geprediget [wird] nach der augsburgischen confession“. 1615 übergab sie
dem Rat der Stadt weitere 900 Tlr. gegen eine jährliche Verzinsung von 56
Tlrn., wobei sie sich die Verteilung dieser Summe für die Zeit ihres Lebens
selbst vorbehielt. Für die Zukunft setzte sie folgende Verteilung fest: Die
zwölf vom Schulgeld befreiten Knaben sollten für je 1½ Tlr. mit Kleidung
und Schuhen versehen werden und drei auswärts studierende Oldendorfer
Bürgersöhne sollten für die Dauer von 3 Jahren je 6 Tlr. pro anno erhalten.
Hierbei hatte - so Frau Leveke in der für sie typischen Diktion - der Rat
streng darauf zu achten, „dass sie es nicht leichtfertigen bengels [...] geben,
die es versauffen oder auf der hoffart wenden“. Auch sieben mittellose
Bürgerswitwen sollten jährlich mit je 2 Tlrn. unterstützt werden, wobei auch
hier größter Wert auf den guten Namen der Empfängerinnen gelegt
wurde183. Je einer armen, aber in gutem Ruf stehenden Bürgerstochter,
dachte Frau Leveke jährlich eine Beisteuer zum „brauttrock“ in Höhe von 5
Tlrn. zu und für den letzten nun noch verbleibenden Tlr. wurde dem Küster
aufgetragen, die „leichstein rein[zu]halten“, d.h. die längst gefertigten
steinernen Abbilder der Witwe, ihres Ehemanns und ihres Sohnes regel182
Die Jahresangabe „1617“ bei Anke Hufschmidt, „Sehliglich in Gott dem Herrn entschlafen“ –
Tod und Begräbniskultur in adligen Familien, in: Adel im Weserraum (wie Anm. 104), S. 262,
ist unzutreffend.
183
In Frage kamen solche Frauen, „die ihren Kindern [ihren Besitz] haben übergelaßen und
eines guten nahmens sein, die daß ihrige nicht haben versoffen, wie der zu Oldendorff viele
sind...“.
70
mäßig zu säubern. Da Frau Leveke die Verteilung der Gelder „mit wolbedachtem gemüthe auff alle stende – als kirchen und schule, schülern und
studirten, alten frawen, ehrlichen armen metkens und dem gemeinen nutz
zum besten“ angeordnet hatte, verbot sie einerseits zukünftige Änderungen
der Austeilungsmodalitäten, bat aber andererseits, weil „sie die wittwe auß
sehr hochbetrübtem hertzen mit viell trenen dieße donation mit eigener
hand eingestellet [...] so offt dies außgetheilt wirdt, ihr und ihres sons in
ehren dabei zu gedencken [und] weil sie leider keinen nahmen hinter sich
verläßett, daß dennoch bei den nachkommen ihres und ihres mannes und
sons in ehren gedacht wirtt.“
Mit ihrem Legat von insgesamt 1.580 Tlrn.184 bewegte sich die Leveke
Schenk im Bereich des innerhalb ihres Standes zu Erwartenden185 und –
soweit erkennbar – angesichts ihrer wirtschaftlichen Situation auch im
Rahmen des Möglichen. Ungewöhnlich ist allerdings ihr Bestreben, die
jährlich anfallenden Zinsbeträge nach einem wohldurchdachten System
möglichst breit zu streuen. Das Vermächtnis ihres Schwiegervaters, der „der
armuede zu Oldendorf“ seinerzeit 200 Goldfl. vermacht hatte, mutet dagegen
in jedweder Hinsicht bescheiden an. Ganz anders waren auch ihrem
Anspruch nach die umfangreichen Schul- und Armenstiftungen der 1576
verstorbenen Metta v. Holle, der Großmutter des Ludolf v. Münchhausen,
organisiert186, deren alljährliche Ausschüttungspraxis Leveke selbst erlebt
haben dürfte. Dieser „Kron aller gottseligen adligen Matronen in Westfalen
und Sachsen“ nachzueifern, könnte schon für sich genommen ein starkes
Motiv für die Legatenstiftung der Witwe Mengersen geliefert haben; was
jedoch deren formale Einzelheiten betrifft, so lassen sich in ihrer
altmärkischen „freundtschafft“ interessante Beobachtungen treffen: Aufschlußreich ist hier vor allem das 1588 gestiftete Legat der Fredeke v.d.
Asseburg (1534-1604), Witwe des Busso v. Bülow auf Oebisfelde, die damals
ein Kapital von 3.200 Tlrn. beim Rat der Stadt Halle (Saale) belegte, dessen
184
Hinsichtlich der richtig bezifferten Summe und der ebenfalls richtigen Zeitstellung: Bei der
Wieden (wie Anm. 56), S. 153; die Gesamtsumme bezog sich allerdings nur zu etwa zwei
Dritteln auf das Vermächtnis des Hermann Christian v. Mengersen.
185
Zum Bereich der wohltätigen Stiftungen adliger Frauen im Weserraum knapp und
zusammenfassend Hufschmidt (wie Anm. 72), S. 433-436. Die Legatenstiftung der Leveke
Schenk von Flechtingen wird dabei nicht erwähnt.
186
Bei der Wieden (wie Anm. 56), S. 152-153. Hiernach hinterließ Metta v. Holle (ca. 15141576), Witwe des Claus Büschen zu Oldendorf, der dortigen Schule 200 Tlr. sowie 40 Tlr. dem
Siechenhaus. Mit einem Kapital von 1.000 Tlrn. begründete sie eine Armenstiftung, deren
jährliche Zinserträge für Gewand (20 Tlr.), das Armenhaus, die Aussteuer armer Mädchen
sowie für arme Schüler (je 10 Tlr.) bestimmt waren. Aus den Zinsen weiterer 200 Goldfl.
wurden alljährlich 30 Arme mit Schuhen versorgt. Darüber hinaus förderte Metta Büschen
begabte Schüler und Studenten wie den späteren Superintendenten zu Stralsund, Conrad
Schlüsselburg (Neukirch (wie Anm. 116), S. 236).
71
Zinsen u.a. zur Förderung der Katechismuslehre in Stadt und Amt Oebisfelde bzw. in Gartow sowie für arme, aber fleißige Schüler in Halle bestimmt
wurden187. Es fällt beim Vergleich der beiden Legatenstiftungen von 1588
und 1616 auf, dass das Stiftungskapital in beiden Fällen beim Rat einer Stadt
– und damit einigermaßen sicher - angelegt wurde, dass die Verteilung der
jährlichen Überschüsse in Oebisfelde wie in Oldendorf ausschließlich oder
doch wenigstens anteilig in den Händen des Magistrats lag, und dass wir es
in beiden Fällen mit bedingten Schenkungen zu tun haben: Während
Fredeke v.d. Asseburg ihr Legat für den Fall, dass Oebisfelde sich von der
Lehre Luthers und der Augsburgischen Konfession abwenden und zum
Papsttum zurückkehren würde, für nichtig erklärte und die Zinsen ihres
Kapitals den Armen der Stadt zuzuwenden gedachte, wurde die entsprechende Bedingung in der Oldendorfer Stiftungurkunde zwar weniger scharf
formuliert (s.o. vor Anm. 183), hätte aber im Zweifelsfalle eine gleichermaßen wirksame Handhabe geboten, das Legat für ungültig zu erklären.
Noch wenige Jahre vor ihrem Tode, nämlich 1638, stiftete Leveke Schenk
ein weiteres, mit insgesamt 100 Tlrn. allerdings weniger umfangreiches
Legat zugunsten der Pfarrer bzw. Pfarrerswitwen in Flechtingen und
Wegenstedt188: Wenn auch die zu veranschlagenden Jahreszinsen von etwa 5
Tlrn. nur zu einer geringen Aufbesserung der Einnahmen führten, kann
diese Stiftung doch als Zeichen einer starken, im Alter vielleicht noch
zunehmenden Verbundenheit gesehen werden, welche die Witwe Mengersen
gegenüber ihrem Geburtsort und dessen naher Umgebung empfunden hat.
5. Letztwillige Verfügungen
Im festen Bewusstsein, dass „alle menschen dem zeitlichen dott unterworffen sein, und wider zu der erden werden mußen, darfon wir genommen
sein“, ging Leveke Schenk im Jahre 1617 - und damit frühzeitig - daran, ihr
Haus zu bestellen und ihren letzten Willen zu Papier zu bringen. Sie dis187
v. Bülow (wie Anm. 50), S. 54, Anm. 1); die Stiftungsurkunde abgedruckt bei Walther (wie
Anm. 4), S. 163-167. Von den insgesamt 160 Tlrn. verfügbarer Zinsen wurden 1588 nur knapp
60 Tlr. zur jährlichen Verteilung vorgesehen; die Disposition über die verbleibenden 100 Tlr.
behielt sich die Witwe v. Bülow für einen späteren Zeitpunkt vor. Möglicherweise sind die
verbleibenden Gelder in ihre wohltätigen Aktivitäten in Magdeburg eingeflossen, wo sie ihre
letzten Lebensjahre verbrachte: Ihre Leichenpredigt (ULB Sachsen-Anhalt, Pon Za 4201, QK)
von 1604 rühmt jedenfalls ihre Verdienste um die Förderung armer Schüler.
188
Willing (wie Anm. 7), S. 62, ohne konkrete Quellenangabe; als Quelle erschließbar allerdings
der Visitationsrezess der Flechtinger Kirche 1647 Oktober 1. Die im Abdruck der Willing’schen
Chronik in diesem Zusammenhang und auch sonst aus unerfindlichen Gründen durchgehend
angeführte Währungseinheit „mrk“ (=Mark) ist natürlich durch „Tlr.“ zu ersetzen.
72
ponierte dabei nach geltendem Recht über jene beweglichen Güter, an denen
die Familie ihres längst verstorbenen Ehemannes keine Ansprüche geltend
machen konnte, und berücksichtigte allein ihre Herkunftsfamilie, d.h. die
Nachkommenschaft des Kersten (I.) Schenk und der Catharina v. Bülow.
Diese ausschließliche Begünstigung der eigenen Familie war bei erbenlosen
Witwen wie Frau Leveke eher die Regel denn die Ausnahme189. Bevor aber
Frau Leveke an die Verteilung ihres mobilen Besitzes dachte, traf sie
zunächst Anordnungen bezüglich ihres Begräbnisses, wobei – wie sie selbst
feststellte - Wesentliches bereits vorsorglich geregelt worden war, „da ich
denne mein grab bei meinem leben habe machen laßen, und leichstein, auch
epittaffium gesetzet“. Hier blieb nicht mehr zu tun, als den Angehörigen
aufzugeben, sie „christlich und ehrlich onne allen großen pracht oder
hoffart, deßen ich mich in meinem ganßen leben geeußert“, zu begraben.
Nach den nochmals referierten Stiftungen „in die ehre Gottes“, deren
Einhaltung sie ihren nächstwohnenden Erben „bei ihrer seligkeit und dem
worte der warheit“ auferlegte, ging sie an die Verteilung dessen, was sie als
ihr „wolgewunnen gutt“ betrachten konnte, „das mich Gott durch seinen
segen beschert, darumme wolle mich keinmant darin vurdencken, das ich
dem einen mer alße dem andern gebe, den ich habe es von vatterlichem oder
schwester- oder bruderlichem anfalle nicht geerbet“. Die Töchter des längst
verstorbenen Bruders Werner Schenk namens Margarethe (gest. 1636)190,
Ehefrau des Matthias v.d. Schulenburg auf Altenhausen, Emden usw. (15781656), sowie Catharina (Lebensdaten unbekannt), Ehefrau des Henning v.d.
Schulenburg auf Angern usw. (1587-1637) wurden mit je 500 Tlrn. „zum
kleinode meiner und meines lieben seligen sones darbei zu gedencken“ recht
knapp bedacht. Großzügiger erwies sie sich gegenüber der Nichte Anna v.
Münchhausen geb. v. Bismarck als Tochter ihrer gleichnamigen ältesten
Schwester. Während Anna selbst 1.000 Tlr. erhalten sollte, wurden für den
Großneffen Hermann Kersten v. Münchhausen, „welcher nach meinem sone
genennet“, 1.000 Tlr. und für die Großnichte Leveke v. Münchhausen, „die
den namen von mich hat“, gleichfalls 1.000 Tlr. vorgesehen191. Frau Levekes
Schwester Agnes, Witwe des Hermann v. Veltheim auf Alvensleben (1533-
189
Hufschmidt (wie Anm. 72), S. 414, 425-431; S. 430-431 auch kurzer, wenngleich wenig
aussagekräftiger Rekurs auf das „um das Jahr 1617 herum“ errichtete Testament der Leveke
Schenk.
190
Das bei Schmidt, Schulenburg II (wie Anm. 119), S. 367 angegebene Geburtsdatum 1571 ist
sicherlich unzutreffend, denn Werner Schenk von Flechtingen kann Sabina v. BredowRheinsberg erst nach 1587, dem Todesjahr seiner ersten, sehr jung verstorbenen Ehefrau
Margaretha v. Bartensleben, geheiratet haben.
191
Die Gelder für beide noch minderjährigen Geschwister sollte zinsbringend angelegt und so
vermehrt werden.
73
1603)192 konnte auf 1.000 Tlr. hoffen; deren vier Töchtern, nämlich „der
Stammersken“ (=Anna, Ehefrau des Arndt v. Stammer auf Ballenstedt),
Catharina Dorothea193, Ehefrau des Dietrich v.d. Schulenburg auf Apenburg,
Beetzendorf usw. (urk. 1583-1619), Leveke (+1626), Ehefrau des Werner
v.d. Schulenburg (1577-1654) auf Angern und Beetzendorf194 sowie der
Maria (1590-1625), 1617 Braut und später Ehefrau des Cordt v. Marenholtz
auf Nienhagen195 setzte ihre Tante zusammen 1.000 Tlr. aus, wobei auch die
Erbportion der Mutter im Falle ihres Todes auf die Töchter übergehen sollte.
Der Schwester Elisabeth, Witwe des Bethmann v. Dorstadt, waren gleichfalls
1.000 Tlr. zugedacht; die gleiche Summe beabsichtigte Leveke deren vier
Töchtern zukommen zu lassen, die im Testament zwar nicht namentlich
erwähnt werden, aber erschließbar sind196. Vergleichsweise reich bedacht
wurden die Schwester Margarethe, Ehefrau des Matthias Schenk auf Lemsell, sowie deren zwei Söhne und vier Töchter: Neben 1.000 Tlrn. für
Margarethe, die nach dem Tode der Mutter den beiden Söhnen Henning Carl
und Kersten Werner zufallen sollten, begabte sie die vier unmündigen Nichten namens Felicitas, Catharina Elisabeth, Agnes und Anna Sophia Schenk
mit jeweils 1.000 Tlrn., die sie bis zur Heirat der Erbnehmerinnen zinsbar
angelegt und so in der Folgezeit vermehrt zu sehen wünschte, so „das ihr
brautschatz damit vurbeßert werde, oder da sie nicht alle freitten, in ihrem
alter zum unterhalt zu hulffe hetten“. Auch die sechs Töchter ihres jüngsten
Bruders Kersten (II.) Schenk (1571-1621) konnten sich überdurchschnittlich
hoher Erbportionen erfreuen: Katharina Dorothea197, Anna Elisabeth198,
Maria Agnes199, Sabine und Dorothea hatten je 1.000 Tlr., Kerstens zweitjüngste Tochter Leveke hatte sogar 2.000 Tlr. zu gewärtigen, da sie den
Namen der Erblasserin trug. Auch hierbei verordnete Letztere, dass die Kapi192
Lebensdaten nach Schmidt, Veltheim II (wie Anm. 58), S. 132.
Das Testament nennt „Dierck von der Schulenborg haußfruwen“. Sie war in zweiter Ehe mit
Carl v. Mandelsloh auf Klötze verheiratet (Schmidt, Veltheim II (wie Anm. 58), S. 171).
194
Schmidt, Schulenburg II (wie Anm. 119), S. 357-358.
195
Schmidt, Veltheim II (wie (wie Anm. 58), S. 171.
196
Sicher zuzuordnen sind anhand der Leichenpredigt auf Levekes Neffen Kersten Werner v.
Dorstadt (1597-1661) 1) Dorothea Agnesa, Ehefrau bzw. Witwe des Jacob v. Bennigsen, 2)
Heidewig, Ehefrau des (Jacob?) v. Neindorff sowie 3) die Tochter(!) Bethmann, Ehefrau des
(Philip Ludwig) v. Spitznase, Domherrn zu Halberstadt (SBPK (wie Anm. 131), Ee 705-329).
Auch Agnes v. Dorstadt a.d.H. Emersleben (1596-1655), Ehefrau des Hans Christoph v.
Ebeleben, wird dieser Geschwisterreihe zuzuordnen sein (SBPK (wie Anm. 131), Ee 705327/28).
197
Verehelicht seit 1620 mit Sebastian Edelherrn v. Plotho (siehe unten Anm. 204).
198
Lt. OFB Flechtingen, S. 319 starb sie unverheiratet am 6.9.1650 und wurde am 29.10.d.J. in
Flechtingen beigesetzt.
199
Geb. um 1602 in Dönstedt, gest. 11.4.1641 in Lenthe. Sie heiratete am 10. Dezember 1629 in
Flechtingen Erich v. Lenthe (Mitteilung Hans Mahrenholtz an den Verf. vom 19.6.1976). Ihr
Grabmal in der Dorfkirche Lenthe ist erhalten.
193
74
talien zinsbar belegt und auf diese Weise bis zum Zeitpunkt einer jeweiligen
Heirat vermehrt würden200.
An Kapitalien kamen also insgesamt 20.000 Tlr. zur Verteilung auf 26 weibliche Angehörige, wobei die ihrer Mutter substituierten beiden Söhne der
Margarethe Schenk nicht mitgezählt sind. Was ihre Gerade anbetraf, so
wünschte Leveke Schenk für den Fall ihres Todes eine gleichmäßige Verteilung derselben unter ihre vier Schwestern, behielt sich aber Schenkungen zu
Lebzeiten ebenso vor wie nachträgliche Änderungen ihres letzten Willens
insgesamt.
Mit der Verteilung der Kapitalien und den Bestimmungen der Gerade war
noch keineswegs alles geregelt, sondern es musste noch ein Haupterbe für
ihren gesamten sonstigen Nachlass festgesetzt werden. Als solchen bestimmte Frau Leveke ihren Neffen Werner Schenk von Flechtingen (1597-1667),
dem sie für den Fall seines frühzeitigen Ablebens dessen jüngsten Bruder
Kersten (III.) substituierte, der jedoch schon 1630 zu Tode kam201. An
Werner sollten demnach alle nach dem Tode der Erblasserin verbleibenden
Barschaften, ihr Silbergeschirr und ihr Hausgerät fallen, nachdem ihr
Gesinde ausgezahlt, alle Schulden und haushaltsbezogenen Rechnungen
sowie schließlich die Begräbniskosten beglichen seien. Werner wurde offenbar auserkoren als zukünftiges Haupt der Linie Flechtingen/Dönstedt und
„aus sunderligen mich dahin bewegetten ursachen, von wegen der liebe, so
ich zu meinem stammen und geschlechte der Schencken drage, inmaßen
auch alle vernünfftige und erlige leute von altershero ihren stammen und
geschlechte vur anderen freunden vurgezogen, welchem exempel ich
hierinnen gefolget“.
Frau Leveke unterschrieb und siegelte ihr Testament am 10. Januar 1617
zunächst persönlich und ließ es einige Monate später durch sieben bürgerliche Zeugen und einen Notar beglaubigen.
Da Leveke Schenk offenbar je länger je mehr zu der Überzeugung gelangte,
dass die zunächst pauschal erfolgte Zuweisung von Erbportionen unter ihren
Erben zu Uneinigkeit führen würde, präzisierte und modifizierte sie ihre
letztwillige Verfügung in der Folgezeit dahingehend, dass sie den Löwenanteil ihrer ausstehenden Kapitalien vorab als Schenkung vergab und die
ihren Angehörigen außerdem zugedachten Kapitalien näher präzisierte.
200
Eltern und Brüder wurden sogar ausdrücklich vom Genuss der Zinsen ausgeschlossen.
1625 war er noch unmündig (LHASA, MD, E 76, Nr. 106 ad 1625 März 7). Er wurde im Juli
1630 bei Erfurt erschossen (Behrends, Kreischronik 2 (wie Anm. 5), S. 153, ohne
Quellenangabe). Seine Verbindung zu Ernst Albrecht v. Eberstein, unter dem er erste
militärische Erfahrungen im schwedisch-polnischen Kriege hatte sammeln können, dürfte durch
gemeinsame familiäre Beziehungen zu den v. Stammer auf Ballenstedt zustande gekommen sein
(siehe oben Anm. 128 sowie Leichenpredigt Ebersteins von 1676 (SBPK (wie Anm. 131), 4“ Ee
700-747)).
201
75
So legte sie ihrem Testament etliche Jahre nach dessen Niederschrift eine
Erklärung bei202, wonach sie ihrem Neffen Werner zusätzlich zu dem bereits
zugeteilten Vermächtnis noch eine offenbar von ihr erworbene Obligation
des Matthias v. d. Schulenburg in Höhe von 20.000 Tlr. übertrug, die aus den
Einkünften der Herrschaft Altenhausen zu verzinsen war203. Diese „gifft
under den lebenden“ sollte ebenso wie ihr Silbergeschirr und Hausgerät
durch Werner und seine zukünftigen Nachkommen als Familienerbe
angesehen werden. Schenkung und Vermächtnis zugunsten des Flechtinger
Neffen mögen in ihrem beachtlichen Umfang einerseits als Ausdruck
persönlicher Zuneigung Levekes gelten; andererseits wird sie die ab 1625/26
zunehmend bedrängte Lage Werners vor Augen gehabt haben, auf dessen
seit 1629 konfiszierten Gütern sich in jenen Jahren allerlei unsauberes Volk
habsburgisch-friedländischer Provenienz breitmachte204.
Am 2. November 1634 konkretisierte Frau Leveke die Bestimmungen ihres
1617 verfassten Testaments erneut und umfassender als zuvor. Sie wies den
beiden Nichten Schulenburg einen Jahreszins (= 1.000 Tlr.) aus der Altenhausener Obligation je zur Hälfte als Erbportion zu und erließ ihrem Neffen
Werner Schenk die Rückzahlung von 3.300 Tlrn., die sie ihm zuvor vorgestreckt hatte. Außerdem bestätigte sie eine weitere bereits an ihn erfolgte
Schenkung von 900 Tlrn. Zwei überlebende und inzwischen verheiratete
Töchter Kerstens (II.), nämlich Maria Agnesa, Ehefrau des Erich v. Lenthe
auf Lenthe und Wunstorf (1597-1663) sowie Catharina Dorothea, Ehefrau
202
StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 105, undatierte Beilage zum Testament von 1617 Januar 10. Da
sich Werner Schenk Martini 1628 zu Beesen mit Sophie v. Krosigk verehelichte (und nicht –
wie in OFM Flechtingen und Dönstedt (wie Anm. 61) S. 322 bzw. S. 161-162 fälschlich
angegeben – mit Maria v. Pilgram!) und sein mutmaßlich ältester Sohn Christian Volrad am 25.
Dezember 1635 zur Welt kam, ist die obige Zusatzerklärung auf diesen Zeitraum einzugrenzen,
sicher aber vor dem letztgenannten Datum niedergeschrieben worden.
203
Ursprünglicher Kreditgeber war seit etwa 1609 Wilhelm v.d. Wense auf Bodenteich usw.
(LHASA, MD, E 76, Nr. 84a). Werner verglich sich wegen dieser Forderung 1659 mit den
Erben des Matthias v.d. Schulenburg (LHASA, MD, E 76, Nr. 218).
204
Ludolf d.J. v. Münchhausen schrieb nach der Schlacht von Lutter am Barenberge seinen
Eltern Ludolf und Anna v. Münchhausen von Oldendorf aus: „Werner Schencke hatt nicht
allein alle seine pferde verlohren, sondern ist noch dazu von den Crabaten gefangen undt ubell
gehalten worden, hatt sich mussen mitt 300 reichsthaler ranzioniren, ligt itzo in Braunsweig
swerlich kranck...“ (StABÜ, Dep. 6 GH A Nr. 411, 1626, ohne Tages- und Monatsangabe).
Näheres ansonsten bei Willing (wie Anm. 7), S. 50-54 unter Wiedergabe ungenannter
zeitgenössischer Quellen (möglicherweise LHASA, MD, E 76, Nr. 168). Es scheint der lokalen
Forschung entgangen zu sein, dass es sich bei dem zeitweiligen Inhaber der Schenk’schen Güter
um jenen emporgekommenen Italiener Johann Baptist Verda von Verdenberg (c. 1582-1648)
handelte, der als Kanzler, Kämmerer und Berater des Monarchen am Hofe Ferdinands II. eine
Schlüsselposition bekleidete, zunächst zu den Parteigängern Wallensteins zählte, aber noch vor
1634 rasch die Fronten wechselte. Der „Commissarius“ Heinrich Niemann, welcher die Güter
für Verdenberg in Besitz nahm, war ein enger Vertrauter des Friedländers, der zusammen mit
diesem 1634 in Eger umgebracht wurde.
76
des Sebastian Edelherrn v. Plotho auf Grabow205, wurden mit insgesamt
2.000 Tlrn. bedacht, die bei der Braunschweigischen Landschaft als Forderung ausstanden; der erstgenannten wurden darüberhinaus 500 Tlr. von
den lange rückständigen Zinsen dieses Kapitals als Erbin ihrer inzwischen
verstorbenen Schwester Leveke206 zugewiesen. Kerstens Tochter Anna
Elisabeth wurde eine 1637 fällige Schuldforderung von 1.200 Tlrn. gegenüber Heinrich Hilmar v. Münchhausen zugesprochen; Sabina und Dorothea
Schenk, „die Rittmeisterinnen“207, sollten sich eine auf die Erben des Claus
v. Münchhausen zu Ohsen lautende Forderung von 1.800 Tlrn. nebst zweijährigen Zinsen teilen. Der Nichte Anna v. Münchhausen wies Frau Leveke
eine Forderung von 3.200 Tlrn. gegenüber dem „Cantzler“208 sowie eine
weitere Forderung von 300 Tlrn. gegenüber Ludolf v. Münchhausen zu,
deren spätere Verteilung sie vorab festlegte209. Bei den Vermächtnissen
zugunsten der vier Nichten Veltheim änderts sich nichts, außer dass Leveke
auch hier bestimmte, woher die entsprechenden Gelder genommen werden
sollten210. Die Zahl der Geschwister Schenk zu Lemsell hatte sich mit dem
205
Sebastian Edelherr v. Plotho heiratete lt. OFB Flechtingen (wie Anm. 61), S. 384 am 20.
August 1620 in Flechtingen Catharina Dorothea Schenk von Flechtingen. Auch die Widmung
der Leichenpredigt auf Kersten (II.) Schenk von 1622 (SUB Göttingen 4 CONC FUN 231 (3))
nennt unmissverständlich ihn und Catharina Dorothea als Eheleute. Die ihr im Genealogischen
Hdb. d. Adels, Freiherrl. Häuser A Bd. XI, 1979, S. 296, beigelegten Vornamen Elisabeth Sophia
sind offenkundig falsch. Auch die dort mit 1603 bzw. ca. 1610 angegebenen Geburtsdaten der
Eheleute dürften unzutreffend sein.
206
Sie ist lt. OFB Flechtingen (wie Anm. 61), S. 321 noch 1627 September 30 als Patin in
Flechtingen nachgewiesen, wird aber im dortigen Sterberegister offenbar nicht aufgeführt.
207
Wenigstens im Falle Sabinas lässt sich die Bezeichnung nachvollziehen: Sie ehelichte vor
1634 den späteren schwed. Obersten und schließlich Amtshauptmann zu Heldrungen,
Sigismund v. Reisengrün alias Rausengrüner von Grünlas (1599-1665) und starb bereits 1636
(Leichenpredigt auf ihren Ehemann: HAB (wie Anm. 37), Xa 1:32 (4)). Das Ehepaar stiftete der
Kirche in Dönstedt einen silber-vergoldeten Kelch (Harksen (wie Anm. 11), S. 207) mit der
Inschrift: „SABINA SCHENCKIN – SIGMUNDT RAISEN GRÜNER VON GRÜNLUST“. Im
Jahre 1635 lag Sigismund v. Reisengrün als Rittmeister in Oebisfelde; Werner v.d. Schulenburg,
Sohn des Matthias (s.o. als Ehemann der Margarethe Schenk, Werners Tochter), diente als
Kornett in seiner Kompanie (Schmidt, Schulenburg II (wie Anm. 119), S. 412 (dort fälschlich:
„Siegismund Reifengrün“).
208
Wohl dem Kanzler v. Julius Adolph Wietersheim (siehe oben Anm. 107).
209
1.000 Tlr. blieben der Nichte selbst vorbehalten, die nach deren Tode gleichmäßig unter ihre
Kinder zu verteilen waren. Je 1.000 Tlr. sollten an den Neffen Hermann Christian v.
Münchhausen und an die Nichte Leveke gelangen, denn diese trugen die Namen des
verstorbenen Sohnes und der Großtante selbst. 500 Tlr. waren der Großnichte Dorothea
„Dortie“ zugedacht.
210
Ihnen wurden eine bei Carl v. Mandelsloh (s.o. Anm. 178, 194) ausstehende Forderung von
450 Tlr. nebst 9 Jahre rückständiger Zinsen (=243 Tlr., somit knapp 700 Tlr.) und 1.300 Tlr.
aus Levekes Forderung bei der Hoya’schen Landschaft angewiesen.
77
gewaltsamen Tode des Henning Carl 1621 inzwischen verringert211; die den
beiden Brüdern zugedachten 1.000 Tlr. fielen nun insgesamt dem Kersten
Werner Schenk zu; sie wurden allerdings mit zwei schon vor Jahren
gewährten Darlehen der Tante und langjährigen Zinsrückständen verrechnet212, während die den vier noch lebenden Schwestern Schenk zugesprochen 4.000 Tlr. unverändert blieben213. Auch die Erben der bereits verstorbenen Schwester Elisabeth v. Dorstadt waren bei Frau Leveke inzwischen
tief verschuldet; ihnen wurde auferlegt, die ihr Erbteil übersteigende Summe
„in die gemeine erbschafft“ zurückfließen zu lassen214. Alle übrigen, nach
ihrem Ableben vorhandenen Vermögenswerte sollten – so der Wunsch der
Testatorin - unter ihren Nichten und Neffen gleichmäßig verteilt werden.
Sie wünschte in ihrem Schlusswort schließlich, ihre „erben wollen diß
vurlieb nemen, und mich wie der welt gebrauch nicht in der erden hassen,
daß der eine viell, der ander weinig kreigt“, wobei sie auch ihre Kritik an
den meisten ihrer entfernt lebenden Verwandten nicht mit ins Grab zu
nehmen gedachte, sondern nochmals deutlich äußerte: „Eß ist ia mein
wolgewunnen gutt, ich hette es ia woll macht gehat, einem alles zu geben, so
habe ich auch meinen freunden nicht einen daler zu dancken, sie haben ia
merendeill (=mehrenteils) nicht einen botten zu mich gesandt, habe auch in
meinem lanckweiligen witwenstande mennigen bedrübten dag und schwere
sachen gehat, aber von meinen freunden wider (=weder) rath noch trost
gehat“.
Die Addition dessen, was Leveke Schenk im Jahre 1634 ihren Erben zusprach bzw. bis zu diesem Zeitpunkt bereits übereignet hatte, führt zu einer
Gesamtsumme von immerhin 43.780 Tlr., was aber nicht bedeutet, dass sich
das Vermögen der Testatorin in 17 Jahren mehr als verdoppelt hätte215.
Gleichwohl wuchs ihr Kapitalvermögen auch nach 1634 noch weiter an, so
211
Lt. OFB Flechtingen (wie Anm. 61), S. 319 wurde er 1621 August 14 in Beddingen erstochen
und in der dortigen Kirche begraben. Nähere Umstände seines Todes konnten bis dato nicht
ermittelt werden.
212
Er war 500 bzw. 260 Tlr. schuldig und hatte diese Kapitalien seit 15 Jahren nicht verzinst.
Mit den ausstehenden 1.340 Tlrn. war er, wie die Tante Leveke es ausdrückte, „uberflüßig
bezahlt“.
213
Auch sie wurden auf ein bei der Hoya’schen Landschaft stehendes Kapital von 4.700 Tlrn.
und die davon seit vielen Jahren rückständigen Zinsen verwiesen. Eine der Schwestern,
Felicitas, starb unverheiratet kurz vor 1661 in Calvörde (StAWO, Kanzlei, Geh. Ratsstube, Nr.
2717).
214
Sie schuldeten ihrer Tante 1.500 Tlr. inklusive der seit 8 Jahren rückständigen Zinsen
(=600 Tlr.); Dorothea Agnesa, verhelichte v. Bennigsen (siehe oben Anm. 197), stand seit 1620
mit 500 „lichten“ Tlrn. bei Frau Leveke in der Kreide, ohne je Zinsen gezahlt zu haben. Nach
Reduktion der als Gesamtforderung errechneten 900 Tlr. auf 300 Tlr. blieb noch immer ein
Kreditvolummen von 2.400 Tlrn. übrig; 400 Tlr. waren demnach zurückzuzahlen.
215
Das Testament von 1617 lässt die große, auf Altenhausen bezogene Obligation unerwähnt.
78
dass es ihr möglich wurde, das Legat der zuvor mit 500 Tlrn. nur recht
kärglich bedachten Großnichte Dorothea v. Münchhausen zu verdoppeln
und ihr anlässlich ihrer Hochzeit mit Cord Philipp v. Mengersen 1639 noch
weitere 2.000 Tlr. zu schenken216.
6. Nachleben
„Alles dinges ein weile / Eß were lang oder eile / Lieb vndt leidt / Hatt seine
zeitt / Vndt nimbt alles behende / Mit der zeit ein ende / Das habe ich
erfaren / In viele lange jahren“. Diesen Reim ließ Frau Leveke dem 1636
gemalten Porträt beifügen, welches ein mäßig begabter Künstler damals von
ihr anfertigte (Abb. 1). Die 72-jährige Witwe blickt uns daraus zwar ernst,
aber wachen Auges an, wobei die große Ähnlichkeit zwischen diesem
gemalten Abbild und dem in Stein gehauenen Flechtinger Bildnis ihrer
Mutter Catharina v. Bülow unverkennbar ist (Abb. 11).
Ihr Vermächtnis zugunsten von Kirche und Stadt Oldendorf erwies sich als
beinahe so dauerhaft wie ihr Porträt: Etwa drei Jahrhunderte lang wurden
aus den Erträgen der von ihr errichteten Legatenstiftung Stipendien, Brautausstattungen und andere Zuwendungen an Bedürftige getätigt, bis die
ökonomischen Folgeerscheinungen des Ersten Weltkrieges dem Ganzen ein
Ende machten217. Das Hauptgebäude ihres Stadthofes wurde 1731 bis auf das
Untergeschoss abgetragen und durch einen Neubau ersetzt, der, nachdem er
durch Erbschaft in städtisches Eigentum gelangt war, seinerseits 1967/68
abgebrochen wurde218. Ihr Grabmal in der Oldendorfer Stadtkirche dürfte im
Zuge jener barbarischen Renovierungsmaßnahme des Jahres 1886 entfernt
worden sein, welcher neben anderen Teilen der Innenausstattung auch das
Epitaph ihres Sohnes zum Opfer fiel: Während die Mitteltafel des Werkes
noch heute in der Kirche zu sehen ist219, wurde der bereits zuvor verstüm-
216
Meyer (wie Anm. 77), S. 54. Cord Philipp zählte übrigens nicht zur Nachkommenschaft des
Jobst v. Mengersen, sondern gehörte der Linie Reelkirchen/Helpensen an.
217
StABÜ, Dep. 59, Nrn. 487, 1364, 1367.
218
StABÜ, S 2 A Nr. 9 (dort einige unprofessionell gefertigte Fotoaufnahmen unmittelbar vor
dem Abriss). Eine weitere Aufnahme mit Abbruchvermerk „nach 1968“ im Bildarchiv Foto
Marburg, Objekt 20835446. An die Stelle des barocken Gutshauses trat ein Zeugnis
städtebaulichen Unvermögens in Gestalt eines Altenwohnheims.
219
Karin Tebbe, Epitaphien in der Grafschaft Schaumburg. Die Visualisierung der politischen
Ordnung im Kirchenraum. Diss. Hamburg 1994 (Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte
in Nord- und Westdeutschland 18), Marburg 1996, S. 203-204, Kat.-Nr. 57 (nebst zugehöriger
Abb. 103). Tebbes Angaben zum früheren Standort des Epitaphs sind insofern zu korrigieren,
dass dasselbe keineswegs „ehemals im Chor“ der Kirche hing, sondern bis zu seiner Demontage
die Ostwand des rechten Seitenschiffs der Oldendorfer Stadtkirche einnahm. Eine
79
melte frühbarocke Aufbau damals zerlegt und inklusive der übrigen Malereien den Sammlungen des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde in Marburg zugeführt, wo sich seine Spuren verlieren220.
Was neben dem Bildnis bis in die Gegenwart überdauerte, ist einerseits die
gedruckte Leichenpredigt von 1644, deren Verfasser die Verstorbene angesichts ihrer selbst durch schwere persönliche Schicksalsschläge und die
fortwährenden Schrecknisse des Krieges nicht zu erschütternden religiösen
Überzeugung als „eine starcke Säule dieses Landes und dieser Gemeine“
bezeichnete. Was andererseits blieb, sind ihre eigenhändig niedergelegten
Verfügungen sowie ein überaus wertvoller Bestandteil ihrer privaten Korrespondenz, innerhalb derer sie uns als ebenso lebenskluge wie belesene221
Exponentin ihres Standes und ihrer Zeit begegnet, deren unverstellt-gradlinige Worte uns auch heute noch ebenso anzurühren vermögen wie ihre
Verletzlichkeit und die Wärme ihres Herzens.
unretuschierte Innenaufnahme von 1886 (Bildarchiv Foto Marburg, Objekt-Nr. 811.824) zeigt
noch das hölzerne Lattengerüst, auf dem das Epitaph ehemals montiert war.
220
Das Epitaph lässt sich anhand der unmittelbar vor oder sogar während der Abbrucharbeiten
entstandenen Aufnahme (Bildarchiv Foto Marburg, Objekt-Nr. 811.829) folgendermaßen
beschreiben: Beiderseits des zentralen Tafelbildes mit der Darstellung des im Vordergrund einer
Kreuzigungsszene knieenden Verstorbenen sah man ehedem eine 32-stellige gemalte
Ahnenprobe. Im zweiten Geschoss des reichgeschnitzten Werks befand sich eine bewegte
Darstellung des Jüngsten Gerichts. Der untere Abschluss des damals bereits arg beschädigten
Kunstwerks, vor dem man zwischenzeitlich eine Empore installiert hatte, war im Jahre 1886
nicht mehr vorhanden. Gezielte Nachfragen bezüglich seines Verbleibs blieben insofern
erfolglos, als weder im Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Philipps-Universität
Marburg noch beim Hessischen Landesmuseum, Abt. Angewandte Kunst, in Kassel Hinweise
auf die Existenz irgendwelcher Teile des Epitaphaufbaus ausfindig zu machen waren (frdl.
Mitteilungen von Herrn Moritz Jacobsen (Marburg) und Frau Dr. Antje Scherner (Kassel) vom
2.8.2011 bzw. Februar 2012).
221
Als sie gelegentlich den Versuch unternahm, die impulsive Nichte Anna in ihrem
Temperament zu zügeln, geschah dies - wie sie ihrem Vertrauten Ludolf v. Münchhausen
schrieb - folgendermaßen: „so solte si (=Anna) auch bedencken, wan si graffe Hermen
(=Hermann von Schaumburg-Gemen) undt ander leutte vur pracher (niederdt.: Bettler)
schultte, das di heren lange hende vndt scharffe augen hetten [...]; man kunte nicht [vorher]sagen,
wi ein dinck komen kuntt, wan si Euren dot [er]leben soltte, muchtens noch ihr kinder
entgelten mussen“ (StABÜ, Dep. 6 GH A, Nr. 476, 1609 Januar 9). Die kursive Passage, im
Norddeutschen völlig ungebräuchlich, übernimmt eine Formulierung aus einer „Tragedia“ des
Hans Sachs von 1559 („Groß herrn haben an allem endt / Groß orn, scharpff augen, lange
hendt“ (Adelbert v. Keller (Hrg.), Hans Sachs, Werke, Bd. 11 (Nachdruck Hildesheim 1964), S.
68-69)): Ihr Interesse beschränkte sich demnach keineswegs auf religiös-theologische Texte,
sondern griff offenbar deutlich weiter aus.
80
Abb. 1 Leveke v. Mengersen geb. Schenk von Flechtingen (1564-1644). Porträt
eines unbekannten Malers 1636 mit fehlerhafter Altersangabe (Privatbesitz). Foto:
Matthias Säck (Weserrenaissance-Museum Schloss Brake).
81
Abb. 2 Burg Flechtingen. Ansicht des mittelalterlichen Turms sowie des
Nordflügels und Torhauses aus dem 16. bzw. 17. Jh. von Hand des Stolberger Malers
Ernst Helbig 1832, ehemals auf Schloss Flechtingen (Foto des Originals um 1900 von
Albert Jennrich). Die Bauten insgesamt noch ohne die historisierend-entstellenden
Zutaten späterer Zeit. Quelle: Aus der Geschichte des Schlosses Flechtingen, hrg. vom
Heimatverein Flechtingen e.V., Staßfurt 2006, S. 25.
Abb. 3 Zweiteiliger Wappen- und Inschriftstein der Eheleute Barwert Schenk und
Hippolyta v. Wenckstern aus dem Jahre 1526 über dem Zugang zum Südflügel im
inneren Burghof. Burg Flechtingen. Foto: H. Hildebrand.
82
Epitaphgemälde für Kersten (I.) Schenk und seine Familie. Ältere
Abb. 4
Version, entstanden um 1551. Darstellung des damals 28-jährigen Kersten, seiner
jung verstorbenen Ehefrau Agnes v. Bodendieck sowie zweier Töchter. Links im Bild
das gesattelte Streitross mit dem Namen „Der Rhor“. Ursprünglich Dorf- und
Patronatskirche Flechtingen, dann Schloss Flechtingen, später Kulturhistorisches
Museum Magdeburg, heute Privatbesitz. Abbildung (Kopie von Rasterdruck):
Kulturhistorisches Museum Magdeburg.
83
Abb. 5 Epitaphgemälde für Kersten (I.) Schenk und seine Familie. Entstanden vor
1575. Unbeholfene Darstellung der jeweils namentlich gekennzeichneten Personen;
auffällig auch hier das in die Darstellung aufgenommene Streitross mit dem Namen
„Der Bodenhäuser“ (links im Bild). Dorf- und Patronatskirche Flechtingen. Foto: H.
Hildebrand.
84
Abb. 6 An der südlichen Innenwand aufgerichtete Grabplatte für Kersten (I.)
Schenk (1523-1571). Sandstein. Handwerkliche Arbeit mit Beschädigungen im
Bereich der Hände und des Gesichts. Dorf- und Patronatskirche Flechtingen. Foto: H.
Hildebrand.
85
Abb. 7 Wappenstein der Eheleute Kersten (I.) Schenk und Catharina v. Bülow aus
dem Jahre 1571 am Torhaus. Burg Flechtingen. Foto: H. Hildebrand.
Abb. 8 Schriftprobe der 45jährigen Leveke Schenk vom Januar 1609. Sie schreibt
an Ludolf v. Münchhausen, den Ehemann ihrer Nichte Anna v. Bismarck: „Meinen
freuntligen grus zuffor. Ehtteler undt ehrentfester freuntliger liber schwager undt
geffatter, ich habe Eur schreibent ehntfangen undt aus dem selbigen Eur undt Eurer
liben hausfruwen undt kinder gesuntheit hertzlich gern vurnomen...“. Q.: NLA,
StABü, Dep. 6 GH A 476; Repro: StABü.
86
Abb. 9 Mitteltafel des Epitaphs für Hermann Christian v. Mengersen (1595-1612)
als Rest eines zwischen 1612 und 1616 entstandenen, leider zerstörten Monuments.
Routiniert gearbeitete Kreuzigungsszene mit dem im Vordergrund links knieenden
Verstorbenen in zeitgenössischer Tracht. Hessisch Oldendorf, Stadtkirche St. Marien.
Foto: Matthias Säck (Weserrenaissance-Museum Schloss Brake).
87
Abb. 10 Hessisch Oldendorf. Ansicht von Süden um 1647. Kupferstich aus Matthäus
Merian, Topographia Westphaliae, Frankfurt/M. 1647, Taf. 28. Der dominierende
Renaissancebau des Münchhausenhofes verdeckt den unmittelbar nördlich
benachbarten Adelshof der v. Mengersen. In der Stadtkirche St. Marien (Bildmitte)
fand Leveke Schenk ihre letzte Ruhestätte. Q.: Wikisource.
Abb. 11 Grabmal Catharina von Bülow. Dorf- und Patronatskirche Flechtingen. An
der südlichen Innenwand aufgerichtete Grabplatte für Catharina v. Bülow (15311575), Witwe Kerstens (I.) Schenk von Flechtingen, Sandstein (Ausschnitt). Foto: H.
Hildebrand.
89
Die Fotografenfamilie Rudolf Oberst in Salzwedel
Zur Jahresausstellung 2011 im Danneil-Museum Salzwedel
von Ulrich Kalmbach
Bei der Herbsttagung des Altmärkischen Geschichtsvereins im Jahre 2011
stand auch der Besuch der Ausstellung „Oberst fotografiert - Eine
Salzwedeler Fotografenfamilie und ihre Bilder in drei Jahrhunderten“ im
Johann-Friedrich-Danneil-Museum Salzwedel auf der Tagesordnung. Vorab
gab es einen Einführungsvortrag zu diesem Programmpunkt. An dieser Stelle
folgen nun neben einem Überblick zu dieser Ausstellung einige Ergänzungen
und Vertiefungen zur Thematik. Schwerpunkt bildet dabei die Frühgeschichte der Fotografenfamilie im 19. Jahrhundert.1
Abb. 1 Der Fotograf Rolf Oberst (r.) und Ulrich Kalmbach in der Ausstellung.
Foto: Karla Fritze, 2011
1
Ausstellung vom 15.05.2011 bis 30.10.2011 im Danneil-Museum Salzwedel. Zur Ausstellung
erschienen ein Faltblatt und ein Artikel in der Wochenendbeilage der Altmark-Zeitung.
Kalmbach, Ulrich: Oberst fotografiert. Eine Ausstellung im Danneil-Museum Salzwedel. In:
Altmark-Blätter. Bd. 22. 2011, Nr. 31 v. 30.7.2011, S. 121-124.
90
Die Ausstellung
Die Jahresausstellung 2011 des Danneil-Museums gab einen Einblick in die
Geschichte Salzwedeler Fotografen und Salzwedeler Fotografie. Das Motto
„Oberst fotografiert“ war der Fassadenbeschriftung des Fotoateliers Rolf
Oberst entlehnt, das sich bis 1991 in der Salzwedeler Burgstraße befand.
Die Fotografie ist eine der bedeutenden technischen Errungenschaften des
19. Jahrhunderts. Spätestens seit dem Jahre 1844 ist sie in Salzwedel
nachweisbar. Hier wirkten neben weiteren Fotografen mehrere Generationen der Familie Oberst seit 1880 in diesem künstlerischen Handwerk.
Zeitweise unterhielten drei Familienmitglieder gleichzeitig einen Fotobetrieb
in der Stadt. Der Begründer dieser Tradition, Rudolf Oberst (1856-1922),
kam aus Plauen im Vogtland. Weitere Fotografengenerationen folgten. 1991
endete mit der Schließung des Fotoateliers von Rolf Oberst diese
Kontinuität. Allerdings wirkten die Kinder des Letzteren außerhalb von
Salzwedel weiter als Fotografen.
Die Ausstellung im Danneil-Museum war dreigeteilt. Sie zeigte einen Querschnitt durch die technische Entwicklung der Fotografie vom 19. bis zum 21.
Jahrhundert, gab Informationen zu Biografien und Werkstätten der Fotografen und vermittelte über die zahlreichen historischen Aufnahmen einen
Einblick in Salzwedeler Stadt- und Bürgergeschichte. Die ausgestellten
Fotografien zeigten stimmungsvolle Porträtaufnahmen, wichtige Ereignisse
der vergangenen Jahrhunderte oder dokumentieren historische Orte, die es
so heute nicht mehr gibt. Nach einem Überblick zu den Biografien der
Fotografen und zu den Standorten der Ateliers gaben die Arbeiten von
Rudolf Oberst (1856-1922) im zweiten Teil einen Überblick zu dessen
Schaffen und zeigten gleichzeitig einen Querschnitt der typischen
Fotomotive dieser Zeit.
Im dritten Bereich der Ausstellung wurden ausgewählte Arbeiten der Fotografen Paul Oberst (1891-1955), Clara Oberst (1888-1981), Rolf Oberst (geb.
1924), Klaus Oberst (geb. 1951) und Karla Fritze (geb. Oberst, 1955) gezeigt.
Neben den historischen Fotografien war eine Reihe von Fotoapparaten und
fotografischen Gerätschaften aus dem 19. und 20. Jahrhundert aus den
Sammlungen von Karla Fritze und Klaus Oberst zu sehen. Teile der alten
Atelier- bzw. Laborausstattung mit interessanten Staffagemöbeln gaben
einen Einblick in das Innenleben eines Fotoateliers.
Ein großer Teil der ausgestellten Fotografien zur Familiengeschichte waren
Leihgaben aus dem Besitz der Familie Oberst. Bei den fotografischen
Arbeiten des Ateliers Rudolf Oberst konnte auf den Bestand des DanneilMuseums Salzwedel und dessen historischer Bildsammlung zurückgegriffen
91
werden. Ein Zeitungsaufruf erbrachte eine Vielzahl der Arbeiten von Clara
Oberst, die von über 30 Leihgebern zur Verfügung gestellt wurden.
Rudolf Oberst
Der 1856 in Plauen geborene Rudolf Oberst (1856-1922) begründete ab 1880
die Tradition der Fotografenfamilie in Salzwedel. So wie er begannen noch
weitere Familienmitglieder in der Fotobranche zu arbeiten und eröffneten
Firmen in weiteren Städten, wie Oelsnitz und Wolfenbüttel. Zu dem
Oelsnitzer Fotografen- und Familienzweig ergaben sich im Rahmen der
Ausstellungsvorbereitungen einige Hinweise. Zu den gewerblichen bzw.
familiären und biografischen Hintergründen des Oelsnitzer Fotobetriebes
Oberst gab eine detaillierte Information des Kreisarchives des Vogtlandkreises Auskunft.2
Paul Oberst (1860-1932), ein Bruder von Rudolf Oberst, wurde am 6. September 1860 in Plauen geboren und meldete am 8. Juli 1890 im Alter von 29
Jahren sein Gewerbe (Photographisches Atelier) in Oelsnitz im Vogtland an.3
Eine erste bekannte Werbeinitiative stellt eine Annonce im „Handbuch- und
Adreßbuch der Industriestadt Oelsnitz i.V. nebst Geschäftsanzeiger für die
Jahre 1891/92“ dar.4
Im Jahre 1932 erweiterte Paul Oberst wohl seinen Betrieb in Oelsnitz und
meldete ein Gewerbe „Handel mit Photoartikeln“ dort an.5 Kurze Zeit später,
am 1. November 1932, verstarb er.6 Danach führte offensichtlich seine
Tochter Lotte Oberst (1909-1978) den väterlichen Betrieb in der Oelsnitzer
Bahnhofstraße 5 als selbständige Fotografenmeisterin bis zum Jahre 1972
2
Dankenswerte Mitteilung des Sachgebietes Archiv im Landratsamt des Vogtlandkreis vom 1.
März 2011. Ebenso verdanke ich Herrn Ronny Hager, Herrn Franz Springer und Herrn Frank
Gündel Informationen und die Übermittlung von historischen Abbildungen.
3
RdS Oelsnitz, S 273/2 Gewerbeanmeldeverzeichnis 1877-1899, Mitteilung Sachgebiet Archiv,
Landratsamt Vogtlandkreis vom 1. März 2011, dort lfd. Nr. 50, Brandkatasternummer 221B.
Ein weiterer Eintrag für Paul Oberst liegt für das Jahr 1919 vor, mit dem nachträglichen
Vermerk „abgemeldet am 12.07.1945“
4
Die Abbildung und Informationen dazu stellte freundlicherweise Herr Ronny Hager zur
Verfügung.
5
Anmeldung am 19. Februar 1932, in der Bahnhofstraße 5, RdS Oelsnitz, S 273/4
Gewerbeanmeldeverzeichnis 1927-1957, RdS Oelsnitz, S 273/4 Gewerbeanmeldeverzeichnis
1927-1957
6
KMK Oelsnitz, Nebenkartei Karton 20
92
weiter.7 Ihre Schwester Ilse Kannebier, geborene Oberst war ebenfalls von
Beruf Fotografin. Diese verzog 1966 von dort nach München.
Wie sein Bruder Paul in Oelsnitz, so begründete der ältere Rudolf Oberst
eine Familientradition in Salzwedel. Rudolf Oberst wurde am 4. Juni 1856 in
Plauen/ Vogtland als Sohn des Gerichtsschreibers Gottfried Oberst geboren.
Er begann 14-jährig seine Berufsausbildung in der Heimatstadt Plauen. Die
Lehre als Fotograf absolvierte er von 1870-1873 dort im Atelier Carl
Axtmann. Das Fotoatelier Axtmann existiert noch heute in Plauen in der 5.
Generation. Besonders herausragend war der Hoffotograf Heinrich Axtmann
(1850-1914). Dieser hatte 1877 das Atelier seines Vaters in Plauen
übernommen.8
Nach der Lehre blieb Rudolf Oberst die ersten beiden Gesellenjahre bei
seinem Lehrmeister Carl Axtmann in Plauen und arbeitete dort von 1873 bis
1874. Danach war er kurzzeitig in Schlettstadt im Elsaß tätig, um dann
wieder zurück nach Plauen zu kommen, wo er wieder über ein Jahr lang
arbeitete. Anschließend wechselte er zum Sohn seines ehemaligen Lehrmeisters nach Reichenbach, wo dieser ein eigenes Atelier besaß. Hier blieb
Rudolf Oberst noch bis 1876. Über diesen frühen beruflichen Werdegang
gibt ein Arbeitszeugnis vom 15. September 1876 Auskunft (Abb. 2).9 Dieses
Zeugnis wurde dem Inhalt nach vom Sohn des Plauener Fotografen Carl
Axtmann angefertigt, aber jedoch mit Carl Axtmann unterzeichnet. Möglicherweise hat der Sohn Heinrich Hermann Axtmann im Auftrage seines
Vaters mit dessen Namen signiert.
Im Jahr 1876 oder kurz danach wechselte Rudolf Oberst nach Salzwedel, um
im dort etablierten Fotografengeschäft F. Frohse Witwe zu arbeiten. Hier
nahm Rudolf Oberst dann die Stelle des Geschäftsführers ein. Darauf
verweisen mehrere kurze Zeitungsnotizen aus späteren Jahren.10
7
Sie wird aktenkundig erst mit einer Gewerbeanmeldung im Jahre 1945 erfasst, war aber
möglicherweise schon vorher im Betrieb tätig. RdS Oelsnitz, S 273/4
Gewerbeanmeldeverzeichnis 1927-1957, RDS Oelsnitz, VwA 269
8
Mitteilung von Herrn Ronny Hager, Verein für vogtländische Geschichte, Volks- und
Landeskunde e.V. vom 19. Februar 2011
9
Arbeitszeugnis des Fotografen Carl Axtmann aus Reichenbach für den Gesellen Rudolf Oberst
vom 15. September 1876 (Privatbesitz Familie Oberst, Salzwedel): „Reichenbach, d. 15. Sept.
1876/ Der Photograph u. Retuscheur Rudolf Oberst aus Plauen i.V. hat von Ostern 1870-73 in
dem Geschäft meines Vaters C. Axtmann in Plauen in der Lehre gestanden. Er hat sich während
dieser seiner Lehrzeit unsere vollste Zufriedenheit erworben, so daß er sofort von meinem Vater
für weitere zwei Jahre als Gehülfe mit einem entsprechenden Gehalt engagiert wurde. Er ist also
volle fünf Jahre in dem Geschäft thätig gewesen. Nach dieser Zeit hat benannter Herr in
Schlettstadt bei Herrn Photograph Ziegler conditioniert und ist von dort aus wieder in das
Geschäft meines Vaters zurückgerufen worden....“
10
Salzwedeler Wochenblatt vom 17. Februar 1880, S. 3
93
Abb. 2 Arbeitszeugnis für Rudolf Oberst vom 15. September 1876
94
Abb. 3
Rudolf Oberst beim Anfertigen eines Ölporträts, um 1878
Das Fotoatelier Fritz Frohse ist um das Jahr 1863 erstmals fassbar. Fritz
Frohse wurde im Adressbuch von 1863 nur namentlich unter der Sachrubrik
„Photographen“ geführt, tauchte aber nicht im Namens- bzw. Adressverzeichnis auf.
Möglicherweise hat er sich in dieser Zeit erst hier angesiedelt. Auf einer
seiner Werberückseiten eines Visit-Bildes ist vermerkt „Atelier für Portraitu. Landschafts-Photographie u. Portrait-Malerei Fritz Frohse“ mit
Niederlassungen in „Salzwedel Neuperver Str. 873“ und „Quedlinburg
Schlossplatz 212.“
Das Geschäft von Fritz Frohse führte nach seinem Tod dessen Witwe unter
dem Namen „F. Frohse Witwe“ weiter. Diese wurde 1877 erstmals als
Geschäftsinhaberin genannt. Nach einer Zeitungsannonce im Salzwedeler
Wochenblatt übergab sie ihren Betrieb dann im Jahre 1884 an Richard
Steinbacher, der ihn an gleicher Stelle über lange Jahre weiter führte. Aus
der Zeit der Tätigkeit von Rudolf Oberst im Atelier Frohse ist ein Porträtfoto
95
erhalten, das Rudolf Oberst in jungen Jahren mit einer Malerpalette an einer
11
Staffelei zeigt (Abb. 3). Er ist mit der Endbearbeitung eines Porträtgemäldes befasst. Sein Arbeitgeber hatte in einem Zeitungsinserat darauf verwiesen, auch Porträts in Ölmalerei anzufertigen: „Schon seit Jahren beschäftige ich
mich mit der Ausführung von Portraits in Oelfarben und empfehle mich jetzt
dem hochgeehrten Publikum zur Ausführung dieser Arbeiten, bei gediegener
künstlerischer Durchführung sehr civile Preise stellend. Probebilder stehen bei
12
mir zur Ansicht. Fritz Frohse“.
Auch der junge Fotograf Rudolf Oberst war offensichtlich in dieser Technik
bewandert. Im Februar 1880 berichtete dann das Salzwedeler Wochenblatt
in einer kleinen Notiz von der Beendigung des Arbeitsverhältnisses im
Atelier Frohse und von der Absicht, ein eigenes Geschäft zu eröffnen: „legt
Herr Oberst, welcher uns durch seine so gelungenen Portraits rühmlichst bekannt
ist, mit dem 1. April sein Amt als Geschäftsführer des photographischen Ateliers
der Frau Witwe Frohse nieder“ 13
Im April, Mai und Juni des Jahres 1880 veranlasste Rudolf Oberst in
mehreren Ausgaben des Salzwedeler Wochenblattes eine Reihe von
identischen bzw. leicht abgewandelten Werbeannoncen, die auf sein neu
eröffnetes Geschäft hinwiesen.14
Er bezeichnete hier sein Geschäft als „photographisch-artistisches Atelier“.
Der Standort des Ateliers war in der ehemaligen Villa des Mühlenbesitzers
Gustav Scholvien, die sich außerhalb der Stadtmauern in der Straße Vor dem
Lüchower Tor 6 befand. In den Annoncen zur eigenen Geschäftseröffnung
im Jahre 1880 beschrieb Rudolf Oberst das Leistungsspektrum seines
Ateliers, darunter auch die Ölmalerei: „Portraitaufnahme in jeder Größe,
Reproduction und Vergrößerung jedes beliebigen Bildes bis zur Lebensgröße und
Ausführung derselben in schwarzer, Oel- und Aquarell-Retouche, Aufnahme von
Landschaften, Architecturen u. Kreidezeichnungen in ganz vorzüglicher
Ausführung nach jedem Bilde, eingebrannte Photographien auf Glas und
Porzellan, bestens empfohlen. Hochachtungsvoll Rudolf Oberst. Photograph.“15
Ein Foto aus seiner Anfangszeit in Salzwedel (Abb. 4) zeigt verschiedene
Mitglieder der Familie bzw. Angestellte in einer inszenierten
Atelieraufnahme im ersten Geschäft der Familie Oberst - Vor dem Lüchower
11
Originalfoto im Besitz von Klaus Oberst
Undatierte Reproduktion der Annonce, wahrscheinlich aus dem Salzwedeler Wochenblatt im
Besitz von Rolf Oberst
13
Salzwedeler Wochenblatt vom 17. Februar 1880, S. 3; Salzwedeler Wochenblatt vom 24., 27.,
29., April, 1. Mai, 15. Mai, 19. Juni 1880
14
Salzwedeler Wochenblatt vom 24., 27., 29., April, 1. Mai, 15. Mai, 19. Juni 1880
15
Mehrere fast identische Annoncen im Salzwedeler Wochenblatt vom 24., 27. und 29. April
und vom 1. Mai und 15. Mai 1880
12
96
Tor Nr. 6.16 Die Tochter von Rudolf Oberst und spätere Nachfolgerin ihres
Vaters im Geschäft, Clara Oberst, beschrieb später diese Fotografie.17
Links im Bild ist neben einer großen Atelierkamera der Fotograf Rudolf
Oberst zu sehen. Der dritte von links ist der Bruder von Rudolf, Paul Oberst,
welcher hier beim Begießen einer Negativglasplatte mit einer lichtempfindlichen Schicht zu sehen ist. Die anderen drei jungen Männer sind
nicht genauer identifiziert. Bei einem von ihnen handelt es sich möglicherweise um einen Gehilfen der Werkstatt, Fritz Heuschkel, der später als Hoffotograf in Schwerin tätig war.
Auch die im Atelier befindlichen Wandbilder sind offensichtlich bewusst für
dieses Foto ausgesucht und inszeniert worden. Das Frauenporträt an der
Hintergrundwand stellt Pauline Oberst, die Schwester von Rudolf Oberst,
dar. Das Männerporträt auf der Staffelei im rechten Bildteil ist der
Schwiegervater von Rudolf Oberst, Kantor Friedrich Wilhelm Schermer aus
Apenburg. Die gerahmte Fotografie an der rechten Wandseite zeigt eine
Fotomontage mit jungen Männern des Salzwedeler Vereins junger Kaufleute
aus dem Jahre 1881, das als Originalabzug im Museumsbestand erhalten ist.
(Abb. 5) Auf diesem Fotomontage Bild hat sich der Fotograf, am linken
Bildrand an einem Tisch stehend, selbst einmontiert. Clara Oberst beschrieb
in ihren Erinnerungen, die Entstehungsweise eines derartigen Bildes. Dazu
wurden Einzelporträts oder kleine Gruppenaufnahmen angefertigt. Diese
Aufnahmen schickte der Fotograf dann an eine externe Firma ein, die die
Personen dann in die gewünschten grafischen Vorlagen einmontierte. Diese
Vorlagen wurden von Dekorationsmalern angefertigt und glichen oft
Bühnenbildern. Die Rückseite des Ateliers wird von einer Architekturdekoration gebildet, die offensichtlich austauschbar war. Dahinter lässt sich
ansatzweise eine weitere Dekoration vermuten. Im Vordergrund unterhalb
des Kamerastativs steht eine Aufnahme des im Jahre 1882 eingeweihten
Salzwedeler Gymnasiums. Daneben stapeln sich Kassetten für die
Glasnegativplatten der Kamera, die wohl in dem dort gerade geöffneten
Kasten transportiert werden konnten. Die beiden jungen Männer rechts am
Tisch sind gerade mit Retusche- oder Kolorierungsarbeiten an Bildern
beschäftigt. Im Vordergrund verteilt stehen Glasbehälter mit Trichtern, die
offensichtlich für Fotochemikalien benutzt wurden. Am rechten Bildrand
steht eine weitere, kleinere Plattenkamera.
16
17
Reproduktion in Privatbesitz Rolf Oberst, Original verschollen
Abschrift im Besitz Familie Oberst
97
Abb. 4 Atelier des Fotografen Rudolf Oberst, um 1885
Abb. 5 Verein Junger Kaufleute in Salzwedel, 1881
98
Abb. 6 Stereobild, Wohn- und Geschäftshaus von Rudolf Oberst in der Breiten
Straße 8, um 1895
Abb. 7 Wohn- und Geschäftshaus von Rudolf Oberst, Breite Straße 8, um 1900
99
Im Jahre 1888 siedelte Rudolf Oberst mit seinem Atelier um und erwarb ein
zentraler gelegenes Grundstück in der Nähe des Rathauses in der Breiten
Straße 8. Dieses Geschäftsgrundstück blieb dann bis 1964 in Familienbesitz
und beherbergt heute noch ein Fotografenatelier. Mehrere erhaltene
Außenaufnahmen zeigen das Wohn- und Geschäftshaus in der Zeit um 1900
(Abb. 7). Neben der Firmenbenennung auf der Fassade verweisen auch die
Schaukästen vor dem Haus dort auf die Profession des Hausbesitzers. Eine
weitere, etwas ältere Aufnahme zeigt ungefähr den gleichen Bildausschnitt
mit dem Fotografen selbst als scheinbar unbeteiligten Passanten auf der
Straße (Abb. 6). Dieses Bild ist eine Besonderheit. Es handelt sich um ein
Stereobild. Stereobilder wurden mit speziellen Kameras aufgenommen und
konnten in Bildbetrachtungsgeräten einen räumlichen Eindruck der
Situation simulieren. Diese Bilder waren in der Zeit um 1900 sehr beliebt.
Die hier gezeigte Aufnahme gehörte wohl zu einer Serie, die besondere
Bauwerke von Salzwedel vorstellte.
Im Jahre 1881 heiratete Rudolf Oberst Hermine Schermer aus Apenburg.
Aus dieser Ehe gingen sechs Kinder hervor, von denen eines im frühen
Kindesalter starb. Die anderen fünf Kinder erlernten alle im väterlichen
Betrieb das Fotografenhandwerk. Drei von ihnen, Curt, Clara und Paul,
übten diese Profession bis an ihr Lebensende aus. Der Sohn Curt übernahm
ein Fotoatelier in Wolfenbüttel. Dazu ist gegenwärtig nur wenig bekannt.
Allerdings gibt es hier eine Besonderheit. Das original erhaltene Fotoatelier
von Curt Oberst wurde in den 1970er Jahren in Wolfenbüttel abgebaut und
in das Braunschweigische Landesmuseum verbracht. Dort befindet es sich
noch heute in der Dauerausstellung.18
Clara und Paul Oberst blieben in Salzwedel. Als im Jahre 1922 Rudolf Oberst
starb, führte seine Frau Hermine fast 10 Jahre bis zu ihrem eigenen Tod den
Betrieb weiter. Ab 1931 trat dann die Tochter Clara hier in die
Verantwortung. Einen sehr schönen Einblick in die Familiengeschichte gibt
ein Fotoalbum aus dem Besitz der Familie Oberst, das sowohl die
Schwiegereltern von Rudolf Oberst, die aus Apenburg stammen, als auch
Porträts der folgenden Familiengenerationen vereint.19
Die Arbeiten von Rudolf Oberst sind aus der historischen Bildüberlieferung
der Stadt Salzwedel nicht wegzudenken. Wichtige Ereignisse und städtebauliche Veränderungen wurden durch den Fotografen festgehalten.
Herausragende historische Bauwerke sind im Bild dokumentiert worden.
Besonders die Aufnahmen aus der Zeit um 1900 und davor sind oft
einzigartige Bilddokumente ihrer Zeit. Dazu gehören auch die Fotografien
18
19
Information von Wulf Otte, Braunschweigisches Landesmuseum, 28. Februar 2011
Schenkung Rolf Oberst
100
vom 1895 abgebrannten Salzwedeler Rathaus und mehrere Aufnahmen, die
kurz nach dem Brand angefertigt worden waren. Neben diesen Raritäten gibt
es ebenso eine Vielzahl von Porträtdarstellungen im Museumsbestand,
welche die Breitenwirksamkeit und Alltagsarbeit des Fotografen zeigen.
Ein wichtiges Tätigkeitsfeld der Fotografen war die Porträtfotografie im
Atelier. Noch heute findet man in den Fotoalben vieler Familien in der
Region solche historischen Dokumente. Die Ateliers waren mit wandelbaren
Kulissen und einer Reihe von Requisiten ausgestattet. Aufgrund des großen
Platzangebotes ließen sich die Ateliers auch hervorragend für die eigenen
Familienfeiern nutzen. So sind in Familienbesitz zwei Fotografien
überliefert, die Feiertafeln der Familie Rudolf Oberst zeigen (Abb. 9, 10).
Zur unverzichtbaren Ausstaffierung der Festtafeln gehörten offensichtlich
auch immer repräsentative Baumkuchen. Im Hintergrund der Bilder sieht
man jeweils die Landschafts- bzw. Architekturelemente der Atelierausstattung. Ein Beispiel eines Dekorationsmöbelstückes aus dem Atelier Rudolf
Oberst befindet sich noch im Familienbesitz. So zeigt eine ein Foto aus der
Zeit um 1910 zwei kleine Mädchen mit Schultüten und Ranzen (Abb. 8). Es
wurde offensichtlich aus Anlass der Einschulung angefertigt. Das linke
Mädchen sitzt auf einer kleinen Kinderbank, das rechte Kind steht vor einem
kleinen Tisch. Die auf diesem Bild zu sehenden Kindermöbel wurden später
innerhalb der Familie Oberst weiter vererbt und dienten noch als Spielmöbel
für die Urenkel von Rudolf und Hermine Oberst.20
Abb. 8 Andenken an die Einschulung, um 1910
20
Originalfoto und Möbel, Leihgabe Familie Kuhn
101
Abb. 9 Hochzeitsfeier im Atelier, links am Bildrand das Ehepaar Rudolf und
Hermine, rechts daneben das Brautpaar Else Ewig, geb. Oberst und August Ewig, um
1910
Abb. 10 Silberhochzeitsfeier des Ehepaares Rudolf und Hermine Oberst, 1906
102
Abb. 11, 12 Neues Tor, Stadtseite, W. Bodin, um 1865 und Rückseite mit
Werbeaufdruck
Abb. 13, 14 Neues Tor, Stadtseite und Feldseite, Papierabzug und Kartonmontage,
Rudolf Oberst nach Aufnahme W. Bodin (s.o.), um 1900
103
Die Anfänge der Fotografie in Salzwedel zeigen schon bestimmte Verbindungen zwischen einzelnen Ateliers. Rudolf Oberst nutzte wohl Fotoaufnahmen anderer Vorgänger in Salzwedel, wie zumindest in einem Fall belegt
ist.
Die erhaltenen großformatigen Glasnegative aus den Anfangsjahrzehnten
der Fotografie mit ihrer herausragenden Bildqualität zeugen von der Handwerkskunst der Fotografen. Wie wichtig und wertvoll diese Bildzeugnisse als
Produktionsmittel und vielleicht auch Wertanlage für ein Atelier waren,
zeigt ein Beispiel der Weitergabe und Weiterverwertung derartiger Platten.
Dabei handelt es sich um ein Bildmotiv vom abgerissenen Neuen Tor in
Salzwedel. Hierzu existieren zwei zeitgenössische Papierabzüge mit unterschiedlichen Bildausschnitten, die aufgrund des Werbeaufdrucks der Rückseite dem Atelier W. Bodin zugeschrieben werden können und auf ein noch
erhaltenes Glasnegativ zurückgehen.
Über den Fotografen W. Bodin ist nur wenig bekannt. Im Adressbuch von
1877 wird zusätzlich außer dem Atelier Fritz Frohse bzw. Fritz Frohse
Witwe und Adolf Herbst der Fotograf W. Bodin aufgeführt. Sein Betrieb
hatte allerdings offensichtlich nicht lange Bestand, da er bereits 10 Jahre
später nicht mehr erwähnt wurde. Aus diesem Atelier sind allerdings ein
paar äußerst interessante Aufnahmen, bzw. sogar die Negativplatten
erhalten. Dabei handelt es sich um mehrere Porträts21 und um Aufnahmen
vom ehemaligen Neuen Tor in Salzwedel aus der Zeit um 1865 (Abb. 11,
12).
Ein größeres Cabinet-Bild und das kleinere Visit-Bild zeigen das 1867 abgerissene Neue Tor.22 Beide Papierabzüge sind mit demselben Negativ hergestellt worden. Für das Bild im Visit-Format wurde lediglich ein kleinerer
Ausschnitt vom gesamten Negativ benutzt. Die Fotoabzüge tragen den
Werbeaufdruck W. Bodin. Einige Jahrzehnte später gab der seit 1880 mit
eigener Firma in Salzwedel ansässige Fotograf Rudolf Oberst eine kleine
repräsentative Fotoserie mit Motiven der Stadttore heraus, die alle auf dem
gleichen Montagekarton aufgeklebt und mit eigenem Prägestempel versehen
worden waren (Abb. 13, 14).
Darunter befand sich auch die Abbildung des Neuen Tores, die völlig
identisch mit der Bodinschen Aufnahme war.23 Rudolf Oberst konnte ganz
offensichtlich auf das Glasnegativ von W. Bodin zurückgreifen. Möglicherweise hatte er nach der Geschäftsauflösung dessen Bildarchiv oder auch nur
Einzelstücke übernommen.
21
Danneil-Museum, Inv. Nr.: T 4024, T 4025, T 4026
Danneil-Museum, Inv. Nr.: T 849, T 846
23
Danneil-Museum, Inv. Nr.: T 844
22
104
Folgegenerationen
Vertreter der zweiten Fotografengeneration sind die Geschwister Clara und
Paul Oberst, die über Jahrzehnte hinweg jeweils selbständig ein eigenes
Atelier in Salzwedel betrieben.24 Clara Oberst führte den väterlichen Betrieb
in der Breiten Straße von 1931 bis 1964 weiter. Paul Oberst eröffnete 1931
ein neues Geschäft in der Neuperver Straße, das er bis zu seinem Tod 1955
selbst bzw. danach seine Witwe führte.
Abb. 15 Wohn- und Geschäftshaus Clara Oberst, Breite Straße 8, um 1960
Abb. 16 Rückseitenstempel Clara Oberst
Clara Oberst (1888-1981) wurde im Jahre 1888 als Tochter von Rudolf
Oberst und seiner Frau Hermine geboren. Im gleichen Jahr erwarb der Vater
Rudolf das neue Wohn- und Geschäftsgebäude in der Breiten Straße und
verzog dorthin mit seiner Familie. Clara Oberst erhielt wie auch ihre anderen
24
Die biografischen Informationen beruhen auf der Familienüberlieferung und
Chronikzusammenstellungen von Rolf Oberst (Salzwedel) und Karla Fritze (geb. Oberst,
Potsdam).
105
vier Geschwister eine fotografische Ausbildung im väterlichen Betrieb, in
dem sie dann auch beschäftigt war. Nach dem Tod des Vaters Rudolf im
Jahre 1922 führte seine Witwe das Geschäft, in dem die Tochter Clara dann
wohl eine größere Rolle einnahm, weiter. Mit dem Tod der Mutter im Jahre
1931 übernahm dann Clara Oberst das Fotoatelier völlig in eigene Regie.
Sie führte den Betrieb 33 Jahre lang bis dann 1964 der Fotograf Klaus
Wiedemann Haus und Firma erwarb. 1965 zog sie dann zu ihrem Bruder
nach Wolfenbüttel, um dann nach dessen Ableben in Meldorf (SchleswigHolstein) sich endgültig zur Ruhe zu setzen. Hier verstarb Clara Oberst
hochbetagt im Alter von 92 Jahren. Clara Oberst führte eine Zeit lang, wie
auch ihre Mutter zuvor, das Geschäft unter dem Namen des Firmengründers
Rudolf Oberst weiter. Sie verwendete anfangs noch dessen Prägestempel und
signierte sogar handschriftlich mit „R. Oberst“. Jedoch ist auch eine Reihe
von Arbeiten, die ausdrücklich ihre Handsignatur tragen, aufzufinden.
Paul Oberst (1891-1955) wurde als Sohn von Rudolf und Hermine Oberst im
Jahre 1891 in Salzwedel geboren. Er absolvierte 1910-1911 eine Fotografenlehre in Königsberg und meldete sich 1914 als Freiwilliger im 1. Weltkrieg.
Ab 1918 arbeitet Paul Oberst für einige Jahre im väterlichen Betrieb. Er
heiratete im Jahr 1923 Karla Wildhagen und nach deren Ableben seine
Cousine Hildegard Liedloff. Aus der ersten Ehe gingen zwei Kinder hervor.
Die Tochter Ruth wurde später Fotografin in Hamburg. Der Sohn Rolf
schlug ebenfalls die Fotografenlaufbahn in Salzwedel ein.
Paul Oberst eröffnete im Jahre 1928 ein Fotofachgeschäft in der Breiten
Straße 17 gegenüber dem Kaufhaus. Hier wurden Fotoapparate und Zubehör
verkauft und auch Entwicklungsarbeiten für Amateure angeboten. Im Jahre
1930 erwarb Paul Oberst das ehemalige Wohn- und Geschäftshaus des
bekannten Fotografen Richard Steinbacher in der damaligen Neuperver
Straße 38 und baute es für die eigenen Zwecke um. Am 1. Januar 1931
eröffnete er dort sein neues Geschäft. Auf die Eröffnung verweist auch eine
Annonce.25 Paul Oberst starb im Jahre 1955. Nach seinem Tode führte seine
Frau Hildegard das Geschäft noch über zwei Jahrzehnte weiter.
25
6. Jahresbericht des Vereins ehemaliger Schüler der Höheren Landwirtschaftsschule in
Salzwedel aus dem Jahr 1930
106
Abb. 17 Eröffnungsanzeige Foto-Haus Paul Oberst, 1930
Abb. 18 Wohn- und Geschäftshaus Paul Oberst, um 1935
107
Rolf Oberst (1924-2013) wurde als Sohn von Paul Oberst und Karla geb.
Wildhagen im Jahre 1924 in Salzwedel geboren. Er begann 1941 eine
Fotografenlehre bei Hans Walter in Peine. Diese wurde durch die Kriegszeit
mit Arbeitsdienst, Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft unterbrochen.
Ab 1946 setzte Rolf Oberst dann seine Ausbildung im väterlichen Betrieb
fort und legte 1947 seine Facharbeiterprüfung ab. 1949 heiratete er Ingeborg
Meinicke, aus der Ehe gingen drei Kinder hervor: Klaus (1951), Wolfgang
(1953) und Karla (1955). Der Sohn Klaus und die Tochter Karla erlernten
dann ebenfalls den Beruf des Fotografen.
Im Jahre 1951 legte Rolf Oberst die Meisterprüfung ab und ließ sich im
gleichen Jahr in der Westermarktstraße mit einem eigenen Fotogeschäft in
Salzwedel nieder. Zu dieser Zeit waren sowohl sein Vater Paul und auch
seine Tante Clara noch mit eigenen Ateliers unter dem Namen Oberst aktiv.
Aus diesem Grund nannte Rolf Oberst sein eigenes Unternehmen „FotoJunior“. In der Anfangszeit eröffnete er kurzzeitig auch eine Filiale in
Beetzendorf. Im Jahre 1954 verlegte Rolf Oberst das Geschäft in die
Burgstraße 29, wo es sich bis zur Geschäftsaufgabe im Jahr 1991 befand.
Nach dem Tod seiner ersten Frau erfolgte 1958 die Heirat mit Marie-Luise,
geb. Koch. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder, Claudia (1963) und Axel
(1964) hervor. Im Jahre 1989 wechselte Rolf Oberst in den Rentnerstand,
führte seinen Betrieb aber bis zum Jahre 1991 weiter. Rolf Oberst bildete
Lehrlinge aus und war auch in der Ausbildung von medizinisch-technischen
Assistenten in Krumke tätig. Er war 18 Jahre Obermeister der Fotografen
der Altmark, Mitglied der Meisterprüfungskommission in Magdeburg und
Mitglied der Prüfungskommission in Caputh. Das Tätigkeitsfeld von Rolf
Oberst als Fotograf umfasste alle Sparten der Fotografie, darunter
Porträtaufnahmen und Gelegenheitsfotografie, wie Hochzeiten und ähnliche
Anlässe. Eine Spezialstrecke stellte die Reproduktion historischer
Bilddokumente und die Herstellung von Bildmappen dar.
Abb. 19 Briefkopf Rolf Oberst, 1980
108
Abb. 20 Schaufensterausstellung im Fotoatelier Rolf anlässlich des 100. Jubiläums
der Geschäftsansiedlung von Rudolf Oberst im Jahre 1880, 1980
Zwei Nachkommen des letzten Geschäftsinhabers Rolf Oberst waren dann,
wenn auch nicht mehr mit eigenem Atelier in Salzwedel, beruflich als
Fotografen in Potsdam und Berlin tätig.
Der 1951 geborene Klaus Oberst absolvierte eine Lehre als Fotograf bei FotoKittel in Quedlinburg. Von 1969 bis 1970 arbeitete er als Fotograf an der
Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt und von 1970 bis 1974 als
Fotograf und Videotechniker beim dortigen Sportclub. Nach dem Grundwehrdienst nahm Klaus Oberst ab 1976 eine Tätigkeit als Fotoreporter im
Verlag und der Tageszeitung Junge Welt in Berlin an und qualifizierte sich in
dieser Zeit zum Fotografenhandwerksmeister. Ab 1987 wirkte er bis 1990 als
Fotoreporter bei der Nachrichtenagentur ADN in Berlin. In der Zeit von
1990 bis 1992 arbeitete er in diesem Beruf im Axel-Springer-Verlag für die
Bild-Zeitung in Berlin. Seit 1992 ist Klaus Oberst mit eigener Fotoagentur
selbständig.
Karla Fritze wurde 1955 als Tochter von Ingeborg und Rolf Oberst in
Salzwedel geboren. Sie erlernte nach der Schulzeit im väterlichen Betrieb in
den Jahren von 1972 bis 1974 auch den Beruf des Fotografen und ging dann
ab 1974 nach Potsdam, wo sie 1979 die Prüfung zur Fotografenmeisterin
ablegte. Später war sie dann der dortigen Universität in diesem Metier tätig.
Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Reportage-, Porträt- und Architekturfotografie für Lehre, Forschung, Printmedien und Ausstellungen.
109
Abb. 21 – 24 Rückseiten-Werbeaufdrucke von Visit- und Cabinet-Bildern des
Ateliers Rudolf Oberst, von ca. 1885 bis 1917
110
Abb. 25 Hermine und Rudolf Oberst, um 1881
Abb. 26 Familie Rudolf Oberst, v. l. n. r.: Curt, Clara, Vater Rudolf, Wilhelm, Mutter
Hermine, Else, Paul und Margarete Oberst, um 1896
111
Abb. 27 Weihnachten in der Familie Oberst, um 1896
Abb. 28 Weihnachten in der Familie Oberst, um 1898
112
Abb. 29 Der Fotograf Paul Oberst mit Kamera (Detail aus Bild unten)
Abb. 30 Einweihung des Ulanendenkmals in Salzwedel, 1921
113
Abb. 31 Rolf Oberst als Kleinkind im Gehäuse einer Plattenkamera, Aufnahme
Paul Oberst, um 1925
Abb. 32 Blick in den Ankleideraum des Fotoateliers Paul Oberst mit
Requisiten, um 1930
114
Abb. 33 Rolf Oberst als Kind mit Kamera „Plaubel Makina“, um 1928
115
Geschichte in Bronze und Stein:
Wie die Denkmale von Kaiser Karl IV. und Kurfürst
Friedrich I. auf die Burg Tangermünde kamen
von Sigrid Brückner
„Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden in deutschen Städten Hunderte von
Denkmälern errichtet - eine Entwicklung, die eng mit dem Aufstieg des
Bürgertums zur prägenden gesellschaftlichen Schicht verbunden war. Sie
dienten aber nicht nur der städtischen Identitätsfindung, sondern zunehmend auch als Touristenattraktion.“1 In diese Entwicklung reiht sich die
Errichtung der beiden Standbilder auf der Burg Tangermünde ein, die Denkmale von Kaiser Karl IV. und Kurfürst Friedrich I.
Die Anlässe ihrer Errichtung sind ebenso spannend wie unterschiedlich und
sollen an dieser Stelle, anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums der
Errichtung des Standbilds von Kurfürst Friedrich I. am 11. November 1912
aufgezeigt werden.
Die Errichtung des Denkmals für Kaiser Karl IV. im Jahr 1900
Als am 15. März 1900 um 10.30 Uhr ein Telegramm beim Bürgermeister der
Stadt Tangermünde eintraf: „Bitte uns morgen oder übermorgen behufs
dienstlicher Rücksprache zu besuchen, Oberpräsident Bötticher“2 konnte
sich noch niemand in der Stadt vorstellen, was für ein arbeitsreiches
Vorhaben damit begann. Der Oberpräsident der Provinz Sachsen, Karl von
Bötticher, teilte Bürgermeister Ulrichs bei seinem Besuch in Magdeburg mit,
„daß Seine Majestät der Kaiser und König die Gnade haben wollen, der Stadt
Tangermünde eine Bronze-Statue Kaiser Carl IV. nach dem von dem
Bildhauer Ludwig Cauer für die Siegesallee in Berlin geschaffenen MarmorStandbilde zu stiften.“3
Der Zeitpunkt der Schenkung war nicht zufällig gewählt. Umfangreiche
Sanierungsarbeiten an wertvollen historischen Gebäuden im gesamten
Stadtgebiet hatten ihren vorläufigen Abschluss gefunden. Schon 1836 hatte
der preußische König Friedrich Wilhelm III. die Order zur „Wiederher1
Müller, Jürgen: Denkmäler schossen wie Pilze aus der Erde. In: Damals 9/99, S. 36
Stadtarchiv Tangermünde, Kom.Reg. XXXII/14, Errichtung eines Denkmals Kaiser Karl IV.
1900-1901, fol.1.
3
Ebd., fol. 5.
2
116
stellung von Bauwerken in der Altmark“4 verfügt. Mit dieser Order sollte der
geschichtlichen Bedeutung der Altmark Rechnung getragen werden, denn
hier ließen sich an Hand der noch vorhandenen mittelalterlichen Bauwerke
Spuren von mittelalterlichen Herrschern wie Albrecht dem Bären, Karl IV.
und Friedrich (VI/I.) von Hohenzollern5 nachweisen.
Abb. 1 Enthüllung des Denkmals von Kaiser Karl IV. auf der Burg Tangermünde
am 29. November 1900. In der Mitte des Bildes vor dem Denkmal steht Kaiser
Wilhelm II.
So waren Burganlagen, Kirchen, Stadttore und Rathäuser Gegenstand intensiver denkmalpflegerischer Arbeiten. Die königlich/kaiserliche Fürsorge hatte für die Altmärker einen besonderen Stellenwert, denn ihre Region, die
sich als Wiege Brandenburg-Preußens verstand, gehörte seit 1815 zur Pro4
Findeisen, Peter: Geschichte der Denkmalpflege Sachsen-Anhalt, Berlin 1990, S. 120.
Markgraf Albrecht erhielt 1134 von Kaiser Lothar die Nordmark (Altmark) als Lehen und gilt
seit 1175 als Begründer der Mark Brandenburg. Karl IV. war ab 1347 böhmischer König und ab
1355 deutscher Kaiser. Er erwarb 1373 die Mark Brandenburg für seinen Sohn Sigismund und
baute die Burg Tangermünde als Nebenresidenz zu Prag aus. Friedrich VI., Burggraf von
Nürnberg wurde 1417 von Kaiser Sigismund zum Kurfürsten und Markgrafen Friedrich I. von
Brandenburg erhoben.
5
117
vinz Sachsen und nicht mehr zur Mark Brandenburg.6 Diese Trennung von
den geschichtlichen Wurzeln haben die Altmärker erfolglos über Jahrzehnte
hinweg versucht, rückgängig zu machen. Deshalb wurde auch keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, die Bedeutung der Altmark zu betonen. Am bekanntesten ist der Ausspruch von Otto von Bismarck aus dem Jahr 1894: „Von
diesem flachen Lande hier, von der altmärkischen Heimat, die ja auch die
meinige ist, ist die Kraft und der Anstoß zur Bildung des kurbrandenburgischen
Staates und Preußens und schließlich zur Wiedergeburt des deutschen Reiches
ausgegangen.“ Umgekehrt war Wilhelm II. als Erbe Wilhelms I., der das
deutsche Kaiserreich gegründet hatte, bestrebt, den preußischen Herrschaftsanspruch auf der Grundlage langer Tradition zu sichern. Das bot sich in
Tangermünde an, denn hier hatte Kaiser Karl IV. die Burg zu seiner
Nebenresidenz gewählt.
So verfügte Wilhelm II., dass bei den Restaurierungsarbeiten an den beiden
wichtigsten Türmen der Burganlage, dem Kapitel- und dem Gefängnisturm,
die Arbeiten so ausgeführt wurden, dass ihr Aussehen dem auf der Stadtansicht von Matthäus Merian aus dem Jahr 1635 glich. Auf seine Anweisung
wurden auch die bis dahin unbemalten Wappenblenden des restaurierten
Neustädter Tores mit einer fünfteiligen Wappenreihe versehen, die die Verbindung Kaiser Karls IV., Brandenburgs, des Heiligen Römischen Reiches
und Preußens zeigt.
Kaiser Wilhelm II. und die Berliner Siegesallee
Die Regierungszeit Kaiser Wilhelm II. am Ende des 19. Jahrhunderts war
durch gesellschaftliche Umbrüche gekennzeichnet. Das Deutsche Kaiserreich
erreichte einen hohen wirtschaftlichen Aufschwung, aber die Forderungen
der neuen gesellschaftlichen Kräfte, vor allem das Erstarken der Sozialdemokratie, empfand er als Bedrohung der Monarchie. So sah es Wilhelm II.
als eine seiner wichtigsten Aufgaben an, Denkmale zu errichten, durch
deren Wirkung sich ein kaisertreues Nationalgefühl entwickeln sollte.
Mit der Errichtung der Denkmale in der Siegesallee hoffte der Kaiser zu
erreichen, dass „die gesammte Bevölkerung ohne Unterschied des Bekenntnisses und der politischen Parteien auch in Zukunft und auch in schweren
6
Bis 1807 gehörte die Altmark als Teil der Mark Brandenburg zum Königreich Preußen. Nach
der Niederlage Preußens in den napoleonischen Kriegen 1806 kam die Altmark zum Königreich
Westfalen. Bei den Verhandlungen des Wiener Kongresses 1815 wurde sie der preußischen
Provinz Sachsen zugeordnet.
118
Zeiten einmüthig und threu zu ihrem Fürsten halten und es ihm erleichtern
werden, seine schwere Pflicht zu erfüllen.“7
Die Siegesallee war eine Denkmalstraße, in der von 1897-1901 zweiunddreißig Denkmalsgruppen aufgestellt wurden. Ein steinernes Geschichtsbuch
wollte Wilhelm II. schaffen, das „die Entwicklung der vaterländischen
Geschichte von der Begründung der Mark Brandenburg bis zur Wiederaufrichtung des Reiches [darstellte]. Mein Plan geht dahin, in der Siegesallee
die Marmor-Standbilder der Fürsten Brandenburgs und Preußens, beginnend
mit Albrecht dem Bären und schließend mit dem Kaiser und König Wilhelm
I. ... errichten zu lassen.“8
Das steinerne Geschichtsbuch sollte aber auch über die Hauptstadt Berlin
hinaus wirken. Deshalb ließ Wilhelm II. eine große Anzahl von Repliken
herstellen, die er zu besonderen Anlässen verschenkte. Die Denkmalsgruppe
um Kaiser Karl IV. war von dem Bildhauer Ludwig Cauer geschaffen und am
26. August 1899 eingeweiht worden.
Im gleichen Jahr wurden auch die Restaurierungsarbeiten an den Gebäuden
auf dem Tangermünder Burgberg abgeschlossen und die Stadt erhielt im
März 1900 die Nachricht von dem kaiserlichen Geschenk.
Die Arbeiten zur Errichtung des Denkmals
Schon zwei Wochen nach Bekanntgabe der bevorstehenden Schenkung
trafen der Magdeburger Oberpräsident Dr. von Bötticher und der Bildhauer
Ludwig Cauer in Tangermünde ein, um die drei möglichen Standorte zu
besichtigen, die von der Stadt für die Denkmalserrichtung vorgeschlagen
worden waren.9
Der erste Vorschlag war ein Platz vor dem Rathaus an der Langen Straße,
der aber sofort verworfen wurde. Cauer erklärte, dass hier die gewünschte
Ausstrahlung des Denkmals nicht erreicht werden könne, da der Platz zu
beengt wäre und das Denkmal in direkter Konkurrenz zum Krieger-
7
Lehnert, Uta: Der Kaiser und die Siegesallee: réclame royale, Berlin 1998, S. 16, vgl. auch:
Majestät brauchen Sonne, VHS-Film von Peter Schamoni, 2001 und Helmut Caspar: Die Beine
der Hohenzollern. Schüleraufsätze von 1901 über die Figuren der Berliner Siegesallee, Berlin
1990.
8
Ebd., S. 22.
9
Stadtarchiv Tangermünde (wie Anm. 1) und LHASA, MD, Rep. C 20 I Oberpräsident Allg.
Abt. Ib Nr. 924, Einweihung des von dem Kaiser der Stadt Tangermünde geschenkten
Denkmals Kaiser Karl IV., 1900-1901.
119
denkmal10 stehen würde, das sich zu dieser Zeit noch auf dem kleinen Marktplatz neben dem Rathaus befand.
Der Bildhauer favorisierte eine Aufstellung des Denkmals auf dem Pfarrhof.
Nahe der Stadt und doch durch drei Seiten umrahmt, fand er dessen Würde
mit der Würde des Platzes am besten vereint. Allerdings sollten nach seiner
Vorstellung die Häuser der Lehrerstraße vollständig abgerissen werden, um
einen ungehinderten Blick auf die Statue zu erreichen. Dieses Ansinnen
wurde seitens der Stadt vehement abgelehnt, so dass nun der dritte Vorschlag ernsthaft in Erwägung gezogen wurde - der Burgberg. Das Problem
dieses Standortes für die Stadt aber war, dass die Burganlage nicht zu ihrem
Eigentum gehörte. Das in Frage kommende Gelände war ein Obstgarten der
Königlichen Justizverwaltung. Es musste erst durch Kaufverhandlungen
erworben und dann zu einer Parkanlage umgestaltet werden. Trotzdem legte
eine kaiserliche Order am 9. Juni den Burgberg als Standort mit der Begründung fest, dass hier das Wirken Karls IV. am besten zum Ausdruck käme.
Wilhelm II. hatte bestimmt, dass er sowohl die Bronzereplik als auch den
Sockel aus Granit der Stadt stiften werde. Die Stadt musste also in den
kommenden Monaten den Platz erwerben, die Platzgestaltung planen und
ausführen lassen und das Fundament erstellen.
Von Beginn der Kaufverhandlungen an wurde von Seiten der Stadtverordneten darauf gedrungen, das zu kaufende Gelände so groß auszuhandeln,
dass ein ansprechender Platz gestaltet werden könne: „es ist eine günstige
Gelegenheit für die Stadt, da ein Mangel an schönen öffentlichen Plätzen ist
und man Grund habe, für eine Verschönerung der Stadt zu sorgen.“11
Mitte September gingen die Vorbereitungsarbeiten in eine neue Phase. Von
Bötticher teilte dem Magistrat mit, dass der Kaiser sich entschlossen habe, an
den Einweihungsfeierlichkeiten teilzunehmen.12 Da der Kaiser keinen Termin genannt hatte, kursierten schon bald die verschiedensten Vermutungen.
Am wahrscheinlichsten war der Tag vor der jährlichen Hofjagd am Ende des
Jahres, aber die Tangermünder waren sich ihrer engen Verbindung zum
Haus Hohenzollern gewiss. Selbstbewusst wurde ein Zitat des Kaisers kolportiert: „Für Tangermünde habe ich einen ganzen Tag übrig“.13
10
Das gusseiserne Denkmal war zum Gedenken an die Gefallenen des Krieges 1870/71 errichtet
worden. Sein Standort behinderte das Markttreiben aber so sehr, dass es Anfang der 1920er
Jahre auf eine Grünanlage vor der Stadtmauer umgesetzt wurde.
11
Tangermünder Anzeiger 07. 08. 1900, S. 2 und vgl. Stadtarchiv Tangermünde, Kom. Reg.
I/21, 9, Stadtverordnetenversammlungsprotokolle 1899-1903.
12
Stadtarchiv Tangermünde (wie Anm. 2).
13
Tangermünder Anzeiger 16. Oktober 1900, S. 2.
120
Die Begeisterung über den bevorstehenden Besuch des Kaisers war in allen
Schichten der Bevölkerung groß. Das machte sich vor allem in der Bereitschaft bemerkbar, wenn es galt, bei den Vorbereitungsarbeiten tätig zu
werden oder Spenden zu entrichten. So stellten Fuhrunternehmer kostenlos
Gespanne und Arbeitskräfte zur Verfügung, als die Arbeiten auf dem Burgberg wegen fehlender Kapazitäten zu stocken drohten. Als der Magistrat
beschloss, den Anwohnern alle Kosten, die in Verbindung mit der Ausschmückung der Stadt entstanden, zu ersetzen, erklärte sich ein ungenannter
Bürger bereit, die Hälfte aller entstandenen Kosten zu übernehmen. Die
Tangermünder wurden aufgerufen, für den Pokal zu spenden, der dem
Kaiser mit dem Ehrentrunk gereicht werden sollte. Daraufhin kamen so viele
Gelder zusammen, dass der Magistrat im Anschluss an die Feierlichkeiten
außerdem noch einen Schrank anfertigen lassen konnte, um den Ehrenpokal, wichtige historische Wertgegenstände der Stadt und die Fotografien
vom Kaiserbesuch separat und sicher aufbewahren zu können.
Auch die Organisation und Durchführung des historischen Festzuges war
eine Initiative der Bürger und fand nur auf ihr Engagement hin statt.
Wilhelm II., der auch für das Anschauen des Zuges sein Einverständnis
geben musste, wies mehrfach darauf hin, dass das Wetter zu so vorgerückter
Jahreszeit solch einen Umzug nicht zuließe. Auf mehrfaches Drängen von
Seiten des Tangermünder Magistrats stimmte der Kaiser dann vorbehaltlich,
dass es nicht regne, zu, den Zug anzuschauen.14
Die Zeit wurde knapp. Erst am 4. Oktober waren die Kaufverhandlungen
mit dem Justizfiskus abgeschlossen worden. Erst danach konnte mit den
Gestaltungsarbeiten am Denkmalsplatz begonnen werden. Zur Nivellierung
des Platzes waren gewaltige Mengen von Erde zu bewegen. Es gab einen
großen Bedarf an Arbeitskräften und Gespannen, da neben den Erdarbeiten
gleichzeitig auch Grotte, Brüstung, Portal und Treppe herzustellen waren.
Über die Feierlichkeiten auf dem Denkmalsplatz hinaus, sollte der Kaiser bei
seinem Besuch in der Stadt auch standesgemäß im Rathaus empfangen
werden. Deshalb war für dieses Gebäude noch die künstlerische Ausmalung
des Sitzungssaales beschlossen worden.15
Auch wenn man den Enthüllungstermin noch nicht kannte, am 14. Oktober
lud der Oberpräsident die verantwortlichen Honoratioren der Altmark zu
einer Konferenz nach Magdeburg ein, um die Feierlichkeiten zum Kaisertag
14
LHA Magdeburg (wie Anm. 8).
In den Jahren 2003/04 wurde das Tangermünder Rathaus umfassend saniert. Dabei wurden
auch die Ausmalungsarbeiten wiederentdeckt. Nach längeren Diskussionen in der Bevölkerung
und im Stadtrat entschied sich die Stadt, in einem Ausschnitt die Malerei sichtbar zu lassen.
Siehe auch: Tangermünder Stadtanzeiger 2004, Nr. 2, S. 12 mit Abbildung.
15
121
zu planen. Über die Belange des Hofprotokolls hinaus, die es zu beachten
gab, war neben den mehreren hundert Ehrengästen auch mit über 10.000
auswärtigen Besuchern zu rechnen. So mussten zusätzliche Polizei- und
Ordnungskräfte verpflichtet, zusätzliche Zugverbindungen und ausreichende
Versorgungsmöglichkeiten in der Stadt bereitgestellt werden.
Als besondere Ehrung des altmärkischen Adels gestattete der Kaiser 13
Vertretern der alten Familien, neben ihm und dem Kronprinzen stehend,
den Festzug der Tangermünder Bürger anzusehen. Der Kaiser ließ sich eine
Übersicht der Familien erstellen, die schon zur Zeit Karls IV. Grundbesitz in
der Altmark hatten und auch noch gegenwärtig besaßen. Die Übersicht
umfasste 11 Familien: von der Schulenburg, von dem Knesebeck, von
Alvensleben, von Jagow, von Bismarck, von Bartensleben, von Itzenplitz,
von Rundstedt, von Luedritz, von Borstell und von Kalben, deren Vertreter
auch am Kaisertag teilnahmen.
Abb. 2
Postkarte mit dem neuerrichteten Denkmal Kaiser Karls IV., um 1901
Am 24. November wurde endlich der Enthüllungstermin bekannt gegeben:
Bereits fünf Tage später, am 29. November, würde also der Kaiser in Tangermünde erscheinen.
Am Donnerstag, dem 29. November 1900, dem Kaisertag, erschien die Festnummer des Tangermünder Anzeigers in den Farben des Kaiserreiches:
122
Schwarz-Weiß-Rot. Sie stimmte mit Gestaltung und Inhalt die Leser auf den
Kaiserbesuch ein. In allen Beiträgen wurde auf die enge Verbindung der
Altmark und Tangermündes mit dem Haus Hohenzollern hingewiesen.
Der Kaiserbesuch und die Enthüllung des Denkmals verliefen protokollgemäß ohne Zwischenfälle. Die erwartete Anzahl auswärtiger Besucher war
erschienen, darunter fast alle Krieger- und Landwehrvereine der Umgebung.
Mit viel Aufwand waren all die Straßen, die der Kaiser passieren würde, mit
Girlanden und Fahnenmasten geschmückt worden. An den Eingängen der
Stadt befanden sich Ehrenpforten, die mit Wappen und der Inschrift: „Unser
Kaiser sei gegrüßt 7. Sept. 1373 – 29. Nov. 1900“ und „Dem Vater des
Vaterlandes“ versehen waren.16 Mit dem Gruß und der Bezeichnung „Vater
des Vaterlandes“ hatte die Stadt Tangermünde einen bewussten Bezug
zwischen Karl IV. und Wilhelm II. hergestellt, denn schon zu seinen
Lebzeiten war der böhmische König von seinen Untertanen als Vater des
Vaterlandes bezeichnet worden.
Pünktlich reiste Wilhelm II. mit einem Sonderzug in Hämerten an, fuhr mit
dem Dampfer „Freya“ die Elbe aufwärts und enthüllte das Denkmal auf dem
Burgberg in Gegenwart von Kronprinz, Regierungspräsident, Oberpräsident,
Landrat, Bürgermeister und mehreren hundert Ehrengästen.
Neben dem Denkmal nahmen zur Linken die Magistratsmitglieder, die
Stadtverordneten und die Geistlichkeit und zur Rechten die Vertreter des
altmärkischen Adels Aufstellung.
Nach dem Einweihungsakt, dem sich auch ein Auszeichnungsakt für
verdienstvolle Bürger anschloss, begab sich der Kaiser reitend in die Stadt
und nahm auf dem Rathausplatz aus den Händen des Bürgermeisters einen
Ehrenpokal entgegen. In seiner Ansprache verwies Wilhelm II. auf die
Residenzfunktion und handelspolitische Bedeutung Tangermündes unter
seinem großen mittelalterlichen Vorgänger. „Ich freue Mich, dass der heutige
Tag Mir Gelegenheit gibt, der Stadt Tangermünde meinen Besuch zu machen, ihre frühere hohe Bedeutung im ganzen Lande wieder in Erinnerung
zu rufen. Es muss die Lage der Stadt und ihre ganze Umgebung doch schon
im Mittelalter eine so in die Augen springende gewesen sein, dass sie im
Stande war, den früheren Kaiser deutscher Nation Karl IV. so zu fesseln,
dass er es vorzog, vom schönen Süden, von Italien, nach hier zu kommen,
um hier in kaiserlicher Pracht Hof zu halten. Ich glaube, Wir sind es dieser
eigentümlichen Erscheinung Kaiser Karls IV. schuldig gewesen, dass wir sein
16
Ebd., und Zahn, Wilhelm: Der Kaisertag in Tangermünde, 29. November 1900 in:
Altmärkischer Hausfreund. Kalender für das Jahr 1902, S. 103-110 mit Abb.
sowie Fotomappe: Der Kaisertag in Tangermünde 29. Novbr. 1900.
123
Andenken ehren durch die Errichtung eines Standbildes an dem schönen
Elbstrome, an dem Tangermünde gelegen (...)“17 Er verband damit die
Hoffnung, an diese Tradition anknüpfen zu können und trank in diesem
Sinn auf das Wohl der Stadt.
Vom Rathaus aus begaben sich die hohen Gäste zum Neustädter Tor, dessen
Restaurierungsarbeiten Wilhelm II. erheblich gefördert und beeinflusst hatte.
Nach der Besichtigung des Bauwerkes passierte der historische Festzug den
Stadteingang. Der Zug stellte eine Szene aus dem Jahr 1377 dar: Der
Bürgermeister der Stadt Magdeburg kommt mit Gefolge nach Tangermünde,
um von Kaiser Karl IV. empfangen zu werden.
Schon sofort nach den Enthüllungsfeierlichkeiten setzte ein touristischer
Effekt ein: Die Besucher der Stadt in den Tagen nach dem Kaiserbesuch
waren so zahlreich, dass sich der Magistrat entschloss, den Straßenschmuck
noch eine weitere Woche an den Häusern zu belassen und am folgenden
Wochenende den Festzug noch einmal zu zeigen.
Der sich nun rasch entwickelnde Fremdenverkehr warb und wirbt bis zum
heutigen Tag mit dem Slogan „Kaiserstadt Tangermünde“.
Die Errichtung des Denkmals für Kurfürst Friedrich I. von 1902 bis
1912
Das Bedürfnis der Bürger nach Verschönerung und planvoller Gestaltung
ihrer Stadt war um 1900 stark gewachsen, denn die prosperierende Industrie
hatte eine Verdreifachung der Stadt an Einwohnern und Fläche zur Folge
gehabt. Diese schnelle Entwicklung erforderte eine bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte, um den Charakter der Stadt zu erhalten und den
vielen neuen Mitbürgern eine Identifizierung mit ihrer neuen Heimat zu
ermöglichen.
17
Extrablatt des Tangermünder Anzeigers, 29. November 1900.
124
Abb. 3 Plan des Stendaler Katasteramtes vom Burgberg Tangermünde, 1912,
In der Mitte die Parzelle, die die Stadt im Jahr 1900 vom Preußischen Staat
(Justizverwaltung) zur Errichtung des Denkmals erworben hatte, rechts daneben die
Parzelle mit 1800 m², die im Jahr 1912 erworben wurde.
Aus diesem Bedürfnis heraus entstand auch das Vorhaben zur Errichtung
des zweiten Denkmals. Doch im Gegensatz zur ersten Denkmalsenthüllung
gab es drei wichtige Unterschiede:
1. Das erste Standbild war ein Geschenk, das zweite nun musste von der
Stadt allein finanziert und aufgestellt werden. 10 Jahre waren nötig, um die
finanziellen Mittel zusammen zu tragen und nicht immer glaubten alle an ein
Gelingen des großen Projekts.
2. Die Aufstellung des Denkmals für Karl IV. hatte kein Jubiläum zum
Anlass. Das Denkmalprojekt für Friedrich I. bezog sich auf das 500-jährige
Jubiläum von Friedrichs Einzug in die Tangermünder Burg.
125
3. Während das Marmor-Original in Berlin und die Bronzereplik in
Tangermünde die einzigen Denkmale Karls IV. im Deutschen Reich blieben,
entstanden um 1900 eine Reihe von Friedrich-Standbildern und –Gedenksteinen:
+ am 13. Oktober 1894 in Friesack: (Anlass 1414 Zerstörung der Quitzowburgen Friesack und Plaue) Standbild von Alexander Calandrelli
+ am 28.08.1900 in Berlin: Siegesallee Gruppe 15 von Ludwig Manzel
+ am 30. Mai 1912 in Brandenburg: Monumentalbrunnen mit Reiterstandbild Friedrichs von Ludwig Manzel
+ am 18. August 1912 in Kremmen: Hohenzollerndenkmal (Schlacht am
Kremmener Damm am 24. Oktober 1412 - Granitblock mit Bronzerelief mit
den Porträts von Friedrich I. und Wilhelm II.)
+ am 11. November 1912 in Tangermünde: Bronzestandbild, Replik des
Standbildes aus der Siegesallee und
+ am 17. Dezember 1912 in Havelberg: Burggrafenstein (Findling mit
Bronzetafel mit Porträt Friedrichs I.)
Beflügelt von der positiven Resonanz auf das Denkmal Karls IV. gründete
sich im Jahr 1902 unter dem Vorsitz von Bürgermeister August Ulrichs ein
Komitee aus Tangermünder Bürgern, dessen Ziel es war, ein Denkmal für
den ersten Hohenzollern in der Mark Brandenburg zu errichten und die
Enthüllungsfeier als Großereignis zu gestalten.18 In einem dazu eingerichteten Fond wurden ab sofort Gelder gesammelt. Die Überschüsse aus den
Einnahmen von mehreren Festspielen sollten den Grundstock bilden. Den
Beginn machte noch im gleichen Jahr die Aufführung des Grete-MindeFestspiels. Es fand viel Beachtung, weil das dramatische Werk von Horst
Waldheim (Pastor Dr. Koch-Hecklingen) auf der Grundlage von Ludolf
Parisius‘ „Ehrenrettung“ erstmalig Grete Minde als unschuldig und Opfer
der Justiz darstellte. Das erregte Interesse und Widerspruch. Der Tangermünder Pastor und Historiker Wilhelm Zahn lieferte sich im Vorfeld der
Aufführung in der örtlichen Tageszeitung eine heftige Auseinandersetzung
mit dem Autor über den Umgang mit dem historischen Stoff.19 Zwei Jahre
später folgte dann ein Barbarossa-, 1907 ein Luther- und 1910 ein QuitzowFestspiel.
Im Mai 1911 wünschte der Stadtverordnete Jacob Auskunft über den Stand
der Vorbereitungen zur Errichtung des Denkmals und über die Höhe des
Denkmalfonds. Die Antwort des Bürgermeisters Ulrichs war niederschmet-
18
Stadtarchiv Tangermünde, Kom. Reg. XXXII/16, Errichtung eines Denkmals für den
Kurfürsten Friedrich I. von Brandenburg 1902-1928, fol.1.
19
Tangermünder Anzeiger, 23. Januar – 10. Mai 1902.
126
ternd. Durch die Festspiele und Spenden der Bürger waren 4.000 M zusammengekommen. Es wurde mit einer benötigten Summe von mindestens
10.000 M zur Errichtung des Denkmals gerechnet, also war bisher weniger
als die Hälfte der benötigten Mittel gesammelt worden. Außerdem hatte das
königlich-preußische Kultusministerium einen Antrag der Stadt auf
Unterstützung abgelehnt.20
Durch diese öffentlich gemachte Nachricht kam neue Bewegung in die
Bemühungen um das Denkmal. Ein in allen Städten, Gemeinden und
Gutsbezirken der Altmark verbreiteter Aufruf mit der Bitte um Spenden
sollte nun vorrangig neben der altmärkischen Ritterschaft alle Schichten der
Bevölkerung ansprechen.21 Die Anstrengungen waren von Erfolg gekrönt.
Der Denkmalsfond konnte seine Summe in kurzer Zeit fast verdoppeln. Nun
spendeten auch der Kommunallandtag, der Kreis und die Stadt Stendal. Das
Ende des Jahres bereitete den Tangermündern aber doch noch eine Enttäuschung: Die Hoffnung, einen erneuten Kaisertag feiern zu können, erfüllte sich nicht. Kaiser Wilhelm II. hatte verfügt, dass eine nationale Feier
auf das Jahr 1915 (das Jahr der Verleihung der Kurfürstenwürde an Friedrich) festgesetzt werde.22
Zu diesem Zeitpunkt war man aber bereits mit dem Berliner Bildhauer
Ludwig Manzel in Kontakt getreten. Eine Replik seines Standbildes von
Friedrich I. (Figurengruppe 15 aus der Siegesallee) sollte für die Stadt
Tangermünde angefertigt werden. Die Standortfrage war diesmal schnell
entschieden: Die Ausschussmitglieder und der Bildhauer waren sich einig,
dass der Denkmalsplatz auf der Burg erweitert werden und so beide Denkmale in nächster Nähe zueinander stehen sollten, weshalb umgehend Kaufverhandlungen mit dem Justizfiskus aufgenommen wurden. Im Februar
1912 kam deshalb ein Antrag in die Stadtverordnetenversammlung, für die
Grunderwerbskosten und das Herrichten des Denkmalplatzes 1.500 M von
Seiten der Stadt bereitzustellen. Nun wurden auch kritische Stimmen laut:
Der sozialdemokratische Stadtverordnete Dannhauer sprach sich gegen die
Bewilligung der Mittel aus mit der Begründung: „Friedrich I. sei ein feudaler
Territorialherr, dem nur eine dynastische Geschichtsklitterung Verdienste
zuschreibt. Die patriotische Begeisterung möge aus eigenen Mitteln ein
Denkmal schaffen, nicht aus öffentlichen“23 Die Magistratsvorlage wurde
nach heftiger Diskussion schließlich mit sieben Gegenstimmen beschlossen.
Ende August 1912 begannen die Planungen zu den Einweihungsfeierlichkeiten.
20
Stadtarchiv Tangermünde (wie Anm. 18).
Tangermünder Anzeiger, 15. Juni 1911 und ff.
22
Vgl. Tangermünder Anzeiger, 10. 10.1911 und Stadtarchiv Tangermünde (wie Anm. 18).
23
Tangermünder Anzeiger, 24. Februar 1912.
21
127
Wie schon 12 Jahre zuvor begleitete die örtliche Presse die Enthüllungsfeier
mit umfassenden Berichten über die historischen Ereignisse, mit detaillierter
Beschreibung des historischen Festzugs und mit langen Passagen aus den
festlichen Reden.24 Da der Kaiser nicht gekommen war, feierte die Bürgerschaft sich selbst, beginnend mit einem großen Kommers schon am Abend
zuvor. In den Schulen fanden am Festtag Feiern statt, in den Kirchen hielten
die Pastoren Festgottesdienste ab. Trotz heftigstem Regen formierte sich
mittags der Festzug und begleitete die Honoratioren der Stadt, ihre
Ehrengäste und die zahlreichen Besucher zur Burg.
Abb. 4 Enthüllung des Denkmals von Kurfürst Friedrich I. auf der Burg Tangermünde am 11. November 1912
Der aufwändig gestaltete Festzug stellte den Einzug Friedrichs mit seiner
Gemahlin Elisabeth in Tangermünde dar. Fast 200 Darsteller nahmen in
historischen Kostümen daran teil. In seiner Denkmalsweiherede sagte
Bürgermeister Ulrichs „Das Denkmal gleicht dem unseres Denkmals Kaiser
24
Tangermünder Anzeiger, 09.-12. November 1912.
128
Karls IV. Das 2,80 m hohe Bronzestandbild des ersten Hohenzollernfürsten
ruht auf einem 2,40 m hohen Sockel, der auf der Vorderseite die Inschrift
trägt: ‚Kurfürst Friedrich I.‘ Auf der Rückseite hat die Stadt folgende
Widmung anbringen lassen: ‚Zur Fünfhundertjahrfeier des Einzuges des
ersten Hohenzollernfürsten. Die dankbare Stadt Tangermünde. 11. XI. 1412
– 11. XI. 1912.‘“25
Mit dem „nach Tausenden zählenden Publikum“26 wurde am Nachmittag
noch einmal der Festzug, die Ausschmückung der Stadt und am Abend ihre
Illumination bewundert.
Zur Feier des Tages stiftete die Tangermünder Unternehmerfamilie Meyer
10.000 Mark zur Einrichtung einer städtischen Haushaltsschule.
Abb. 5
1913
25
26
Postkarte mit dem neu errichteten Denkmal von Kurfürst Friedrich I., um
Stadtarchiv Tangermünde, Kom. Reg. I/115, Verwaltungsbericht 1912/13, S. 5.
Ebd.
129
Abb. 6
Burganlage Tangermünde, Aufnahme vom 12.05 2009 (FOTOFLUG.de)
Auch wenn das Verhältnis der Tangermünder Bürgerschaft zu ihren zahlreichen Denkmalen, die noch in der Folge entstanden, nicht immer ein
ungetrübtes war und einige die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts
nicht überstanden haben – die Denkmale Kaiser Karls IV. und Kurfürst
Friedrichs I. befinden sich noch heute im restaurierten Burgensemble gut
erhalten und viel beachtet. Sind sie doch fester Bestandteil jeder Stadtführung und jedes Spazierganges über den Burgberg, der durch seine Lage an
der Elbe einen ganz eigenen Reiz besitzt. Doch während die Erinnerung an
Kaiser Karl IV. im Bewusstsein der Tangermünder immer präsent war und
es immer einen festen Platz für ihn im Museum und in der lokalen Literatur
gab, findet sich nach 1912 kaum noch ein Hinweis auf das Wirken und die
Persönlichkeit von Kurfürst Friedrich I. Die politischen Ereignisse (Abdankung des Kaiser 1918, Gründung der Weimarer Republik) und die sozialistische Geschichtsschreibung mögen Ursache dafür sein – aber das Vergessen
ist umfassender. Auch das Jubiläumsjahr 2012 hat vor allem an einen anderen Friedrich erinnert, den preußischen König Friedrich II., dessen 300.
Geburtstag begangen wurde und der der elfte Enkel des ersten Hohenzollern
in der Mark Brandenburg ist.
130
Das Burgmuseum Tangermünde nahm das Tangermünder Doppeljubiläum
im Jahre 2012 zum Anlass, in seiner Sonderausstellung „Friedrich I., Burggraf von Nürnberg und Kurfürst von Brandenburg – wie die Hohenzollern
vor 600 Jahren in die (Alt)Mark kamen“ die Ereignisse des frühen 15.
Jahrhunderts darzustellen: „1412 zog Burggraf Friedrich VI. von Nürnberg
aus dem Hause Hohenzollern – als Markgraf und Kurfürst von Brandenburg
Friedrich I. – mit seinen fränkischen Rittern in die Mark Brandenburg ein,
zu deren Verweser und Landeshauptmann ihn König Sigismund im Vorjahr
ernannt hatte. Um anerkannt zu werden, besuchte Friedrich die bedeutendsten Städte wie Brandenburg an der Havel und Berlin; am Ende des Jahres
erreichte er Tangermünde. Ausgehend vom Einzug Friedrichs von Nürnberg, informiert die Ausstellung über die komplizierte Geschichte der Mark
vor 1412, blickt auf einzelne Aspekte wie den Aufstieg der Markgrafen von
Brandenburg zu Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches, erläutert anhand der Familie von Quitzow Emporkommen und Fall eines märkischen
Adelsgeschlechts und vermittelt Beeindruckendes über die damals modernste
Waffentechnik.
Abb. 7 Das Plakat der Ausstellung zeigt den Einzug Friedrichs in Tangermünde auf
einem Historiengemälde von Max Gärtner.
131
Die Städtischen Museen Tangermünde haben in Zusammenarbeit mit den
Geschichtsstudenten Markus Apostolow, Matthias Fickler, Christoph Jescheniak, Martin Rathmann, Matthias Sandberg, Erik Schneeweis und André
Stellmacher sowie Dr. Lutz Partenheimer von der Universität Potsdam diese
Ausstellung gestaltet.“27
Das Interesse an Kurfürst Friedrich I. war erwartungsgemäß groß. So konnten schon am Tag der Ausstellungseröffnung ca. 200 Besucher begrüßt
werden. Als Ehrengast nahm auch Franz-Friedrich Prinz von Preußen als
Vertreter des Hauses Hohenzollern an der Veranstaltung teil.
Zu den Besuchern der Ausstellung zählten nicht nur historisch Interessierte
und Touristen sondern auch viele Schulklassen aus dem ganzen Landkreis.
27
Einleitungstext zur Ausstellung.
133
Zur Geschichte des Brauwesens
in der Stadt Kalbe (Milde)
von Henning Krüger
Hopfenanbau und Hopfenhandel
Die Bierbrauerei war in den mittelalterlichen Städten viel stärker verbreitet
als heute, Bier wurde hergestellt sowohl zum Eigenbedarf als auch zum
Zuerwerb neben anderen Tätigkeiten. Die zum Brauen notwendigen Produkte wie Wasser, Gerste und Hopfen wurden selbst produziert bzw.
wurden aus dem Umland bezogen. Erst später kam der Handel mit Gerste
und Hopfen auf. Die Arbeitsteilung setzte sich durch und die Produktion
wurde konzentriert.
So wurde auch in Calbe (Milde) und Umgebung Hopfen als wichtiges Produkt angebaut. Vereinzelt finden wir noch heute in den umliegenden Dörfern sogenannte Hopfendarren, Scheunen in denen der Hopfen getrocknet
wurde. In Calbe (Milde) blühte zu dieser Zeit der Anbau von Hopfen. Wer
richtig sucht, findet in der Umgebung von Kalbe (Milde), z. B. in den
Kreuztannen, noch wilde Hopfenpflanzen, obwohl der gewerbliche Anbau
von Hopfen in unserer Gegend längst der Vergangenheit angehört. Die
Hopfendämme (viele Flurbezeichnungen verdanken dieser Entwicklung
ihren Namen) lagen hinter der kleinen und der großen Milde und in
Richtung Engersen. Dämme deshalb, weil die Umgebung von Calbe (Milde)
seit Alters her sehr feucht ist. Die Dämme waren so angelegt, dass überschüssiges Wasser über Gräben abfließen konnte und mittels Vorfluter in die
Milde bzw. über den Königsgraben oder die Flotte in die Milde abgeleitet
wurde. Calbe (Milde) stellt in dieser Hinsicht eine Besonderheit dar, ursprünglich eine Talsandinsel am Rande des Calbeschen Werders voll von
Wasser umgeben. Die Milde wurde in früheren Jahren durch hervorragende
Meliorationsarbeiten in ein festes künstliches Bett gezwungen. Noch heute
können wir in Richtung Engersen erkennen, dass der Wasserspiegel der
Milde weit oberhalb des umliegenden Acker- und Wiesenlandes liegt.
Das Hopfenland stand wie alles übrige Land im Obereigentum der Familie
von Alvensleben. Dieser mussten die Hopfenbauern Pacht zahlen. Zum
ersten Male hören wir von der Pachtzahlung für Hopfenland im Jahre 1699.
So zahlte unter anderem Meister Steffen für einen Hopfengarten einen Taler
Pacht, desgleichen Meister Konrad Hering. Meister Barthold Mundt, der ein
kleineres Stück Hopfenland hatte, zahlte 16 Groschen Pacht.
134
Im Jahre 1633 sollen aus der Altmark einige Tausend Wispel Hopfen nach
dem Auslande ausgeführt worden ein. Diese Ausfuhren wurden später
verboten. Daran hat Calbe natürlich einen großen Anteil, wie denn in manchen Jahren aus dem Städtchen über 1.000 Zentner ausgeführt sein sollen. 1
Abb. 1 Hopfendämme vor Kalbe (Milde), Ansichtskarte von 1922, Verlag Ad. Lies,
Calbe (Milde), Archiv Krüger
Am Anfang des 19. Jahrhunderts bestanden in Calbe sieben Brauereien, die
ein obergäriges Braunbier herstellten, welches ausgelitert verkauft und von
der Bevölkerung auf Flaschen gefüllt wurde. Es konnte dann nach 2 bis 3
Tagen getrunken werden. Die sieben Brauereien stellten im Jahr rund 950 hl
Braunbier her. (Diese Menge, wurde von der späteren Schultze-Kummertschen Brauerei in einem Monat hergestellt.)
Später waren es dann nur noch 6 Brauereien - Kummert, List (später Amtsgericht), Gerecke (später Machan-Gardelegener Straße, heute Nielsen),
Wöller (später Voigt-Gerichtsstr.), Wegert (später Blumentritt-links neben
den Ratsstuben), Lübeck (später Hildebrandt). Sechs Brauereien, für Calbe
mehr als genug.
1
Mertens: Der Hopfenbau in der Altmark. Halle (Saale), 1899. S. 12.
135
Aber wenn man vergleichsweise nach Gardelegen sieht, so ergibt sich dort
noch ein ganz anderes Bild. Kurz vor dem 30-jährigen Kriege wurden in
Gardelegen unter 483 Feuerstellen (= Wohnhäuser) 250 Brauhäuser
gezählt. Es hatte also jedes zweite Haus eine Brauerei, d.h. eine Braugerechtigkeit zur Herstellung des Bieres für den eigenen Hausbedarf, viele
natürlich auch zum Verkauf.
Das Gardelegener Bier soll ein ganz vorzügliches Bier gewesen sein. Man
nannte es "Garlei" und besang es wegen seiner Güte in lateinischen, griechischen, hoch- und plattdeutschen Versen. Überhaupt erfreuten sich die
altmärkischen Biere eines sehr guten Rufes. Das Salzwedeler Bier wurde
„Soltmann" genannt, das Stendaler „Taubentanz", das Tangermünder „Kuhschwanz". Das Calbenser Bier wurde Bergquellbier genannt. Der Name
wurde eingeführt, nachdem die Brauerei ihr Wasser aus den Zichtauer
Bergen - aus Wiepke bezog.
An Braugerste hat es den Calbensern nie gefehlt. Es wurde hier für den
Zentner Braugerste ein Groschen mehr ausgegeben, und die Bauern der
Umgebung, sogar aus Thüritz und Zierau fuhren ihre Gerste lieber nach
Calbe als nach Salzwedel. Jedenfalls wurde in Calbe dem Biere tüchtig
zugesprochen und nicht dem Bier allein, sondern auch dem Branntwein, wie
es denn um 1750 die vier Branntweinbrennereien Arnold, Beye, Zacharias
Schmidt und Samuel Schultze gab. Zuletzt blieb allerdings nur eine Branntweinbrennerei übrig, die Lübecksche in der Rathausstraße. 2
Im Folgenden werden verschiedene Erwähnungen und Episoden zum
Thema Hopfenanbau, Hopfenhandel und Brauereiwesen kurz skizziert.
Dazu wurden mehrere Quellen ausgewertet, darunter das Kirchenbuch von
Kalbe (Calbe) und Akten im Brandenburgischen Landeshauptarchiv.
Erwähnungen im Kirchenbuch von Calbe (Milde)
Bedingt durch seinen Hopfenanbau hat Calbe sich nach den Schrecken des
30-jährigen Krieges bald wieder erholt. Die Fuhrherren, welche mit Pferd
und Wagen den Ertrag in die Großstädte ausführten, wurden Hopfenführer
genannt.
Soweit das Kirchenbuch von Calbe (Milde) zurückreicht - bis zum Jahre
1627 - redet es von Hopfenführern. Als erste werden genannt Andreas
Pecker und Jacob Schmidt. Der letztere setzte nach seiner Rückkehr von
2
R. Amman: Chronik der Stadt Kalbe (Milde), Schreibmaschinenmanuskript, Kalbe 1958.
136
solcher Fahrt in seinem Hause durch Übermüdung und unvorsichtiges
Umgehen mit Licht sein Haus in Brand und kam dabei selbst im Feuer um.
Und nun folgen wieder Namen auf Namen der Hopfenführer, die auch
Hopfenhändler oder Hopfenmakler genannt werden - Krüger, Heinemann,
Micheel, Ahlemann bis dann 1713 zuerst die Berufsbezeichnung Brauer
einsetzt. (Die Namen werden wir in den folgenden Abschnitten wiederfinden.)
Hans Reinecke ein Brauer hat in diesem Jahr 1713 Hochzeit, also der erste
Brauer, der selber Bier braute, und dann sein Sohn Jacob Arnold Reinecke.
1737 erzählt das Kirchenbuch von einem Brauer Palm. In einer zu seinem
Gehöft gehörenden Bude war eine Frau gestorben, welche als arme Frau
keine Ruhestätte auf dem Stadtkirchhofe an der Kirche finden sollte. Schon
längere Zeit vorher war der Ruf nach einem zweiten Kirchhofe in Calbe laut
geworden, aber immer war ein solcher nicht bereit gestellt worden.
Da die Verstorbene aber beerdigt werden musste, lud Brauer Palm kurzerhand den Sarg mit der Leiche auf einen Wagen und fuhr ihn nach Vahrholz.
Gegen die Gabe von einer Tonne Bier an die Gemeinde Vahrholz erreichte es
der Mann, dass dort im Dorfe die Leiche beerdigt werden konnte. Brauer
Palm erreichte durch seinen Streich, dass die Calbenser im darauffolgenden
Jahr sich zur Anlage eines zweiten Friedhofes bereit erklärten. Als Platz
wurde die Stelle dicht vor dem Salzwedeler Tore (in der Nähe der heutigen
Kreuzung - Richtung ehem. Molkerei) zur Verfügung gestellt. Nach der
ersten dort begrabenen Frau Ilsabe Petzholz erhielt der Kirchhof den Namen
Ilsenkirchhof, auch Armeleutekirchhof genannt. Palm starb 1743. Nach
seiner Zeit werden noch drei Hopfenführer genannt: Meinecke, Jacob
Behrens und Hans Kummert. Der Brauer Ludolf Friedrich Schmidt war auch
Stadtchirurgus, also Arzt. Dann tauchen drei Brauergenerationen auf,
Ahlemann, ein Prehm, ein Gentz, der eine Witwe List heiratete, und ein List
der eine Kummert heiratete. Es folgt ein Wegert.
Auch des Rektors Rogge Sohn wurde Brauer. Vor 200 Jahren machte der
ehemalige Windmüller Wöller in Calbe eine Brauerei auf. Um 1800
übernimmt ein Gerecke aus Immekath die Brauerei auf dem früheren
Machannschen Grundstück (Gardelegenerstr.). In drei Generationen hatte
diese Familie die Brauerei inne. Die kleinste Brauerei war die Lübecksche in
der heutigen Rathausstraße. 3
3
Kirchenbuch der Stadt Calbe (Milde)
137
Der Streit um Braurechte von 1703 bis 1717
Erste Hinweise zum Brauwesen in der Stadt Kalbe (Milde) sind zu finden in
den Gerichtsunterlagen zum Streit der Brauer Hans Reinecke, Joachim
Ahlemann, Gottfried Berens und Joachim Palm gegen die Städte Stendal,
Salzwedel, Seehausen und Consorten von 1703 – 1798. 4
Im Verlauf dieses mehrjährigen Streits wird von der Kurmärkischen-brandenburgischen Landschaft durch eigenhändige Unterschrift von den Herren
v. Ribbeck, v. Happe, v. Stillen, v. Alvensleben, Strantz und v. Oertzen
bestätigt, „...das zu Bismark und Calbe bereits Anno 1550 gebrauet worden
ist...“
Wie kam es zu diesem Streit: Das bedeutendste altmärkische Bier zu dieser
Zeit war das Garley, ein Erzeugnis der Gardelegener Brauergilde. Am
Anfang des 18. Jahrhunderts bestanden in Calbe vier Garleykrüge, deren
Inhaber Michael Erdmann Stappenbeck, Christoph Steffens, Joachim Meyer
und Sebastian Schmidt waren.
Diese reichen am 18. Juni 1703 eine Beschwerde an die Kurmärkische
Kammer in Berlin ein. „Ursprünglich war nur ein Brauer in Calbe, jetzt sind
deren vier da. Außerdem verschänken die Bürger an den Jahrmarktstagen
von ihren Biervorräten, einheimisches Bier und auch Garley, an die Jahrmarktsbesucher." Die Krüger werden dadurch in ihrem Erwerb geschädigt.
Sie bitten um ein Privileg, dass sie allein Garley ausschenken dürfen, dass die
Brauer ihr Bier auf die Dörfer in Fässern verkaufen müssen. Den Calbenser
Bürgern soll der Verkauf von Bier an Jahrmarktstagen und über die Straße
weg verboten werden. Der Kammerrat Beck erhält am 20. August 1703 den
Befehl, sich nach Calbe zu begeben und mit dem Magistrat, den vier Brauern
und den Krügern zu verhandeln, ob ein Privileg erteilt werden kann. Die
Angelegenheit muss aber wohl aufgegeben worden sein, denn man findet in
dem fraglichen Aktenstück hinsichtlich des Privilegs keine weiteren Schriftsätze.
Erst am 28. Oktober 1716 richten die Calbenser Erbkrüger - sie haben in
ihrer Person inzwischen gewechselt - Michael Erdmann Stappenbeck,
Senator Joachim Christoph Bühnemann, Dietrich Bekker und Joachim
Erdmann Steffens eine neue Beschwerde an die Kurmärkische Kammer:
„Früher ist wohl ein Brauer in Calbe gewesen, der nur selten gebraut und
dann sein Bier auf dem Lande verkauft hat. Nun werden von Joachim
4
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 und S. 5388, Brau- und Bierschankwesen von Kalbe (Milde) aus der
Zeit von 1703–1799
138
Ahlemann und Hans Reinecke wöchentlich erhebliche Mengen Bier gebraut
und in der Stadt verkauft. Dadurch werden die Krüger in ihrer Nahrung
geschädigt, da die Brauer ihr Bier erheblich billiger verkaufen können, da sie
keine Akzise bezahlen. Die Erbkrüger dagegen bezahlen pro Faß Garley 1
1/2 Taler Akzise, dann den Zoll, sowie den Krugzins an die von Alvensleben. Schon jetzt entsteht der Akzisekasse in Gardelegen ein Schaden von
mehreren hundert Talern.
Wenn der Garleyausschank zum Erliegen kommt, entsteht der Akzisekasse
ein Schaden von 600 Talern, da sie ungefähr 500 Faß Garley von Gardelegen
beziehen, außerdem fallen 30 Taler Zoll aus. Wenn auch die Calbenser
Brauer ihr Malz versteuern, so entgeht diese Einnahme doch der Gardelegener Akzisekasse. Außerdem haben die Brauer jederzeit die Möglichkeit
zu Steuerdefraudationen, da Calbe ein offener Ort ist." Die Erbkrüger bitten,
die Brauerei zu verbieten. Sie beziehen sich dabei auf einen Schriftsatz vom
13. August 1682, nach welchem Calbe angeblich kein Braurecht gehabt hat.5
Am 20. April 1716 schreibt Fr. Wilhelm von Blaspiel: „Die Flecken Arendsee, Arneburg und Bismark, welche über hundert und mehr Jahre geruhig
gebraut haben, wollen seine königl. Majestät geschützt wissen. Der Flecken
Calbe aber muss erst den Beweis dafür erbringen."
Am 6. November 1716 erhält der Kammerrat Schmelzeisen von der Kurmärkischen Kammer den Bescheid, dass, wer 1682 nicht gebraut hat, auch
jetzt nicht brauen darf.
Gegen diese Verordnung erheben die Brauer Hans Reinicke, Joachim Ahlemann, Gottfried Behrens und Joachim Palm, von denen allerdings zur Zeit
nur die beiden ersten brauen, Einspruch mit dem Bemerken, dass sie immer
gebraut haben. Sie verlangen ein Zeugenverhör. Da erscheint der Rat des
Stendaler Obergerichts, Dr. v. Bertkow am 16. November 1716 in Calbe und
lädt den Organisten Samuel Dittmer, 68 Jahre alt, gebürtig in Stollberg, den
Leineweber Jakob Otto, 76 Jahre alt, Sohn des Schneiders Andreas Otto,
gebürtig in Calbe, den Tagelöhner Hans Schmidt, 76 Jahre alt, Sohn des
Hopfenführers Jacob Schmidt, gebürtig in Calbe, als Zeugen vor. Alle drei
Zeugen sagen aus, dass Calbe von jeher die Brauberechtigung besessen habe.
Noch einmal reichen die Krüger am 6. Mai 1717 eine Beschwerde ein, wobei
sie nochmals durch Zahlen beweisen wollen, welcher Schaden der Akzisekasse entsteht. Darauf erhält Schmelzeisen am 16. Juli 1717 den Befehl, dass
demjenigen, der 1682 nicht gebraut hat, bei 50 Taler Strafe das Brauen ver5
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 und S. 5388, Brau- und Bierschankwesen von Kalbe (Milde) aus der
Zeit von 1703–1799
139
boten ist, doch sind die beiden Brauer Hans Reinicke und Joachim
Ahlemann bei ihrem Brauereiprivileg zu schützen - eine Bestätigung dafür,
dass die Braustellen der Familie Reinecke und Ahlemann die ältesten
Braustellen in Calbe waren.6
Michael Wietzer, 1731
Der entlassene Unteroffizier und Quartiermeister Michael Wietzer will,
nachdem er mehrere Jahre in dem Stappenbeckschen Freihause pachtweise
einen Garleyschank betrieben hat, einen solchen in dem von seinem Schwiegervater, dem Kantor Balhorn, erworbenen Hause betreiben.
Das wollten aber weder der Magistrat, noch der Alvenslebensche Gesamtrichter Schulze dulden. Am 18. März 1731 wendet sich Wietzer an die
Kurmärkische Kriegs- und Domänenkammer unter Beifügung seines Regimentsabschieds vom 12. April 1725 mit der Bitte, dass ihm eine Konzession
erteilt und der Magistrat angewiesen werde, ihn nicht zu behindern. Darauf
erhält der Kriegs- und Domänenrat v. Klinggräff am 11. April 1731 den
Befehl über diese Angelegenheit ausführlich zu berichten. Dieser hört sowohl den Magistrat als auch den v. Alvenslebischen Gesamtrichter Schulze.
Dieser führt aus, dass bereits 4 Garleyschenken in Calbe bestehen, außerdem
2 Brauereien vorhanden sind, und ein dritter Brauberechtigter seinen Betrieb
aufnehmen will. Demgegenüber berichtet Klinggräff, dass von den 4 Garleyschenken nur 2 in Betrieb sind, nämlich die des Senators Bühnemann und
die des Kaufmanns Kagel.
Stappenbeck lässt seine Schenke still liegen und Becker hat die seine an
Bühnemann verpachtet, der sie in sein Haus gezogen und mit der seinen
vereinigt hat. Da neben der Bürgerschaft auch die Garnison - in Calbe liegt
eine Kompanie des Leibregimentes zu Pferde - mit Getränken versorgt
werden muss, da der König seinem alten Soldaten helfen will, so schlägt
Klinggräff vor, dem Wietzer eine Konzession zum Garleyausschank zu
erteilen. Dieser erteilt am 30. Juni 1731 die Concession mit dem nachstehenden Begleitschreiben:
„Von Gottes Gnaden Friedrich Wilhelm, König in Preußen, Markgraf zu
Brandenburg, des Heiligen Römischen Reiches Ertz-Cämmerrer und Kurfürst. Unsern gnädigen Gruß zuvor, Vest, Hochgelahrte Räthe, liebe Getreue.
Wir fügen euch auf eurem unterm 11. dieses abgestatteten Bericht hierdurch
6
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 und S. 5388, Brau- und Bierschankwesen von Kalbe (Milde) aus der
Zeit von 1703 – 1799
140
in Gnaden zu wissen, dass wir nach euern darin abgestatteten Gutachten
dem abgedankten Unteroffizier Leibregiments zu Pferde, Michael Wietzer
allergnädigst consediret, in seinem zu Calbe in der Altmark belegenem Hause
den Garleyschank auf seine Lebenszeit exercieren zu dürfen und ihm darüber eine solche concession, wie die hier beigefügte Copey zeiget, ausfertigen
zu lassen. Ihr habt also dem Comissario loci (des Ortes) solches bekannt
zumachen und den Impetranten bey dieser ihm allergnädigst erteilten Concession zu schützen. Seynd euch mit Gnaden gewogen, gegeben Berlin, den
30. Juni 1731.
Auf seiner Königlichen Majestät allergnädigsten Spezialbefehl."
Gez. Unterschriften.7
Joachim Ahlemann, 1731
Am 26. Februar 1731 reicht der Hopfenführer Joachim Ahlemann ein
Gesuch ein, dass er ein fünftes Brauhaus betreiben kann. Er begründet sein
Gesuch damit, dass nur zwei von den vorhandenen Brauhäusern arbeiten.
Die können aber den Bedarf der Bürgerschaft und der Garnison nicht
decken. Am 10. Mai des Jahres berichtet der Kriegs- und Domänenrat v.
Klinggräff, dass der Gesuchsteller ein wohlhabender Mann ist, der sein
Geschäft gut in Gang bringen wird. Durch die Einrichtung soll keiner der
vier bisherigen Brauberechtigten geschädigt werden. Auch die beiden stillliegenden Brauereien sollen ihr Braurecht nicht verlieren. Am 24. Mai
kommt dann von Berlin die Genehmigung. Da Joachim Ahlemann gut ins
Geschäft kommt, strengt die Gardelegener Brauergilde eine Klage an, wobei
sie von den Calbenser Brauern unterstützt wird. Doch ist die Klage ergebnislos.8
Johann Joachim Dannehl, 1750/ 1751
Am 31. Oktober 1750 reicht der Bürger Johann Joachim Dannehl ein Gesuch
ein, dass ihm erlaubt sein möge, eine Brauerei und Brennerei zu betreiben.
Er hat des Gottfrieds Schmidt Tochter geheiratet und damit ein Haus
erhalten, in welchem gebraut worden ist.
7
8
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 S. 5-31; 36-42; 66-121
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 S. 137-148
141
Die Garleyschenken sind eingegangen. Die vorhandenen Brauereien können
den Bierbedarf nicht decken, außerdem ist das Bier zu frisch, da die Brauer
nebenher noch einen umfangreichen Ackerbau betreiben. Er, der Gesuchsteller, hat keinen Acker, sondern nur Garten und Wiesen. Der örtliche
Commissarius, der Kriegs- und Steuerrat Kramer, verlangt die Brauberechtigung zu sehen. Die ist aber dem Schwiegervater Dannehls abhanden
gekommen. Doch dürften die Kammerakten Auskunft geben. Aus diesen
geht aber hervor, dass Schmidt nicht brauen konnte, im Jahre 1689 ihm die
Braugerechtigkeit genommen und Jürgen Henning verliehen worden ist, der
sie dann an den älteren Joachim Ahlemann veräußert hat. Trotzdem hat
Kramer nichts gegen die Verleihung des Braurechts einzuwenden. Die
Kriegs- und Domänenkammer aber lehnt das Gesuch ab, weil ja dem
Schwiegervater Dannehls die Braugerechtigkeit genommen ist. Dannehl
macht nun ein Immediatgesuch an den König, welcher die Kammer zum
Bericht auffordert. Die Kammer aber überlässt es vorsichtigerweise dem
Gutdünken des Königs, ob Dannehl die Braugerechtigkeit bekommen soll.
Der lehnt ab, will aber die Branntweinbrennerei genehmigen, „wenn er sich
des auswärtigen Debits nach den Krügen, weil dieser Orth keinen Krug
Verlag hat, enthält."9
Ludolf Friedrich Schmidt, 1755
Am 4. Januar 1755 reicht der Chirurgus Ludolf Friedrich Schmidt, der 14
Jahre Kompanie-Feldscher gewesen ist, ein Gesuch ein, in welchem er um
eine Braukonzession bittet. Er führt aus, dass der Ort gewachsen sei und
dass die vorhandenen Brauereien den Bierbedarf nicht decken können, die
Brauer haben Monopolstellung, denn die Witwe des Brauers Prehm ist die
Schwester Ahlemanns (Ur...Großmutter des Verfassers, deren Testament
noch heute im Archiv in Wernigerode zu finden ist.), die verehelichte
Reinicke die Schwestertochter desselben und Palm ist in ihr Interesse
gezogen. Sowohl der Magistrat, als auch der Inspektor und Konsistorialrat
Guclenius bescheinigen dem Schmidt, dass die Anlage eines neuen
Brauhauses wünschenswert ist. Da der Kriegsrat Kramer die Sache laufen
lässt, droht ihm der König mit 5 Talern Geldstrafe bei weiterer Verzögerung
und an den Kammerpräsidenten v. Gröben schreibt der König, dass er
binnen 8 Tagen Kramers Bericht erwartet. Kramer will den Gesuchsteller
abweisen, während die Kammer es genehmigen will. Am 14. Januar 1756
9
Entscheidung vom 29. Juli 1751, BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 S. 149-174
142
wird dann auf Anordnung des Königs von dem Generaldirektorium die
Genehmigung erteilt.10
Johann Friedrich Erxleben, 1794
Am 16. April 1794 reicht der Invalide Johann Friedrich Erxleben, der 17
Jahre Soldat gewesen ist, einen Antrag auf Gewährung einer Braukonzession
ein. Er hat die Braukonzession der Witwe Schulze erwerben wollen, um sie
auf sein neuerbautes Grundstück zu übertragen. Aber die Witwe Schulze
hat, aufgestachelt von den übrigen Brauern, ihre Zusage auf Abtretung
zurückgezogen. Der Kriegs- und Steuerrat Stosch ist gegen die Erteilung
einer Konzession, da Erxleben für seine Dienstzeit bereits mit einer Konzession zum Hökerhandel betraut ist. Aber Erxleben ist hartnäckig, er macht
immer wieder den Versuch, eine Konzession zu erlangen, trotzdem Stosch
nicht von seinem Standpunkt abweicht und tatsächlich erreicht er am 6.
März 1799 sein Ziel. Schon vor ihm hat der Schlächtermeister die Konzession des Ackermanns Christoph Schulze erworben, wozu das Generaldirektorium am 24. August 1798 seine Genehmigung erteilt.11
List/ Kummert 1801
Zeitweise war die Ausfuhr von Hopfen in benachbarte Staaten, der Ankauf
des dortigen Hopfens und der Handel damit verboten. Selbst an den Grenzen
der einzelnen preußischen Landesteile musste der Hopfen, der in das
benachbarte preußische Gebiet gebracht werden sollte, verzollt werden.12
Der Bauer List und der Invalide Kummert hatten Hopfen geladen, den sie
nach dem ebenfalls preußischen Quedlinburg bringen wollten und zwar
hatte List 16 Wispel (ein Wispel, Raummaß = 24 Scheffel= 1.320 Liter,
heute 1.000 kg) geladen, Kummert 8 Wispel.
In Gardelegen wurde dieser Hopfen verzollt und die Avisen an das Zollamt
Quedlinburg geschickt. Da meldete dieses, dass der Hopfen dort nicht angekommen ist, und sendet die Avis an das Zollamt Gardelegen zurück. Dieses
fordert den Bürgermeister Paalzow in Calbe auf, Nachforschungen nach dem
Verbleib des Hopfens anzustellen, da man annehmen muss, dass der Hopfen
verschoben wurde. Paalzow macht zunächst Hausdurchsuchungen bei List
10
BLHA Rep 2 S. Nr. 5388 S. 9
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 S. 175-187
12
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 S. 32-35; 43-65
11
143
und Kummert. Am 26. Februar 1801 findet er bei List 6 Wispel Hopfen, bei
Kummert nichts. Am 1. März 1801 findet dann eine protokollarische
Vernehmung durch den Bürgermeister Paalzow statt. List und Kummert
sagen beide aus: „Unterwegs hören sie, dass der Hopfenpreis in Quedlinburg
ungünstig ist. Darüber sind sie missmutig. Da begegnet ihnen zwischen dem
Dorfe Wendefeld und dem Bornkruge ein leeres Fuhrwerk, dessen
Fuhrmann in der Altmark Hopfen kaufen will. Er nennt sich Francke und
kommt angeblich aus dem Halberstädtischen. Ihm verkaufen sie ihren
Hopfen zu einem besseren Preise und kehren nach Calbe zurück."
Sie glauben, nicht gesetzwidrig gehandelt zu haben.
Das aufgenommene Protokoll wird von Paalzow an die Kurmärkische
Kriegs- und Domänenkammer nach Berlin geschickt.
Dieser beauftragt den Alvenslebischen Gesamtrichter, Justizrat Schulze, 17.
April 1801, mit der weiteren Untersuchung der Sache. Dieser bestellt sowohl
den List als auch den Kummert auf den 27. April 1801 vormittags 10. Uhr
auf die Alvenslebische Gerichtstube zur weiteren Vernehmung. Beide
machen vor dem Justizrat Schulze die gleichen Aussagen, wie vor dem
Bürgermeister Paalzow. Als Schulze sie fragt, woher der Francke gekommen
ist, erklären sie, danach hätten sie ihn nicht gefragt, weil sie das nichts
anginge. Da Kummert kein eigenes Fahrzeug hat, wird am 8. Mai 1801 auch
der Besitzer von Pferd und Wagen, der Bürger Christoph Wernecke, von
Schulze vernommen. Dieser ist sowohl mit List als auch mit Kummert
weitläufig verwandt. Er sollte für Kummert die Hopfenfuhre machen. Da er
aber krank war, hatte er Kummert Pferd und Wagen geliehen. Bereits am
zweiten Tag sei Kummert wieder zurück gewesen. Weiter weiß er nichts
auszusagen. Wie die Sache ausgegangen ist, darüber schweigen sich die
Akten aus. Wir dürfen aber annehmen, dass List und Kummert wegen
verbotener Hopfenausfuhr bestraft worden sind.13
Ein Original muss Brauer Frank List gewesen sein - sein Vorwirt hieß Frank,
weshalb er Frank List genannt wurde. Er hatte seine auf der späteren
Schultze-Kummertschen Stelle stehende Brauerei an Kummert verkauft und
tauschte die auf den Grundstücken Machan/Bottmer liegende Brauerei dafür
ein. Frank List, so wird erzählt, verlor später viel Geld. Und um sich nun
ferner vor Schaden zu schützen, trug er die ihm verbliebenen
Vermögensreste von 20.000 Taler immer im Beutel bei sich. Da er sehr
schwergewichtig war, fand er im Bett keine Ruhe; er benutzte einen Stuhl als
Ruhestatt und ist auch im Stuhl gestorben.14
13
14
R. Amman: Chronik der Stadt Kalbe (Milde), Schreibmaschinenmanuskript, Kalbe 1958
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 S. 32-35; 43-65
144
Witwe Kleinloff
In Calbe betrieb die Witwe des Kaufmann Kleinloff einen ausgedehnten
Hopfenhandel. Zwar handelte sie auch mit anderen Landesprodukten, das
brachte aber so wenig ein, dass sie nicht einmal davon die öffentlichen
Abgaben bezahlen konnte. Am 19. November 1801 hat sie an die
Altmärkische Kammerdeputation in Stendal, eine Nebenstelle der
Kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer in Berlin, eine Anfrage
gerichtet, ob der Ankauf von Hopfen außerhalb der Provinzen des
preußischen Staates erlaubt sei. Veranlassung zu dieser Anfrage war ein
geschäftliches Missgeschick ihres zweiten Sohnes, Ludolf Christian Kleinloff.
Derselbe hat außerhalb der Altmark auf nichtpreußischem Gebiet Hopfen
angekauft und denselben in Berlin verkaufen wollen. Dieser Hopfen ist ihm
aber in Berlin abgenommen und von der Akziseverwaltung veräußert
worden.
Nach Abzug der entstandenen Kosten ist ihm der Rest des Erlöses
ausgehändigt worden, was aber noch nicht einmal die Hälfte des
Einkaufspreises ausmacht. Die Kammerdeputation in Stendal teilte der
Witwe Kleinloff auf ihre Anfrage mit, dass es nicht erlaubt sei,
ausländischen Hopfen einzuführen und zu verhandeln.15
Die Kummertsche oder auch Schultze-Kummertsche Brauerei
Als erster Kummert in Calbe wird ein Valentin Kummert genannt, der aus
Mieste kommend 1673 sich in eine Ackerbürgerstelle in der Gardelegener
Straße (Gagelmann-Schulz) eingeheiratet hatte, indem er Katharina Stier,
Christoph Listens Witwe ehelichte.16 Der älteste Sohn (Joh. Christoph
Kummert) seines Enkels (Hans Kummert) hat dann im Kirchenbuch die
Bezeichnung Reuter Bürger, Hopfenhändler und Brauer. Hermann Kummert
hat dann später die Brauerei des Frank List gekauft und durch Hinzuerwerb
der beiden Großkossatenstellen Lüders und Bottmer die Brauerei vergrößert
(1874).
Ebenfalls wurde das neben der Brauerei liegende Grundstück des
Tuchhändlers Roth gekauft. Anschließend ließ Hermann Schultze-Kummert
(seit 1896 ein Doppelname) eine Lagerbierbrauerei bauen mit Gärkeller,
Transportwagen und Lagerkeller sowie einem Eiskeller an der Gardelegener
15
16
BLHA Rep 2 S. Nr. 5387 S. 32-35; 43-65
Kirchenbuch der Stadt Calbe (Milde)
145
Straße. 1895 wurde das Rothsche Haus abgerissen und hier ein weiterer
Eiskeller errichtet.
Abb. 2
Brauerei Schulze-Kummert, Werbeplakat, Lithographie, Archiv Krüger
Aus Aufzeichnungen, die im Turmknopf der Wetterfahne der Brauerei
gefunden wurden, geht hervor:
„1. Die Brauerei des Hermann Kummert wurde im Jahre 1874 den 13.
November in Betrieb gesetzt - unter Leitung des Herrn Braumeister Julius Pfeffer.
Brauer und Maschinenmeister waren Hermann Friedrich Tockhorn
(Maschinenmeister), Brauer F. Schmidt, F. Krause und Schnöckel, Maurer
Dähre, die Arbeiter Rötel, H. Becker und Priegnitz sowie der Lehrling Pfeffer.
Steuerkontrolleur war ein Herr Schmidt.- Wir hatten bis dato wenig Eis. Die
größte Kälte war am 26. und 27. Dezember 1876. Das neue Maschinenhaus
wurde im Jahre 1877 gebaut. Vorher hatten wir nur einen Röhrenkessel, einen
Kohlenfresser. Eingelegt in den Turmkopf von J. Pfeffer Braumeister und
Maschinenmeister F. Tockhorn.
2. Hermann Kummert, der bisherige Besitzer der Brauerei, ist am 29.Oktober
1895 gestorben. Seine Erben sind Werner und Renate Kummert, letztere war mit
Max Schultze verlobt. Die Hochzeit soll am 19.November 1896 sein. Die Brauerei
hatte von Ostern bis Mitte Mai Calamität, da der Braumeister Strohkorb sein
146
Fach nicht recht verstand. Sein Nachfolger Braumeister Adolf hat das Gegenteil
bewiesen und liefert einen vorzüglichen Stoff, der auf Ausstellungen in Brüssel,
Marseille und Berlin prämiert wurde. Buchhalter ist Emil Reifgerst. (war über
40 Jahre Buchhalter) Verfertigt und eingelegt von F. Tockhorn,
Maschinenmeister
3. Ende Oktober 1903 wütete ein furchtbarer Sturm, der unendlich viele Bäume
umwarf und auch die Fahne von der Brauerei. Unter Bezug auf die Personalien
der Familie Kummert und Schultze sei ferner bemerkt, dass die Hochzeit von
Renate Kummert mit Max Schultze am 11. November 1896 stattfand und sehr
vergnügt im Hause gefeiert wurde. Die Hochzeitsreise ging über Hannover,
Dresden, Prag, nach Wien und von da in einem Tag nach Berlin. Am 13.
September 1897 wurde der Erstling Hermann, am 28. Jan. 1899 der zweite
Hans'chen und am 6. April 1903 der dritte Wolfgang geboren. Seit dem Jahre
1896 führt Max Schultze den Namen Schultze-Kummert.
Ein harter Schlag traf am 12.März 1900 die Brauerei abermals, indem der
tüchtige jugendliche Braumeister Adolf leider nach plötzlicher kurzer Krankheit
vom Tod ereilt wurde. Als Nachfolger trat Braumeister August Uschmann ein.
Die Brauerei hat sich fortgesetzt in ihrem Betrieb und Kundenkreis erweitert und
ununterbrochen ein gutes Bier geliefert.
Am Ende vorigen Jahres wurde ein neuer Kessel angeschafft. In diesem Jahr
wurde der alte Lauterbottich sowie die Schrotmühle und der Abzugsapparat
durch neue mit den besten Einrichtungen versehen, so dass flott weiter gebraut
werden konnte. Eine große Gefahr drohte im Juli 1901 der Brauerei indem am
19. Juli die Pisherie brannte und das Feuer mit vieler Not von der Brauerei fern
gehalten wurde.
Der Hopfenpreis beträgt in diesem Jahr für böhmischen Hopfen 300 M, für
bayrischen 250 M, Altmärker bis 110 M, Gerste 7 M pro Ctr.
gez. Max Schultze-Kummert
Personalien der in der Brauerei beschäftigten Mitarbeiter: Emil ReifgerstBuchhalter, Aug. Uschmann-Braumeister, Grund, Graepner und Köpke-Brauer,
Becker I, Becker II, Becker III, Schultze, Vergin, Benkendorf, Preetz-Arbeiter und
F. Tockhorn-Maschinenmeister.
4. 2. November 1911 - Infolge eines Sturmes brach abermals die Fahne ab. Für
den Braumeister Uschmann ist Eduard Lichtblau getreten. Sonst hat sich an der
Personalfrage wenig geändert. Der alte Becker, der ca. 40 Jahre drei Generationen
der Fam. Kummert treu und brav gedient hat, ist am 29.5. diesen Jahres
gestorben. Möge ihm die Erde leicht sein!
147
Im Jahre 1910 ist auch eine alkoholfreie Abteilung eingerichtet, die gut
funktioniert und rentiert. Der Hopfen kostet 350-400 M pro Ctr., der Altmärker
200 M, Gerste 9,50-10 M. gez. Max Schultze-Kummert
Die elektrische Anlage wurde am 1. September 1906, die neue Dampfmaschine
am 20. April 1908 dem Betrieb übergeben.
gez. Lichtblau-Braumeister, verfertigt und eingelegt: Friedrich TockhornMaschinenmeister
5. Wegen der Reparatur des Rauchkamins musste die Fahne der Brauerei
herunter genommen werden und zwar in schwerer Zeit für unser Vaterland. Bis
heute sind die Erfolge unserer Waffen günstig. Ich bin als Hauptmann
eingezogen worden und stehe z.Zt. in Magdeburg. Anstelle von Tockhorn ist Carl
Lohmann als Maschinenmeister getreten. Sonst hat sich nichts geändert.
Calbe/Milde, 23. September 1914, Max Schultze-Kummert“ 17
Abb. 3
Belegschaftsfoto der Brauerei Schultze-Kummert, Archiv Krüger
17
Befragung von Bürgern und Brauereimitarbeitern durch Hans Käbel (1955-1970), Archiv
Krüger
148
Aus jenem Jahr gibt es aber noch ein anderes Dokument, das sich mit
Wasserverhältnissen in der Kummertschen Brauerei befasst. Es ist ein
Schreiben des damaligen Kreisarztes von Salzwedel vom 19. Januar 1914
über eine Typhuserkrankung des in dieser Brauerei beschäftigten Brauers
Georg Paelecke, bei dem sich erste Anzeichen dieser schweren Erkrankung
Ende Dezember 1913 zeigten. In dem Dokument schreibt der in Calbe
praktizierende Sanitätsrat Parisius:
„Ursächliche Ermittlungen: Typhus herrscht am Ort ununterbrochen. In der
Brauerei Schultze-Kummert hat sich der Erkrankte drei Wochen vor Beginn
der Symptome aufgehalten. Als Vermittler kommt Wasser aus der Milde in
Frage. Das Wasser aus der Milde wird zum Gebrauche für die Brauerei durch
Kies und Kohle, allerdings auf ungenügende Weise filtriert. Der Erkrankte
ist sofort ins Krankenhaus Salzwedel überführt worden. Und in dem
Schreiben des Kreisarztes an den Bürgermeister in Calbe heißt es: Es ist
eingetroffen, was ich schon längst befürchtet habe, dass auch die
Filtrieranlagen in der Brauerei Schultze-Kummert nicht ausreichend zu sein
scheinen. Auch zugegeben, dass sie ausreichend wären, so ist doch die
Erkrankung ein Beweis dafür, dass der Erkrankte allem Anschein nach auf
dem Gebiet der Brauerei selbst mit Typhuskeimen in Berührung gekommen
ist, die zweifelsfrei aus der Milde kommen.“ 18
Das Bier wurde in der Brauerei in der Gerichtsstraße gebraut und nach der
Hauptgärung im Gährkeller, in einem sogenannten Fuhrfaß (Tankwagen) in
den Lagerkeller und Eiskeller an der Gardelegenerstraße, der heute noch
Eiskellerberg genannt wird, gefahren (Lagerzeit des Bieres 2-3 Monate).
1895 wurde das Haus von Roth und die Braumeisterwohnung abgerissen
und an diesen Stellen ein Eis- und Lagerkeller gebaut. Auch der Eiskeller an
der Gardelegenerstraße wurde abgerissen und aus dem Material das spätere
Reifgerstsche Grundstück zu einer Gastwirtschaft umgebaut. Die Braumeisterwohnung wurde 1895 in das ehemalige Bottmersche Haus verlegt, wo
sie sich auch bis zur Stilllegung befand. In dem Wirtschaftsgebäude auf dem
Hofe befand sich von 1874-1895 die Färberei von Johannes Kind. Die
anderen Braunbierbrauereien sind nach Erbauung der Lagerbierbrauerei von
Kummert eingegangen. Die Brauerei Kummert war die erste mit Dampf
betriebene Brauerei der Altmark.
In dem Brauereigrundstück befanden sich drei Brunnen, ein 7 m tiefer
Schachtbrunnen mit 2 m Durchmesser in der ehemaligen unteren Malztenne
(später Ersatzteillager). Ein zweiter Schachtbrunnen befand sich im Hofe der
18
Schreiben vom 19.01.1914, Kreisarzt Salzwedel, Archiv Krüger
149
ehemaligen Braumeisterwohnung. Im selben Hofe war ein 26 m tiefer
Bohrbrunnen angelegt. Das Wasser des Brunnens auf der Malztenne und des
Bohrbrunnens ist für Trinkwasser und Kochwasser völlig ungeeignet. Es hat
ca. 45' Härte und ist stark nitrathaltig (Salpeter). Es wurde in der Brauerei
nur für Kühlzwecke verwendet. Der Schachtbrunnen im selben Hofe wurde
von 1903 bis 1925, bis die neue Wasserleitung aus den Quellen bei Wiepke
kam, zur Herstellung von Limonade und Selters verwendet und war als
Trinkwasser geeignet, war aber nicht sehr ergiebig. Ebenfalls war auf dem
Grundstück gegenüber, im Hofe des Amts- bzw. Kreisgerichtes, ein weiterer
Brunnen. Bevor das gute Wasser aus Wiepke (Zichtauer Hellberge) kam,
wurde also auch Wasser aus der Milde verwendet.
Ältere Kalbenser können sich noch daran erinnern, dass durch den
städtischen Ausrufer bekannt gemacht wurde:
Es wird hiermit bekannt gemacht,
dass keiner in die Milde macht,
denn morgen wird gebraut.19
Abb. 4
19
Bierkutscher, Archiv Krüger
Handschriftliche Erinnerungen des letzten Braumeisters Max Kühnelt, Archiv Krüger
150
Um das neue Lagerbier nach bayrischer Art herzustellen und um den Betrieb
zu leiten, hatte man einen Braumeister aus Bayern eingestellt. Im Jahre 1905
begann man dann mit der Herstellung von hellen Bieren nach Pilsener Art.
Bier und Eis wurde in den ersten Jahren an Gaststätten meistens mit Pferd
und Wagen ausgefahren, so durch Willy Heinecke. Dieser verkaufte auch
noch in Calbe, aus einem großen Fass vom Pferdewagen aus, Bier über die
Straße. Der Transport wurde später durch die Kraftfahrer und Beifahrer
mittels LKW vorgenommen.
In den 1920er bis 1930er Jahren brachten Wilhelm Becker und sein
Beifahrer in mehreren Tagesfahrten das Calbenser Bier bis nach
Weferlingen.
Bis zur Stilllegung des Betriebes im Jahre 1964 wurde das Bier bis nach
Diesdorf, Brome, Langenapel, Stöckheim, Ahlum, Rohrberg, Beetzendorf,
Apenburg, Salzwedel und sogar in Orte des Kreises Stendal geliefert.
Von 1911 bis 1933 war Eduard Lichtblau Braumeister, danach folgte der
langjährig tätige Braumeister Kühnelt.
Max Kühnelt wurde am 01.04.1930 als Brau- und Malzmeister eingestellt. Er
kam aus Schlesien und hat seine Spezial-Kenntnisse in München erworben.
Während jener Zeit wurden als Braumeister noch ausgebildet Rosi Kühnelt,
Eckhard Krüger und Bernhard Jelinski.
Bevor Maschinen und Chemikalien das Eis für das Kühlen des Bieres
fabrizierten, bereits 1913 wurde auf dem Brauereigelände ein Maschinenhaus zur Herstellung von Stangeneis und zur Bierkühlung gebaut, musste im
Winter Natureis geerntet werden. Dies erfolgte in den sogenannten Eisgräben auf den Ländereien der Brauerei. Das Eis wurde mit Pferdefuhrwerken zum Eiskeller in der Gerichtsstraße gebracht, dort wurde es mit dem
Elevator nach oben gebaggert und fiel dann in den Eiskeller. Der große StirnEiskeller fasste ca. 1.000 Ackerfuhren Eis, das Schmelzwasser hielt die 4
Lagerkeller mit Bier kühl. Wenn dann im Sommer die Qualität des Bieres
schon gelitten hatte, hieß es im Volksmund nur „Schützenfestbier".
Die Arbeit in der Brauerei und bei der Herstellung alkoholfreier Getränke
war sehr schwer, denn nur für die Reinigung der Flaschen und für die
Abfüllung gab es Maschinen. Auch eine Malzdarre und ein Malzlager in der
Brauerei brauchte Arbeiter.
151
Enteignung der Brauerei
Die Enteignung des Betriebes erfolgte in zwei Etappen ursprünglich des
Ackerlandes wegen (139,84 ha) und später auch wegen der Brauerei.
Am 12. Oktober 1945 ging der Familie folgender Brief zu:
„An den enteigneten Besitzer Schulze-Kummert und Angehörige in Calbe/Milde.
Sie werden aufgefordert, Ihren bisherigen Wohnsitz innerhalb 24 Stunden unter
Mitnahme nachstehender Gegenstände zu verlassen:
1.) a Person 1 Bett (nicht einbegriffen ist das Bett für den Mann, der nicht da
ist)
2.) Wäsche und Kleidungsstücke a Person 30 kg.
3.) Lebensmittel entsprechend der Menge einer Zuteilungsperiode,
4.) Mobiliar: Einrichtungsgegenstände für ein Wohnzimmer und 1 Küche.
Für den Abtransport obiger Gegenstände kann ein Gespann leihweise benutzt
werden, jedoch muss dieses Gespann unverzüglich zurückgegeben werden. Eine
polizeiliche Abmeldung ist unbedingt erforderlich.
gez. k.-Landrat“ 20
Die Familie hat dann vieles unternommen, diese Enteignung wieder
aufzuheben. Dieses ist auch zum Teil gelungen. Mit Urkunde vom 30.
September 1946 wurden ihr die Brauerei und 42 Hektar zurückgegeben.
Die Urkunde hat folgenden Text:
"Ihr Vermögen wurde auf Grund des Befehles 124 des obersten Chefs der
sowjetischen Militärverwaltung, Oberbefehlshaber der Gruppe der sowjetischen
Besatzungstruppen in Deutschland vom 30.Oktober 1945 unter Sequester gestellt.
Die Provinz-Kommission zur Durchführung der Befehle 124/126 der
sowjetischen Militär-Administration hat nach eingehender Prüfung entschieden,
Ihnen Ihr Vermögen zurückzugeben, damit sie mit dem heutigen Tage das volle
Verfügungsrecht über ihr Vermögen zurückerhalten. Die Provinzialverwaltung
Sachsen erwartet von Ihnen, dass Sie diese HOCHHERZIGE TAT würdigen und
sich rückhaltlos und mit ganzer Kraft für den „NEUAUFBAU“ unseres
demokratischen deutschen Vaterlandes einsetzen.“ 21
Aber dieser Stand sollte nicht lange andauern. In der Sitzung vom
02.04.1951 wurde von der Landesbodenkommission die erneute Enteignung
beschlossen. Erneute Beschwerden, Unterstützung von Freunden,
20
Schreiben des Landrates des Kreises Salzwedel vom 12.10.1945, aus dem Besitz der Fam.
Schultze-Kummert, Kopie im Archiv Krüger
21
Schreiben des Ministers des Innern der Landesregierung Sachsen-Anhalt, vom 30.07.1948,
aus dem Besitz der Fam. Schultze-Kummert, Kopie im Archiv Krüger
152
persönliche Rücksprachen mit dem damaligen stellvertretenden
Ministerpräsidenten der DDR Otto Nuschke, alles half nichts. Die
Entscheidung war nicht mehr zu revidieren. Um einer Verhaftung zu
entgehen, blieb Wolfgang Schultze-Kummert, der die Brauerei seit 1948 allein
geleitet hatte, nicht anderes übrig, als am 22.12.1952 die DDR zu verlassen.
Die Enteignung war vorher nicht bekannt. Als die Arbeiter vom Mittagessen
zurück kamen, fanden sie alles verschlossen und wurden dann durch den
neuen Betriebsleiter eingewiesen.
Nach der Enteignung gingen Herrmann (verst. 25.01.1967) und Hans
Schultze-Kummert (verst. 13.04.1988) mit ihrer Mutter (Renate SchultzeKummert, verst. 29.09.1959) nach Stendal (enteignete Bürger mussten stets
den Kreis verlassen), Wolfgang Schultze-Kummert nach Köln. Der Kontakt
Wolfgang Schultze-Kummert's nach Kalbe, durch Schriftwechsel und
persönliche Besuche in Köln unter anderem zu meinem Vater Martin
Krüger, ist nie abgerissen. Er ist am 5.12.1990 in Köln verstorben. In einem
seiner letzten Briefe an den Verfasser schrieb er:
„Man hat uns nicht nur davon gejagt wie die Verbrecher. Man hat mir nicht
gestattet, unserer alten Mutter ihren letzten Wunsch zu erfüllen, neben unserem
Vater beigesetzt zu werden. Dann hat man uns unter Fristsetzung aufgefordert,
das Grabmal auf dem Grabe unseres Vaters zu entfernen, damit das Grab
eingeebnet wurde und der Name Schultze-Kummert auf dem Friedhof
verschwand.
Wir sind immer eine ehrenwerte Familie vom alten Kalbe gewesen und haben
eine solche verwerfliche Behandlung nicht verdient.
Kalbe war früher immer ein schönes, liebliches und blitzsauberes und gepflegtes
kleines Städtchen mit sehr lieben Einwohnern gewesen und so soll es auch in
meiner Erinnerung bleiben."22
Nach der Enteignung des Betriebes 1952 wurde Max Behrendt Leiter des
Betriebes. Bis zur Gründung der LPG beschäftigte er sich jedoch hauptsächlich mit der zur Brauerei gehörenden Landwirtschaft - die Brauerei
wurde unter der Regie von Braumeister Kühnelt weiter betrieben, ihnen
stand zur Seite Buchhalter Schulz. Im Büro haben damals gearbeitet: K.
Daenert, Mensing, Frau Fehske und U. Morgner.
Als Kraft- bzw. Beifahrer: Fehse, W. Grosse, Grothe, Huber, Lüder,
Markgraf, Meinecke, W. Mertens, Morgner, A. Netzband, Poblenz, Schulz,
W. Tode.
22
Brief von Wolfgang Schultze-Kummert an H. Krüger vom 02.07.1989, Archiv Krüger
153
In der Produktion: W. Balzer, Anni und Karl Baumann, I. Bredow, Franke,
Dworeck, Gohrke, H. Groß, K. Gründler, G. Heims, Heinecke, Heinrich,
Kneiphoff, Muhl, G. Runge, Schade, Schlaps, O. Schröder, P. Zebrowski.23
Die Stilllegung der Brauerei wurde von den Kalbensern sehr bedauert.
Die Brauerei war zum Teil veraltet, bedingt durch fehlende Investitionen
und unterlassene Instandhaltung. Eine Erneuerung hätte erhebliche Mittel
beansprucht. In der letzten Zeit vor der Einstellung des Betriebes ging die
Braupfanne regelmäßig einmal in der Woche kaputt. Viele Arbeiter der
Brauerei wurden danach in der neu gegründeten Großbäckerei Kalbe (Milde)
eingestellt.
Die Hauptursache der Betriebsaufgabe war jedoch die begonnene Konzentrierung der Produktion in der Diamant-Brauerei Magdeburg und deren
Rentabilität. Einige Wochen vor Schließung der Brauerei wurde diese als
Abfüllstation genutzt. Das Bier wurde in Tankwagen von Magdeburg angeliefert und dann auf Flaschen gefüllt.
Nachdem der Betrieb stillgelegt wurde, sind die Gebäude von der LPG und
von einer Firma für Landmaschinenhandel (Agrotechnik) genutzt worden.
Auch nach 1990 wurde das Gelände kurzzeitig für einen Landmaschinenhandel genutzt. In den zurückliegenden Jahren sind Gebäude abgebrannt
bzw. abgerissen worden. Der zum Grundstück gehörende Park, im Volksmund Pionierpark genannt, wurde nie wieder richtig genutzt. Die Familie
Schultze-Kummert hatte noch 1989, trotz Enteignung, Antrag auf Wiedereinsetzung in den alten Stand gestellt. Wolfgang Schultze-Kummert ist am 2.
Dezember 1990 verstorben, ob die Erben weitere Schritte unternommen
haben, bzw. der Antrag abgelehnt wurde, ist nicht bekannt.
23
Festzeitung zur Weihnachtsfeier des VEB(K) Altmärkisches Brauhaus Kalbe(Milde) Dez.
1953, VEB Druck Kalbe, Archiv Krüger
154
Zusammenstellung einiger wichtiger Daten
1550 Bestätigung durch die Kurmärkische Kammer, dass bereits gebraut
worden ist
1627 Beginn des Kirchenbuches der Stadt Calbe (Milde)
1673 erste Erwähnung eines Kummert in Calbe (Milde)
1682 in diesem Jahr wurde angeblich das Braurecht nicht ausgeübt
1713 erste Benennung von Brauern im Kirchenbuch
1717 Bestätigung des Brauprivilegs für Hans Reinicke und Joachim
1731 es bestehen 3 Garleyschenken, 2 Brauereien sind in Betrieb und 5
Braukonzessionen vergeben
1750 Branntweinbrenner Arnold, Beye, Schmidt u. Schultze
1751 Genehmigung einer Branntweinbrennerei für J.J. Dannehl
1756 Brauer - Witwe Prehm, Ahlemann Reinicke, Palm, Schmidt
1800 ca. 7 Brauer in Calbe(M) (ca. 950 hl Braunbier im Jahr)
1874 Aufbau und Vergrößerung der Brauerei durch Hermann Kummert
1877 Bau des Maschinenhauses
1896 Aus Kummert wurde Schultze-Kummert.
1905 Beginn der Herstellung von hellem Bier nach Pilsener Art
1906 Elektrifizierung der Brauerei
1908 Inbetriebnahme einer neuen Dampfmaschine
1910 Errichtung einer alkoholfreien Abteilung
1913 Bau eines neuen Maschinenhauses für die Eisherstellung
1914 Typhuserkrankung in der Brauerei
1925 Inbetriebnahme der neuen Wasserleitung aus Wiepke, Bergquellbier
1952 Enteignung der Brauerei - neuer Betriebsleiter Max Behrendt
1964 Stilllegung des Betriebes
Braumeister der Brauerei Kummert bzw. Schultze-Kummert
1874 Braumeister Julius Pfeffer, Maschinenmeister Herrman, Friedrich
Tockhorn
1895 Braumeister Strohkorb
1896 Braumeister Adolf
1900 Braumeister August Uschmann
1911 Braumeister Eduard Lichtblau
1914 Maschinenmeister Carl Lohmann, Braumeister Max Kühnelt
155
Abb. 5
Bierdeckel der Brauerei Schultze-Kummert, Archiv Krüger
Abb. 6
Bierdeckel der Brauerei VEB (K), Archiv Krüger
157
Vereinsbericht
von Ulrich Kalmbach
Die Frühjahrstagung des Jahres fand am 2. April 2011 als Gemeinschaftsveranstaltung mit einem benachbarten Verein statt. In diesem Fall trat der
„Wendländische Geschichts- und Altertumsverein von 1905 e. V.“, der auch
dankenswerter Weise den überwiegenden Teil der Vorbereitungen übernommen hatte, als Gastgeber auf. Tagungsort war das Amtshaus in Lüchow.
Unter dem Motto „Wendland und Altmark: Historische Gemeinsamkeiten“
wurde ein kleines Kolloquium organisiert, das mit mehreren Vorträgen
bestritten wurde.
Regularien waren nicht zu erfüllen. Anwesend waren ca. 90 Mitglieder
beider Vereine und eine Reihe von Gästen. Die Begrüßung erfolgte durch die
Vereinsvorsitzenden und Offizielle der Gastgeberregion.
Nach der Begrüßung und Tagungseröffnung begann Prof. Dr. Wolfgang
Meibeyer, Braunschweig den Vortragsteil. Er referierte zu einem seiner
langjährige Forschungsschwerpunkte „Alter und Entstehung der Rundlingsdörfer im Wendland und in der Altmark“, zu dem auch schon eine Reihe
von Publikationen vorgelegt hat. In seinem Vortrag ging er neben der
Erläuterung der Situation in Altmark und Wendland auch auf
Forschungsdiskussionen ein. Herr Ulf Frommhagen aus Seethen, versierter
Burgenkenner der Altmark, hatte für seinen Vortrag den Blick über die
Landesgrenze hinaus auf die Nachbarregion Wendland gerichtet und stellte
auch neuere Forschungsansichten und auch Ergebnisse von archäologischen
Ausgrabungen vor. Sein Vortrag hatte den Titel: „Burgenlandschaften in der
Altmark und im Wendland“.
Herr Jürgen Kayser aus Bornsen hatte sich intensiv mit dem „Kapellen- und
Kirchenbau in der Altmark und im Wendland“ beschäftigt. Anhand
zahlreicher Fotografien stellte er hier Gemeinsamkeiten und Besonderheiten
beider Regionen heraus. Herr Kayser hatte sich bereits langjährig speziell mit
den altmärkischen Backsteinkirchen beschäftig.
Eine schöne Korrespondenz zu diesem Thema stellte die Ausstellung mit
Arbeiten des Künstlers Waldemar Nottbohm aus Hitzacker dar. Seine
Ausstellung mit zahlreichen Zeichnungen trug den Titel: „Mittelalterliche
Feldsteinkirchen und andere Steinbauten im Ostfälischen. Beispiele aus der
Altmark und dem Wendland.“
Die Herbsttagung fand am Sonnabend, d. 29. Oktober 2011 in der Gaststätte
Eisen-Carl statt. Es standen keine weiteren Regularien an. An der Tagung
nahmen 17 Vereinsmitglieder und 5 Gäste teil. Am Vormittag standen drei
158
Vorträge auf dem Programm. Nachmittags erfolgte die Besichtigung der
Ausstellung im Danneil-Museum. Nach der Begrüßung durch den
Vorsitzenden begann Hartmut Bock aus Jübar mit dem ersten Vortrag.
Der Referent gab eingangs eine Einführung zur Bedeutung von persönlichen
Aufzeichnungen als historische Quelle und stellte die Vielfalt und Spezifik
bestimmter Aufzeichnungsarten, wie z. Bsp. Anschreibebücher und
autobiografische Schriften, heraus. Anschließend ging er dann auf die
Aufzeichnungen von August Busse (1899-1961) aus Jübar ein und stellte
dessen Notizbuch, in dem seine handschriftlichen Erinnerungen enthalten
sind, vor und ordnete sie in das zeithistorische Geschehen ein. August Busse,
Landwirt und später Fleischbeschauer, schilderte neben den familiären
Verhältnissen seine Erlebnisse im 1. und 2. Weltkrieg. Ebenso äußerte er
sich zu seiner Freizeittätigkeit als Turner und zu den Bedingungen der
Freiwilligen Feuerwehr in seinem Heimatort.
Anschließend zeigte der Referent anhand dieses konkreten Beispiels
Grenzen und Möglichkeiten solcher Quellen auf.
Abb. 1
Jürgen Kayser beim Vortrag zur Frühjahrstagung in Lüchow
Den zweiten Vortrag eröffnete Frau Sigrid Brückner, die ein zu dieser Zeit
im Vorbereitung befindliches Ausstellungsprojekt der Städtischen Museen
Tangermünde mit Studenten der Universität Potsdam vorstellte. Der
159
Vortragstitel war gleichzeitig der Arbeitstitel der Ausstellung: „1412 – Wie
vor 600 Jahren die Hohenzollern in die Altmark kamen.“ Die Ausstellung
wurde anlässlich des historischen Datums vom 6. November 1412, an dem
der spätere Kurfürst Joachim I. in Tangermünde einzog, für das Jahre 2012
ausgerichtet. Anschließend kamen die von Dr. Lutz Partenheimer betreuten
Studierenden selbst zu Wort, indem sie den Stand der Ausstellungsvorbereitung und die historischen Hintergründe des Themas erläuterten. Die
Ausstellung mit ca. 30 Bild-Texttafeln veranschaulicht die Geschichte der
Hohenzollern und deren Beziehung zu Tangermünde.
Der dritte Vortrag des Vormittags stellte eine Einführung in die
Jahresausstellung des Johann-Friedrich-Danneil-Museums dar. Ulrich
Kalmbach stellte die Konzeption und die historischen Hintergründe der
Ausstellung vor, die nach dem Mittagessen dann von den Tagungsteilnehmern direkt in Augenschein genommen werden konnte.
Unter dem Titel „Oberst fotografiert“ wurden Exponate zur Fotografiegeschichte von Salzwedel zusammengetragen. Das betraf zum einen familiengeschichtliche Aspekte – die Familie Oberst brachte mehrere Generationen
von Fotografen hervor. Zum anderen waren die Fotografen auch Chronisten
ihrer Zeit, hielten sie doch Alltagskultur, Städtebau und die Zeitgenossen in
einer Vielzahl von Fotografien fest. Nach dem Ausstellungsbesuch klang der
Tag mit einem Kaffeetrinken im Café Kruse aus.
160
Mitglieder
Zum 31.12.2011 besaß der Verein 127 Mitglieder.
Im Berichtsjahr 2011 konnten folgende neue Mitglieder aufgenommen
werden:
Frau Sabine Spiller, Bad Salzuflen
Herr Dr. Gerhard Ruff, Salzwedel,
Herr Daniel Russell, München
Herr Prof. Dr. Lutz-Dieter Behrendt, Deggendorf
Leider erhielten wir im Jahr 2011 Kenntnis von mehreren Todesfällen:
† Herr Joachim-Albrecht Kohlmann, Tangermünde
† Herr Klaus Ulrich Krössin, Bielefeld
† Herr Dr. Hans-Joachim Tegge, Salzwedel
† Herr Gerhard Schmidt, Nienburg (Weser)
Wir werden Ihnen ein ehrendes Gedenken bewahren.
Vorstand
Der gegenwärtige Vorstand des Vereins besteht aus folgenden Personen:
Prof. Dr. Bernhard von Barsewisch, Vorsitzender
16928 Groß Pankow, Pankeweg 15
Frank Riedel, stellvertretender Vorsitzender
16818 Wustrau, Am Schloß 2
Ulrich Kalmbach, Schriftführer
29410 Salzwedel, Neutorstraße 39
Jürgen Kayser, Kassenwart
29413 Bornsen, Dorfstr. 4
Sigrid Brückner, Beisitzer
39590 Tangermünde, Neue Str. 44
Steffen Langusch, Beisitzer
29410 Salzwedel, Lohteich 16
Manfred Lüders, Beisitzer
29410 Salzwedel, Westring 13
161
Kassenbericht
von Jürgen Kayser
Rechnungslegung für das Kalenderjahr 2011
Volksbank Salzwedel
Einnahme-/ Ausgaberechnung
I.
Einnahmen
Mitgliedsbeiträge
Spenden
Verkauf von Jahresberichten
Sonstige Einnahmen (u.a. Zinsen, Zuschüsse)
Ausgaben
Büromaterial, Porto, Druckkosten, Sonstiges
II.
Bestandsrechnung
Bestand am 31. Dezember 2010
Einnahmen nach Abzug der Ausgaben
Bestand am 31.12.2011
III
Bestandsnachweis
Girokonto Volksbank Salzwedel Nr. 1032572700
392,45 €
45,00 €
0,00 €
0,00 €
437,45 €
0,00 €
1.014,63 €
437,45 €
1.452,08 €
1.452,08 €
Sparkasse Altmark West
I.
Einnahme-/ Ausgaberechnung
Einnahmen
Mitgliedsbeiträge
Spenden
Verkauf von Jahresberichten
Sonstige Einnahmen (u.a. Zinsen, Zuschüsse)
1.285,00 €
100,00 €
32,00 €
30,00 €
1.447,00 €
Ausgaben
Büromaterial, Porto, Druckkosten, Sonstiges
- 3.286,77 €
II.
Bestandsrechnung
Bestand am 31. Dezember 2010
2.989,71 €
Einnahmen nach Abzug der Ausgaben
1.839,77 €
Bestand am 31.12.2011
1.149,94 €
III
Bestandsnachweis
Sparkasse Altmark West/ Diesdorf Konto Nr. 3000021026
1.149,94 €

Documentos relacionados