Was lernen Kinder und Jugendliche (freiwillig) in und

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Was lernen Kinder und Jugendliche (freiwillig) in und
Was lernen Kinder und Jugendliche (freiwillig) in und durchs
Computerspielen?
Kinder besiedeln den Weltraum, kämpfen gegen Ungeheuer, gewinnen den Grand Prix oder die Fußball-WM. All das
ist heute möglich – man braucht nur einen Computer und die entsprechenden Spiele dafür. Kinder und Jugendliche
haben keine Probleme mit Computerspielen; für sie ist das längst nichts besonderes mehr, es gehört zu ihrer Kindheit
einfach dazu. Probleme haben besorgte Eltern und Pädagogen, die nicht recht wissen, wie sie sich verhalten sollen.
Berichterstattungen über amoklaufende Computerspieler auf der einen Seite, der Boom von Computerschulen, die mit
der Wichtigkeit einer frühen „Computererziehung“ argumentieren, auf der anderen Seite. Mittendrin spielen die
Kinder weiter unbeschwert ihre Computerspiele...
Beobachter eines fiktiven Kaufhausbesuchs oder
Neulich in der Spieleabteilung
Die Darsteller:
Mutter (M); Vater (V); Kaufhaus-Verkäfer ($); stiller Beobachter (B); ein Jugendlicher (J)
Des weiteren die Kinder: Sohn Max 12 Jahre, spielt gerne Strategie- und Simulationsspiele (Age of Empires, Roller
Coaster Tycoon etc.); Tochter Marie 10 Jahre, spielt nicht ganz so oft, mag aber gerne Edutainmenttitel oder
Adventures (Löwenzahn, Darby der Drache etc.)
Ort des Geschehens: ein typisches Kaufhaus in einer mittleren Großstadt
Zur Vorgeschichte: Beide Eltern (im mittleren Alter) haben berufsbedingt ein wenig Erfahrung mit dem Computer
(Office-Anwendungen im Büro etc.). Doch was sich zu Hause im Kinderzimmer auf dem Computer der Sprößling so
alles abspielt, ist den Eltern doch eher fremd. Vor einigen Wochen lasen die Eltern einen Artikel in der Zeitung, in
dem über die gefährlichen Computerspiele berichtet wurde. Gestern abend verfolgten sie aufmerksam einen Bericht
im Fernsehen über LAN-Parties und amoklaufende Computerspieler. Beim heutigen Einkauf im Kaufhaus geraten sie
zufällig in die Nähe der Computer-spieleabteilung.
M: „Laß uns doch da mal hin und gucken...“
V: „Was sollen wir denn da? Davon verstehen wir doch nichts.“
M (ein wenig forsch): „Eben drum!“
M geht mit energischem Schritt bis zum ersten Spielestapel und schaut sich die Verpackungen an.
V kommt langsam hinterher und fragt abfallend: „Und, was ist das für´n Spiel?“
M: „Weiß ich doch nicht, ist alles in Englisch.“
V: „Und das hier?“
M: Age of Empires.
V: „Das hat doch der Max zum Geburtstag bekommen.“ V (anscheinend alles besser wissend): „Das ist so was wie...
...wie hier: Die Siedler! ...so wie das Brettspiel; das gibt´s auch für den Computer.“
M (verbessernd): „Aber das haben wir doch als Brettspiel zu Hause – das muß man doch nicht unbedingt auch noch
für den Computer haben...“
B (denkend): „Da hat sie vielleicht sogar recht.“
V (trotzig): „Ich hatte auch nicht vor, es zu kaufen!“
M (einwendend): „Aber das Spiel, was der Max hat, ist, glaub´ ich, doch etwas anders.“
V (rechthaberisch): „Sonst könnte er ja auch das Brettspiel spielen!
M etwas eingeschnappt über diese Antwort: „Hmm...“ Pause. „...schau mal da hinten.“
Am Ende des Gangs sind Computer und Konsolen aufgebaut, an denen einige Kinder und Jugendliche die neusten
Spielehits testen. M geht vorsichtig und etwas zögerlich in Richtung der aufgebauten Spielstationen und beobachtet
das Geschehen. V schleicht langsam hinterher. Ein Jugendlicher beendet gerade sein Spiel und bemerkt hinter sich die
ihn beobachtende M.
J (freundlich fragend): „Möchten sie jetzt vielleicht mal spielen? Ist auch einfacher, als es ausschaut.“
M (irritiert und etwas perplex): „Nein, ich... ...ähm... ...Danke, nein!“
M geht zügig eine Regalreihe weiter. V schließt langsam auf.
V: „Was wollte der von dir?“
M: „Ich sollte spielen! Aber ich kann so was doch gar nicht. Das ist nichts für mich.“
V (besserwisserisch): „Weißt du doch gar nicht.“
M schaut sich schweigend die Verpackungen in der neuen Regalreihe an.
M: „Guck mal hier: Löwenzahn, das ist doch was Vernünftiges. Das spielt doch die Marie manchmal. Oder hier...“
$ kommt.
$: „Kann ich Ihnen helfen? Was suchen sie denn?“
M: „Eigentlich wollten wir nur mal schau´n...“
M erinnert sich an die letzte Mathematikarbeit von Max.
 Jürgen Sleegers, 2000
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M zu $: „Vielleicht können sie uns doch helfen? Gibt es ein Lernprogramm für Mathematik? Wissen sie unser Ältester
hat...“
$ unterbricht ungeduldig M: „...Wie alt ist denn Ihr Sohn?“
M: „Der ist 12.“
$: „Na, da haben wir genau das richtige. Hier: `Spaß mit Zahlen´.“
V (erblickt den Preis. Leichtes Entsetzen verstimmt seine Stimme): „99.- DM!“
B (denkend): „Der meint wohl eher `Spaß beim Zahlen´...“
$ (beschwichtigend): „Das ist nicht zu teuer. Hierbei handelt´s sich um ein ganz tolles Produkt. Spielspaß und
Lernerfolg garantiert. Hier sehen sie: `Spaß mit Zahlen´ hat sogar sechs Glühbirnen bekommen.“
V: „Bitte!?“
§ (mit bemüht vertrauensvoller Stimme): „Das ist ein Gütesiegel und eine Auszeichnung von Fachleuten.“
M zu V (leicht hilflos fragend): „Was meinst denn du?“
V (leicht abwesend): „Wenn´s hilft.“
M (von der Sorge, es könne jemand zu kurz kommen oder das Bild vor Augen, was passiert, wenn Max am Abend
etwas bekommt und Marie nicht...): „Dann brauchen wir auf jeden Fall aber auch was für Marie!“
$ (sehr freundlich fragend): „Wie alt ist denn Ihre Tochter?“
V (am Rande der Gelassenheit): „Sie ist 10.“
$ (versucht noch mehr Interesse in seine Stimme zu legen): „Was spielt Sie denn am liebsten?“
V(leicht grinsend): „Eigentlich Monopoly, da gewinnt sie immer.“
M (verbessernd) zu V: „Er meint doch Computerspiele!“
$ (kann es kaum abwarten): „Monopoly, das haben wir natürlich auch für den Computer!“
M und V unterbrechen den $: „...nein, wir haben ja schon das Brettspiel.“
B (denkend): „Das find´ ich auch besser.“
$: „Dann mag sie vielleicht so etwas wie Roller Coaster Tycoon.“
M (leicht zögerlich): „Aber sie kann doch gar kein Englisch...“
$ (unterbricht M verständnisvoll lächelnd): „...Nein, daß Spiel ist natürlich in komplett in Deutsch.
M: Und was ist das für ein Spiel?“
$ (Begeisterung garniert seine Stimme): „Ein ganz tolles Spiel. Das verkauft sich sehr gut. Man kann hier seinen
eigenen Freizeitpark aufbauen und managen.“
V: „Haben Sie vielleicht etwas einfacheres?“
$ schaut sich kurz um und greift eine Verpackung aus dem Regal. $ (verheißungsvoll erklärend): „Hier ist ein ganz
tolles neues Spiel: Wettlauf ins All. Das ist ganz neu und bestimmt etwas für Ihre Tochter. Da muß man auch
versuchen, schnell viele Sachen zu bekommen und mit dem Geld was man zur Verfügung hat gut haushalten...
...ähnlich wie bei Monopoly.“
M (fragend): „Und das Spielen die Kinder gerne?“
$ (enthusiastisch): „Klar, das Spiel verkauft sich super.“
M zu V: „Was meinst du?“
V (dem so langsam alles egal wird und der sich mehr Sorgen darum macht, daß sie auf dem Rückweg wieder an dem
Schuhladen von eben vorbei müssen): „Ja, wenn er meint, es ist was für Marie.“
B (denkend): „Woher kennt der Verkäufer auf einmal die Marie so gut?“
M und V (freundlich) zu $: „Haben sie vielen Dank für ihre Beratung.“
$ (gutgelaunt): „Dafür sind wir ja schließlich da.“
B (sich fragend): „Zum Beraten oder zum Verkaufen?“
M und V gehen guten Gewissens mit ihren Einkäufen zur Kasse.
Tage später bei der Familie zu Hause. `Spaß mit Zahlen´ liegt fast unberührt im Regal und hat mittlerweile die
Erfüllung in der Funktion als Buchstütze gefunden. Max war super enttäuscht! Endlich bekommt er was neues für den
Computer und dann so was. Max erinnert sich an die Kommentare der Eltern, als sie ihm das Programm gaben: M
(verheißungsvoll):“Wir haben dir etwas tolles für deinen Computer mitgebracht.“ V (resolut): „...damit sich so etwas,
wie mit deiner letzten Mathearbeit auf keinen Fall wiederholt!“
Zum Trost entdeckte Max schnell die verheißungsvolle Ankündigung auf der Verpackung von Maries Spiel: „Ein
spannendes Strategiespiel...“
Nachdem er es Marie nur kurz installieren wollte, gab er so schnell die Computermaus nicht aus den Händen. Nach
dem wüsten und etwas ungeduldigem Weiterklicken von Max verlor Marie beim Anblick der verschiedenen
Forschungsberichte erst einmal die Lust und ging nach Draußen spielen.
Noch ein paar Tage später. Marie hat sich `Spaß mit Zahlen´ angeguckt und fand es doof. Max war begeistert von
„seinem“ neuen Spiel, welches er mittlerweile öfters gespielt hatte. Nachdem es sich Marie auch einmal alleine in
Ruhe angucken konnte, war sie auch zunehmend mitgerissen und es machte sogar richtig Spaß, sich die vorher von
Max so schnell weggeklickten Berichte in Ruhe anzuschauen.
Abends am Essenstisch. M und V (neugierig Max fragend): „Und, wie ist `Spaß mit Zahlen´? Hilft es Dir?“
Max (schaut Marie an und denkt an seine neue Buchstütze): „Ja!“
M zu Marie: „Und wie ist dein Spiel?“
 Jürgen Sleegers, 2000
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Beide Kinder gleichzeitig: „Das ist ganz toll!“
Max (ganz schnell antwortend): „Ich bin schon 1956 auf dem Mond gelandet...“
Marie (stolz): „Dafür haben ich schon eine Sonde zum Jupiter losgeschickt...“
Die Eltern schauen sich fragend an...
Hin und wieder drängt sich mir der Eindruck auf, daß Edutainment- und Lernsoftware ein wenig den Charakter und
die Aufgabe eines modernen Ablassbriefs übernehmen, mit dessen Kauf Eltern erhoffen, sich von den Sünden der
Vergangenheit (schlechte Schulnoten, gefährdete Versetzung, „unterlassene Hilfeleistung“ auf Seiten der Eltern und
Lehrer etc.) einfach befreien zu können.
Ganz so einfach geht es wohl doch nicht.
Auf der anderen Seite wird das Potential, welches in Computerspielen steckt oft verkannt. Dabei ist es faszinierend,
was man in Computerspielen (spielerisch) alles lernen kann und was Kinder und Jugendliche zu lernen bereit sind,
wenn es ihnen Spaß macht.
Die Sache mit der Motivation...
...oder wann ist ein Spiel ein Spielchen wert?
Es gibt viele Möglichkeiten, wieso ein Computerspiel für einen Spieler an Reiz gewinnen kann, was ihn fasziniert und
motiviert, dieses oder jenes Spiel zu spielen. Die Gründe hängen stark von den individuellen Vorlieben, Erfahrungen,
Wünschen und Erwartungen des Spielers ab. Die folgende Auflistung stellt daher nur eine Auswahl von möglichen
Motiven da:
...Spaß
...Ablenkung
...alles andere mal vergessen
...Neugier
...der “Reiz des Verbotenen“
...sich selbst und anderen etwas beweisen
...Verwandtschaft mit Themen und
Inhalten aus anderen Medien
...Langeweile vertreiben
...mit anderen spielen
...gegen andere spielen
...etwas (erfolgreich) beenden
...etwas lernen
...Technikfaszination
...Wut rauslassen
...mal sein eigener Herr sein
Darüber hinaus muß prinzipiell auch zwischen zwei unterschiedlichen Arten der Motivation unterschieden werden:
Extrinsische Motivation
• Die Beweggründe, einer konkreten Tätigkeit nachzugehen, haben weniger mit der Tätigkeit an sich zu tun,
sondern mehr mit dem Ergebnis oder der Erwartung von Belohnung oder Bestrafung, die quasi „von außen“ der
Tätigkeit übergestülpt wird.
• ➫ Lerninhalte werden nicht so lange behalten.
Im eingangs skizzierten Beispiel können wir es eventuell sogar nachvollziehen, daß Max dem Lernprogramm nach
dem Kommentar des Vaters (:„...damit sich so etwas, wie mit deiner letzten Mathearbeit auf keinen Fall
wiederholt!“) aus Trotz erst gar keine Chance geben wollte.
Intrinsische Motivation
• Intrinsisch motivierte Tätigkeiten werden ohne Zögern begonnen und kommen im Gegensatz zu extrinsisch
motivierten Tätigkeiten auch ohne äußere Belohnung oder Bestrafung aus – die Tätigkeit und die daraus
resultierenden Ergebnisse scheinen Belohnung genug.
• ➫ Die Lerntätigkeit wird freiwillig solange fortgesetzt, wie die Motivation anhält.
• ➫ Lerninhalte werden länger behalten.
• Zitat Albert Einstein: »Ich sehe es einfach nicht ein, etwas zu lernen, was mir keine Freude bereitet.«1
Pokémon - ein Beispiel für intrinische Motivation oder man lernt nicht nur Nützliches.
Kinder lieben die kleinen Monster. Die Spiele werden begeistert gespielt, die Sammelkarten fleißigst gekauft und
getauscht. Sogar die schwierigen und befremdlich klingenden Namen der Spielfiguren können viele Kinder bereits
auswendig - was bei über 150 Monstern eine enorme Leistung darstellt. Nicht zuletzt, da jedes einzelne Monster noch
bis zu drei unterschiedliche Entwicklungsstufen erreichen kann, welche wiederum mit eigenen Namen versehen
werden (z.B. wird aus „Knofensa“: „Ultrigaria“ oder „Sarzenia“).
Eltern und Pädagogen verstehen gar nicht so richtig, was die Kinder da überhaupt machen. Sie sind schlichtweg
genervt und ärgern sich oft über die Erfindung der Pokémons.
Wären sie auch verärgert, wenn ein Schulbuchverlag die Idee zu dem Spiel gehabt hätte und die kleinen Monster
beispielsweise nach unregelmäßigen englischen Verben benannt hätte? Was wäre, wenn eine neue Schülergeneration
diese Hürde der englischen Sprache auf einmal ohne Probleme, sozusagen „spielerisch“ gemeistert hätte?
 Jürgen Sleegers, 2000
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Neben der intrinsischen und extrinsischen Motivation wären noch die „Lust-Frust-Spirale“ oder die Motive „Macht,
Kontrolle, Herrschaft“ als fundamental wichtige Faktoren zu nennen, die ein Spiel (und zum Teil auch Lernsoftware)
aus Sicht des Spielers spielenswert erscheinen lassen.
Lust-Frust-Spirale
• Balanceakt: Wechselspiel zwischen Unter- und Überforderung,
• zwischen Erfolg und Mißerfolg,
• zwischen guten und schlechten Gefühlen, zwischen ➫ Lust und Frust.
Macht, Kontrolle, Herrschaft
• Macht, Kontrolle und Herrschaft als zentrale Handlungsmotive, die von Computerspielen abgesprochen werden
• Grundmuster menschlichen Handelns
• Möglichkeit der Einflußnahme auf das Spiel.
• Transparenz der Handlungen, (konstruktives und differenziertes) Feedback des Programms.
• Strukturelle Koppelung (Virtualität / Realität)
• Metaphorischer Bezug
Was kann man in und durchs Computerspielen lernen?
Viele Kinder und Jugendliche sind begeistert von den neuen technischen Möglichkeiten und nutzen sie wie
selbstverständlich. Für sie gehören sie zu ihrem Alltag. Sie nähern sich dem Neuen unvoreingenommen und angstfrei.
Sie verstehen oft nicht die Befürchtungen und Vorbehalte ihrer Eltern oder Lehrer, genauso wie diese die jugendliche
Begeisterung, Faszination und Unvoreingenommenheit oft nicht teilen und verstehen können.
Das man in und durchs Computerspielen auch etwas lernen kann wird oft genug ignoriert, unterschätzt oder
geleugnet. Statt dessen werden lieber Negativbeispiele und vereinfachte Behauptungen aufgestellt (z.B.
Monokausalität zwischen 3D-Shootern und Gewalttaten). Im folgenden möchte ich nicht näher auf die zumeist im
Ergebnis unfruchtbaren und destruktiv geführten Diskussionen oder Berichterstattungen in den Medien eingehen. Ich
sehe zwar durchaus die Notwendigkeit, Grenzen zu stecken und das Thema (Gewalt in Computerspielen) weiter zu
diskutieren, doch mit einer starr bewahrpädagogischen Haltung und dem bloßen Aussprechen von, für Kinder und
Jugendliche oft nicht nachvollziehbaren Verboten alleine ist es nicht getan. Eine andere Form des Dialogs und eine
etwas vorurteilsfreiere Herangehensweise wäre sicherlich produktiver und würde aufzeigen können, daß es sich bei
dieser Art der Spiele nicht um den Löwenanteil der Computerspiele handelt und daß es durchaus genügend positive
Beispiele gibt, die erwähnenswert werden.
Der Ruf danach, daß Kinder und Jugendliche wenigstens etwas sinnvolles Lernen sollten, wenn sie schon soviel Zeit
vor dem Computer verbringen wird oft von der Forderung nach mehr Medienkompetenz begleitet. Die Rufe sind
mitunter sehr laut, dennoch fällt es schwer herauszuhören, was genau gefordert wird. In welchen Bereichen soll
überhaupt etwas gelernt werden? Wie soll das geschehen? Wie sollen mögliche Lernerfolge überprüft werden? Was
genau ist unter Medienkompetenz zu verstehen?
Um anzufangen, dies ein wenig zu konkretisieren, bediene ich mich in einem ersten Schritt einer Definition von
Gerald R. Hoelscher. Er faßt den Begriff der Medienkompetenz als einen Verbund dreier Teilkompetenzen auf und
beschreibt ihn wie folgt:
1. Wissenskompetenz:
Man muß wissen, aufgrund welcher Prinzipien Computer und Programme konstruiert werden. So kann sich ein
Verständnis dafür entwickeln, was sich beim Betrieb von Computern eigentlich abspielt.
2. Steuerungskompetenz:
Neben dem (passiven) Wissen über Computer ist ein hinreichendes Maß an konkreten Steuerungsfertigkeiten
erforderlich, die es möglich machen, einen Computer praktisch zu bedienen.
3. Bewertungskompetenz:
Neben den technischen Abläufen muß man die nicht-technischen, vor allem die sozialen und gesellschaftlichen
Begleit- und Folgeerscheinungen bei der Arbeit mit Computern begreifen, antizipieren und einordnen können.2
Betrachtet man sich in einem weiteren Schritt einmal die Computerspiele und beobachtet das Spielverhalten von
Kindern und Jugendlichen, so lassen sich folgende Punkte festhalten, die man durchs Computerspielen lernen kann:
 Jürgen Sleegers, 2000
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1.
Wissenskompetenz
Auf soziale Bereiche bezogen:
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(spielend) Spielen lernen
Mit Identitäten und Rollen spielen
Mit- und gegeneinander spielen
Teamfähigkeit (➫ Kommunikation)
Verlieren lernen
Prioritäten setzen
Verhandeln und sich arrangieren lernen
Den „Kampf um die Maus“ austragen
Grenzen kennenlernen, sich etwas zutrauen
Lernen und erfahren, „Dinge“ zu meistern und auch (erfolgreich) zu beenden
Auf kognitive Bereiche bezogen:
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Faktenwissen
Differenzierte Wahrnehmung
Aufmerksamkeitsfokussierung
Entscheiden und Selektieren zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen
Perspektivwechsel (dezentriertes Denken)
Logische Verknüpfungen (Wenn-Dann-Beziehungen)
unterschiedliche Problemlösungsstrategien werden gefordert und gefördert
Analytisches und operatives Denken
strategisches Denken
Syntheseprobleme (kreatives Denken)
Zusammenhänge und Wirkungsmechanismen können verdeutlicht werden
Schemata, Skripte (mit mögl. Transfereignung) können erlernt werden
2.
Steuerungskompetenz
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Allg. Steuerung- und Funktionsweise des Computers und der unterschied-lichen Hard- und Software
Installation im Allgemeinen, Hard- und Softwarekonfiguration etc.
Vom Speichern bis zur Eingabe von Cheats, Hex-Codes etc.
Handling (allg. die Bedienung und Steuerung), Auge-Hand-Koordination, (Sensumotorische Synchronisierung)
Veränderung und Erweiterung des Grundspieles (Leveleditoren etc.)
Programmteile extrahieren (Sounds, Screenshots etc. ➫ Weiterverwertung in Multimedia-Anwendungen etc.)
Möglichkeiten und Grenzen des Computers als All-in-one (Multimedia-) Gerät kennenlernen (Bild, Sound,
Animation, Video etc.)
3.
Bewertungskompetenz
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Qualität des Produktes (ab)zuschätzen
Qualität der Inhalte (ab)zuschätzen (➫ Normen, Werte, Moral, eigene Ansichten und Vorstellungen ➫ innere
Stellungnahme)
Qualität der Informationen (Vergleich mit anderen Informationsquellen)
•
„Der leicht erhobene pädagogische Zeigefinger“
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Computerspiele können keine direkten Erfahrung ersetzen, sie jedoch unter Umständen sinnvoll ergänzen.
Die „Spielregeln des Lebens“ sollte man immer noch in der Realität lernen.
Computerspiele dürfen nicht als einziges Referenzmedium dienen.
Lerninhalte aus Computerspielen sollten durch andere Informationsquellen ergänzt und überprüft werden.
Computerspiele und Lernprogramme sollten nicht zum Gegenstand von Belohnungs- und Bestrafungspraktiken
mißbraucht werden.
Vereinbarungen über Spielinhalte (Auswahl der Spiele), Spielzeiten- und dauer sollten gemeinsam ausdiskutiert
werden und nicht (ohne Begründung) vorgeschrieben werden (➫ Gefahr einer Trotzreaktion etc.)
Der Austausch (Kommunikation) mit anderen sollte nicht fehlen (dafür muß man auch kein „Spielefreak“ sein ➫
Eltern können und sollten sich erzählen lassen, was ihre Kinder gerne spielen und warum).
Rollentausch (Eltern können sich auch einmal etwas von den Kindern zeigen und erklären lassen, ohne gleich
ihre Autorität damit aufs Spiel zu setzen. ➫ Chance für Eltern und Kinder zugleich).
 Jürgen Sleegers, 2000
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Zwei Spielebeispiele
Bei der Auswahl der folgenden Beispiele habe ich bewußt „normale“ Spiele und keine Lernsoftware-Produkte
ausgewählt. Auch habe ich darauf geachtet, daß die Spiele(verpackungen) nicht mit verheißungsvollen Aufklebern
(„pädagogisch besonders wertvoll“ oder „Eine Stunde Spielen deckt den Tagesbedarf eines Heranwachsenden an
allem Wissenswertem“) darum betteln, von besorgten Eltern aus den Regalen gerissen und in den Einkaufskorb
gesteckt zu werden.
Darüber hinaus handelt es sich bei den Beispielen um Spiele, die sich trotz der fehlenden Aufkleber sehr gut auf dem
Spielemarkt behaupten konnten und gleichwohl Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene in ihren Bann gezogen
haben und dies noch immer tun..
Wettlauf ins All
„In einer lauen Sommernacht im Juni 1948 wird der Astronom Maximilian Fritz Zeuge eines sehr sonderbaren
Ereignisses. In seinem Teleskop beobachtet er, wie ein rätselhaftes Objekt mit riesiger Geschwindigkeit auf die Erde
zurast. Plötzlich kollidiert das Objekt mit einem Meteoriden und es zerspringt in drei Teile.
Was ist das nur für ein Ding? Wo kommt es her? Was steckt dahinter?“3
Die Ausgangssituation 4
30 Jahre später - ein Raumfahrer-Paradies ist entstanden
Das herauszufinden ist die Aufgabe des Spielers. Der Spieler beginnt im Jahre 1948 und muß dafür sorgen, daß die
wissenschaftlichen und technischen Grundlagen für Raumfahrt entwickelt werden, um dem Geheimnis auf die Spur zu
kommen. Doch die Signale aus dem All werden immer schwächer und so muß der Spieler gut überlegen, wie sein
nächster Schritt im Wettlauf ins All aussehen soll – denn Zeit und Geld rinnen nur so davon. Hilfreich und über das
Spiel hinaus lehrreich ist es, den unterschiedlichen Forschern genau zuzuhören, wenn sie wieder einen neuen Bericht
vorlegen.
Einer der vielen Forschungsberichte wird vorgetragen
Endlich - Die Mondlandung!
Wettlauf ins All führt den neuen Spieler mit einem spannenden Vorfilm schnell in die Story ein. Im Anschluß daran
wird dem Spieler leicht verständlich das Handling erklärt. Professor Maximilian, der die rätselhafte Beobachtung im
All gemacht hat, setzt voll auf die Unterstützung durch den Spieler. Mit seiner Hilfe hofft er, seine Theorie von einer
fremden Sonde, die von einem anderen Planeten zur Erde geschickt wurde, überprüfen zu können. Die Aufgabe des
Spielers besteht nun darin, das Forschungsprojekt richtig in Gang zu bringen und schnellstmöglich ins Zeitalter der
Raumfahrt aufzubrechen um die Trümmerstücke der Sonde bergen zu können. Nun muß der Spieler gut überlegen,
welche Forschungsaufträge der Sache dienlich sein könnten und in welcher Reihenfolge er sie vergibt. Ist eine
Forschung abgeschlossen, so erhält der Spieler einen gut formulierten und anschaulich bebilderten Forschungsbericht,
in dem man alle notwendigen Fakten erfährt, um das Projekt erfolgreich ans Ziel führen zu können.
Die Mischung aus spannender Story, erfolgreicher Umsetzung und wohl dosierter Mischung aus Lern- und
Spielelementen (Forschungsberichte und Ressourcen-management) sorgen für jede Menge Spielspaß.
 Jürgen Sleegers, 2000
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Ein besonderer Reiz liegt nicht nur darin, daß Spiel zu gewinnen, also vor Ablauf der Zeit dem Rätsel auf die Spur
gekommen zu sein, sondern sich darüber hinaus via Internet mit anderen zu messen und sein Ergebnis mit dem der
anderen „Raumfahrer“ zu vergleichen.
Kurzum, die Langeweile kann man auf den Mond schießen. Und eines der nächsten Wochenenden werde ich Prof.
Maximilian bestimmt wieder besuchen und ihm helfen – denn es muß doch möglich sein, in der Internet-HighscoreListe wieder ein paar Plätze nach vorne zu gelangen...
Was kann man in diesem Spiel lernen?
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Faktenwissen (Forschungsberichte)
Ressourcenmanagement (Geld / Zeit)
Entscheidungen treffen, Vor- und Nachteile abwägen, Prioritäten setzen
Strategisches, analytisches und operatives Denken
Analyse komplexer Zusammenhänge und Wirkungsweisen
Rollentausch (dezentriertes Denken)
Planvolles, zielgerichtetes Handeln
Ehrgeiz entwickeln (Highscore-Liste)
•
Beim Heranziehen anderer Informationsquellen, korrekte geschichtliche Einordnung der Eckdaten (z.B.
Mondlandung etc.)
Roller Coaster Tycoon
„Auf Ihrem Weg zu Ruhm und Reichtum bauen sie die größten, besten, imposantesten und furchteinflößensten
Karussells und Achterbahnen, die je gebaut wurden! Doch: Ist danach noch Geld in der Kasse? Haben Sie das Zeug
zum größten Roller Coaster Tycoon der Welt?“5
Parkübersicht
Eine neue Attraktion wird ausgewählt
Der Spieler übernimmt in diesem Spiel die Aufgabe einen Freizeitpark zu managen. Je nach Szenario kann diese
Aufgabe im erfolgreichen Betrieb und der Pflege eines schon vorhandenen Parks bestehen. In anderen Szenarien muß
ein Freizeitpark von Grund auf konzipiert und aufgebaut werden. Der Spieler muß eine durchdachte und gut
funktionierende Infrastruktur innerhalb des Parks schaffen. Attraktionen, Infostände oder Imbißbuden müssen
entwickelt und gebaut werden. Personal muß eingestellt werden, welches beispielsweise für die Reinigung der Wege
oder für die Sicherheit und Reparaturen an den Fahrgeschäften verantwortlich ist. Preise müssen kalkuliert werden,
Gelder werden in die Werbung oder in die Forschung (Erfindung neuer und Weiterentwicklung bestehender
Attraktionen) investiert. Und die ganze Zeit hat der Spieler die Möglichkeit, sich über den „gläsernen Kunden“ zu
informieren – wo er gerade ist, was er macht, wie es ihm geht, wieviel Geld er mit hatte, wieviel er bereits ausgegeben
hat, wofür er sein Geld ausgegeben hat, wie es ihm gefällt, was er denkt, was er machen möchte und nicht zuletzt, wie
es seinem Magen geht (der Übelkeitsfaktor, dargestellt durch eine entsprechende Gesichtsfärbung, gibt Auskunft
darüber, wie er die letzte Fahrt auf der Achterbahn verdaut hat). Wem das noch nicht genug ist, der kann sich, neben
vielen anderen Dingen zur Parkgestaltung, auch daran machen und eigene Attraktionen entwerfen. So kann man,
solange man über das nötige Kleingeld verfügt, eigene Achterbahnen konstruieren um diese anschließend seinem
(zahlenden) Publikum präsentieren.
 Jürgen Sleegers, 2000
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Personalmanagement
Der gläserne Kunde
Seinen eigenen Freizeitpark zu managen, ist keine leichte Aufgabe und fordert den Spieler permanent. Hat man
gerade etwas repariert, geht etwas anderes kaputt, ein Besucher verläuft sich oder eine neue Attraktion muß gebaut
werden, damit der Park auch weiterhin seine Kunden anzieht. Zum Glück hat der Spieler die Möglichkeit, seine kleine
Welt für einen Moment einzufrieren, um sich seine Finanzen und Statistiken in Ruhe anzuschauen zu können. Denn
jeder Schritt will wohl überlegt sein.
Hin und wieder allerdings sollte der Spieler auch seine Besucher ein wenig beobachten. Freudig kreischende
Achterbahnfahrer oder vergnügt umherspazierende Besucher können den gestreßten Manager leicht für seine
ständigen Bemühungen entschädigen. Dieser wird sich danach bestimmt unverzüglich daran machen, seinen
Besuchern noch etwas Besseres, Aufregenderes und noch nie Dagewesenes zu bescheren...
Was kann man in diesem Spiel lernen?
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Ressourcenmanagement
Strategisches und taktisches Denken
Analyse komplexer Zusammenhänge / Wirkungsweisen
Auf- und Ausbau einer funktionierenden und zweckgebundenen Infrastruktur
Entscheidungen treffen, Vor- und Nachteile abwägen, Prioritäten setzen
Preiskalkulationen, Verkaufstaktiken
•
nach einem Besuch der Realität (z.B. Phantasialand) ➫ Vergleich von Strategien und deren Umsetzung im
Computerspiel mit denen der Realität.
Entdecke die Möglichkeiten...
...dieser Werbeslogan eines schwedischen Möbelhauses bringt es auf den Punkt.
In den ´virtuellen Welten´ gibt es viel zu entdecken und auch zu lernen.
Kinder entdecken ihre Welt - und dazu gehören mittlerweile auch Computer und Computerspiele unvoreingenommen und spielerisch. Diese Herangehensweise sollte nicht direkt negativ gewertet werden. Viele
Erwachsene sollten eher versuchen, dies wieder ein Stück weit von ihren Kindern zu lernen. Und vielleicht steckt
sogar in manchen Erwachsenen noch ein wenig Pioniergeist und der Mut, neue (virtuelle) Welten zu entdecken.
Mit dem nötigen Verständnis für die Faszination der Kinder bezüglich der Computerspiele und selbst gemachter
Erfahrungen lassen sich Standpunkte weitaus besser (er)klären und ein konstruktive Auseinandersetzung (auch mit
den Kindern) kann beginnen.
»Aus der Art, wie das Kind spielt, kann man erahnen, wie es als Erwachsener seine Lebensaufgabe ergreifen
wird.«6
Rudolf Steiner
1
gefunden in: Döring, Sabine. Lernen durch Spielen. Beltz – Deutscher Studien Verlag. 1997
Hoelscher, Gerald R. Computer brauchen Kinder oder: Medienkompetenz fällt nicht vom Himmel. In: Schönweiss, Friedrich (Hrsg.): CD-ROM
Jugend und Neue Medien
3
Anfang der Spielbeschreibung von Wettlauf ins All (Terzio) auf der Spieleverpackung.
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Bildnachweis: Bei allen abgedruckten Bildern handelt es sich um Screenshots der genannten Spiele.
5
Anfang der Spielbeschreibung von Roller Coaster Tycoon (Hasbro) auf der Spieleverpackung.
6
gefunden in Duden: Zitate und Aussprüche. 1998. S.770.
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 Jürgen Sleegers, 2000
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