cat stevens biographie

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cat stevens biographie
Evang. Universitätskirche
St. Markus
GESANG
Wintersemester 01/02
BEGRÜSSUNG
G. F. Händel: Er weidet seine Herde
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
LEBENS-GESCHICHTEN
Liebe Gemeinde,
Prof. Dr. Ulrich Schwab
ich begrüße Sie zum Universitätsgottesdienst am 1. Sonntag n. Epiphanias
und heiße Sie heute hier in der Markuskirche herzlich willkommen. Ich bin
Ulrich Schwab und habe den Gottesdienst mit einem Team vorbereitet, das
aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lehrstuhls Praktische Theologie III
sowie aus Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines Seminars zum Thema
"Schulgottesdienste" besteht. Musikalisch begleitet wird der Gottesdienst von
Frau Bendrath mit Gesang und Herrn Kirchenmusikdirektor Böhnstedt an der
Orgel. Allen, die zum Gelingen dieses Gottesdienstes beigetragen, ein
herzliches Dankeschön. Dies gilt insbesondere auch für die Mitarbeiter der
Markusgemeinde, die uns im Anschluss zum Gottesdienst zu einer Tasse
Kaffee einladen möchten.
"Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder" lautet der
Wochenspruch nach Röm 8,14 für die kommende Woche. In dem "Kind-Sein"
klingen die Familiengeschichten ja schon an, die sich um Ahnen-Galerien unserem heutigen Thema - ranken können. Direkt nach dem "Liebesbrief" vor
Weihnachten und noch vor der "Zukunfts-Musik" in zwei Wochen wird heute
also die Familie mit ihren Geschichten und Traditionen, mit ihren Brüchen
und Krisen Leitmotiv dieses Gottesdienstes sein, der damit auch in der Reihe
der "Lebens-Geschichten" in diesem Semester steht. Mögen Sie dabei für sich
in diesem Gottesdienst etwas Inspirierendes finden.
Das erste Lied, welches wir ausgesucht haben, ist "Ubi caritas" . Wir wollen es
mit Ihnen mehrstimmig singen und Herr Böhnstedt wird die verschiedenen
Stimmen jetzt gleich mit uns:
Sonntag, 13. Januar 2002
GEMEINDE
EG 651 Ubi Caritas et amor (mehrstimmig)
LESUNG
Meine Genealogie – dreimal nachgedacht
Ahnen-Galerie
Wie lange studiere ich eigentlich schon? 4 Jahre, ja schon über 4 Jahre,
obwohl ich nach dem Abitur doch mit meiner Entscheidung total überfordert
war. Ich hatte damals nämlich Zweifel, ob ich das Richtige getan habe.
Ich stamme nämlich aus einer Kaufmannsfamilie: mein Ururgroßvater, mein
Urgroßvater, mein Großvater und mein Vater haben über eine Tradition von
250 Jahren das Kauf- bzw. Modehaus geführt. Jetzt wäre ich an der Reihe
gewesen.... Geschwister habe ich keine, meine Eltern dachten langsam an
Pensionierung... Was tun?
Verlangt haben sie es nie von mir das Geschäft weiterzuführen. Im Gegenteilder größte Wunsch meines Vaters war es zu studieren- er konnte es damals
nicht- aus familiären Gründen musste er als der älteste von fünf
Geschwistern das Geschäft übernehmen.
Jetzt sollte ich mir und meinem Vater diesen Wunsch erfüllen. Ich hab`s
getan und bis zum heutigen Zeitpunkt nicht bereut. Ich denke, es war gut soes muss ja einer wagen den Anfang zu machen und aus der Reihe zu tanzen.
Meine Eltern haben meine Entscheidung befürwortet und sind sogar ein
bisschen stolz auf mich.
Ich bin ...
... nicht der Sohn meines Vaters ... auch nicht der meiner Mutter
Wer kann schon mit letzter Genauigkeit sagen, wessen Kind er ist? Das von
meinem Vater bin ich jedenfalls nicht – so direkt. Tausend Dinge stören mich
an ihm, wie an mir selber, aber da sind auch tausend, die ich bewundere, wie
an jedem anderen mit diesen Eigenschaften auch. „Blutsbande sind eben
nicht aus Wasser.“ - Ich persönlich trinke Wasser ganz gerne. - mal ganz
davon abgesehen, dass ich mich nach einem Blutbad sicher das ganze Leben
mies fühlen würde ... –
Eigentlich bin ich ein Sohn von Flüchtlingen: Nach dem Widerruf des Ediktes
von Nantes wanderte eine Familie mit Namen Spiegel (Espiègle) aus
Frankreich aus, um in den damaligen Niederlanden Fuß zu fassen, damals
eines der reichsten Gebiete Nord-Europas. Der Name veränderte sich im
Laufe der Zeit.
Als nun mein Großvater vor der Wahrheit und mein Vater vor der sozialen
Wirklichkeit des damaligen Belgien ins Ausland floh, reihte er sich in eine
perfekte Geschichte seiner Ahnengalerie ein; die der Fliehenden - als Spiegel,
die auf der Straße spazieren gehen, sozusagen - um mit den Worten
Stendhals zu sprechen.
Ich bin nicht der Sohn meines Vaters. Uns trennen Raum und Zeit und,
wahrscheinlich, verbindet uns Blut.
Blut verbindet mich auch mit meiner Mutter und damit auch mit der
Muttermeiner Mutter usw. Nur kenne ich die Namen der Ihr-Blut-für-IhreKinderOpfernden nur bis in die zweite Generation vor mir. Sonst weiß ich
nicht viel von den alteingesessenen Eidgenossen aus dem schweizerischen
Jura, kaum eine Stunde Autofahrt von Zürich, wo Max Frisch einige Zeit als
Architekt gearbeitet hat und an seiner Umgebung fast verzweifelt ist.
Ihr Blut klebt auch an mir. Aber es wurde mir gleich nach der Geburt
abgewaschen.
Ich bin mir sicher, dass ich nicht der Sohn meiner Mutter bin. Zeit und Raum
trennen uns voneinander. Tausend Eigenschaften, die ich nie haben werde
und tausend, die ich habe, die sie nicht hat.
Mit ihrem Freund, den ich als meinen Vater kennen gelernt habe, jagten sie
lange Zeit durch die Welt. Von der Schweiz nach USA, nach Belgien,
Deutschland und schließlich Bayern, um auch von hier wieder das Weite zu
suchen. Kein Blut hielt sie und sie zusammen, so auch ich.
Ich bin nicht das Kind meiner Eltern. Kaum etwas hält mich und zurück das
zu sagen. Ich bin ein Espeel, obwohl ich nicht auf diesen Namen getauft
worden bin.
Ich trete wohl in die Fußspuren meines Vaters und meines Großvaters.
Ich bin Pfarrerin als Pfarrerstochter und Pfarrersenkelin.
Als meine Großmutter meinen ersten Gottesdienst erlebt hat, habe ich
gemerkt, wie wichtig ihr diese Fortführung der Familientradition ist.
Auch wenn mir das nicht so ganz passt mit den schon gemachten Fußspuren,
in die ich trete, - daran ist einiges wahr.
Immerhin konnte ich allerhand von meinem Großvater und vor allem von
meinem Vater übernehmen. Wenn man weiß wie teuer z.B. die Biblia
Hebraica und die Hebräisch- und Griechisch-Lexika sind, dann ist man
dankbar, sich nicht alles kaufen zu müssen, sondern sie aus dem
Familienbestand bekommen zu können. Auch andere theologische Bücher
habe ich gerne übernommen. Da war ich deutlich besser dran, als meine
Studienfreundin, die nicht aus einer Pfarrersfamilie kommt und deshalb viel
Geld in die teure theologische Literatur investieren musste.
Dadurch, dass ich Pfarrerstochter bin, war mir vor dem Vikariat auch schon
vieles aus dem Pfarrersalltag vertraut: Ich fühlte mich in der
gottesdienstlichen Liturgie zuhause, hatte am Telephon schon - sozusagen
gezwungenermaßen - einige Seelsorgegespräche geführt, wenn mein Vater
nicht zuhause war. Ich kannte mich im Ablauf von Kasualien aus, hatte eine
Ahnung von der Gestaltung von Seniorennachmittagen ... All das hat mir den
Einstieg in meinen Beruf erleichtert. Zudem ist immer jemand da, den ich um
Rat fragen kann.
Sicherlich stehe ich dadurch in der Tradition meines Vaters und Großvaters
und eigentlich bin ich auch stolz auf sie. Andererseits ist es mir wichtig,
eigene Fußspuren zu machen. Das geschieht aber fast von selbst: durch
meine eigenen Interessen, die sich von denen meines Großvaters und Vaters
unterscheiden; durch die veränderten Zeitumstände, die es nötig machen,
neue Wege zu suchen und sicherlich auch durch die Tatsache, dass ich eine
Frau bin und somit die erste Pfarrerin in der Familie.
Ich wünsche uns einen gesegneten Gottesdienst.
MUSIK
J. S. Bach: Siciliana in c-Moll
GEBET
Hier bin ich,
Gott,
so wie ich bin
Ich öffne mich deiner Nähe,
lass Ruhe in mich einkehren...
Stille
In Gedanken gehe ich zurück in die vergangene Woche,
manches beschäftigt mich noch...
Mit meiner Anspannung, mit meiner Ruhe,
mit meinen Traurigkeiten, mit meiner Freude.
Mit meiner Ungeduld, mit meiner Gelassenheit.
Gott, Quelle des Lebens,
reinige mich,
erneuere mich,
heile mich.
Amen.
(Nach einem Gebet in: Wenn Himmel und Erde sich berühren. Texte, Lieder
und Anregungen für Frauenliturgien. Gütersloh 1993)
MUSIK:
J. S. Bach: Adagio in g-Moll
LESUNG
Römer 8, 12-18
So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, daß wir nach dem
Fleisch leben.
Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr
aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben.
Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch
abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist
empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.
Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und
Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur
Herrlichkeit erhoben werden.
Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen
gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.
Stille
GLAUBENSBEKENNTNIS
Hier bin ich,
Gott,
so wie ich bin.
MUSIK
Father and Son
Cat Stevens: Father and Son
It's not time to make a change, just relax take it easy
you're still young, that's your fault,
there's so much you have to know.
Find a girl, settle down, if you want you can marry
look at me, I'm old, but I'm happy.
I was once like you are now and I know that it's not easy
to be calm when you've found something going on.
But take your time, think a lot, think of everything you've got.
For you will still be here tomorrow, but your dreams may not.
How can I try to explain, cause when I do he turns away again.
It's always been the same, same old story.
From the moment I could talk I was ordered to listen,
now there's a way and I know that I have to go away,
I know, I have to go.
It's not time to make a change just relax take it easy
you're still young, that's your fault,
there's so much you have to know.
Find a girl, settle down, if you want you can marry
look at me, I'm old, but I'm happy.
I was once like you are now and I know that it's not easy
to be calm when you've found something going on.
look at me, I am old, but I'm happy.
All the times, that I've cried, keeping all the things I knew inside
it's hard, but it's harder to ignore it.
If they were right I'd agree, but it's them they know not me
now there's a way and I know that I have to go away.
I know, I have to go.
PREDIGT
Liebe Gemeinde,
mit den eigenen Vorfahren ist das so eine Sache - sie sind da und wir müssen
uns zu ihnen verhalten. Sie gehören zu uns. Meine 9jährige Tochter brachte
das auf den einfachen Satz: "Ohne unsere Ahnen wären wir nicht da." Da hat
sie recht. Jeder von uns ist Teil einer bestimmten Familiengeschichte. Davon
haben wir zu Anfang gehört: die Tochter der Kaufmannsfamilie, die mit dem
Studium Neuland betritt, der Sohn der Hugenottenfamilie, den Zeit und Raum
von seiner Familiengeschichte trennen, und die Tochter und Enkelin einer
Pfarrersdynastie, die die Familientradition fortführt - und dabei doch als Frau
auch neue Wege geht. Das sind drei Beispiele. Jeder von uns könnte seine
noch hinzufügen. Eine Familiengeschichte zu haben, sich der Ahnen zu
vergewissern, das ist für viele Menschen heute ein spannendes Hobby
geworden. Die Ahnenforschung boomt, inzwischen gibt es sogar eigene
Zeitschriften und eine Flut an einschlägiger Literatur, die uns dabei behilflich
sein wollen, die Familiengeschichte aufs Papier zu bringen. Es gibt
offensichtlich eine Sehnsucht, nicht allein zu stehen, sondern sich selbst als
Teil eines größeren Zusammenhangs verstehen zu können. Der Marburger
Praktische Theologe Henning Luther sah im Bemühen um die eigene
Biographie zumindest ein religionsähnliches Bedürfnis. Die eigene
Individualität wird eingebunden in den Kosmos der Familienbiographie.
Dadurch werden Bezüge hergestellt, die helfen, die Kontingenz unseres
Daseins zu bewältigen. Familiengeschichten verschaffen also Lebenssinn,
indem sie die Begrenztheit der eigenen Existenz entgrenzen und so über die
Schwelle des Todes hinaus einen größeren Zusammenhang aufweisen.
Natürlich kann es einem zur Ehre gereichen, das jüngste Glied in einer langen
Kette gefeierter Vorfahren zu sein. Sich im Glanze der Ahnen zu sonnen, ist
allerdings meistens nur dann so richtig gut, wenn der Glanz schon weiter
zurück liegt. Wer sich die Geschichte solcher gefeierten Familien ansieht, der
stößt leicht darauf, dass es manchmal auch sehr schwer ist, eine
Familientradition auszuhalten. Die Kinder berühmter Eltern haben es in der
Regel eher schwer. Es spricht in der Regel keiner so direkt darüber, aber man
spürt doch die Erwartung, ebenfalls großes zu leisten. Wie ein unsichtbares
Band legt sie sich über die eigene Lebens- und Berufsplanung. Das kann sehr
lähmend sein.
Dann gibt es aber auch dunkle Seiten in der Familiengeschichte, die
manchmal wie ein Albtraum über der Familie hängen. Wir wissen heute, dass
die Enkel der Nazigrößen noch mit den Taten ihrer Vorfahren zu ringen
haben. Es ist auch hier nicht einfach, seinen eigenen Weg zu gehen, sondern
auch hier legt sich die Familiengeschichte wie ein unsichtbares Band um die
Nachfahren und lässt sie nicht los - leicht bis ins dritte oder vierte Glied.
Keiner fängt mit Null an, und schon gar nicht der, der nichts mehr mit seiner
Familie zu tun haben will. Der ist dauernd mit ihr beschäftigt und wird sie so
gar nicht los.
Jahre einer Kindheit in Ghettos, Vernichtungslager und auf der Flucht zu
durchstehen.
Familiengeschichten bilden - so oder so - den Rahmen, in dem wir
aufwachsen. Sie erzählen davon, wie unsere Vorfahren ihr Leben gelebt
haben und was als Erbe an die nächsten Generationen weiter gegeben wurde.
Familiengeschichten zeigen uns, dass wir eine Vergangenheit haben, die auf
uns gekommen ist. "Ohne unsere Ahnen wären wir nicht da." Sie haben uns
den Weg geebnet. Sind wir also dann bloß ein weiteres Rädchen in der
never-ending-story unserer Ahnen? Oder ist es wie in dem alten GermanenKult, wonach alles daran gelegen ist, die eigenen Ahnen zu besänftigen,
damit sie einem nicht ständig ins Leben pfuschen?
Familiengeschichten haben eine starke Kraft. Sie sind nicht harmlos. Die
Geschichte von Ruth Klüger lehrt uns aber noch ein weiteres.
Familiengeschichten entstehen nicht einfach aus dem Nichts. So wie die
Geschichten Herr über die Familie sein können, können auch die Familien
Herr über die Geschichten sein. Es wird ja längst nicht immer und zu jeder
Zeit alles erzählt, was die eigenen Ahnen betrifft. Vielmehr werden
Familiengeschichten von uns auch konstruiert. Ruth Klüger hat "in Abwehr"
zur Geschichte ihrer Familie gefunden und hat daraus ihre Stärke entwickelt.
Vorher war ihr dieser Teil der Familie unwichtig gewesen. Jetzt legt sie
gerade darauf wert. Wir wählen also Zeitpunkt und Inhalte aus, um aus den
Geschichten unserer Ahnen eine Familiengeschichte entstehen zu lassen. Ob
wir nun etwa nur den männlichen Teil der Familiengeschichte
berücksichtigen, weil hier traditionell der "Name" vererbt wurde, oder ob wir
aus Scham oder Gram bestimmte Teile bewusst auslassen, sie nicht als Teil
unserer Vergangenheit akzeptieren wollen. So schreiben wir unsere
Geschichte selbst und entsprechen damit wiederum dem Typus des modernen
Sinnsuchers, der sich nicht auf Vorgegebenheiten berufen will, sondern den
Sinn vorwiegend selbst zu konstruieren versucht. Familiengeschichten sind
immer auch unsere Geschichten, so dass eben doch auch der oben zitierte
Spruch meiner Tochter umgekehrt gilt: "Ohne uns wären unsere Ahnen nicht
da!"
Es ist noch gar nicht so lange her, da war die Familiengeschichte in
Deutschland mehr als ein schönes Hobby, da ging es dabei um Leben und Tod.
Da hieß das Motto: "Ohne die richtigen Ahnen hast du kein Recht, hier zu
sein!" und jeder war gezwungen, sich den Nachweis seiner deutschblütigen
Herkunft vom Standesamt bestätigen zu lassen.78 Ahnen konnten und
sollten in den staatlichen Ahnenpass eingetragen werden, um die eigene
Reinrassigkeit zu belegen. Wer das nicht konnte, und insofern als "Mischling"
oder "Fremdrassig" galt, der hatte sein Recht in Deutschland verwirkt. Ruth
Klüger hat in ihrem mich tief beeindruckenden Buch "weiter leben"
beschrieben, wie dieser Wahnsinn dazu führte, dass sie als Kind nach
Theresienstadt und Auschwitz kam, wie sie dieser Hölle schließlich entkam,
um auch danach als "displaced person" noch lange nicht das Gefühl
entwickeln zu können, einen Platz für sich gefunden zu haben. Sie beschreibt
ihre Kindheit in Wien in einer vom liberalen Judentum geprägten Familie.
Nach "dem Anschluss" 1938 änderten sich plötzlich die Bedingungen ihres
Aufwachsens grundlegend. Die Diskriminierung der Juden durch die Nazis
erlebte das Kind als Diskriminierung ihrer Familie und Verwandtschaft. Das
war konkret, das war für sie erfahrbar. Die Geschichte der eigenen Familie
wurde ihr erst jetzt, da man sie ihr spürbar schlecht machte, wichtig, ja sie
schreibt: "Und nun, als mein ungefestigter Glaube an Österreich ins
Schwanken geriet, wurde ich jüdisch in Abwehr." (weiter leben, 41). Das Kind
entwickelt seine Identität von nun an in Abwehr der Bedrohung. Zu denen,
die sie und ihre Familie offensichtlich nicht wollten, will sie nun selber nicht
mehr gehören. Das Judentum wird für das liberal aufgewachsene Kind erst
jetzt zu einem bewussten Teil der Geschichte ihrer Familie, wird für sie zu
einer Quelle der Kraft, die ihr hilft, den schrecklichen Weg der folgenden
So wie damit die Vergangenheit durch uns mitbestimmt wird, scheint dies
auch für die Zukunft nicht ohne Belang zu sein. In dem Moment, in dem wir
Kinder bekommen, rücken wir selbst ein in den Status eines Ahnen, schaffen
uns Raum in der Vergangenheit - ob wir das wollen oder nicht. In unseren
Kindern entdecken wir, dass wir nicht nur das letzte Glied in der Reihe der
Ahnen sind, sondern dass wir - nun selbst als Ahnen - auch selbst zur
Ursache für neues Leben geworden sind. Wir tun dies für gewöhnlich nicht
ohne unsere Erblast an den Nachwuchs zu formulieren. Ich glaube nicht, dass
es Eltern gibt, die nicht doch auch Vorstellungen darüber entwickeln, was aus
den Kindern werden soll. Und wenn man Kinder verantwortungsvoll erziehen
will, dann geht das auch gar nicht anders. Trotzdem ist es nicht immer leicht
mit diesem Erziehungsbild. Eine Mutter beklagte sich einmal bei mir über
ihren Sohn, indem sie sagte: "Jetzt habe ich ihn immer frei erzogen - und nun
macht er, was er will!" Natürlich wollen wir unsere Kinder sich frei
entwickeln lassen - aber trotzdem wäre es schön, wenn sie dabei das eine
oder andere doch von uns annehmen würden. Schließlich haben wir
Erfahrung, schließlich wissen wir um die Gefahr und wollen ihr unser liebstes
nicht preisgeben! Aber die Kinder sind nicht immer bereit, willig darauf zu
hören. In dem eingespielten Lied von Cat Stevens wird der harte Konflikt
zwar musikalisch romantisch umspielt, aber letztlich doch auch klar benannt:
"Wie soll ich es ihm nur klar machen" - sagt der Sohn über seinen Konflikt
mit dem Vater, "dass da ein Weg ist und ich jetzt zu gehen habe". Jeder, der
Erfahrungen mit Kindern in der Pubertät bzw. Adoleszenz besitzt, weiß, dass
diese Ablösungen nicht ohne für beide Seiten schmerzliche Konflikte
abgehen. Wir haben uns in diesem Semester in einem Oberseminar mit
neueren Ansätzen der Entwicklungspsychologie befasst. Die
Psychoanalytikerin Louise Kaplan spricht im Zusammenhang mit der
Adoleszenz von einem "Schlachtfeld der Gefühle", auf dem Eltern und Kinder
sich hier begegnen. Und glaube keiner, dass er das mit viel Vernunft und
rationalem Kalkül - etwa im Sinne von "wir können doch wie normale
Menschen miteinander reden" - auf die Reihe bekommt. Das klappt nicht,
kann gar nicht klappen, weil das Schlachtfeld der Gefühle nach Wut schreit
und nicht nach Besonnenheit. Die kommt später - hoffentlich! Es kommt
alles darauf an, dass die Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit ihrer
Familie die Chance haben, selbständig zu werden. "Gäbe es keine
Adoleszenzphase", so Kaplan, " so wären wir allesamt gehorsame Mitglieder
der Gesellschaft...". Frei wird man offensichtlich nicht durch Geburt, sondern
dadurch, dass man sich die Freiheit erkämpft - auch und vor allem in der
Auseinandersetzung mit der eigenen Familie. Das ist schmerzlich - und zwar
nicht nur für die Eltern allein. Kaplan zeigt sehr schön, dass diese Konflikte
bei Eltern und Kindern Trauer hervorrufen, weil sie beide Abschied nehmen
müssen von der Vertrautheit einer einmaligen Beziehung - und niemand
weiß, wie und auf welche Weise sich dies wird einmal fortsetzen lassen. Man
muss die Kinder ziehen lassen und es ist eben nicht gesagt, dass sie nicht
wirklich davon ziehen. Es sei wie eine 2. Chance für die Jugendlichen, sagt
Kaplan, weil sie die Konflikte der Kindheit nun noch einmal auf neue Weise
durcharbeiten können. Ich möchte hinzufügen, dass die Jugendlichen den
Eltern damit aber auch so etwas wie eine "3. Chance" im Leben bieten, weil
durch die Ablösung der eigenen Kinder auch der eigene Lebensentwurf noch
einmal neu hinterfragt werden kann. So prägen die Kinder schließlich auch
uns, die Eltern, indem sie uns auf das Schlachtfeld der Gefühle zwingen und
uns dabei helfen, uns zu öffnen und auch uns selbst neu zu orientieren.
Niemand, der sich nicht völlig davor verschließt, geht wohl aus einer solchen
Schlacht unverändert heraus. So erweisen uns die Kinder letztlich einen
Dienst, indem sie unsere beste Brücke zur Zukunft darstellen. Unsere Ahnen
verbinden uns mit dem Gestern, aber unsere Kinder öffnen uns den Blick für
das Morgen - auch wenn es manchmal wirklich schwierig ist.
Jetzt fehlt mir noch die Mitte, aus der heraus wir unser Leben zwischen
Ahnen und Nachkommen leben. In einer Passage wie Röm 8, die wir vorhin
gehört haben, wird deutlich, dass wir unser Leben und unsere
Familiengeschichten noch einmal eingebettet wissen in der größeren
Geschichte Gottes mit den Menschen. Dass Gott uns an Kindes statt
annimmt, wir also auch so etwas wie Teil einer heiligen Familie sind, ist mir
wesentlicher Grund dafür, dass ich mich sowohl meinen Ahnen als auch
meinen Nachkommen in Offenheit zuwenden kann. Wohlgemerkt, Kinder
Gottes sind wir nicht schon immer, sondern diese Kindschaft ist uns
geschenkt in unserer Taufe. Sie ist sichtbares Zeichen für die Zuwendung, die
Gott uns Menschen gewährt. Noch bevor ich es zu Ende gelebt habe, wird
mein Leben damit schon von Gott angenommen. Das bedeutet keinen
Freibrief für jegliches Tun, wohl aber die Zusage, dass er sich meinem Flehen
nicht verschließen wird. Das schafft einen freien Geist. Für die leiblichen
Eltern wird in der Taufe deutlich, dass dieses Kind nicht nur "ihr" Kind ist,
sondern schon jetzt auch in einer die eigene Familiengeschichte
übersteigenden Tradition steht. Für viele Eltern ist die Taufe ja so etwas wie
ein "Schutzritus", den sie dem Kind zukommen lassen möchten. Martin Luther
hat immer betont, dass die Taufe ein Zeichen für die Versöhnung ist, die Gott
schon am Menschen getan hat Die Taufe zeigt den Eltern, dass sie nicht
alleine stehen, wenn es um dieses Kind geht. Das schenkt Entlastung. Das
Kind ist eben nicht nur auf die Familie verwiesen, sondern es ist nun auch
Gottes Kind, welches da aus dem Becken herausgehoben wird. Damit steht es
in der Tradition der Freiheit und in dieser Freiheit soll es sein Leben leben,
mit, neben und trotz der Ahnen, die ihm da auf die eine oder andere Weise
begegnen werden. Es bleibt dabei: ohne unsere Ahnen wären wir nicht da aber als Gottes Kinder sind wir nicht auf die Ahnen verpflichtet, sondern auf
den Geist Gottes, der uns immer wieder neu den Weg der Freiheit weist. Das
sei unsere Zuversicht für und für. Amen.
GEMEINDE
Meine Zeit steht in deinen Händen
FÜRBITTEN
Für uns alle: dass wir eine gemeinsame Geschichte erhalten,
so dass wir und unsere Nachkommen das Privileg erhalten, sich
nicht nur in häuslicher Atmosphäre,
sondern auch in der sog. öffentlichen Welt
an Männer und Frauen gemeinsam zu erinnern.
Herr wir bitten dich: erhöre uns
Gott,
es gibt Ahnen, an die wir uns nicht gerne erinnern.
Wir können Ihre Ansichten und Handlungen nicht gutheißen.
Wir wissen nicht, weshalb sie so dachten, so handelten.
Von manchen dieser Ahnen mögen wir gar nichts wissen.
Und doch sind auch sie, genauso wie unsere "guten" Ahnen, ein Teil dessen,
wer wir sind.
Bitte zeige uns einen Weg, wie wir mit diesen Ahnen umgehen können.
Hilf uns Frieden mit ihnen zu finden, ohne unsere Schwierigkeiten mit ihnen
zu verdrängen.
Hilf uns auch diese Ahnen als einen Teil von uns annehmen zu können, ohne
ihre problematischen Seiten schönzureden.
Herr wir bitten dich: erhöre uns
Gott, du Quelle allen Lebens,
wir bringen heute unser Leben vor dich:
dort wo es gelingt,
und dort, wo es misslingt.
Manchmal kommt uns unser Leben vor
wie ein schönes Spiel.
Lass uns darüber nicht vergessen,
dass es aus deiner Hand kommt.
Manchmal lastet unser Leben
wie ein Albtraum auf uns.
Sei uns nahe als der,
der uns in unserem Leben trägt.
Gib allem Leben auf Erden eine Orientierung:
die uns hilft,
wo wir unseren Weg aus dem Auge verlieren;
die uns Kraft verleiht,
wo wir in unserer Mutlosigkeit zu versinken drohen;
die uns anderen Menschen an die Seite stellt,
wo wir an uns selbst zu ersticken drohen.
Herr wir bitten dich: erhöre uns!
VATERUNSER
SEGEN
GESANG
W. A. Mozart: Alleluja
Gestaltung des Gottesdienstes:
Prof. Dr. Ulrich Schwab (Predigt und Liturgie)
Julia Berwig, wiss. Mitarbeiterin (Liturgie)
Ulrich Espeel, stud.phil. (Musik und Lesung)
Andrea Fleck, stud.phil (Lesung)
Lars Müller-Marienburg, stud.theol. (Musik und Liturgie)
Sascha Clement (Gebet)
Pfrin z. A. Andrea Rückert, wiss. Mitarbeiterin (1. Lesung)
Gesang: Juliane Bendrath, Sopran
Orgel: KMD Holger Boenstedt