Ein Paddelabenteuer an Kanadas Westküste

Transcrição

Ein Paddelabenteuer an Kanadas Westküste
Mit dem seekajak den Queen Charlotte Islands entlang
Ein Paddelabenteuer an Kanadas Westküste
text und bilder von Jörg Knorr Wenn Vater und sohn zusammen sechs Wochen auf grosse tour gehen, 24 stunden zusammen sind, sich gemeinsam durch Wind und Wetter kämpfen müssen, kann das gut gehen? Jörg und hannes Knorr wagen den Versuch und paddeln los, um mit ihren seekajaks haida Gwaii, die früheren Queen Charlotte Islands, im Nordwesten Kanadas zu erkunden. Neben grossartigen Naturerlebnissen wartet aber auch ein mentales Abenteuer auf das Vater-sohn-team.
N
ovember 2008: Wir sitzen
am Küchentisch und reden über Zukunftspläne.
Wir, das sind meine Frau
Kerstin, mein 20-jähriger
Sohn Hannes und dessen
Freundin Sassi. Hannes
macht gerade seinen Zivildienst und will im
Oktober 2009 ein Studium beginnen. Er und
Sassi sind sich noch nicht sicher, was sie im
Sommer anstellen sollen. Eigentlich will ich
Hannes fragen, ob er Lust hat, mit mir in Kanada zu paddeln, denn für mich steht seit ei-
52 GLOBETROTTER-MAGAZIN herbst 2011
nigen Wochen fest, dass ich die Queen Charlotte Inseln im Kajak erkunden möchte. Aber
erst will ich sicher gehen, dass Hannes eine
Vorstellung davon bekommt, worauf er sich
einlassen würde. Ich schildere die Wetter- und
Seebedingungen meines Paddelziels übertrieben negativ: «Der Sommer dort hat nicht viel
mit unserem europäischen Sommer zu tun.
Temperaturen um die 15 Grad Celsius gelten
schon als warm. Es regnet sehr viel und die
Wellen, vor allem an der offenen Pazifikküste,
verlangen dem Paddler einiges mehr ab als auf
der Ostsee.» Ich verschweige aber auch die po-
sitiven Aspekte nicht und schwärme von weiter,
wilder, menschenleerer Landschaft, von Bären,
Walen, Adlern und Seelöwen. Dann mache ich
eine kurze Pause und frage Hannes: «Hast du
Lust, mitzukommen?» Hannes weiss, dass die
Frage ernst gemeint ist. Er überlegt, Sassi und
Kerstin gucken skeptisch. Lange Sekunden später sagt er: «Ja!» Natürlich habe ich auf eine
positive Antwort gehofft. Dass sie so schnell
kommt, überrascht mich aber doch etwas. – Ich
sehe uns schon ganz euphorisch an Kanadas
Küste entlang paddeln. Vier Wochen später
sind die Flüge und die Fährpassage gebucht.
nordamerika
Da ich bei einer Flensburger Werft arbeite,
kann ich meine Kontakte nutzen. Anfang 2009
liefert die Werft das Fährschiff «Northern Expedition» an die kanadische Reederei BCFerries. Damit können unsere Kajaks nach Kanada
verschifft werden. BCFerries wird auch den
Transfer nach Haida Gwaii – «Inseln der Menschen», wie die dort lebenden Haida-Indianer
die Queen Charlotte Islands nennen – regeln.
So gebe ich, auch als Dank an BCFerries, unserem Reiseprojekt den Namen «Northern Expedition – Haida Gwaii».
Die Expedition beginnt. Im Juni 2009 kommen wir in Kanada an. Nach der Überfahrt von
Prince Rupert an der Westküste British Columbias nach Skidegate Landing auf Haida Gwaii
verlassen wir die Fähre. Ich bin das erste Mal
auf einer wirklich langen Tour zusammen mit
Hannes unterwegs.
Bei Queen Charlotte City setzen wir unsere
schwer beladenen Kajaks endlich ins Wasser
und paddeln los, der Ostküste Moresby Islands
entlang nach Süden. Wir haben Verpflegung
für drei Wochen dabei. Zum Glück sind unsere
Lettmann-Baikal-Seekajaks wahre Frachter,
wie geschaffen für ein Kanu-Trekking.
Ganze 12 Grad Celsius zeigt das Thermometer. Es nieselt. Weite Uferbereiche sind in
einen Schleier aus Dunst und Wolken gehüllt.
Wir tauchen ein in eine andere Welt und paddeln dicht bewaldeten Ufern entlang. Nach
etwa sechs Stunden beenden wir den ersten
Kanadische Wasserweiten. Paddeln zu neuen
Horizonten (oben).
Alle Siebensachen? Das organisierte Beladen
der Kajaks muss gut durchdacht werden (rechts).
Überfahrt mit der Fähre. Auf gehts vom
kanadischen Festland auf die Inseln (unten).
Paddeltag – mit viel Regen, aber nur mässigem Wind – der uns noch nicht viel abverlangte. Wir sind auf dem Weg! Gut, dass
vier Hände mehr tragen können als zwei,
denke ich, als wir abends die etwa 85 Kilo
schweren Kajaks auf den Strand nahe der
Mündung des Copper River schleppen.
Eine halbe Stunde nach dem Zeltaufstellen haben wir wieder trockene Klamotten an, wärmen uns mit einem heissen Tee
und geniessen die fantastische Stille. Nebelbänke ziehen langsam zwischen den
Bergen hindurch. Wie Watterollen liegt
der Dunst über dem Wasser. Wir können
uns kaum satt sehen. Ich komme mir vor,
als würde ich in einem Bildband blättern.
Aber das hier ist real. Ein Kribbeln durchfährt meinen Körper. Es fühlt sich verdammt gut an. Auch Hannes ist spürbar
beeindruckt. Etwas später sitzen wir am
Lagerfeuer und geniessen eine selbst zubereitete, üppige, warme Mahlzeit.
Richtung Süden. Nach der Querung des
Cumshewa Inlets machen wir in Skedans,
einem Watchmen-Camp auf Louise Island,
Halt. Diese Camps in alten, traditionellen
53
Haida-Dörfern sind heute nur noch von Frühling bis Herbst bewohnt. Früher wurden hier
Wachmänner an strategischen Punkten des
Dorfes positioniert, um die Dorfgemeinschaft
zu warnen, wenn Gefahren drohten.
Freundlich begrüssen uns Derek (7) und
Blake (11) und deren Mütter Dug Soop und
Aritha, zwei der «Watchmen» von Skedans, mit
denen wir gleich ins Gespräch kommen. Die
zwei Haida-Kinder bekommen ganz leuchtende Augen, als sie unsere Kajaks aus der
Nähe betrachten. Fünf Minuten später paddeln
sie mächtig stolz und glücklich durch die
Bucht.
Dug Soop und Aritha laden uns ein, die
Nacht im Gästehaus zu schlafen. Dug Soops
Vater hatte 16, ihre Mutter 12 Geschwister, und
ihr Grossvater war Chief in Skedans. Aritha
zeigt uns einen fast fertiggestellten Umhang,
den sie zu traditionellen Zeremonien in Masset,
ihrem Heimatdorf, tragen wird. Am meisten
beeindrucken uns aber die alten Totempfähle,
die sich Richtung Erdboden neigen oder als
sogenannte «Nurse Logs» am Boden liegen,
dick von Moos bewachsen sind, und Nährboden für neue Vegetation bilden.
Als wir abends zusammensitzen, kann Dug
Soop es noch immer kaum fassen, dass sie hier
mit zwei Typen aus Deutschland über Gott und
die Welt redet. Wir müssen viel von Europa
erzählen und bekommen dafür eine Lehrstunde in Haida-Geschichte aus erster Hand.
54 GLOBETROTTER-MAGAZIN herbst 2011
Gudal Bay. Inmitten von Wildnis und Einsamkeit
lassen es die beiden Kajaker gemütlich angehen.
Ihre beiden «Frachter» warten derweil geduldig auf
die Weiterfahrt (oben).
Während der folgenden drei Tage kommen
wir an Talunkwan Island und Tanu Island vorbei, paddeln durch die Shuttle Passage und
übernachten auf der grössten der Bischoff Islands. Wir sind im National Park Reserve
Gwaii Haanas, was Insel der Wunder bedeutet,
angekommen. Ein starker Westwind, der uns
ein sicheres Weiterkommen zu schwer macht,
zwingt uns, eine zweite Nacht auf den Bischoffs
zu verbringen. – Zelten ist in der Wildnis praktisch überall möglich, mit Ausnahme der
Watchmen-Camps. Allerdings dauert es
manchmal bis zu einer halben Stunde, bevor
wir für unser vier Meter langes Tunnelzelt einen
geeigneten ebenen Platz gefunden haben. – Wir
erkunden die Insel und vertreiben uns die Zeit
mit Schach und Dame spielen. Ich aktualisiere
mein Tagebuch und bringe Gedanken, die
mich bewegen, zu Papier. Hannes ist nicht ganz
schuldlos daran. Ich geniesse die Tage mit ihm
sehr.
Das Wetter bessert sich und das Weiterpaddeln fällt uns leicht. Ein sanfter Wind schiebt
uns weiter nach Süden durch die Burnaby
Strait, die zu den weltweit nährstoffreichsten
Meeresströmungen zählt. An der Südostecke
von Moresby Islands hören wir plötzlich ein
Schnaufen. Gespannt schauen wir uns um. Ein
Grey, wie die Nordamerikaner die Grauwale
nennen, ist in einigen Hundert Metern Entfernung auszumachen. Wir sehen gerade noch
seine gewaltige Schwanzflosse abtauchen, dann
ist er weg.
In Rose Harbour, einer Bucht am Südzipfel
der Inseln, treffen wir Götz Hanisch, ein Deutscher, der sich vor 26 Jahren hier niedergelassen hat. Es wird eine lange Nacht in seinem
selbst gezimmerten Haus. Er erzählt uns packende Geschichten bis morgens um zwei Uhr.
Trotzdem bekommen wir nur ansatzweise eine
Ahnung davon, was es heisst, hier draussen in
der Wildnis zu (über-)leben. Lediglich drei
Personen wohnen hier unten. Während der
Sommersaison kommen Touristen mit Powerbooten, Wasserflugzeugen und vielleicht mal
ein paar Kajaks vorbei. Im Winter kommt niemand.
Von Rose Habour aus paddeln wir zur Insel
Sgang Gwaii. – Ein absolutes Muss! In Ninstints
steht nämlich die grösste Ansammlung alter
originaler Haida-Totempfähle. 1981 wurde das
alte Haida-Dorf von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Unsere Boote legen wir auf einen kleinen Strand am Ostufer der Insel, folgen
einem Pfad und stehen bereits nach fünf Minuten vor den Pfählen. Stille liegt über dem Ort,
nichts lenkt unsere Aufmerksamkeit ab. Die
Details der geschnitzten Figuren sind trotz ihres Alters und des Wetters, das Jahr für Jahr an
den Pfählen nagt, gut zu erkennen.
nordamerika
Die Ostküste hinauf. Die Westküste
bietet bei kräftigem Nordwestwind nur
wenige sichere Anlandemöglichkeiten,
und so paddeln wir dieselbe Route, die
wir gekommen sind, wieder zurück
nach Norden. Bei Benjamin Point sehen wir den ersten Schwarzbär. Er
taucht abends auf, als wir am Lagerfeuer sitzen, lässt sich von uns aber nicht
stören. Gespannt beobachten wir ihn.
Irgendwann verschwindet er wieder im
Wald.
Auf Hot Spring Island genehmigen
wir uns in den heissen Pools ein Bad
mit einmaligem Panoramablick auf die
Küstenberge. Schöner kann baden
kaum sein. Wir paddeln weiter zur
Windy Bay auf Lyell Island, abermals
ein Watchmen-Camp, wo man in einem traditionellen Langhaus übernachten kann. Al und sein Enkel Josh
empfangen uns. Gladys, Als Frau, zeigt
uns das Langhaus. Abends sitzen wir
mit den beiden 60-Jährigen in ihrem
Watchmenhaus zusammen. Gladys –
oder Jiixa, wie ihr Haida-Name ist – ist
Weblehrerin. Sie beherrscht die Fertigkeit, aus Zedernrindenstreifen kleine
Kunstwerke zu schaffen. Wir sehen ihr
zu, wie sie an einem Haida-Hut arbeitet,
und Al erzählt aus seiner Holzfällerzeit.
Als wir uns zum Schlafen verabschie-
den wollen, schenkt uns Gladys einen von ihr
aus Zedernrinde geflochtenen Frosch. Ein besseres Reisesouvenir könnten wir nicht mit nach
Hause bringen. Mit den Worten «German
Handcraft of Canadian Red Cedar» revanchiere ich mich mit einem selbst geschnitzten
Vogel, den ich schon seit gut einer Woche in
der Hosentasche mit mir herumtrage. Gladys
freut sich sichtlich.
Nach einer erholsamen Nacht und einem
reichhaltigen Frühstück zeigt uns Al in der
Nähe die «Giant Spruce», eine riesige, an die
Berglandschaft lässt mich immer wieder
zur Kamera greifen: Wind, Wolken und
Licht bieten faszinierende Szenerien.
Hannes und ich paddeln dicht nebeneinander und erzählen uns viel. Südöstlich
von Luise Island beobachten wir das einzige Mal während dieser Reise Orcas.
Eine Gruppe von drei Tieren zieht in
100 Metern Entfernung an uns vorbei.
Wieder ziehen nicht enden wollende Nebelschleier zwischen den Inseln hindurch. Diese scheinen zu Haida Gwaii
zu gehören wie der Regen zu London.
Nach 18 Tagen sind wir zurück in Queen
Charlotte City, am Ausgangspunkt der
ersten Etappe unseres Kajak-Abenteuers.
Gastfreundschaft. Jörg und Hannes geniessen
den Abend mit Gladys und Al (oben).
Frischer Fisch. Abwechslung im Menüplan (Mitte).
Stärkung. Kalorien für den nächsten Paddeltag (u).
Haida-Kunst. Ein alter Totempfahl (rechts oben)
und ein Teilausschnitt eines neueren (rechts).
1000 Jahre alte Fichte mit einem Stammdurchmesser von über vier Metern. Der 50 Meter
hohe Baumriese steht da wie ein Denkmal.
Bei auflaufender Flut machen wir uns wieder auf den Weg. Dank leichtem Rückenwind
kommen wir zügig voran. Die Aussicht auf die
Gelungene Halbzeit. Wir haben unseren
Rhythmus gefunden. Zufriedenheit und Stolz
machen sich schon jetzt breit. Wir legen zwei
Tage Pause ein, trinken Kaffee im «Queen B’s»,
machen Einkäufe, sitzen abends am Feuer und
chillen. Ich frage Hannes, ob er sich noch an
unser Gespräch am Küchentisch erinnert und
wie er die letzten drei Wochen einschätzt. Sein
55
Infos zu Haida Gwaii
Geschichtliches: Der Beginn der Haida-Geschichte
reicht um die 10 000 Jahre zurück. Seit Dezember 2009
heissen die Inseln offiziell wieder Haida Gwaii. Ein Akt,
der im Rahmen der Anerkennung der Rechte der Haida
First Nation vollzogen wurde. Der zwischenzeitliche
Name Queen Charlotte Islands geht auf die Entdeckung
von Captain George Dixon zurück, der die Inseln 1887
nach der Frau des damaligen englischen Königs Georg
III., Charlotte von Mecklenburg Strelitz, benannte.
Geografisches: Der Archipel besteht aus zwei Hauptinseln – Graham Island im Norden, Moresby Island im
Süden – und etwa 150 kleineren Inseln. Zwischen den
Orten auf den Inseln gibt es nur ein dünnes Strassennetz. Viele Küstenabschnitte sind nur mit dem Boot oder
Wasserflugzeug erreichbar. Die Nord-Süd-Ausdehnung
beträgt ca. 300 km, die Ost-West-Ausdehnung 100 km
mit ca. 10 000 km² Fläche. Rund 5000 Einwohner
(davon 50 % Haida) leben auf den Inseln.
Nationalpark: Der südliche Teil von Moresby Island ist
Nationalpark und nennt sich «Gwaii Haanas National
Park Reserve and Haida Heritage Site». Für den Besuch
dieses Gebiets braucht man eine Genehmigung, die
man nach einem Briefing und der Zahlung einer Gebühr
im Haida Heritage Center in Skidegate bekommt. Das
Center ist gleichzeitig Museum und sehr empfehlenswert.
Tourenvorbereitung: Seekajak-Anbieter gibt es auf
Moresby Island. Seekarten/Gezeitentabellen am besten
vor Ort kaufen. Als Übersichtskarte gibt es eine Karte im
Massstab 1 : 250 000 von INTERNATIONAL TRAVEL
MAPS, Gezeitentabellen: Canadian Tide and Current
Table, Volume 7.
Reiseliteratur: Der wohl beste «Reiseführer» für dieses
Gebiet ist «Boat Camping Haida Gwaii – A Small-Vessel
Guide to the Queen Charlotte Islands» (Englisch) von
Neil Frazer, ISBN: 978-1-55017-487-8, CHF 38.90
Langara Island
Rose Spit
Masset
Graham Island
Port
Clements
K A JAK-R OU TE
Tlell
Gudal Bay
Queen
Charlotte
City
Skidegate
Sandspit
Moresby Island
Louise
Island
HA IDA GWAII
(QU EEN CHARLOT TE IS LAN D S)
Gwaii Maanas
Nationalpark
USA
K ANADA
USA
56
Sgang Gwaii
strahlendes Gesicht spricht Bände.
Wir haben uns bisher nicht ein einziges Mal in der Wolle gehabt. Auch
Hannes hat schon darüber nachgedacht. Mit unseren Kompromissen
scheinen wir beide gut klar zu kommen: Ich komme Hannes mit für ihn
akzeptablen Tagesdistanzen entgegen,
dafür ist er immer öfter bereit, auf einen Teil des von ihm so geliebten
Morgenschlafs zu verzichten.
Der Wind weht aus Südosten
schräg von hinten. Die Sonne scheint
bei Temperaturen von deutlich über
20 Grad. Die Bedingungen sind optimal, und unsere Paddellust ist gross.
Eine wichtige Pause machen wir bei
St. Mary’s Spring. Wer von dieser
Quelle trinkt, so heisst es, wird immer
wieder nach Haida Gwaii zurückkommen. Wir müssen nicht lange
überlegen und gönnen uns den
Schluck Quellwasser.
Etwa 25 Kilometer nördlich von
Tlell bauen wir unser Zelt auf und
erklimmen die Steilküste. Der Blick
von oben ist fantastisch. Die wild
durcheinander liegenden Baumstämme am Strand wirken wie hingeworfene Mikadostäbchen. Unsere
Boote sind dazwischen kaum auszumachen. Kein Mensch weit und breit.
Vor Rose Spit kommt uns ein
Paddler entgegen. Wir nennen ihn
Chuck, weil er aussieht wie Chuck
Norris. Chuck wirkt erfahren. Er
wollte die nordöstlichste Spitze Haida
Gwaiis von Süden her umrunden.
Kein einfaches Unterfangen, da man
Rose Spit normalerweise auch bei mässigem Wind sehr weiträumig umpaddeln muss. Bedingt durch das flache
Wasser und zusätzliche Riffs ist das
Kap oft von einem breiten Gürtel bre-
chender Wellen umgeben. Vier Tage wartete er
auf gute Bedingungen, aber jetzt wurde seine
Zeit knapp und so geht er unverrichteter Dinge
zurück.
Der nächste Tag empfängt uns mit Paddelbedingungen, die sich Chuck in den vergangenen Tagen gewünscht hätte. Es ist fast windstill.
Wir nehmen trotzdem den sicheren und kürzesten Weg über Land. Wozu haben wir
schliesslich den Bootswagen dabei. Danach
paddeln wir mit Rückenwind und leichter Strömung bis zum Eingang des Masset Sound. In
Masset mieten wir uns mangels geeigneter Zeltplätze ins «Singing Suf Inn»-Motel ein. Die riesigen Betten kommen uns fast dekadent vor,
von der Dusche ganz zu schweigen. Wir erkunden den Ort, komplettieren unsere Nahrungsvorräte für die nächsten zwei Wochen, besorgen noch einige Seekarten und dinieren im
«Mile Zero Pub». Ich kalkuliere unsere Etappen
bis zum Skidegate Channel. Wenn uns das Wetter nicht zu sehr in die Zange nimmt, sollte die
Westküste bis runter in den Süden der Graham
Island in der vorgesehenen Zeit gut machbar
sein.
Hochs und Tiefs. Die Sonne spendet uns wärmende Strahlen auf dem Weg Richtung Langara Island im äussersten Norden. Am Rand
eines Kelpbettes legen wir eine Angelpause ein.
Schon 15 Minuten später klemmt unter den
Deckgummis auf meinem Achterdeck eine
Tüte mit drei Fischen. Das sorgt für etwas Abwechselung von der täglichen Reis- oder PastaRoutine.
Wie ein kleines Dorf liegt die Langara
Fishing Lodge in Henslung Cove in der Wildnis. Wir legen an einem Steg an, um uns nach
einem Becher Kaffee zu erkundigen. Ein Mitarbeiter kontaktiert den Manager, der kurz darauf erscheint. Bob, Zehnkämpfer-Typ, 1,90
gross, Ende 30, mit ernstem Blick und festem
Händedruck, begrüsst uns und erzählt als Erstes, dass seine Gäste hier 1500 Dollar pro Tag
nordamerika
bezahlen, um dicke Lachse zu fangen
und es sich in der Lodge gut gehen zu
lassen. Dann meint er, wir sollen ihm
folgen und führt uns zum Eingangsbereich. – Das sieht nach mindestens vier
Sternen aus. In Paddeljacke, Schwimmweste und Spritzdecke dackeln wir Bob
hinterher. Auf einem Tresen liegen
schmackhafte Leckereien, davor stehen
grosse Gläser mit verschiedensten Keksen, eine riesige Schale mit frischem
Obst und ein Kaffeespender. Ein Stück
weiter sehen wir einen Kühlschrank mit
Sandwiches und kalten Getränken. Etwas
irritiert schauen wir uns um und werden von
Bob mit den Worten «please help yourself» –
bitte bedient euch – zurückgelassen. Das Personal ist äusserst freundlich. Wir werden auf
die bereitliegenden Zip-Lock-Beutel hingewiesen mit dem Kommentar: «Nehmt euch für
unterwegs noch was mit.» Draussen auf einer
Bank vertilgen wir einige Sandwiches, trinken
genüsslich Kaffee und beobachten das Treiben.
Solche Gastfreundschaft zu erfahren, wäre in
der Zivilisation schon ein besonderes Erlebnis.
Hier in der Abgeschiedenheit bekommt das
Ganze eine kaum zu überbietende Qualität.
Wenn das so weiter geht, kommt uns noch das
Wildnis-Feeling abhanden.
Zwei Seelöwen begleiten uns ein Stück, als
wir Langara Island endgültig hinter uns lassen.
Ein beeindruckender Schwell, hohe Wellen, die
Zelten an idyllischer Lage. Wild campen ist
meistens erlaubt (linke Seite).
Immer der Nase nach. Dank speziellen Seekarten
und mithilfe des Navi kann der beste Kurs gehalten
werden (oben).
Kajak-Kollege. Chuck dockt bei den Knorrs an.
Unterwegs trifft man schon Mal auf andere Seekajakfans (unten).
als Ausläufer von Stürmen aus den Weiten des
Pazifik hier auf die Westküste von Graham Island treffen, empfängt uns. Die unendlich lang
erscheinenden Wellen heben uns ganz langsam,
um uns kurz darauf wieder sanft in ein Tal gleiten zu lassen. Es fühlt sich an als würden wir
schweben. Was ich denke und fühle, glaube ich
auch in Hannes’ Gesicht zu erkennen. Freude
und Begeisterung. Wir sind aber auch beeindruckt von den Wellen, die sich an den vorgelagerten Riffs brechen.
Bei Sialun Bay beenden wir die heutige Etappe und nähern uns dem Strand.
Plötzlich hebt sich der hintere Teil meines Kajaks. Das Boot beschleunigt nach
vorn. Kurz darauf bricht die Welle. Ich
befinde mich in einer brodelnden Mischung aus Wasser und Gischt. Nur mit
Mühe schaffe ich es, das Kajak zu stabilisieren. Leider nur kurz. Wenige Sekunden später schieben die Wassermassen
das Heck zur Seite, ich schaffe es nicht
mehr, die Richtung zu halten, werde parallel zur Welle gedrückt und finde mich
kurz darauf «up side down». Ich werde
zünftig durchgeschüttelt. Das Wasser ist hier
flach, sodass ich aussteigen kann, meine Füsse
finden Halt. Der erste Blick, nachdem ich die
Orientierung wieder gefunden habe, gilt Hannes. Auch sein Kajak schwimmt Kiel oben. Wir
halten unsere Boote fest und versuchen, die
vom Deck gespülten Ausrüstungsgegenstände
einzufangen. Einiges geht in die ewigen Jagdgründe der Haida über. Noch etwas benommen
ziehen wir unsere Kajaks an Land.
Eine Stunde später sitzen wir an einem
knisternden Feuer und beratschlagen, was wir
beim nächsten Mal anders machen sollten. Mir
fällt ein, dass das GPS-Gerät angeschaltet war,
das jeweils automatisch die Maximalgeschwindigkeit abspeichert. Das Display zeigt 20,5 Kilometer pro Stunde an. Das kann sich sehen
lassen, muss aber nicht noch mal sein.
herbst 2011 GLOBETROTTER-MAGAZIN 57
Kampf gegen Wind und Wellen. Zwei Tage
später müssen wir uns mächtig ins Zeug legen,
um während vier Stunden gegen 15 bis 20 Knoten Wind zu paddeln. Ein Weiterkommen ist
zu Kräfte zehrend – wir machen vorzeitig Pause. Bei Ingraham Bay klappt es mit dem Anlandemanöver. Aber schon am nächsten Morgen rollt wieder eine starke Brandung auf unseren Strand. Trotzdem beschliessen wir, heute weiterzupaddeln. Hannes macht sich zuerst
auf den Weg und erwischt sofort zwei kalte
Brandungsduschen. Mit Hannes’ Boot im Wasser erkenne ich erst die wahre Dimension der
Brandung. Sie ist so hoch, dass es jedes Mal
eine Weile dauert, bis er hinter den Wellenkämmen wieder auftaucht. Mir wird ganz anders. Das laute Rauschen ist beängstigend.
Hannes ist schon gut 100 Meter weit weg und
kann mich nicht mehr hören. Instinktiv
schreie ich trotzdem «paddeln, paddeln,
paddeln!», als die nächste Welle den Bug
seines Bootes steil nach oben hebt. Ich
habe Angst um meinen Sohn und zweifle
das erste Mal an meinem Verantwortungsgefühl. Die Perspektive ist anders als sonst.
Ich stehe sicher an Land und Hannes
kämpft draussen mit den Naturgewalten.
Er verschwindet hinter einer weiteren brechenden Welle. Jetzt bin ich dran. Ich muss
auf eine etwas grössere Welle warten, die
mich vom Strand zieht. Nach drei grossen
Wellen, die über mein Boot gerollt sind,
58 GLOBETROTTER-MAGAZIN herbst 2011
Sagenland. Mystische Wasserlandschaft (oben).
Beängstigend. Ungemütliche Wellen (unten).
Luxusstopp. Bei der Langara Fishing Lodge
werden die beiden Paddler wohlwollend mit
Leckereien versorgt (rechts oben).
Das Team. Vater Jörg und Sohn Hannes sitzen für
sechs Wochen (fast) im selben Boot (rechts oben).
Abends in der Wildnis. Bei gutem Wetter gehört
ein lauschiges Feuer zum Programm (rechts).
bin ich bei Hannes, der mit weit geöffneten
Augen auf mich wartet. Dieser Start hat ihn ein
verbogenes Ruder und einen aus der Halterung
gerissenen Kompass gekostet, den wir nicht
wieder sehen.
Hinter der Brandungszone wird die See wieder ruhiger. Leider nicht lange. Als wir Ingraham Bay verlassen, bekommen wir einen kräftigen Südwestwind zu spüren. Die grössten
Wellen erreichen vier Meter Höhe. So etwas
habe ich noch nicht erlebt. Die Küste ist felsig
und mit Klippen durchsetzt, die Sicht schlecht.
Wir versuchen, so nahe wie möglich zusammen
zu bleiben, können uns aber nur schreiend verständigen. Wir müssen genug weit draussen
paddeln, um den brechenden Wellen auszuweichen, aber nicht weiter weg als nötig, um die
Küste möglichst im Auge zu behalten. Immer
wieder verschwinden wir in Wellentälern. Besorgt rufe ich Hannes zu: «Gehts noch?» Seine
kurze gebrüllte Antwort: «Muss ja!» Ich fühle
mich sehr unwohl. Aber es hilft nichts. Auch
wenn ich mir vielleicht vorwerfen muss, eine
falsche Entscheidung getroffen zu haben, müssen wir jetzt versuchen, irgendwie heil weiter
und an Land zu kommen. Um mehr geht es zur
Zeit nicht. Nach endlos scheinenden drei Stunden passieren wir die Tian Islets, eine
Gruppe von Felsen, in deren Umgebung
sich die Wellen auftürmen. Bei Otard Bay
suchen wir einen geschützten Lagerplatz.
Die Wellen werden kleiner und schieben
jetzt von hinten. Die Anspannung löst sich
und wir können näher zusammen paddeln.
Mit einem leichten, wenn auch verkrampftem Grinsen tauschen wir uns aus und stellen fest, dass uns in den letzten Stunden
ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sind. Wir waren beide von der Gewissheit getrieben, dass wir irgendwann am
Ende des Tages trocken im Zelt liegen wer-
nordamerika
Traumstrand. Der Wind hat nachgelassen. In
der Nähe von Hippa Island treffen wir auf Frazer. Der 30-Jährige ist in Masset in sein Kajak
gestiegen, um von dort nach Skidegate Landing,
wo er wohnt, zu paddeln. Wir bauen zusammen unsere Zelte auf und sitzen kurz darauf
um ein gemütliches Feuer. Wir probieren Frazers Teesortiment durch und revanchieren uns
mit Harribo-Goldbären und Haselnüssen. Frazer kennt sich gut aus hier. Ursprünglich
stammt er aus Vancouver. Dort war es ihm aber
zu «busy». Hier hat er einen Job als Lehrer gefunden, der ihm viel Spielraum lässt, seine Paddellust auszuleben. Es wird ein langer Abend.
Trotzdem ziehen Hannes und ich am nächsten
Morgen früh weiter. Frazer liegt noch im Zelt
und liest, als wir uns von ihm verabschieden.
Er lädt uns zu sich nach Hause ein, wenn wir
nach Skidegate kommen.
Wir kommen gut voran, queren Rennell
Sound und steuern direkt auf Gudal Bay zu –
Frazers Geheimtipp in Sachen Traumstrand an
der Westküste. Und er hat nicht zu viel versprochen: Ein paradiesischer Strand liegt vor uns.
Alles passt. Der Weg ist nicht mehr weit nach
Queen Charlotte City, wir haben noch ausreichend Nahrung und ein sehr gutes Zeitpolster.
Gudal Bay lässt Südsee-Feeling aufkommen.
Gleich nachdem das Zelt steht, nehmen wir ein
Bad im Fluss. Hier bleiben wir für zwei Nächte.
Endlich kann Hannes mal wieder lange ausschlafen. Wir liegen faul im Schatten herum,
genehmigen uns hin und wieder ein Bad, erkunden den Strand und geniessen das Hier und
Jetzt in vollen Zügen.
Neue Horizonte. Ende Juli legen wir im Hafen
von Queen Charlotte City an. Der erste Gang
führt uns ins «Queen B’s», das schon so etwas
wie unser Stammcafé geworden ist. Das wars!
[email protected]
www.kajaktraum.de
© Globetrotter Club, Bern
den. «Das muss ich nicht noch mal haben», sagt
Hannes. Ich denke nur: Ich auch nicht. Eine
Stunde später philosophieren wir darüber, wie
schnell vieles plötzlich eine untergeordnete
Rolle spielen kann und sich die Psyche auf die
existenziellen Dinge ausrichtet. Es war ein Erlebnis, das unter die Haut ging. Das Besondere
daran war, dass ich es mit jemandem teilen
konnte, der ähnlich tickt wie ich.
Wir sind überglücklich. Hannes kann man jetzt
wohl zu den Seekajak-Experten zählen. Wie
auch immer, unser Vater-Sohn-Abenteuer ist
geglückt, wir sind mehr als zufrieden. Mit
einem Sixpack Bier wird beim Zelt der Erfolg
begossen, bevor wir uns nochmals in die
Schlafsäcke verkriechen.
An unserem letzten Tag auf Haida Gwaii
rufen wir bei Frazer an, um auf seine Einladung
zurückzukommen. Er holt uns ab und zusammen essen wir bei ihm zu Abend, können noch
mal duschen und tauschen uns über die letzten
Tage aus. Die ganzen Erinnerungen der letzten
Wochen kommen auf. Wir haben einen Hauch
von Freiheit gespürt, haben Gastfreundschaft
erlebt, traumhafte Landschaft aus einer besonderen Perspektive gesehen, wilde Tiere beobachtet und ein sehr intensives Reiseabenteuer
erlebt. Wir haben fast 1000 Paddelkilometer in
den Armen, im Hintern und – am wichtigsten –
im Kopf. Wir sind dankbar und stolz. Irgendwann sagt Hannes: «Das war mein bisher geilster Urlaub.» Ich bin, auch wenn ich nicht wirklich an diesem Fazit zweifle, aufgewühlt. Ich
freue mich und muss unwillkürlich an mein
Reisemotto denken: Horizonte entdecken. Auf
die schönste Art und Weise, die ich mir vorstellen kann, haben wir neue geografische und
emotionale Horizonte entdeckt.
59
Weitere exklusive
Reise­reportagen lesen?
Für 30 Franken pro Kalenderjahr liegt das Globetrotter-Magazin alle 3 Monate im Briefkasten. Mit spannenden Reise­
geschichten, Interviews, Essays, News, Tipps, Infos und einer Vielzahl von Privatannoncen (z.B. Reisepartnersuche,
Auslandjobs etc.). Dazu gibts gratis die Globetrotter-Card mit attraktiven Rabatten aus der Welt des Reisens.
Inklus
ard
otter-C
obetr
ive Gl
Globetrotter-Card 2012
★ Jahres-Abo Globetrotter-Magazin ★ Gratis-Privatannoncen
★ Büchergutschein CHF 25.– einlösbar bei Reisebuchung bei Globetrotter
★ 10%-Rabattgutschein für Reiseausrüstung bei TRANSA (1 Einkauf)
★ CHF 50.– Rabatt auf Camper/Motorhome-Buchungen bei Globetrotter
★ Ermässigter Eintritt bei explora-Diavorträgen/Live-Reportagen
★ CHF 100.– Rabatt auf Gruppenreisen (ab CHF 2500.–/Person)
Tr
an
s
1 x a-G
ei 10 utsc
nl % h
31 ösb Rab ein
.12 ar a 20
.12 bis tt 12
der Globetrotter Tours AG und der bike adventure tours AG
(nicht kumulierbar/nicht übertragbar/bei der Buchung anzugeben)
02-1380 Globetrotter-Card_12.indd 1
Informieren und Abo abschliessen:
www.globetrottermagazin.ch
07.09.11 15:54