Taube 2006a Raben

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Taube 2006a Raben
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Taube, Erika 2006a. Das Gespräch der beiden hungrigen Raben. In: Fenz,
Hendrik, und Petra Kappert (†) [Hrsg.]: Turkologie für das 21. Jahrhundert.
Herausforderungen zwischen Tradition und Moderne. Wiesbaden: Harrassowitz
(Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica Bd. 70), 265-276.
Erika Taube, Leipzig
Das Gespräch der beiden hungrigen Raben
Angeregt zu den folgenden Betrachtungen hat mich Michael Friederichs Artikel
„Rabe fliegt nach Osten, oder Ein tatarischer Weltheimatdichter im Zeitalter der
Umbrüche“.1 Dieser Beitrag beginnt mit einem Gedicht von Zakir Ramijev,
bekannter unter seinem Pseudonym Därdmänd oder einfach D. Es ist eine
Zweitübersetzung, denn es handelt sich um die tatarische Wiedergabe der
Puschkinschen Übertragung eines schottischen Volkslieds, das auch als
englische Ballade bekannt ist und dessen Stoff im vorigen Jahrhundert in Europa
durch Übersetzungen relativ verbreitet gewesen zu sein scheint; eine deutsche
Fassung stammt von Adalbert von Chamisso, das Rabenthema findet sich
mehrfach in Heinrich Heines „Buch der Lieder“. Das tatarische Gedicht Qozgin,
„Die Krähen“ (genauer „Die Raben“2), hier zitiert in M. Friederichs
Übersetzung, erzählt
Krähe fliegt zu Krähe,
Krähe sagt zu Krähe:
„Krähe, mir knurrt der Magen,
Wo gibt es zu fressen?“ – sagt sie.
Krähe antwortet Krähe,
Sagt: „Ich find’ was zum Fressen:
Unter der grünen Weide liegt es –
Ein hinterrücks ermord’ter Recke.
Wer den Jüngling umgebracht hat
Und seinen edlen Hengst gestohlen –
Seine junge Frau, die zu Hause sitzt
Und sich herausputzt, die weiß es.“
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Als ich dieses Gedicht las, kam mir eine Szene aus dem altaituwinischen
Märchen „Der Junge mit dem Hund, der Katze und dem Fisch“3 in den Sinn:
Dort erführt ein Chaan von der Schönheit der Frau des Märchenhelden, einer
Tochter des Herrn der Wasserwesen, und will sie entführen lassen. Das Problem
ist: Die beiden leben auf einer Insel inmitten eines Salzmeeres, das alles
verbrennt – selbst die Vögel, die darüber hinwegfliegen. Nur ein 93jähriger
Greis weiß, daß es ein nicht-brennbares Holz gibt – das Holz des Bum-Baumes,
auf dem der Rabe sein Nest baut.4 Siebzig Wahrsager läßt der Chaan einsperren,
um herauszufinden, wo dieser Bum-Baum steht, der Züge des Weltenbaumes
trägt. Alle Wahrsager, „die Augen und Ohren haben“, entkommen irgendwie,
nur sieben Blinde bleiben übrig, die nun um den Preis ihres Kopfes das Rätsel
bis zum nächsten Tag lösen sollen. Einer verwandelt sich selbst und die übrigen
sechs in Sperlinge, und sie fliegen fort.
Auf der Flucht vor ihrem Chaan stand auf einmal ein Baum mit großen Blättern
vor ihnen. Das versteckte sich jeder der sieben Sperlinge unter einem der
Blätter. Da ließen sich auch schon zwei Raben im Wipfel des Baumes nieder
und unterhielten sich. „Morgen, wenn es tagt, wird unsere Nahrung für den Tag
schon bereitliegen. Wir werden zweimal sieben, also vierzehn Augen fressen“
…
„… in welchem Falle werden wir die vierzehn Augen nicht fressen?“
„Wenn die sieben Astrologen den Bum-Baum nicht finden, auf dem wir Raben
unsere Eier legen, werden wir ihre Augen fressen. Wenn sie den Bum-Baum
finden, werden wir ihre Augen nicht fressen.“
Und noch einmal fragte der andere Rabe: „Wo ist der Bum-Baum, auf den die
Raben ihre Eier legen?“
„Der Baum hier, auf dem wir sitzen, das ist der Bum-Baum, auf den wir unsere
Eier legen.“
Nach diesen Worten flogen die beiden Raben davon. Da erhoben sich jene
sieben Sperlinge, brachten an dem Baum ein Zeichen an und flogen… zurück.
Bei dem „merkwürdigen und makabren Gespräch“ (so Friedrich) der beiden
Raben haben wir es mit einem internationalen Märchenmotiv zu tun, das in den
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größeren Kontext des Verstehens der Tiersprache gehört (Motiv B 126). Im
Motif Index of Folk Literature von Stith Thompson ist es unter der Chiffre N
451 definiert als „Secrets overheard from animal (demon) conversation“. Die
belauschte Unterhaltung von Tieren oder Dämonen kann die verschiedensten
Konsequenzen haben. So erlangt jemand Kenntnis von einem Heilmittel, durch
das eine bis dahin unheilbar kranke Prinzessin genesen kann; er erfährt das
Geheimnis, wie ein Armer zu Wohlstand kam, und hat Pech bei dem Versuch,
durch Nachahmung seinen eigenen Reichtum noch zu vermehren, in einem
altaituwinischen Märchen und seiner kasachischen Variante hört der zufällige
Lauscher, welche Gefahren demjenigen als Strafe der Herren des Wissens/der
Märchen drohen, der Märchen kennt und sie dennoch nicht erzählen will.5
Das altaituwinische Beispiel des Rabengesprächs, das ein Geheimnis verrät,
entstammt einem reinen Zaubermärchen. Das Geschehen, das die beiden Vögel
im Gedicht oder Lied besprechen, scheint im realen Leben angesiedelt zu sein.
Den Bezug zur Folklore stellt nicht nur die Tatsache her, daß das schottische
Vorbild ein Volkslied ist, sondern vor allem der Umstand, daß Tiere miteinander
reden und von Menschen verstanden werden. Vor allem für Zauber- und die für
Zentralasien charakteristischen Reckenmärchen ist das eine ganz
selbstverständliche Voraussetzung – ohne daß es einer Begründung bedarf,
warum jemand die Sprache der Tiere versteht. Worin Märchen und Gedicht/Lied
übereinstimmen, ist die Offenbarung eines Geheimnisses, die im Falle des
Märchens die Handlung weitertreibt, im Falle des Liedes oder Gedichts
zumindest den Zuhörer oder Leser zum Mitwisser macht und ihn belastet oder
aber auch der Hoffnung überläßt, daß die Untat doch noch an den Tag kommt.
Oft sind es ja gerade Vögel, die – zum Beispiel im usbekischen Märchen „Der
Maina“6 – einen Mord kundtun oder – wie wohl auch in der 15. Erzählung der
kalmückischen Version des Siddhi kǖr7 – das Geheimnis um einen Mord lüften.
Im Märchen genügen in vergleichbaren Situationen Tiere als Mitwisser: ein
Beispiel dafür geben die Leittiere der Herden im altaituwinischen Märchen
„Deptegen die schwarze Alte mit dem Sack aus Kamelhaut“8 – sie rufen den
Namen ihrer getöteten Herrin und fressen nicht mehr, dadurch wecken sie
Aufmerksamkeit und bewirken die Wiederbelebung der Getöteten. Beim Tod
des Helden sind es Hund/Adler und Pferd, die ihn vor dem endgültigen Tod
bewahren. Ein schönes Beispiel dafür – mit zwei Pferden – enthält „Xan
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Tögüsvek“9. Im schottischen Lied und dementsprechend in der Puschkinschen
Wiedergabe sind die Gefährten des Getöteten – Hund/Falke und Pferd –
anderweitig beschäftigt, mit Jagd und Beute. Hilfe ist von ihnen, zumindest im
Rahmen der hier gegebenen dichterischen Form und beim Realitätsbezug der
Texte, nicht zu erwarten. Dergleichen wäre von der türkisch-mongolischen
Tradition her schwer verständlich, in der das Pferd aufs engste mit seinem Herrn
verbunden ist. Deshalb vielleicht wird bei Därdmänd das Pferd wie sein Herr
ebenfalls zum Opfer, wenn auch nur das eines Räubers, und es bleibt frei von
Schuld. Daß dagegen – wie vielleicht hier – eine Frau dem Helden eventuell in
den Rücken fällt, ist der zentralasiatischen Überlieferung nicht fremd. Jedenfalls
weicht der tatarische Dichter hier von den europäischen Vorbildern ab.
Neben dem Motiv N 451 – das dem Gespräch von Tieren (oder Dämonen)
abgelauschte Geheimnis – war es dieser m. E. offensichtliche Rückgriff auf die
eigene Tradition, der mir die Frage aufwarf, ob hier ein Zusammenhang dazu
besteht, daß Därdmänd eben diesen Stoff zur Übersetzung ausgewählt hat. War
ihm das Kernmotiv aus der mündlichen Überlieferung vertraut? Erschien es ihm
deshalb als leicht rezipierbar und daher gut geeignet für eine Zeitschrift, die im
muslimischen Rußland und in Zentralasien verbreitet und wohlangesehen war?
M. Friederich betont an Därdmänds Gedichten die einfache Sprache, „die gerade
durch ihre Schlichtheit besonders ausdrucksstark ist“ (S. 554), was wohl für
dessen Vertrautheit mit der mündlich tradierten Dichtung des eigenen Volkes
spricht. Tatsächlich ist für mein Empfinden das tatarische Gedicht in Ton und
Stimmung dem schottischen Lied am nächsten (M. Friederich schließt nicht aus,
daß Därdmänd auch die schottische Vorlage kannte), sehr viel näher jedenfalls
als etwa die Übertragung des Puschkin-Gedichts ins Deutsche durch A. von
Chamisso, bei dem zum Beispiel aus dem schlichten „Weidenbaum“ (russ.
rakita) ein „Unglücksbaum“ wird.
Die Durchsicht einiger Sammlungen tatarischer Märchen aus unterschiedlichen
Gebieten (Bálints wolgatatarische,10 Paasonens mischärtatarische,11 Kúnos’s
kasantatarische,12 sowie Märchen aus Radloffs „Proben“ Theil IV13, dazu
mehrere Ausgaben von Märchen der Völker der einstigen Sowjetunion oder der
Russischen Föderation) ergaben, was die hier relevante Gestaltung des
Märchenmotivs N 451 betrifft, einen negativen Befund: Einmal verhilft zwei
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Tauben abgelauschtes Wissen dazu, daß zwei Liebende einander wiederfinden
(Radloff 1872, 473); ein andermal verrät die Unterhaltung zweier Vögel einem
Alten, wo Gold und Silber zu finden sind und später das richtige Verhalten in
einer bestimmten Situation (Radloff 1872, 493f.); und die Lust auf Nahrung
menschlicher Herkunft ist durch Radloff (1872, 16) von den Baraba-Tataren
belegt, wenn ein Rabe auf Kosy Körpöz’ Bitte, ihm Eltern zu sein, antwortet:
„Mögest du mich Vater nennen, mein Kind,
mögest du mich Mutter nennen, mein Kind,
möchte dich doch Kara Kann töten, mein Kind,
dann möchte ich dein Blut löffelweise trinken, mein Kind.“
Wenn auch das Motiv in der spezifischen Form, in der es in Därdmänds Gedicht
und im altaituwinischen Märchen auftritt, in der tatarischen Folklore – von mir –
nicht zu finden war, so kam doch allgemein eine Fülle von Parallelen zu Stoffen
und Motiven aus dem Märchengut zentralasiatischer türkischer, teils auch
mongolischer Völker zutage. Diese Fülle an Parallelen ist erstaunlich angesichts
der tatarischen Lebensräume, die zum Teil in Europa und innerhalb russischer
Siedlungsgebiete liegen, angesichts der längeren und engeren Kontakte zu
russischer und anderer Bevölkerung. Es gibt einerseits eine ganze Anzahl
russischer Märchen in tatarischem Gewand, und andererseits sind tatarische
Märchen aus einem türkisch-mongolischen Zusammenhang deutlich durch die
seit langem gegebenen neuen Lebensumstände geprägt – durch die seßhafte, auf
Ackerbau begründete Lebensweise, teils auch durch christliche Elemente und
generell durch eine größere Rationalität, als sie in Märchen aus Zentralasien zu
beobachten ist. Das äußert sich unter anderem in den gelegentlichen
Erklärungen, die der Erzähler offensichtlich für notwendig hält: Wenn zum
Beispiel der Held in die Unterwelt kommt und grimmige Wächtertiere mit
speziell zu diesem Zweck mitgebrachtem Futter zufriedenstelle, wird erklärt,
daß der Div sie hungern ließ, damit sie angriffbereiter sind. Oder wenn die
Gefährten den Helden durch einen Brunnen in die Unterwelt hinablassen, wird
hinzugefügt, daß in dem Brunnen kein Wasser war, sondern daß von seinem
Grund viele Wege ausgingen. Nicht nur für die altaituwinische Tradition ist
dergleichen untypisch, daß Wächtertiere in einer Anderwelt gefährlicher und
anders zu behandeln sind als irdische oder daß ein Brunnen der Zugang zu einer
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unteren Welt sein kann, bedarf noch keiner Erklärung.14 Die Fülle von
Parallelen ist besonders erstaunlich, wenn man die räumliche Entfernung und
die extremen Unterschiede in der Lebensweise, zum Beispiel von Wolgatataren
und Altaituwinern, bedenkt. Nicht nur, weil ich das altaituwinische Material
besser als anderes kenne, sondern auch, weil darin mit Einflüssen von außerhalb
Asiens kaum zu rechnen ist, sind parallele Erscheinungen in altaituwinischen
und tatarischen Märchen besonders interessant.
Da sind zunächst ganze Typen, wenn auch wenige, die in relativ nahen
Varianten in altaituwinischen und tatarischen Märchen vorkommen. Es handelt
sich hier teils um ziemlich kurze Texte wie das altaituwinische Kettenmärchen
Geze, „Wer ist schwer (zu überwinden)“;15 das in Nr. 15 der Ausgabe von
Berta eine wolgatatarische und als Nr. 11 der Paasonenschen Sammlung eine
mischärtatarische Variante hat, mit immer weiterführenden Fragen von der Art:
„Eis, bist du tapfer?“ – „Ja, tapfer!“ – „Wenn du tapfer bist, warum ißt dich die
Sonne?“ – „Sonne, bist du tapfer?“ – „Ja, tapfer!“ – „Wieso verhüllt dich dann
die Wolke?“ usw. – Oder das tatarische Märchen „Die drei Ratschläge des
Vaters“,16 das dem altaituwinischen „Des Vaters Rat“17 entspricht: Bei den
Tataren sind es die Ratschläge des Sterbenden an die Söhne, die nicht
verstanden, daher auch nicht befolgt werden und in Armut führen; erst später,
vom Ältesten in ihrer Bedeutung erkannt und erklärt, verhelfen sie zu
Wohlstand. Bei den Altaituwinern rät der Vater dem zum Krieg ausziehenden
Sohn dreierlei, was dieser zwar nicht versteht, aber dennoch bedingungslos
befolgt, so daß er als einziger zurückkehrt – und erst dann fragt er den Vater
nach dem Sinn der Ratschläge. Auch Schwankmärchen wie jene vom Typ „Die
schrecklichen schwarzen Mangysse“18 kommen bei den Altaituwinern und
Tataren vor: Dank seiner Schlauheit trickst ein Schwacher ein oder drei
Ungeheuer aus, indem er Vorkehrungen trifft für die zu erwartenden
Kraftproben – er versteckt ein tyrys (Gefäß aus Baumrinde) voll Sauermilch im
Erdboden (so bei Tataren) oder einen Dickdarm voll Blut in einem Baumstumpf
(altaituwinisch), um dann mit einem Fußtritt Sauermilch oder Blut aus der Erde
fließen zu lassen, was das dumme Ungeheuer natürlich nicht vermag.19
Bei den Zaubermärchen lassen sich zwar bestimmte Typen gut erkennen, etwa
das altaituwinische „Der Chaan mit den zwölf Frauen“ 20 in einem
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wolgatatarischen, christlich geprägten Märchen21 oder – stärker abweichend –
im zweiten Teil von „Die Almosenspenderin“22, oder „Die zwei Brüder oder
der Greis Erencen“23 in einem mischärtatarischen Märchen (Paasonen Nr. 21),
oder auch die Er-Töštük-Variante „Baj Nazar“24 in „Jirtüschlik“25 (Radloff
1872, 443ff.), um nur einige zu nennen. Aber viel häufiger begegnen uns Motive
und vor allem Motivkomplexe, die sich in den tatarischen Märchen auf andere
Weise verbunden haben als bei Altaituwinern und auch anderen Völkern
Zentralasiens und die manchmal nur noch relikthaft auf den zugrunde liegenden
Typ verweisen. Genannt sei nur das nicht allzu häufige Erpressen der Wahrheit
über abhanden gekommenen Familienmitglieder – Brüder – wie in „Burγan
Buruš“26 (altaituwinisch) oder über die vor der Geburt verlobte Braut
(tatarisch), indem der noch kindliche Held die Hände seiner Mutter in den
heißen Kessel drückt; das Motiv vom Proviant (altaituwinisch Branntwein und
Schaffleisch, tatarisch Fladen), den die entführte Frau für ihren Mann unter den
Herdsteinen oder in der Asche der Feuerstelle zurückläßt;27 oder die
Verstümmelung dreier Männer (durch ihre älteren Brüder) und ihre
gemeinsamen Erlebnisse, die den Kern eines der zentralen altaituwinischen
Märchen, des „Bögen Saγān Tōlaj“28, bilden und – schon etwas reduziert – den
größeren Teil des tatarischen Märchens „Timirgändik“.29
Oft sind es jedoch auch viel kleinere inhaltliche Einheiten als die Motive, die
Beziehungen deutlich werden lassen oder die anzeigen, welche Motive oder
Motivkomplexe der jeweiligen tatarischen Version zugrunde liegen. Diese
minimalen Einheiten, „Ähnlichkeiten“ (in der Folkloristik nach Heda Jason als
similarities bezeichnet) können – so winzig sie sind – für Zusammenhänge oft
aufschlußreicher sein als Motive und andere größere strukturelle oder
sinnträchtige Einheiten und treten daher seit kurzem zunehmend ins Blickfeld
der folkloristisch Forschenden – ich verweise nur auf W. Heissigs Arbeiten der
letzten Jahre.
An Beispielen aus dem schon erwähnten Märchen „Der Chaan mit den zwölf
Frauen“ will ich veranschaulichen, was gemeint ist. Im entsprechenden
tatarischen Märchen (in den Textsammlungen sind meist keine Titel genannt)
wird unter anderem folgendes erzählt: Bruder und Schwester gehen regelmäßig
zur Kirche. Die Schwester veranlaßt ihren Bruder, zu heiraten. Dessen junge
8
Frau beginnt (wohl aus Eifersucht), die Schwester zu verleumden und tötet
schließlich ihr eigenes Kind, um die Tat ihrer Schwägerin anzulasten. Der Mann
schneidet seiner Schwester die Unterarme ab und verstößt sie. Sie ernährt sich
von Äpfeln im Garten eines Patša. Der läßt seine Söhne über die Äpfel wachen,
der jüngste entdeckt das Mädchen und heiratet es. In seiner Abwesenheit gebiert
sie einen wunderschönen Knaben. Die neidischen zwei Schwägerinnen
vertauschen die gute Nachricht an den jüngsten Königssohn (Urias-BriefMotiv); sie schreiben, ein Hundekopf-Kuhfuß sei geboren worden, und sie
vertauschen auch seine bedachtsame Antwort. So wird die junge Frau, ihr Kind
auf den Rücken gebunden, fortgejagt. Unterwegs durstig geworden, geht sie in
einen See hinein, um zu trinken (sie kann ja nicht mit der Hand Wasser
schöpfen), und beim Bücken fällt ihr Kind in den See. Auf ihr verzweifeltes
Weinen ertönt vom Himmel eine Stimme: „Warum nimmst du dein Kind nicht?“
Und auf ihre Frage „Wie denn ohne Arme?“ heißt es: „Strecke deine Hände aus
und nimm es auf!“ – und auf wunderbare Weise sind ihre Arme plötzlich wieder
heil.30 – Sie geht mit dem Kind in eine Kirche, trifft nach dem Gottesdienst
einen Mann, der sie während ihres Gesprächs als seine Schwester erkennt, und
ein zweiter junger Mann, der ihnen gefolgt war, versteht aus ihren Worten, daß
es seine Frau ist, die er bisher nur ohne Hände gekannt hatte.
Das christliche Beiwerk spricht für eine relativ junge Version. Ich möchte die
Aufmerksamkeit auf das Geschehen am See lenken, das in der tatarischen
Version ein knappes, fast äußerliches Motiv ist, und auf die Umstände der
Wiedererkennung im altaituwinischen Märchen,31 in dem der Neid der
Widersacherinnen besser motiviert ist (es ist hier die Rede von drei Frauen eines
Chaans); hier werden die zwei in Abwesenheit des Chaans geborenen Kinder
der jüngsten Gemahlin in einem Kasten ins Meer geworfen und durch blinde
Welpen ersetzt. Der Chaan verstößt die angeblich schuldige Frau in eine Gegend
jenseits des Meeres (das Verstümmeln an Arm, Bein und Auge, das andere
Varianten, darunter auch eine aus Tuwa, kennen, fehlt in der altaituwinischen).
Die Kinder werden von einem greisen Paar jenseits eines Meeres (gemeint ist
wohl in einer Anderwelt) gerettet, bei dem sich auch ihre verstoßene Mutter
einfindet. Dieses Meer überquert später der Chaan, an seinem Ufer begegnet er
seinen Kindern. Die Greisin – mit weißem Haar und Runzeln so tief, daß ein
Finger darin steckenbleiben konnte – raffte unaufhörlich Bäume und Steine,
9
Felsen und Wasser der Altai-Welt zusammen. Diese Beschreibung deutet auf
eine Elementargottheit, vielleicht eine Art Erdmutter oder Herrin des Schicksals,
angesiedelt jenseits eines Meeres, die in der tatarischen Variante transformiert –
nun wohl als Stimme Gottes/der Gottesmutter zu verstehen – erhalten ist. Die
Aufklärung über das Schicksal der jüngsten Frau und die Übeltaten der älteren
Frauen sowie über die Identität der beiden Kinder erfährt der Chaan im
altaituwinischen Märchen aus den Worten jener Greisin, die ihn sein Verhalten
erst durch Leiden sühnen läßt, ehe sie ihn wieder mit den Seinen vereint. Sie
wird an dieser Stelle (S. 158) als Herrin des Schicksals (ǰajān ēzi xōčun)
bezeichnet, aber nicht nur das weckt Assoziationen zum Herrn des Schicksals im
usbekischen Märchen. Im tatarischen Märchen ist dieses Motiv auf die viel
rationalistischere Bitte des Bruders um Verzeihung reduziert. Überhaupt
unterscheiden sich die tatarischen Märchen durch ausgeprägtere Rationalität,
was in der größeren geistigen Entfernung ihrer Träger von einem mythischmagischen Weltbild begründet sein dürfte. Ein solches Weltbild liegt dem
Motivkomplex in der altaituwinischen Version zugrunde, wodurch dieser hier
inhaltlich und umfangmäßig ein sehr großes Gewicht hat. Während in der
tatarischen Version Heilung und Wiedervereinigung deutlich von der
Wahrnehmung religiöser Pflichten abhängen, reflektiert die altaituwinische eine
viel strengere universelle Gerechtigkeit. Dem entspricht, daß das Wasser, das
hier zwei Welten trennt, im tatarischen Märchen nur noch ein topographisches
Element ist – wobei jedoch die Verbindung von See und Stimme aus dem
Himmel den ursprünglichen tieferen Zusammenhang bewahrt.
Similarities – kleinste semantische Einheiten – der eben genannten und anderer
Art in großer Zahl (ich erinnere an den Baumstumpf, in dem der mit Blut
gefüllte Dickdarm verborgen wird, und an das Gefäß aus Baumrinde mit
Sauermilch) deuten auf die Beziehungen der tatarischen Märchen zu einer
gemeinsamen türkisch-mongolischen Tradition hin. Das gleiche gilt auch für
bestimmte, leicht variierende Formeln, die dank ihrer poetischen Struktur oft
sehr stabil sind, und für bestimmte Bilder. Als Beispiel mögen dienen: „Dem
Vaterlosen will ich ein Vater sein, dem Sohnlosen will ich ein Sohn sein“
(altaituwinisch) und „Dem Sohnlosen Sohn, dem Dienerlosen Diener will ich
sein“ (kasantatarisch; Kúnos 180f.); „seit ich von meiner Mutter geboren wurde,
habe ich … nicht (getan/gesehen)“ (z. B. Radloff 1872, 402); „ich erfuhr, daß …
10
unterwegs ist (… du unterwegs bist), und wollte ihn (dich) treffen“ (Radloff
1872, 460ff.). Oder als Beispiel für einen bildhaften Ausdruck: „die Knochen
stieß er aus der Nase“ (vom Helden beim Fleisch-Essen gesagt; tatarisch;
Radloff 1872, 109); altaituwinisch: „er nieste die kleinen Knochen aus der Nase,
er spuckte die großen Knochen aus dem Mund“ (Taube 1978a, S. 56).
Kehren wir zu dem Gespräch der zwei hungrigen Raben zurück. Die generellen
deutlichen und reichlichen Bezüge der tatarischen Märchen zu einer
zentralasiatischen Tradition lassen die Vermutung zu, daß Därdmänd, der in
Orenburg lebte, dieses Motiv auch aus der einheimischen Folkloretradition
gekannt haben könnte, auch wenn es von mir vorläufig – in der von ihm
verwendeten spezifischen Gestalt – nicht zu belegen war. Sehr nahe kommt ihr
immerhin die Vorfreude eines Raben auf das Blut eines möglichen Toten in dem
oben zitierten Radloffschen Text der Baraba-Tataren: „möchte dich doch Kara
Kan töten…, dann möchte ich dein Blut löffelweise trinken…“.
Radloff weist im Vorwort zu Theil IV seiner „Proben“ darauf hin, daß es nicht
einfach war, unter den tatarischen Gruppen zu sammeln, wegen des – für diesen
Zweck ungünstigen – Einflusses der Mullahs auf die Informanten. Und es gilt
nach meiner Erfahrung grundsätzlich, daß es letztlich immer auch von Zufällen
abhängt, was aus der mündlichen Überlieferung erfaßt werden kann und was uns
– zunächst oder für immer – verborgen bleibt. Wenn also ein Motiv in einer
bestimmten Gestaltung in einer konkreten Tradition nicht anzutreffen ist,
bedeutet das nicht, daß es darin nicht vorkommt. Andererseits ist in der
mündlichen Folklore die Variabilität – selbst innerhalb eines engeren
Überlieferungsbereichs – so lebhaft, daß es einzelner genauer
Übereinstimmungen nicht bedarf zur Erhellung von Beziehungsfeldern. Die
Gestaltung des Motivs vom Raben-Gespräch in Därdmänds Gedicht entspricht
der allgemein erkennbaren Tendenz zur Entmythisierung oder Verweltlichung,
die vor allem in den tatarischen Märchen aus dem Wolgagebiet zu beobachten
ist. Und doch erscheint es mir fast, als sollte der Raub des Pferdes in Därdmänds
Version begründen, warum es den eigentlich zu erwartenden Versuch einer
Wiederbelebung seines Herrn nicht unternehmen konnte.
Die Betrachtung – ausgelöst durch das Gespräch zweier Raben – regt dazu an,
den similarities – jenen kleinsten semantischen Einheiten innerhalb und im
11
Umfeld mündlicher Überlieferung – grundsätzlich mehr Beachtung zu schenken,
aber auch, sie an einem bestimmten begrenzten Material näher zu untersuchen.
Es sei mir erlaubt, mit einer, wenn auch naheliegenden, Vermutung zu
schließen, daß nämlich das hier relevante Motiv von den zwei Raben, die durch
das Unglück Dritter ein gutes Mahl erwarten dürfen, nicht nur von Schottland
über St. Petersburg zu Därdmänd nach Orenburg gekommen sei – daß der Rabe
nicht nur nach Osten geflogen sein muß.
Literatur
Berta, Á. (ed.) 1988: Wolgatatarische Dialektstudien. Textkritische Neuausgabe
der Originalsammlung von G. Bálint. (Keleti Tanulmányok – Oriental
Studies 7). Budapest.
Golovkina, O. V. (red.) 1966: Tatarsko-russkij slovar’. Moskva.
Jülg, Bernhard 1868: Mongolische Märchen-Sammlung. Die neun Märchen des
Siddhi-kǖr. Nach der ausführlicheren Redaction… Innsbruck.
Karahka, Eino (ed.) 1953: Mischärtatarische Volksdichtung. Gesammelt von
Heikki Paasonen. (Suomalais-Ugrilaisen seuran toimituksia – Mémoires de
la Société Finno-Ougrienne 105). Helsinki.
Kügelgen, Anke von, Kemper, M. & Frank, A. J. (ed.) 1998: Muslim Culture in
Russia and Central Asia from the 18th to the Early 20th Centuries. Vol. 2:
Inter-Regional and Inter-Ethnic Relations. (Islamkundliche Untersuchungen,
Bd. 216). Berlin.
Kúnos, Ignác 1989: Kasantatarische Volksmärchen, von Zsuzsa Kakuk [und
Imre Baski?] herausgegeben. (Keleti Tanulmányok – Oriental Studies 8).
Budapest.
Radloff, W[ilhelm] (ed.) 1872: Die Sprachen der türkischen Stämme. I.
Abtheilung. Proben der Volkslitteratur der türkischen Stämme Süd-Sibiriens.
IV. Theil: Die Mundarten der Barabiner, Taraer, Toboler und Tümenischen
Tataren. St. Petersburg [Reprint Leipzig 1965].
Skazki narodov RSFSR. Moskva 1961.
12
Taube, Erika 1977: Das leopardenscheckige Pferd. Märchen der Tuwiner. In der
MVR gesammelt und nacherzählt. Berlin.
Taube, E. (ed. u. übers.) 1978a: Tuwinische Volksmärchen. Berlin.
Taube, E. 1978b: Das Märchen von Bögen Sagān Tōlaj und seine Beziehungen
zu einer Überlieferung von der Herkunft der Cengel-Tuwiner. In. Richter,
Eberhardt & Taube, Manfred (ed.) 1978: Asienwissenschaftliche Beiträge.
Johannes Schubert in memoriam. (Veröffentlichungen des Museums für
Völkerkunde zu Leipzig, Heft 32). Berlin. 139-168.
Taube, E. (Übers.) 1988: Ergil-ool. Chan Tögüsvek. In: Hänsel, Regina (ed.)
1988: Heldensagen aus aller Welt. Berlin (Lizenzausgabe Stuttgart). 120128, 224-257.
Taube, E. (ed.) 1994: Skazki i predanija altajskich tuvincev. Moskva.
Taube, Jakob 1990: Der halbe Kicherling. Usbekische Märchen. Leipzig.
Vatagin, Mark 1988: Skazki narodov Rossii. Minsk.
13
Fußnoten
1. In Kügelgen, Kemper & Frank 1998: 527-559.
2. Nach Berta 1988: 294: kozγon – „Rabe (corvus corax)“; Golovkina 1966:
kozgyn – vóron, Rabe; alttürk. γusγun – „Rabe“.
3. Siehe Taube, E. 1978a: 171f. (Nr. 34).
4. In der Version, die der Vater der Erzählerin vortrug (Taube, E. 1994: 216224, Nr. 25), ist die Greisin Dojnu Xara 91 Jahre alt, und der Baum heißt
Dondūd Bom. In beiden Fällen ist von Raben (γusγun, standardtuwin.
kuskun) die Rede. Meine Übersetzung mit „Krähe“ in Taube, E. 1978a ist
falsch (korrigiert in Taube, E. 1994).
5. Taube, E. 1978a: 216-218 (Nr. 40).
6. Siehe Taube, J. 1990: 66-71.
7. Jülg 1868: 10-14 und 147-152.
8. Taube, E. 1978a: 298-300 (Nr. 64).
9. Taube, E. 1978a: 155-189 (Nr. 17), spez. S. 168; ^994;: 168.
10. Berta 1988: 294.
11. Karahka 1953.
12. Kúnos 1989.
13. Radloff 1872.
14. Erklärungen wurden dagegen von einigen meiner Erzähler gegeben zu
einem bestimmten Pfeiltyp, zum Bewegungsablauf bei einer konkreten
Arbeitstechnik oder zu einer bestimmten Verhaltensweise, zu einem nicht
mehr gebräuchlichen Kleidungsstück u. ä.
15. Taube, E. 1994: 276 (Nr. 56).
16. Vatagin 1988: 81f.
17. Taube, E. 1977: 123; 1994: Nr. 40.
18. Taube, E. 1978a: 282-285 (Nr. 58).
19. Berta 1988: Nr. 29 und 25; Karahka (Paasonen) 1953: Nr. 5.
14
20. Taube, E. 1978a: 154-^58 (Nr. 32).
21. Berta 1988: 189-190 (Nr. 33).
22. Radloff 1872: 409-411.
23. Taube, E. 1978a: 245-254 (Nr. 49).
24. Taube, E. 1978a: 192-206 (Nr. 37).
25. Radloff 1872: 443ff.
26. Taube, E. 1977: 70-73; 1994: 242-244 (Nr. 32).
27. Tatarisch in „Samyj silnyj“. Skazki narodov RSFSR. Moskva 1961, 71-84.
28. Taube, E. 1978b (vgl. Taube, E. 1978a: 97-120, Nr. 27).
29. Vergleiche Radloff 1872: 397-405.
30. Vergleiche dieses Motiv bei islamischen Tataren in Radloff 1872: 410.
31. Taube, E. 1978a: 154-158 (Nr. 32); seine Variante aus Tuwa: op. cit. Nr.
31.