Wie in Davos die Zeit verrutscht

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Wie in Davos die Zeit verrutscht
FREIZEIT
Auf dem Weg nach oben: Lärchen versperren die Sicht auf Davos.
Wie in Davos die Zeit verr
Eine Herbstwanderung von Davos auf
die Schatzalp und weiter – mit literarisch
umgesetzten Eindrücken berühmter
Gäste im Gepäck.
Text und Fotos:
Claudia Gürtler*
W
er Davos sagt, sagt auch
Zauberberg. Zu Unrecht,
wie Thomas Mann betonte, denn sein
«Zauberberg» handle von den grossen
Themen Liebe, Leben und Tod, und
Davos sei dafür lediglich die Kulisse.
Davos selbst aber wartete lange auf
den grossen realistischen Roman, im
sicheren Bewusstsein, dass der Kurort
mit seinen illustren Gästen nach einem Schilderer geradezu rufe. Als
Thomas Mann 1912 anreiste, um seine Frau
Katja im Sanatorium zu
besuchen, sah man seiner
Ankunft hoffnungsfroh
entgegen. «Der Zauberberg ist Davos», freuten
sich die DavoserInnen 1925 beim Erscheinen des Romans.
Wie die berühmten Gäste Thomas
Mann, Robert Louis Stevenson, Hugo
Marti, Arthur Conan Doyle und weitere kommen auch wir zum Beobachten, reisen im Zug an und lassen uns
begleiten.
«In Landquart ist man den Zug zu
wechseln gezwungen, dies nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend», lässt Mann seinen Hans Castorp sagen, der drei
Wochen bleiben will, aus denen sieben
Jahre werden.
«Drei Wochen sind freilich fast nichts
für uns hier oben», erklärt der kranke
Ziemssen seinem Besucher. «Die springen hier um mit der menschlichen
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… oder mit der Standseilbahn
fahren
Auf der Schatzalp war tet nach 300 Höhenmetern die verdiente Aussicht auf Davos.
rutscht
Zeit, das glaubst du gar nicht. Drei Wochen sind wie ein Tag vor ihnen. Du
wirst schon sehen …»
Recht hatte er, aber das werden wir erst
in ein paar Stunden wissen. Auch uns
wird die Zeit «verrutschen», sie wird
uns lang – und sehr erholsam – vorkommen.
Gehen, schlendern, wandern …
Das Warten in Landquart bleibt den
heutigen Reisenden erspart. Die Fahrpläne von SBB und Rhätischer Bahn
sind aufeinander abgestimmt. Ab
Schiers steigt die Strecke. Knarzend
legt sich der Zug in die Kurven, sodass
man die feuerroten hinteren Wagen
sieht.
«Stockfinstere Tunnel, Abgründe, die
sich türmende Gipfelwelt des Hochge-
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birges.» Angst und bange wird Castorp
ob der Höhe. In Davos-Dorf erhalten
wir im Touristenbüro einen Wanderplan. Gegenüber vom Bahnhof finden
wir unter dem Hotel Realp gelbe Wegweiser und beginnen Richtung Büschalp aufzusteigen.
Das steil ansteigende Teersträsschen
quert die berühmte «Hohe Promenade» und geht gleich nach dem
Wegweiser «Weissfluhjoch» in einen
Naturpfad über. Nach 45 Minuten Aufstieg durch den Lärchenwald, hinter
dem Davos unsichtbar bleibt, sehen
wir auf 1850 Metern Höhe die Hütte
der unteren Büschalp.
Unterwegs erinnern wir uns an Thomas Manns Eindruck, vom immer
wieder unerwartet auftauchenden Davos beobachtet zu werden. Vom Bergkranz ringsum fühlte er sich eingesperrt, während Hugo Marti in seinem
Davoser Stundenbuch gerührt vom
Behütet-und-umarmt-Werden durch
Berge und das allgegenwärtige Davos
schreibt.
Rasch geraten wir ins Schwitzen und
wundern uns, dass es Lungenkranken
gelungen sein soll, den Weg zu bewältigen. Gehen, Schlendern, Wandern
bildeten ja neben der «Liegekur» den
zweiten Schwerpunkt in der Therapie
gegen Tuberkulose.
Vielleicht haben sie sich hinauftransportieren lassen, um gemütlich hinunterzuwandern, vermuten wir. Seit 1889
ist die Schatzalp über eine Standseilbahn zu erreichen, und weiter rechts
verbindet seit 1931 die Parsenn-Bahn
Davos mit der «Hohen Promenade»
rund 300 Meter über dem Dorf.
Auch das unerwartet warme Wetter auf
dieser Höhe erstaunt uns. Im «Zauberberg» finden wir sie auch in diesem
Zusammenhang wieder, die verrutschte Zeit.
«Die Sache ist die», sagt Ziemssen,
«dass die Jahreszeiten hier nicht so
sehr voneinander verschieden sind.
Sie vermischen sich und halten sich
nicht an den Kalender. Bis Mitte September folgen herrliche Hochsommertage, ungezählte solcher Tage, eine
ganze Serie davon.»
Der September ist für Wanderungen in
Davos also ideal, ebenso wie der Oktober.
Die Schatzalp mit dem einstigen Sanatorium diente dem Roman
«Zauberberg» von Thomas Mann als Kulisse.
«Ein nachträglicher Sommer fiel ein,
dass es zum Verwundern war. Ein herrlicher Herbstmorgen, sonnig und
frisch ... ein Tag, heiss und leicht, festlich und herb zugleich.»
Eine herbstliche Dessertlandschaft
Hans Castorp vergleicht den Davoser
Herbst gar mit Kulinarischem. Er
denkt an eine «Omelette surprise mit
Gefrorenem unter dem heissen Eierschaum». Vielleicht nahmen die Kranken auch munter, fast übermütig den
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Weg unter die Füsse, wie Castorp, der
am sechsten Tag alleine loszog. «Das
Steigen freute Hans Castorp, und als
er, aus einiger Höhe zurückblickend,
in der Ferne den Spiegel des Sees gewahrte, begann er zu singen.»
Sang- und klanglos freuen wir uns
über die hervorragende Beschilderung
der Wanderwege und gehen nach links
Richtung Schatzalp. Castorp indessen
überfiel bald eine grosse Erschöpfung,
und es wurde «eine klägliche Heimkehr nach einem so hochgemuten
Auszug. Wiederholt musste er am
Wege rasten …» Ob die vielen einladenden Bänke – jede mit Abfallkorb –
schon damals an den Wanderwegen
standen? Ganz überraschend geben
die Lärchen den Blick aufs Jakobshorn
frei. Der Davoser Tennisplatz liegt bereits ein ganzes Stück unter uns, und
von der Büschalp auf die Schatzalp
sind es nur 30 Minuten.
Das mit Spannung erwartete ehemalige Sanatoriumsgebäude überrascht
mit seiner geringen Grösse. Erst später
sehen wir, dass es weit in den Berg hineinreicht. Dominant sind links die
Zimmer mit grossen Fenstern, die oft
offen standen. Das einfache Mittagsmenü geniessen wir mit fantastischem
Ausblick aufs Jakobshorn.
Über neun Alpen
Die Schatzalp hat viel zu bieten: eine
Sommerschlittelbahn durch wilde Lupinen, einen Wasserfall- und einen
Bannwaldrundgang. Wir entscheiden
uns für einen Besuch des Alpinums.
«Wir genesen hier mit Hilfe von Giften», sagte schon Mynher Peeperkorn,
und wenn er Gifte sagte, meinte er
Pflanzen. Ein Bach liefert die passende
Hintergrundmusik, während wir die
Listen der im letzten Jahr gesichteten
Vögel und Schmetterlinge bestaunen.
Kennen Sie den Mohrenfalter, den
Brombeerzipfelfalter, den Zwergbläuling?
Kennen Sie den Alpenmauerpfeffer,
den moosartigen Steinbrech, die bewimperte weissblättrige Alpenrose
oder das gemeine Katzenpfötchen? Im
völlig natürlich wirkenden, gross angelegten Garten sind Tausende Pflänzchen sorgfältig beschriftet.
Unter dem Alpinum überqueren wir
den Bach auf einem Holzsteg Richtung
Lochalp. Falter aus dem Alpinum begleiten uns lange. Und immer wieder
verschwindet Davos, taucht auf, blinzelt, winkt uns zu.
Die auf 2003 Metern über Meer gelegene Lochalp erreichen wir nach
40 Minuten. Je weiter wir uns von der
Schatzalp entfernen, umso einsamer
werden die Wege. Enzian, das Kuhglockengeläute, das der musikalische
Castorp so gerne mochte, Alpenrosen
in dicken Büschen.
Auf dem Davoser Neun-Alpen-Weg
könnten wir noch lange weiterwandern. Wir entscheiden uns für den Abstieg, der von jeder Alp aus möglich
ist, und der Weg unterstreicht den Entschluss mit einer energischen Biegung.
Davos kommt in Sicht, und es geht
durch den Wald steil hinunter. Auf der
von Mensch und Tier verlassenen
Grüeni Alp auf 1913 Metern, die wir
nach 30 Minuten erreichen, sind wir
dem Ort wieder ein ganzes Stück
näher. In weiteren 45 Minuten erreichen wir über Waldwegserpentinen
Davos-Platz. Von hier aus gelangt man
mit den häufig verkehrenden Postautos zurück an den Ausgangspunkt
Davos-Dorf.
Der Touristenort mit seinen Läden
und Restaurants, dem Hotel Zauberberg und der Bar Zauberberg und der
Sommerhitze heisst uns willkommen.
Wir haben den Eindruck, tagelang in
den Zauberbergen unterwegs gewesen
zu sein. Für die Gemächlichkeit, mit
der uns die Rhätische Bahn zurückträgt in den Alltag, sind wir fast dankbar. Wir werden uns bald wieder ein-
mal die Zeit verrutschen lassen, denn
das ist Erholung pur.
*Claudia Gürtler ist Jugendbuchautorin und
Bibliothekarin. Sie lebt in Allschwil. Ihre Homepage: www.graueinsel.ch
Route
Anreise mit Auto oder Zug nach
Davos-Dorf. Büschalp, Schatzalp,
Lochalp, Grüeni Alp, Davos-Platz und
mit dem Postauto zurück nach Davos-Dorf.
Wanderzeit
Rund 3 Stunden. Kürzere oder längere Varianten sind möglich. Sehr gut
ausgeschilderte Wanderwege.
Karten
• Wanderplan bei Davos Tourismus
erhältlich, Tel. 081-415 21 21
E-Mail: [email protected]
Internet: www.davos.ch
• Landeskarte der Schweiz,
1:25 000, Blatt 1197, Davos
• Landeskarte der Schweiz,
1:50 000, Blatt 248T, Prättigau
Zum Lesen
• «Der Zauberberg». Thomas Mann.
Fischer. 2000 (Neuauflage).
1008 Seiten.
Fr. 23.50. ISBN: 3-59629-433-6.
• «LiteraTour durch die Schweiz».
Hans Schüpbach. Ott Verlag. 2002.
Fr. 39.80. ISBN: 3-72256-418-2
• «Höhen, Tiefen, Zauberberge. Literarische Wanderungen in Graubünden». Andreas Bellasi (Hrsg.).
Rotpunktverlag. 2004. Fr. 42.–.
ISBN: 3-85869-277-8.
• «Davoser Stundenbuch». In: «Die
Tage sind mir wie ein Traum».
Hugo Marti. Huber. 2004. Fr. 48.–.
ISBN: 3-71931-325-5.
Film
DVD: «Der Zauberberg». 1982. Regie: Hans Werner Geissendörfer, mit
Marie-France Pisier, Rod Steiger,
Christoph Eichhorn. Arthaus.
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