05.06.2014 SZ Süddeutsche Zeitung "Mash-up der

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05.06.2014 SZ Süddeutsche Zeitung "Mash-up der
FEUILLETON
DEFGH Nr. 128, Donnerstag, 5. Juni 2014
von laura weissmüller
N
ur der Staubsaugertrupp fehlt
noch. Der rote Teppich vor dem Eingang wirft Falten, auch ein paar Kieselsteine haben sich darauf verirrt. Ansonsten aber ist alles bereit für den großen Auftritt: Film ab für Bungalow Germania, den
deutschen Beitrag auf der Architekturbiennale in Venedig, die am Samstag eröffnet
wird. Und, so viel sei vorweg gesagt, einen
der besten Länderpavillons, den es seit Jahren in den Giardini gab. Die Idee der beiden
Kuratoren Alex Lehnerer und Savvas Ciriacidis klang einfach. Die beiden Architekten, die an der ETH Zürich unterrichten,
wollten den Bonner Kanzlerbungalow auf
den deutschen Pavillon in Venedig treffen
lassen. Das passte perfekt zum Thema „Absorbing Modernity 1914-2014“, das der
diesjährige Biennale-Chef Rem Koolhaas
allen Länderpavillons verordnet hat.
Als Ludwig Erhard anlässlich seines
Amtsantritts 1963 den Kanzlerbungalow
bei dem Architekten Sep Ruf in Auftrag
gab, wollte er eine architektonische Visitenkarte, ein Gebäude, das seine Verdienste
als Vater der sozialen Marktwirtschaft unterstrich und sein Motto „Wohlstand für alle“. Gleichzeitig durfte der Bau aber auf keinen Fall triumphierend oder einschüchternd wirken – schließlich zimmerte sich
hier eine Nation ein Denkmal, deren Allmachtsanspruch vor nicht allzu langer Zeit
die Welt in die Katastrophe gestürzt hatte.
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Mash-up der Monumente
HEUTE
Architekturbiennale in Venedig: Savvas Ciriacidis und Alex Lehnerer ist mit ihrem Schaukampf
Bonner Kanzlerbungalow gegen deutscher Pavillon einer der besten Beiträge seit langem geglückt
Regisseur Richard Linklater über die
zwölf Jahre Arbeit an „Boyhood“,
seinem Langzeit-Projekt
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Feuilleton
Johan Simons verharmlost
Jean Genets „Die Neger“ bei den
Wiener Festwochen
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Literatur
Eckhard Henscheids Roman
„Die Vollidioten“ aus dem Jahr
1972 in einer Neuausgabe
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Ressort
Am Ende zählt das Ende:
Der letzte Eindruck prägt Urteile
im Rückblick besonders
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www.sz.de/kultur
Tempojahre
Vor 15 Jahren ging Ampool online
– ein Blog, der noch nicht so hieß
Wer glaubt, hier träfen eben der
böse Nazi und der gute Demokrat
aufeinander, täuscht sich
Wie Ruf die Aufgabe erfüllte, ist bekannt – die Nation sah den 1964 fertiggestellten Bau fast täglich im Fernsehen.
Durch die raumhohen Glasfassaden der
zwei sich überschneidenden Quader symbolisierte er die Ideale von Demokratie, Offenheit und Transparenz der jungen Bundesrepublik. Gleichzeitig verkörperte die
Bungalow-Typologie für viele Deutsche
die Sehnsuchtswohnform.
Auch der deutsche Pavillon in Venedig
hat mit nationaler Sehnsucht zu tun, nur
war es in diesem Fall die nach Ehrfurcht gebietender Größe. Als Adolf Hitler 1934 den
von Daniele Donghi 1909 entworfenen bayerischen Pavillon besuchte, der 1912 einen
antikisierenden Fries und ein Giebelfeld
verpasst bekam und fortan Padiglione della Germania hieß, empfand er ihn als viel
zu klein für seine Nation. Der Architekt
Ernst Haiger, der beim Bau des Hauses der
Kunst in München mitgearbeitet hatte und
sonst vor allem großbürgerliche Privatvillen entwarf, monumentalisierte den Pavillon daraufhin: mit massiven Pfeilern, einer
theatralischen Apsis, der Verdoppelung
der Grundfläche und einem Eingangsportal, über dem „das Hoheitszeichen des dritten Reichs auf den neuen Geist deutscher
Kunst“ vorbereite, wie Haiger 1938
schrieb.
Doch wer glaubt, das Aufeinandertreffen der beiden Bauten liefere ein simples
Lehrstück, in dem die Rollen bereits verteilt sind – hier der böse Nazi, dort der gute
Demokrat –, der irrt. So, wie der Name der
beiden Bauten verschmolzen ist, sind es
nun auch der Pavillon und der originalgetreue Nachbau des öffentlichen Teils des
Kanzlerbungalows. Dessen weit auskragendes Flachdach stößt gleich zur Begrü-
Film
Das nachgebaute Vordach des Bungalows fährt der NS-Ästhetik des deutschen Pavillons schon am Eingang in die Parade.
ßung keck durch das herrschaftliche Eingangsportal des Pavillons; vor dessen Apsis steht jetzt ein großer Kamin.
Dafür zerschneiden die Wände des Pavillons den größten Raum des Bungalows.
Der Saal, in dem Udo Jürgens für Kurt Georg Kiesinger spielte, Leonid Breschnew,
Willy Brandt und Walter Scheel über die
Ost-West-Annäherung diskutierten und
Michail Gorbatschow mit Helmut Kohl die
Wiedervereinigung besprach, wird dreigeteilt. So geht das in einem fort: Ein Gebäude ringt mit dem anderen – als ebenbürtigem Gegner. Wäre es ein Kampf der Worte,
würde jeder den anderen aussprechen lassen – um dann zu kontern.
Interessant ist dabei dreierlei: Erstens,
wie sich Bungalow und Pavillon immer wieder passgenau überschneiden, wo doch ihre jeweilige politische Bedeutung so diametral auseinanderweisen soll. Wer das große
weiße Faltblatt, das in der Ausstellung die
einzige Information liefert, gegen das
Licht hält, sieht die Grundrisse beider Bauten übereinandergeblendet. Nicht nur einige Wände verlaufen da synchron, sondern
plötzlich steht auch der offene Patio, den
Sep Ruf ganz bewusst aus der Zentralachse
geschoben hat, um das bei den Nationalsozialisten so beliebte Repräsentationsmittel der Symmetrie zu vermeiden, wieder
mittig im Raum.
Zweitens ist bemerkenswert, wie gut die
reine Architektur des einen Baus durch
den Kontext des anderen lesbar wird. Besonders drastisch ist das im Zentralraum
des Pavillons zu sehen. Die schwarze Bungalowdecke, die hier so kläglich niedrig in
den gewaltigen Innenraum ragt, macht auf
zwei weitere Decken aufmerksam. Die
ganz oben mit den offenen Stahlbetonunterzügen, die dem Raum den Charme einer
Industriehalle verleiht; und die mehrere
Meter weiter unten, wo Haiger 1938 die
Tuchdecke eingezogen hatte, deren Verlauf heute noch erkennbar ist.
Die monumentale Höhe des Pavillons,
die gerne dem Monumentalismus der Nazis zugeschrieben wird, war tatsächlich seinem letzten Umbau 1964 geschuldet. Erst
im selben Jahr, als man in Bonn den Bungalow baute, legte man in Venedig die Decke
frei. Bis dahin waren auch die vielen Fenster für den Besucher im Innenraum nicht
zu sehen. Bei Haiger dienten sie nur der Beleuchtung der transluzenten Decke.
So modern und offen wie Sep Rufs 1964 gebauter Kanzlerbungalow sah sich auch die junge BRD.
FOTO:TOMAS RIEHLE/ARTURIMAGES
Das Erstaunlichste an dieser Montage
aber ist, wie sie die rhetorischen Tricks gerade beim Kanzlerbungalow deutlich
macht. Lehnerer und Ciriacidis nennen es
„die Entmythologisierung des Glases als
Glücksversprechen“. Da der Bungalow aus
Glas und Stahl jetzt nicht mehr im Grün
der Bonner Flusslandschaft steht, sondern
inmitten weißer Wände, bekommen seine
Umgrenzungen plötzlich eine Kontur, die
sie vorher nicht hatten. Was so offen,
durchsichtig und damit demokratisch
wirkte, erscheint plötzlich hermetisch abgeriegelt. Die Glaswand entlarvt ihre trennende Funktion. Statt den Blick durchzulassen, prallt der immer wieder ab.
Dass Glas für Transparenz und
Demokratie steht, wird hier als
Lüge der Moderne entlarvt
Was das bedeutet? Dass eine Wand aus
Glas auch nicht demokratischer ist als eine
aus Stein und Beton. Tatsächlich verschanzte sich der ach so demokratische
Kanzlerbungalow wie ein Schloss in einem
weitläufigen Park. Sogar ein unterirdischer Atombunker war ursprünglich geplant. Doch nach der Debatte um die horrenden Baukosten des Bungalows begnügte man sich schließlich mit einem normalen Luftschutzkeller, Standard im Kalten
Krieg. Bild titelte 1964 prompt „Erhard
wohnt wie ein Maulwurf.“
Die gläserne Offenheit als Symbol für
Demokratie wirkt jedenfalls wenig glaubwürdig. Noch dazu heute, wo Glas und
Stahl viel von ihrer einst hehren Fortschrittlichkeit eingebüßt haben. Für die
amerikanische
Architekturhistorikerin
Joan Ockman stehen die Materialien für
Kapitalismus und Großkonzerne. Für den
Soziologen Richard Sennett für das Absterben des öffentlichen Raumes.
All das zeigt, wie Architektur politisch
instrumentalisiert wurde. Bei aller vermeintlichen Privatheit des Bungalows war
der ja tatsächlich vor allem politische Bühne. Schon Erhard wusste: „Moderne Poli-
FOTO: CLA/BAS PRINCEN
tik stellt sich vor der Kamera dar, nicht im
Parlament.“ Und postulierte: „Sie lernen
mich besser kennen, wenn Sie dieses Haus
ansehen, als wenn Sie mich eine politische
Rede halten sehen.“
Das offene Wohnzimmer kennt die Nation denn auch nur durchs Fernsehen.
Kaum einer hat den Bungalow, den die
Nachfolger von Erhard nicht besonders
schätzten und nach ihrem Gusto umbauen
ließen, je in Bonn besucht. Versteckt im
Park hatte er nicht einmal eine öffentliche
Fassade. Erst die Kamera hat sie ihm gegeben – und in gewisser Weise auch sein Bild
geformt. Die weißen Wände des Pavillons
sehen denn auch aus wie die Außenmauern eines Fernsehstudios. Was hier im weißen Licht präsentiert wird, ist ein TV-Star.
Ein lupenreiner Demokrat.
Indem die Kuratoren die politische Rolle beider Bauten offenlegen, machen sie
ein System sichtbar, das sich leicht auf andere Häuser übertragen lässt. Etwa auf das
neue BND-Gebäude, das durch seine abertausend Glasfenster Offenheit suggeriert,
obwohl von dort aus in Wahrheit die Durchleuchtung aller betrieben wird. Oder die
amerikanische Botschaft in Berlin, die sich
am Brandenburger Tor in einer Art monumentalem Hochbunker vor vermeintlichen Gefahren schützt, den sie aber nebenbei zu Spionageangriffen benutzt.
Es gäbe noch viele andere Beispiele dafür, wie Häuser als Propagandisten ihrer
Bauherren dienen. Die Kuratoren schärfen
einem mit ihrer so sorgfältigen wie spektakulären Montage – alle Materialien, die für
den Bungalow-Nachbau verwendet wurden, sind mit denen in Bonn identisch, die
Stahlträger wie die 14 Tonnen Ziegel – dafür den Blick.
Nicht zuletzt führen sie aber auch vor,
wie gut sich der Pavillon heute für Ausstellungen eignet – nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Geschichte. Alle, die ihn
mal wieder abreißen und neu aufbauen
wollen, ob luftig, massiv, unterirdisch oder
noch monumentaler, als er schon ist, sollten sich diese Ausstellung nicht entgehen
lassen.
Das Internet vergisst ja nichts, der Mensch
dafür umso mehr. Deswegen ist es gerade
für einen, der damals beteiligt war, ein so
großes Vergnügen, sich noch einmal durch
die archivierten Webseiten des Onlineforums ampool.de zu lesen, das am 5. Juni
1999 startete (http://www.imloop.de/archiv/poolarc/pool01.htm, die alte Adresse
funktioniert nicht mehr). In der Nacht zuvor hatte der Programmierer in Berlin
Funktionstüchtigkeit gemeldet: „party till
processor meltdown friday“. Das traf den
Geist, den Rainald Goetz mit seinem Zitat
„Der Text ist die Party“ vorgab. Und er hatte auch das Format mit seinem Internettagebuch „Abfall für alle“ schon erkundet.
Goetz stieß dann ein paar Monate später
zum Kreis auf ampool.de, den die Schriftsteller Sven Lager und Elke Naters mit Passwortzugängen ausgestattet hatten. Zu
dem gehörten Autoren wie Christian
Kracht, Andreas Neumeister, Georg M.
Oswald und Maike Wetzel, Künstler wie
Martin Fengel und Ursula Döbereiner,
Journalisten wie Moritz von Uslar und der
damalige Reporter Tom Kummer.
Es geht beim Nachlesen aber weniger
um die historische Einordnung. Das eigentlich Interessante am archivierten Textfluss ist die Begeisterung, welche die Gruppe erfasste, als sie sich auf ein neues Medium einließ, für das es damals noch nicht
sehr viele Worte gab. Denn was Naters und
Lager vier Jahre nach dem Start des World
Wide Web als Pool stilisierten, war natürlich ein Blog, auch wenn den Begriff damals noch niemand kannte. Ansonsten
aber finden sich dort schon 1999 all die Formen, die das digitale Vokabular der Gegenwart bestimmen – die Textminiaturen, Beobachtungen, Wortreihen, Zweisatz-Einwürfe, Bild- und Sprachfundstücke, Pointen und Gedankenfetzen.
In den 80 Seiten Text (hin und wieder
hakt das Archiv, dann muss man die Seitenzahl per Hand in die URL eintragen) findet
man aber vor allem die Beschleunigung in
einen schreiberischen Temporausch, der
alleine durch seine Geschwindigkeit eine
lyrische Qualität entwickelte. Der Pool war
dann in Wirklichkeit ein Speedway, und
auf dem war das Netz eine wundervolle,
digital schimmernde Hochleistungsmaschine, die man sich unterwerfen konnte.
Ampool endete mit dem Zeitstempel
10.02.01 7:56 und einem neuen Experiment. Anonym sollte es weitergehen. Bald
folgte ein Buch. Beides funktionierte nicht.
Das Tempo aber ist im Netz geblieben, genauso wie die Leidenschaft für Text und
Maschine, diese unbändige Lust jetzt und
sofort zu veröffentlichen. Ungeschönt. Ungehobelt. Mit vollem Risiko, den nächsten
Satz und damit sich selbst zu demontieren.
Denn auch das gilt ja heute mehr noch als
damals: Das Internet vergisst nichts. eye
Das Bildungsbürgerding
Der kanadische Pianist, Rapper und Entertainer Chilly Gonzales hat ein Klavier-Lehrbuch für Anfänger geschrieben, das jeder Klavier-Schüler besitzen sollte
Übung macht keinen Meister, sondern
schlechte Laune. Schon mal Bartók auf
dem Klavier gespielt? Die Etüden? Oder
Czerny, die Übungsstücke? Es gab Zeiten,
in denen musste jeder Klavierschüler da
durch, und auch wenn es heißt, es sei unabdingbar für die Fingertechnik: Was man da
vor sich hinklimpert, klingt lieblos und eintönig und dröge und staubig. Weil es eben
nicht um eine musikalische Herausforderung, sondern nur um Spieltechnik geht.
Akustischer Lebertran: Mag ja förderlich
sein, ist aber grässlich. Das Gegenteil –
kompositorisch wertvolle Etüden, die kein
Normalsterblicher je hinbekommt –
macht natürlich auch nicht glücklich. LisztEtüden: Selbstmord für die Finger. ChopinEtüden: wunderschön, aber wer sich je die
linke Hand an der Revolutionsetüde verknotet hat, weiß, sie sollte eigentlich Sisyphos-Etüde heißen.
Der kanadische Pianist und Entertainer
Chilly Gonzales kennt das Problem. Er wurde auf diesen Seiten schon oft für seine
Konzerte gerühmt, bei denen er nicht nur
spielt, sondern auch doziert, Geschichten
erzählt, Zuhörer zur spontanen Unterrichtsstunde auf die Bühne bittet. Gonzales weiß, dass es unter seinen Fans (und
das sind viele, in München zum Beispiel fül-
len seine Auftritte mühelos die Philharmonie) überdurchschnittlich viele Menschen
gibt, die selbst früher einmal Klavier gespielt haben. Menschen, die das meiste aus
den üblichen paar Jahren Unterricht in ihrer Jugend längst vergessen haben, aber
immer noch genug wissen, um ihm bei seinen Exkursen über Tonarten und Musikgeschichte folgen zu können.
Nach jedem Gonzales-Konzert gehen
mindestens 500 Zuhörer (gründliche
Schätzung der SZ) mit dem festen Vorsatz
nach Hause, mal wieder selbst Klavier zu
spielen. Die Frage ist bloß: Wo anfangen?
Sich die Finger brechen an Stücken, die vor
20 Jahren schon zu schwer waren? Noch
mal ganz vorne anfangen, mit dem „Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach“? Alles
nicht besonders verlockend. Also legt Chilly Gonzales, der schlaue Hund, einen eigenen Etüden-Band vor: 24 einfache Stücke
in klassischer Notation unter dem Titel
„Re-Introduction Etudes“, dazu das Ganze
auch noch als CD, für den Fall, dass die
Schüler am Ende doch lieber ihm zuhören,
als sich selbst abzumühen.
Die Stücke könnten großteils auch von
Gonzales’ sehr erfolgreichen „Solo Piano“-Alben stammen: einfache Miniaturen,
klare Melodieführung, kaum komplexe Ak-
kordwechsel. Ein bisschen Erik Satie, ein
wenig Chopin, eher wenig Jazztonalität, dafür Pop-Anklänge. Auch Feierabendmusiker, die lange nicht mehr vor einem Klavier
saßen, kommen mit diesen Stücken in kurzer Zeit sehr weit. Denn Gonzales hat genau im Blick, wie hoch eine Schwelle sein
darf, damit es ein Klavierschüler mit eingerosteten Fingern drüber schafft.
Der Mann mag ironische Späße,
aber das hier ist kein Scherz
Jede der 24 Etüden widmet sich einer
speziellen Technik. Damit ist nicht nur
spielerische Technik gemeint, sondern
auch kompositorische: Das Stück „Climbing and Falling“ veranschaulicht das Prinzip „Tonleitern als Melodien“, „Cycle Therapy“ führt den Quintenzirkel vor, „Lefties“
Begleitungen für die linke Hand. Wer diese
Stücke übt, trainiert also nicht nur seine
Finger, sondern auch seine Aufmerksamkeit für musikalische Strukturen. In liebevollen Begleittexten vermittelt Gonzales jede Menge verblüffende Theorie. Er
schreibt, Arpeggios seien sowohl „das Herz
von Glenn Millers ‚In The Mood‘ und Daft
Punks ‚Aerodynamic‘“. Er erfindet die
„Green Note“ – im Gegensatz zur Blue Note
des Jazz ein Ganzton-Vorschlag, der eher
nach Pop klingen soll. Und zum Wert der
Pause zwischen einzelnen Tönen sagt er,
mit ihr sei es „wie auf einem schlecht besuchten Chilly-Gonzales-Konzert: Die leeren Sitze neben jedem Besucher machen jeden von ihnen umso besonderer“.
Gonzales, der studierte Ex-Jazzer,
kommt mit dieser Idee genau zur richtigen
Zeit. Es gibt ja seit ein paar Jahren einen
weit verbreiteten Drang zum Selbermachen. Menschen backen eigenes Brot, basteln alles Mögliche für den Haushalt aus
Holz, Stricken und Handarbeitstechniken
werden immer wieder zum Trend ausgerufen. Da kommt Hausmusik gerade recht.
Nicht nur konsumieren, nicht passiv im
Konzertsaal sitzen, sondern: selbst spielen. Üben. Staunen, was die eigenen Finger
da auf den Tasten veranstalten.
Und Chilly wäre nicht Gonzales, wenn er
sich nicht auch hier wieder ein paar ironische Anspielungen erlauben würde. Jede
seiner 24 Etüden ist jemandem gewidmet.
Dass da Namen wie Johannes Brahms oder
Clara Schumann auftauchen, logisch, auch
Zeitgenossen wie Daft Punk oder Prince
passen. Aber Barack Obama, Steve Jobs,
„Mein Bruder Chris“ – wie bitte? Gonzales
mag diese Verwirrspielchen. Wie bei sei-
Dieser Künstler möchte helfen, wirklich:
Chilly Gonzales.
FOTO: GENTLETHREAT
nen Konzerten wiegt er auch hier seine
Fans in Sicherheit, und dann kitzelt er sie
ein bisschen, nicht wild, nicht gemein, gerade so, dass sie kichern. Das ist hervorragende Unterhaltung, die nicht wehtut, und
immer wieder muss sich Gonzales auch
den Vorwurf der Gefälligkeit anhören.
Stimmt ja, man könnte Gonzales bespötteln als einen Mann, der sein Publikum gefunden hat: junge Bildungsbürger, die sich
von ihm genau das Bildungsbürgerding ihrer Elternhäuser vorführen lassen, nur
eben mit ein, zwei ironischen Umdrehungen. Aber das würde zu kurz greifen.
Denn auch wenn Gonzales ironische
Späße mag; auch wenn er sich mit schiefem Grinsen als schräger Entertainer-Onkel geriert, holprig rappt oder kuriose Erläuterungen zu seinen Etüden verfasst – er
liebt, was er tut. Er meint es ernst. Er bietet
seine Hilfe an. Er will, dass die Leute sich
wieder selbst ans Klavier trauen. Das ist eine große Geste, und sie ist umso schöner,
weil er sie eben kein bisschen bricht. Diese
Etüden sind viel mehr als ein Scherz. Spätestens in ein paar Jahren wird eine ganze
Generation von Klavier-Anfängern völlig
selbstverständlich mit diesem Notenband
unterrichtet werden. Jede Wette.
max fellmann