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Identitäten im globalen Village
von Daniel Richter
Small Town Boys & Girls
Im Jahr 1984 ging ein Hit rund um die Welt. Seine eingängige Melodie setzte sich in den Köpfen
unzähliger Fans fest. Doch der Song bestach nicht nur durch seinen einprägsamen Beat, sondern
wesentlich durch seine politische Intention. Die Rede ist von dem Song Smalltown Boy der britischen
Synthie-Pop-Band Bronski Beat. Ihr Sänger Jimmy Somerville bezeichnete den Song einmal als
emotionalen Schrei eines Ausgestoßenen ohne Zukunft. Er schildert die bewegende Geschichte
eines Jungen, der nach seinem Coming-out aus der heteronormativen Enge einer Kleinstadt ausbricht, um
seine Homosexualität in der Großstadt jenseits der Zwänge seines verständnislosen
Elternhauses frei leben zu können.
„Mother will never understand/ Why you had to leave/ For the answers you seek will never be
found at home/ The love that you need will never be found at home/ Run away, turn away, run away, turn
away, run away/ Run away, turn away, run away, turn away, run away.“
Kartographierungen des Ich
Falk Richters Figuren sind allesamt Small Town Boys und Girls. Um sich aus bürgerlich- familiären
Zwängen zu befreien, sind sie einst aufgebrochen zu einem neuen Horizont einer digital verzweigten Welt.
Durch ihre Befreiung aus traditionellen Lebenskontexten in der Spätmoderne haben gängige
Biografiemuster an Prägekraft für die Entwicklung ihrer eigenen Identität verloren und einen Zerfall
sozialer Zugehörigkeit nach sich gezogen. Statt sich an überkommenen Lebensformen zu orientieren,
stehen sie vor einem ganzen Spektrum an Optionen. Ihnen kommt die Aufgabe zu, Sinn und Identität
selbst zu konstruieren. Der Einzelne ist „Architekt und Baumeister seines eigenen
Lebensgehäuses“1 geworden, der sich von nun an im „Supermarkt der
Identitätsentwürfe“ aus unterschiedlichen biografischen Bausätzen eine eigene
Identität entwerfen muss. Eine regelrechte Jagd nach dem Ich hat eingesetzt. Sie alle sind Kinder einer
fortschreitenden Globalisierung, die nachhaltig Auswirkungen auf ihre Identität genommen hat. Das Global
Village bildet durch die grenzenlose Zirkulation von Waren, kulturellen Symbolen, Wertgebäuden und Ideen
einen Global Store identitätsstiftender Module. Eingeschliffene Identitätsmuster haben im Zuge dessen
ihre „Normalität“ verloren. Identität ist in den vorliegenden Stücken keine
starre Konstante mehr, sondern eine stets neu zu konstruierende, zu verteidigende und zu erkämpfende
Größe. Die gesellschaftliche Forderung, sich aus biografischen Versatzstücken eine eigene
Identität zu konstruieren, stellt für die Protagonisten der Stücke ein störanfälliges Projekt dar. Denn
der Gewinn an Optionsspielräumen bringt den Verlust von Sicherheit und Zugehörigkeit mit sich.
Überforderung und Erschöpfung stellen sich angesichts der Herausforderung ein, permanent aus
dem „Supermarkt der Identitäten“ auswählen zu müssen. Damit einher
gehen Ängste, sich falsch zu entscheiden. Richters Stücke zeigen eine globale Gesellschaft, die in
eine Vielzahl von widersprüchlichen Lebensformen, Werten und Sinnwelten zersplittert ist, und in der die
schwierige Suche nach sich selbst zur Zerreißprobe, die Frage nach Identität zum Identitätsstress
wird. Es sind rastlose Individuen in transitorischen Zuständen auf einer erschöpfenden Suche nach
Identität und übergeordnetem Sinn im Leben. Zerrissen zwischen tief im Bewusstsein eingebrannten
Zwängen und der Sehnsucht nach Selbstentfaltung. Es sind Individuen in der Identitätskrise, die Richter
in die Kampfzone spätmoderner Individualisierung und Identitätsarbeit zwingt. Seine Stücke sind
Suchbewegungen nach dem Selbst – Kartographierungen des Ich.
Kaleidoskop der Gegenwart
Charakteristisch für Falk Richters Projekte ist das heterogene Material – wie Textflächen,
Monologe, Dialoge, Filmzitate, Songlyrics, Interviews, kulturtheoretische Texte, Drehbücher,
Social-Media-Einträge etc. –, das er zu einer hybriden Textur verwebt. Durch die
Übersetzung von systemanalytisch inspirierten Identitätsdiskursen in eine theatrale
Versuchsanordnung, die den gegenwärtigen Weltzustand einer performativen Erkundung unterzieht,
seziert Falk Richter den Gesellschaftskörper seiner Gegenwart mit dem Blick eines Soziologen, dessen
Befund eine kulturkritische Perspektive öffnet. In seinen Text-Collagen verdichten sich heterogene
Stimmen zu einem gesellschaftlichen Bewusstseinsraum, indem die zitierten Sprachgesten gesellschaftliche
Macht-, Herrschafts-, und Geschlechterstrukturen ausstellen. Es sind keine Figuren im
psychologisch-mimetischen Sinne, sondern Bewusstseinsströme, Sprachflächen und
Diskursverknotungen, die sich temporär in ein figürliches Gehäuse einlagern. Die Stimmen verdichten
sich zu Prototypen unserer Gegenwart, einem zeitgebundenen Ensemble von Sozialfiguren der
spätmodernen Gesellschaft. Es sind allesamt vertraute Figuren aus der Alltagswelt: aufgeklärte
Großstadtmenschen, Hipster, Psychotherapeuten, Social-Media-Junkies, Personalentwickler,
vereinsamte Singles, Angestellte, Professoren und Intellektuelle, Künstler und Kreative, Alleinerziehende,
Borderliner und Burn-out-Kandidaten, denen wir an flüchtigen Orten, in Transitzonen, den virtuellen Welten
des World Wide Web oder in ihrem „GRAUENHAFTEN CORPORATE APARTMENT
COMPLEX“ (2 UHR NACHTS) begegnen; Figuren ohne Bodenhaftung und Ort, schwebend
im Raum.
BUSY. MÃœDE. TOT.
Sie alle stecken tief in einer Identitäts- und Systemkrise. Alle sind Individuen der neoliberalen
Leistungsgesellschaft, die auf unermüdliche Gewinnmaximierung, Effizienz und Produktionssteigerung
zielt. Die mit der Aufsprengung tradierter Denkund Handlungsmuster in der Spätmoderne gewonnene
Freiheit des Individuums ist in Zwang umgeschlagen. Für die Befreiung von äußeren Zwängen
zahlt der Einzelne unbemerkt den Preis, sich von nun an inneren Imperativen unterwerfen zu müssen, die
den Leistungs- und Optimierungszwängen einer neoliberalen Strategie entstammen. Die Freiheit zur
Selbstverwirklichung verkehrt sich in eine dauerhafte Unzufriedenheit mit sich und setzt eine
Optimierungskette in Gang, die kein natürliches Ende kennt. Die neoliberale Ideologie eröffnet einen
perfiden Verblendungszusammenhang eines quasi-religiösen Heilsversprechens, das eine schönere neue
Welt verspricht, in der der Mensch als vollkommener Ãœbermensch erscheint. Der Einzelne ist nicht
länger Rad im Getriebe einer übergreifenden Marktlogik, sondern er stellt sich selbst freiwillig als
vorantreibender Motor des Systems zur Verfügung. Die Mechanik der neoliberalen Marktpolitik ist längst
in das Bewusstsein der Menschen hineingekrochen und lenkt unbewusst ihre Handlungsentscheidungen.
Sie sind gleichsam Unternehmer und Folterknecht ihrer selbst. In diesem Sinne sind die Figuren der
vorliegenden Stücke allesamt getrieben-obsessive Workaholics, rastlos auf der Suche nach der nächsten
Challenge, dem nächsten Pitch und der Gelegenheit, sich selbst zu optimieren. Nicht ohne Grund bilden
Profil Assessments, Selbstmanagement- Workshops, Personalentwicklungsseminare, Therapien und
Persönlichkeitsanalysen situative Standards in Richters Stücken. Die Aufgabe der Senior Managerinnen
eines fiktiven Consulting-Unternehmens aus FOR THE DISCONNECTED CHILD ist es, die
Persönlichkeitsstruktur von Mitarbeitern zu analysieren und Menschen in Bezug auf ihre Fähigkeit zu
bewerten, sich langfristig an ein Unternehmen zu binden und sich mit dessen Firmenphilosophie emotional
zu identifizieren. Mittels spitzfindiger Interviewtechnik versuchen die Personalentwicklerinnen,
„ein vollständiges Bild über [die] Persönlichkeitsstruktur zu erlangen, […] im Sinne
von wer sind Sie wirklich ganz tief in Ihrem Inneren und wie können die Firma und Sie also Ihr Inneres sag
ich jetzt mal noch besser zueinanderfinden.“ Ihre Techniken zielen auf die vollständige
Durchleuchtung von Mitarbeitern, um sie kontrollieren und gewinnbringend für das System einsetzen zu
können. Indem die psychischen Persönlichkeitsstrukturen des Einzelnen nach außen gestülpt
werden, kommt es zu einer „Entinnerlichung“2. Nicht ohne Grund entspricht
das Gefühl der Leere einem Grundgefühl der Figuren. Die dahinter verborgene Strategie beabsichtigt
eine Umkodierung der menschlichen Psyche durch ein Gefühl der Positivität. Der Arbeitgeber gibt vor,
nur das Beste für den Mitarbeiter zu wollen und ihm bei der Entfaltung seiner individuellen Talente
behilflich zu sein. Alles, was eine Gefahr für das System darstellen könnte, alles Störanfällige, alle
Schwächen und Systemfehler werden wegrationalisiert, alle Abweichungen von Verhaltenszügen
wegtherapiert. Es handelt sich um eine invasive Technik, die auf die Auflösung kollektiver Sozialformen
gerichtet ist und Individualisierung verfolgt, denn der Kapitalismus braucht den Einzelnen als Konsument.
Die neoliberale Psychopolitik bedient sich der digitalen Medien, die ihrerseits ebenfalls ein modernes
Versprechen grenzenloser Freiheit verkörpern. Richters Protagonisten führen monologische Existenzen,
die meist kein Gegenüber mehr im Realraum finden, sondern virtuell kommunizieren. Es sind Digital
Junkies, die pausenlos mit ihren Smartphones telefonieren, skypen, twittern, chatten, googeln oder etwas
auf Facebook posten. Freiwillig stellen sie unkontrolliert alle Informationen und Daten über sich ins Netz.
Das Individuum wird in einem Zustand permanenter Ãœberkommunikation gehalten, um seine
Gedankenlogik, Trieb- und Motivationsstruktur lückenlos in Datensätze zu zerlegen. Alles wird von Big
Data aufgezeichnet, um den Einzelnen zu analysieren, um vorausschauend seine Handlungsmuster zu
bestimmen und sein Konsumverhalten zu manipulieren. „Aus Big Data lässt sich nicht nur
das individuelle, sondern auch das kollektive Psychogramm, womöglich das Psychogramm des
Unbewussten herstellen“, stellt der Philosoph Byung-Chul Han besorgt fest.
„Dadurch wäre es möglich, die Psyche bis ins Unbewusste auszuleuchten und
auszubeuten.“3 Der Dataismus stellt dem neoliberalen System die Instrumentarien zur
Verfügung, eine uneingeschränkte Transparenz des Einzelnen zu erreichen. Da die neoliberalen
Techniken auf die Psyche zielen, sind die Folgen seelischer Natur: Depression, Burn-out, Borderline.
ZERRISSEN ZWISCHEN EXTREMEN
In der ersten Szene von NEVER FOREVER protokolliert eine Psychotherapeutin die Anamnese einer ihrer
Patientinnen, die an Borderline erkrankt ist. Der psychopathologische Bericht wird zum metaphorischen
Befund einer gesellschaftlichen Krankheit der Zeit.
„zart, verletzlich, verloren, stolz, elegant, vulgär, aufdringlich, distanzlos, aggressiv, trinkt viel
zu viel Alkohol, ist völlig vereinsamt, hat keine Freunde, will sich auf keine Beziehung einlassen, aber löst
sich völlig auf, wenn sie allein ist, dreht dann total durch nachts, hat unentwegt Sex mit fremden Männern,
hat kein geregeltes Einkommen, kann keine Hilfe annehmen und ist völlig zerbrechlich, völlig schutzlos,
wie ohne Haut, und liegt ab und an tagelang im Bett, oder NEBEN dem Bett, liegt einfach nur DA, geht
WOCHENLANG nicht aus dem Haus, hat Angst vor jedem Geräusch, nimmt ALLES wahr oder
zertrümmert plötzlich ihre Einrichtung, schlägt auf ihren Computer ein oder singt die ganze Nacht oder
zerreißt ihre Kleider und filmt sich dabei, stellt das alles ins Netz.“
Die Beschreibung der Therapeutin verdichtet sich zu einem emotional instabilen Persönlichkeitsbild,
geprägt von sozialen Bindungsängsten, Impulsivität und einer gestörten Ich-Wahrnehmung. Mit
wenigen Ausnahmen tragen alle Figuren im Werk von Falk Richter verwandte Spuren moderner
Persönlichkeitsstörungen in sich. Die Krise spätmoderner Identität manifestiert sich in einem Leben
„ZERRISSEN ZWISCHEN EXTREMEN“(NEVER FOREVER), nichts mehr
spüren zu können und nicht zu wissen, wohin mit der angestauten Wut. Die neoliberale Psychopolitik
verstärkt dieses Dilemma durch eine strategisch eingesetzte Umleitung von Aggressionen. Da Versagen
und Fehlverhalten in der Multioptionsgesellschaft im eigenen Selbst begründet sind, kennt der Einzelne
nur noch sich selbst als seinen einzigen natürlichen Feind. Die aufgebrachte Wut kann sich nur in Form
von Aggressionen gegen sich selbst richten, nicht aber gegen etwas außerhalb des eigenen Ichs. Die
neoliberalen Herrschaftspraktiken zielen durch Individualisierung und Narkotisierung des Einzelnen auf DePolitisierung und die Zerschlagung von Kollektivkörpern zum Systemerhalt. Doch der Einzelne ordnet sich
nicht gänzlich der Herrschaft der Positivität unter. Das Gefühl der Unruhe, das sich in Wut und Hass
verkehrt und in blinden Zerstörungsfantasien entlädt, aber nie den eigenen Seelenhaushalt verlässt,
kennen Richters Figuren nur allzu gut.
Das Stück 2 UHR NACHTS durchleuchtet jene nächtlichen Momente von Unruhe und Schlaflosigkeit,
Momente, in denen die Vibration eines nahenden Zusammenbruchs spürbar wird. Die Monologe und
szenischen Fragmente wirken wie ein lang anhaltendes Bildschirmflimmern, das einen Gesamtausfall des
Systems ankündigt. Wie in Sarah Kanes Psychose 4.48 stülpt Richter depressive und psychotische
Bewusstseinszustände nach außen. Durch das Ausbleiben des Schlafs werden unverarbeitete
Restpartikel des Tages – wie die Flut von Bildern und Informationen, ungelöste Konflikte und
Belastungen des Arbeitsalltags – an die Oberfläche gespült. 2 UHR NACHTS führt
mitten hinein in die Welt der Depression und Leere. „Da war alles dunkel und leer,/ da hatte
sich nichts angesammelt in den letzten Jahren“, stellt ein Mann nüchtern fest, als er in sein
Inneres hineinschaut. Die Menschen gleichen zu nächtlicher Stunde Ungeheuern, Dämonen der Angst,
Untoten, digitalen Zombies, die unfähig sind zum Schlafen. Ihre Sehnsucht nach einer Unterbrechung des
Systems kippt in berstende Wut und blinde Destruktion.
„Es gab so eine grauenhafte Wut,/ er wollte alles kaputtschlagen,/ sie alle hier sollten nicht
mehr sein,/ nichts von all dem sollte sein,/ nichts von all dem hier macht mich GLÃœCKLICH. / Er sah
sie, wie sie blutüberströmt über ihren Laptops/ zusammenbrachen,/ wie sie alle dalagen,/
unbeweglich,/ wie festgefroren,/ während ihre Hirnmasse sich langsam auf der Oberfläche ihrer
Bildschirme verteilte./ Jetzt waren sie endlich still,/ alles kam zu einem Stillstand,/ Ruhe.“
Zwei Uhr nachts ist die Zeit, in der die Menschen fast vollständig verschwinden und keine lesbaren Spuren
mehr im digitalen Netz hinterlassen, in der sie ihren Skype- Account löschen, ihre Handys ausschalten. Es
ist die Zeit, in der sie sich der Flut von medialen Bildern von Gewalt und sexuellen Exzessen aussetzen. Es
ist die Zeit, in der sie von einem anderen Leben träumen, in der sie sich nach Nähe und einem Partner
sehnen und alle Staffeln der Serie Breaking Bad hintereinander anschauen. Es ist die Zeit, in der sie von
einem anderen Leben träumen, in der der Wunsch auftritt, ihr Leben radikal zu ändern, womöglich eine
Gefahr von ihnen ausgeht, ein möglicher Terroranschlag oder eine andere Gefahr für das System. Es ist
der Nullpunkt, in dem das Individuum das Beben der Krise am ganzen Körper spürt, erzeugt von einem
System, das sich in seiner Endzeit befindet. Der Wunsch nach einem Systemausstieg wird vehement:
„Eine Abwesenheit,/ ich will eine Abwesenheit sein, eine Unterbrechung,/ die leere Stelle im
System,/ der Fehler.“
SCHROTTBEZIEHUNGEN
Die Spuren von Individualisierung und Vermarktung schlagen sich einschneidend auf die sozialen
Verflechtungen nieder. Liebesbeziehungen treten in Falk Richters Stücken nur noch als
„Schrottbeziehungen“ (NEVER FOREVER) in Erscheinung. Dabei suchen alle
Figuren nach Nähe, Bindung und der großen Liebe. Alleinerziehende Mütter, vor die Tür
gesetzte Väter, die ihr Kind sehen wollen, Frauen, die darüber nachdenken, ihre Eizellen einfrieren zu
lassen – wie es kürzlich Facebook und Google ihren Mitarbeiterinnen angeboten haben
–, oder verzweifelte Singles, auf der Suche nach dem perfekten Partner fürs Leben. Sie alle
betreten die unsichere Zone von Liebe, Sexualität, Erotik und Begehren, in der maßgeblich die
eigene Identität verhandelt wird. Doch trotz enormer Anstrengungen auf dem Liebesmarkt bleiben sie alle
eines: vereinsamt, entkoppelt, „disconnected“. Je unmöglicher die Liebe
erscheint, desto größer die Sehnsucht nach dem Ideal romantischer Liebe, deren Konzept
erfüllende Sexualität, beständige Liebe und ewige Treue vorsieht. Die Welt der Liebe schien lange
unvereinbar mit der Welt des Kapitals, da der Organismus der Liebe dem der Ökonomie diametral
gegenübersteht. Die romantische Liebe galt als letztes Residuum des Menschen in einer erkalteten Welt
des Kapitals. Dies änderte sich, als der kapitalistische Markt in die private Sphäre einzudringen begann.
Die Soziologin Eva Illouz hat in mehreren Studien die gegenseitige Durchdringung von Romantik und
Konsumkapital herausgearbeitet, die zu einer Ökonomisierung der Gefühls- und Liebeswelt bei
gleichzeitiger Emotionalisierung der Warenwelt geführt hat.4 Während sich die Ökonomie die
romantische Gefühlskultur für die Konsumwelt zunutze machte, um den Konsumenten zu stimulieren,
gewann die Welt des Konsums für das Ausleben romantischer Liebe und deren Inszenierung zunehmend
an Bedeutung. Dies ging so lange gut, bis sich der ökonomische Markt in der Spätmoderne zu
radikalisieren begann. Unter den Vorzeichen von Multioptions- und neoliberaler Leistungsgesellschaft
scheint das Ende der romantischen Liebe gekommen zu sein, denn die Spätmoderne zeichnet sich nach
Eva Illouz durch eine Vorrangstellung der Liebesaffäre aus. „Mit ihrem transitorischen
Charakter und ihrer Betonung von Vergnügen, Neuheit und Erregung ist die Affäre eine spezifisch
postmoderne Erfahrung und enthält eine ‚Gefühlsstruktur‘, die Affinitäten
[…] zu den Emotionen und kulturellen Werten aufweist, die von der Konsumsphäre propagiert
werden.“5 Nirgendwo zeigt sich die Verquickung von rationaler Marktlogik und Liebe so
offensichtlich wie auf den Dating-Portalen des Internets, wo Persönlichkeitsprofile, Fragebögen und
Bewertungsskalen das Versprechen aufstellen, den idealen Partner berechnen zu können. Die Sprache der
Ökonomie und die Sprache der Liebe lösen sich ineinander auf. Die Umkodierung der Liebe nach
der Grammatik des Kapitals hat die Liebe selbst zur Konsumware gemacht, die Liebenden zu Konsumenten,
die sich auf einem grenzenlosen Markt unzähliger Möglichkeiten behaupten müssen. Der Gedanke an
eine permanente Optimierung auch in der Partnerwahl tyrannisiert die Figuren, denn jedes Mal, wenn sie
sich für einen Partner entscheiden wollen, entsteht eine Angst, die falsche Wahl zu treffen. Mit der
Wahlfreiheit ist auch ein unrealistischer Anspruch an den Ideal-Partner gewachsen, der in Personalunion
Superman, Model und Pornostar verbinden soll. Somit treiben die Figuren von einer temporären Beziehung
in die nächste. Die serielle Monogamie ist längst zum Zeichen unserer Zeit geworden. Der Druck des
Marktes überträgt sich auf das Individuum, das sich als Ware auf einem Liebesmarkt versteht, permanent
neue Anreize schafft und an seinem Profil arbeitet. Zwischenmenschliche Kontakte finden fast
ausschließlich medial vermittelt statt. Die Figuren begegnen sich in virtuellen Realitäten, wo sie
ständig auf der Jagd nach einem geeigneten Liebesobjekt sind. Tabulos inszenieren sie sich wie eine
Ausstellungsware, geben Intimes und sexuelle Vorlieben preis und verkennen damit den Reiz des
Erotischen. Liebe und Erotik werden mit Pornografie und Sexualität gleichgesetzt und zielen damit
ausschließlich auf die Befriedigung des Begehrens.
In FOR THE DISCONNECTED CHILD und NEVER FOREVER verflicht Falk Richter auf der
Handlungsebene postmoderne Liebeserfahrungen mit der romantischen Utopie von Liebe, indem er gezielt
Motive und Bedeutungszusammenhänge des romantischen Diskurses integriert. In FOR THE
DISCONNECTED CHILD blendet er Pjotr Iljitsch Tschaikowskis spätromantische Oper Eugen Onegin mit
dem Liebesterror der Zeitgenossen übereinander. Als der viel gereiste, leichtlebige Dandy Onegin die
schöne Tatjana kennenlernt, wird er von einem unbändigen Begehren erfasst, wie auch Tatjana von
einem Gefühl der Leidenschaft erfüllt wird. Als sie ihm in einem Brief ihre Liebe gesteht, weist er sie
schroff mit den Worten zurück: „Wie sehr mein Herz auch glüht und wallt/ für Sie,
Gewohnheit macht es kalt.“ Onegin will sich nicht fest binden, seine unendlichen Freiheiten
nicht für eine feste Beziehung und Familienplanung aufgeben. Während Tatjana die Utopie romantischer
Liebe verkörpert, die in der Welt Onegins keinen Bestand hat, erscheint Onegin als unser Zeitgenosse. Die
anderen Figuren in FOR THE DISCONNECTED CHILD sind in diesem Sinne Abspaltungen Onegins; alle
unfähig zur Liebe und zur Bindung.
Richters Blick zurück in die Romantik umkreist die Geburtsstunde der Moderne, an der sich das
romantische Ideal von Liebe aufzulösen beginnt. Kontrapunktisch zu den Prototypen heutigen Lifestyles tritt
in NEVER FOREVER eine alte Schauspielerin auf, die von menschlicher Nähe, Verlusten und
vergangenen Lieben berichtet. Immer wieder zitiert sie die berühmten Sätze Gretchens aus Goethes
Faust I: „Meine Ruh ist hin,/ Mein Herz ist schwer;/ Ich finde sie nimmer/ und
nimmermehr.“ Es ist das Bekenntnis einer verzweifelt Liebenden zu ewiger Treue,
menschlicher Nähe und ungebrochener Liebe. Wie eine romantische Utopie vergangener Zeiten blitzt
dieses Zitat aus den Trümmern der Moderne hervor, doch auch ihr Geliebter Faust, der Prototyp des
unbehausten, rastlosen Menschen ist ihr bereits entschwunden. Die Idee einer romantischen Liebe bleibt in
Richters Zeitdiagnostik ein Phantasma. „Die Zukunft wird einst recht mir geben,/ Die Liebe ist
im Mädchenleben/ stets Täuschung, stets Täuschung,/ Spiel der Phantasie“, bekennt
Onegin. Auch die alte Schauspielerin, die noch von realen Liebesbindungen berichtet, erliegt dem Wandel
der Zeit. Ihre fortschreitende Demenz-Erkrankung wird jede Erinnerung an reale Liebesbindungen
vollkommen in Vergessen auflösen.
Zielte der Kern romantischer Utopie auf Transgression, also auf eine außeralltägliche Erfahrung
jenseits von Konsum und Kapital, so hat mit der Spätmoderne eine Aushöhlung ihres Kerns
stattgefunden. Um die Leere und damit die eigene Vergänglichkeit nicht zu spüren, stürzt sich der
Einzelne kopflos in Überaktivität und maßlose Ich-Projekte. Das Transgressive, das dem
romantischen Diskurs noch innewohnte, ist in der Spätmoderne durch einen reinen Diesseitigkeitsbezug
eliminiert worden. Die Stücke Falk Richters reflektieren Vereinsamung und Rückzug auf sich selbst als
Konsequenzen eines Zerfalls sozialer Geflechte. In Gedankenbahnen kreisen Richters monologische
Existenzen um eine leer gewordene Mitte. Der Einzelne erfährt die Welt durch das Fehlen eines
Beziehungspartners nur noch im Selbstverhältnis. Der Andere dient ausschließlich als Spiegel
narzisstischer Selbstliebe und als Projektionsfläche des eigenen Begehrens. Hinter der vordergründig
egoistisch motivierten Pose verbirgt sich zugleich eine tiefe Verunsicherung, denn die Sucht nach
Aufmerksamkeit und Spiegelung des Selbst zielt auf die Bestätigung der eigenen fragilen Identität. Ein
Narzissmus, der die Differenz-Erfahrung eines Anderen nicht mehr sucht, ist ein selbstreferentielles
Bezugssystem, in dem das Selbst depressiv in sich versinkt. Der verlorene Weltbezug des spätmodernen
Individuums findet in den Texten Falk Richters eine wiederkehrende Metapher. Es ist der Riss, der sich
zwischen der Welt und dem Individuum öffnet, als gebrochener Weltbezug des Einzelnen zum Weltganzen,
der die rasanten Veränderungen und Fragmentarisierungen der Welt nicht mehr versteht.
Hybride Identitäten
Während sich vorausgegangene Stücke mit der Befreiung spätmoderner Identität aus traditionellen
Vorgaben durch die neoliberale Leistungsgesellschaft auseinandergesetzt haben, gewinnt in jüngeren
Projekten die Erforschung von Ãœbergangsgesellschaften, wie sie sich im Zuge einer Radikalisierung
der kulturellen Globalisierung mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelt haben, an Gewicht. Durch die
anhaltende Mobilisierung der Menschen und deren Verstreuung über den gesamten Globus durch
Arbeitsmigration, Auswanderung und Flucht hat eine Vermischung von Sprachen, Lebensformen,
Religionen, Nationalitäten, Geschlechterbildern und Kulturen eingesetzt. Die Zirkulation von heterogenem
Denken und Wissen hat bis dahin verbindliche Identitätsmuster auf den Prüfstand gestellt. Im Horizont
neu erschlossener Möglichkeiten hat sich ein Bewusstsein für die Variabilität von nationaler und
kultureller Zugehörigkeit und Identität entwickelt. Das Ausloten von Identität und Zugehörigkeit im
Zusammenhang von Identitätspolitik in westlich globalisierten Gesellschaften beschreibt eine entschieden
neue Qualität in den Werken von Falk Richter und grundiert die diskursive Ebene seiner jüngsten
Projekte.
In COMPLEXITY OF BELONGING macht sich Eloise, eine französische Künstlerin, auf den Weg nach
Australien, um dort ein „human installation project“ zu realisieren. Auf der
Grundlage von Interviews mit ganz unterschiedlichen Menschen, die alle in Australien leben, will sie ein
Kaleidoskop von Biografien entwickeln, die über das Verhältnis von Identität und Zugehörigkeit in der
Gegenwart Auskunft geben. In ihrem Notizbuch findet sich folgende Beschreibung zu ihrem Projekt:
„since the beginning of the 21st century, the world has been loosing its well-defined and
stable models of life, relations, work, lineages. Traditional, normative ways of
‚Belonging‘, nation, religion, ideology, language, culture, gender and sexual
identity dissolve, get more fluid and flexible. […] Where do I fit in there?“
Damit ist die Ausgangsthese des Projekts von Falk Richter benannt, das er im australischen Melbourne mit
der niederländischen Choreografin Anouk van Dijk entwickelt hat. Gemeinsam mit einem Ensemble von
Tänzern und Schauspielern unterschiedlicher Ethnien, Herkunftsgeschichten und Gender-Identitäten
haben Richter/van Dijk autobiografische Erfahrungen der Beteiligten in einem Vexierspiel zwischen fiktiver
Rolle und authentischer Biografie zu einem Gesellschaftspanorama von zeitgenössischen
Lebensgeschichten verwoben, das die Aushöhlung übergeordneter Kollektivitäten und die
Verflüssigung von Identitätsmustern spiegelt. Die Suche nach den Parametern von nationaler Identität
und Zugehörigkeit gewinnt vor dem Hintergrund Australiens – als Inbegriff eines
Einwanderungslandes mit einer über zweihundertjährigen Migrationsgeschichte – eine
ungeheure Komplexität. Hält man sich vor Augen, dass Australiens Bevölkerung fast zur Hälfte aus
Menschen besteht, die im Ausland geboren wurden, dass knapp eine Million Menschen einen befristeten
Aufenthaltsstatus besitzen und rund eine Million Australier in den vergangenen Jahren für eine längere
Zeit im Ausland gelebt haben, bleibt fraglich, ob sich unter diesen Bedingungen überhaupt von einer
nationalen Identität sprechen lässt.
In einer grotesken Interviewsituation sollen Stephen und Josh – zwei Figuren des Stücks
– genau diese Frage beantworten. Während Stephen nur vordergründige Zuschreibungen
anführt, die in die Jahre gekommene Männlichkeitsklischees zitieren, sieht Josh sich nicht in der Lage zu
sagen, was ein echter australischer Mann ist. Er ist lediglich fähig zu benennen, was alles nicht auf ihn
zutrifft. In einer endlosen Verneinungsschleife setzt er global verbreitete Männlichkeitsbilder unserer Zeit
außer Kraft. Was ein australischer Mann nicht ist, scheint einfacher zu bestimmen zu sein, als eine
fest umrissene Identität zu beschreiben. Das ist der Fluchtpunkt, auf den Falk Richters Verwirrspiel
hinausläuft. Er unterminiert bestehende Zuschreibungen und entlarvt Bilder des kollektiven
Gedächtnisses als überkommene Passformen. Josh verkörpert eine Art
„Übergangsidentität“, denn seine Biografie verbindet heterogene
Einflüsse, die eindimensionale Lebensmuster sprengen und sich mit gängigen Kategorien nicht mehr
beschreiben lassen. Was Joshs endlose Verneinungskette kennzeichnet, ist die Suche nach Zugehörigkeit,
auch wenn er (noch) nicht recht weiß, wozu er gehört. Eine Verunsicherung, die markant ist für
Gesellschaften im Ãœbergang.
STEPHEN If a real Australian man hits an animal on the road and doesn’t quite kill it,
he’ll stop, get out of the car and finish the job himself
JOSH I’m not sharp
I’m not driven, career focused
I’m not that buff tanned gay guy that takes posed selfies with other buff tanned gay guys who
work in PR, on the beach or by the pool in Mykonos.
I guess I’m not sure where I fit in.
In einem weiteren Interview befragt Eloise einen jungen Mann namens Joel nach seiner Familiengeschichte.
Seine Vorfahren waren Aborigines. In einem Gespräch voller westlicher Vorurteile entlarvt sich die
Bestimmung seiner Identität als kompliziertes Projekt. Joels Großmutter hatte die Vertreibung der
Aborigines von ihrem Grund noch am eigenen Leib erfahren. Später wurde sie mit einem weißen
Mann verheiratet. Aus dieser Verbindung entstammt sein Vater, während die Familie seiner Mutter aus
England stammt. Joel ist weißhäutig und westlich sozialisiert worden. Aus einem inneren Gefühl
der Zugehörigkeit heraus hat er zahlreiche Versuche unternommen, in Kontakt mit seiner Aborigine-Familie
zu kommen und sich mit ihren kulturellen Praktiken vertraut zu machen. Doch Joel musste einsehen, dass er
trotz genetischer Wurzeln keine Zugehörigkeit zu den Aborigines besitzt. Joels Berührungen mit der
Kultur seiner Vorfahren sind von Entfremdungserfahrungen geprägt.
JOEL Sometimes I think I was able to convince myself that I was connecting to that culture but I …
think I was just faking it.
ELOISE Faking it?
JOEL Yeah, I think it was something I wanted. Wanted a lot. I wanted to be black. There was this
community, like this bunch of dancers, amazing, beautiful, talented, great but really problematic bunch of
people. I wanted to fit in. I tried for 2 years. In the end I guess I, well, I guess I was too white.
Die Biografie von Joel bricht komplett mit traditionellen Identitätsmustern, was eine eindeutige Zuordnung
zu Ethnie, Geschlecht, Sprache, Nation und Kultur betrifft. Mit Joel konstruiert Richter eine
„entgrenzte Identität“, die heterogenen ethnischen, kulturellen und nationalen
Einflüssen und aufgeweichten Geschlechterbildern unterliegt.
Dass die Zugehörigkeit eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung von Identität bildet, bringt
die Künstlerin Eloise in einer philosophischen Improvisation auf folgende Formel: „To
belong is to exist/ To exist ist to belong“. Sie stellt eine Theorie auf, die den Unterschied von
Zugehörigkeit und Inklusion in groben Zügen umreißt. In ihrer Argumentation meint
Zugehörigkeit eine freiwillige Verbindung verschiedener, gleichberechtigter Individuen zu einer sozialen
Gemeinschaft, die nicht auf Grundlage eines kodierten Zuschreibungssystems, sondern aufgrund eines
Gefühls zueinander gehören. Die Inklusion hingegen verkörpert das Prinzip einer normativ geregelten
sozialen Teilhabe. Sie beruht auf einer gesellschaftlich gestützten Klassifikations- und
Zuschreibungspraxis, in die Hierarchien und Macht immer schon eingeschrieben sind. Inklusion impliziert
demnach immer auch ihren Gegenbegriff – die Exklusion. Beide Begriffe regeln ein
Innen-Außen-Verhältnis und spalten die Gesellschaft in Zugehörige und Nicht-Zugehörige. Diese
Leitdifferenz produziert vielfach eine Angst bei den Privilegierten vor der Auflösung der Grenzen und damit
den Verlust der eigenen Zugehörigkeit. Deshalb sorgt eine strenge Kontrolle dafür, die
Grenzmarkierungen aufrechtzuerhalten. Dahinter verbirgt sich eine massive Ausgrenzungspolitik, die auf
dem Prinzip der sozialen Ungleichheit beruht. Eine Zuschreibungspolitik, die sich auf der Grundlage einer
solchen sozialen Differenzlogik legitimiert, ist in Gefahr, Kulturängste, Diskriminierung und Rassismus zu
schüren.
An diesen Gedanken knüpft eine Reflexion über Rasse, Kultur und Identität von Jimi –
einer weiteren Figur des Stücks – an, nachdem er den australischen Film Romper Stomper
aus dem Jahr 1992 gesehen hat, in dem neonazistische Skinheads brutale Anschläge auf asiatische
Einwanderer verüben. Jimi kennt diese Angst vor einer asiatischen Invasion im Unbewussten der
weißen Bevölkerung Australiens. Bedingt kann er sie sogar nachvollziehen. Durch den gestiegenen
Anteil an Asiaten in der Bevölkerung Australiens ist eine irrationale Angst aufgekommen, die weiße
Bevölkerung könnte eines Tages dasselbe Schicksal erleiden wie einst die Aborigines, als sie von den
Weißen entrechtet und vertrieben wurden. Eine groteske Vorstellung, dass die weißen
Einwanderer von damals plötzlich Angst vor den Einwanderern von heute haben. Richters
Figurenkaleidoskop in COMPLEXITY OF BELONGING spiegelt eine Ãœbergangsgesellschaft, die
über den konkreten Australien-Kontext hinaus auf einen bewusstseinsgeschichtlichen Umbruchsprozess
vieler Nationalkulturen verweist. Nach der Erschütterung althergebrachter Verortungen von nationaler und
kultureller Identität sind durch globale Migrationsbewegungen hybride Identitäten als komplexe kulturelle
Verbindungen entstanden. Sie sind nicht fixierbar, sondern schweben im Ãœbergang zwischen
verschiedenen Positionen und greifen zur gleichen Zeit auf heterogene kulturelle Traditionen zurück. Am
Horizont zeigt Richter eine neue vielschichtigere Gesellschaft sich verflechtender Kulturen auf.
Performing Gender
Die Großstadt, in die der Junge aus dem Song von Bronski Beat vor homophoben Repressionen
flieht, ist der Ort, an dem traditionelle Rollen und Bilder verweigert und infrage gestellt werden,
Zugehörigkeiten neu ausgehandelt, Partnerschaft und Familie neu definiert werden und all das ausprobiert
werden kann, was ihm die Familie zuhause verweigert hat – nämlich zu leben. Gleich zu
Beginn des Stücks SMALL TOWN BOY greift der Autor das Motiv des gleichnamigen Songs auf und legt
die Mechanismen der Kleinstadthöllen bloß, die auf Konservierung heteronormativer Zwangsmuster
und deren strenger Ãœberwachung beruhen; Erinnerungen an die Tristesse der Jugend zwischen zum
Nichtstun verdammten Müttern, abwesenden Vätern, Vorstadtsiedlungen und Lebensleere. Angezogen
von dem Freiheitsversprechen der Großstadt, machen sich die jungen Männer bei Falk Richter auf,
um in Berlin ihre sexuelle Identität zu finden und zu leben. Erst einmal angekommen, erwartet sie ein
unsicheres Terrain von sexueller Orientierungslosigkeit, Ãœberforderung und machtpolitischen
Kämpfen. Die Erfahrungswelten des Stücks lassen keinen Zweifel, wie die kulturelle Globalisierung zu
einer Erosion der überkommenen Vorstellungen geführt hat, was es heißt, ein Mann oder eine
Frau zu sein. Eine große Verunsicherung angesichts sich auflösender traditioneller
Geschlechterrollen in unserer Zeit, stellt auch Eva Illouz fest, die sich ausgiebig mit Beziehungsmustern
auseinandergesetzt hat.6 Wie sich die gesellschaftlichen Umbrüche und die politischen Bewegungen der
letzten Jahrzehnte auf die sexuelle und geschlechtliche Identitätsfindung ausgewirkt haben, gilt Falk
Richters Befragung von männlichen Geschlechtsidentitäten in seinem Stück SMALL TOWN BOY.
Wie bei dem Projekt COMPLEXITY OF BELONGING ging der Probenarbeit ein Rechercheprozess voraus.
Am Anfang stand die Frage, wie heute Männer- und Frauenbilder neu definiert und Liebesbeziehungen neu
ausgehandelt werden. Gemeinsam mit einem Ensemble unterschiedlicher ethnischer, nationaler und
geschlechtlicher Identitäten suchte Falk Richter gesellschaftliche Phänomene des Mainstreams und der
Popkultur danach ab, wie Geschlechtsbilder und sexuelle Identitäten in der Gegenwart konnotiert sind, wie
heterosexuelle und homosexuelle Beziehungen in Bestsellern, Serien, der Popmusik, sozialen Medien,
Magazinen, in Filmen und politischen Talkshows aufbereitet werden. Die in der Massenkultur
vorherrschenden Rollenmuster und die sich darin spiegelnden Werte, Ängste und Sehnsüchte
sollten Aufschluss über den Innenraum des gesellschaftlichen Bewusstseins geben und institutionalisierte
Zuschreibungsmuster offenlegen. Richter lässt in einer Art Sprechkonzert vielfältige Stimmen von
gesellschaftlichen Haltungen, politischen Positionen und autobiografischen Erfahrungsberichten erklingen,
die sich zu einer Trackliste eines Albums verbinden. Die Suchbewegung der Recherche ist zum
dramaturgischen Drehzentrum des Stücks geworden. Entsprechend gleicht die dramaturgische Form
einem Sampling von Zitaten, fiktiven Texten, politischen Statements, Filmszenen, Zeitungsberichten,
kulturtheoretischen Positionen (wie von Judith Butler, Michel Foucault, Eva Illouz, Byung-Chul Han u. a.),
Soap-Drehbüchern, Songs und Erfahrungsberichten der Darsteller, die von Falk Richter überschrieben
und um eigene Texte ergänzt wurden. Hinzu kommen tagebuchartige Notizen des Autors, in denen
politische Ereignisse, szenische Miniaturen und persönliche Gedanken, die als fiktiv-autobiografische
Autoren-Stimme in das Stück eingeflochten wurden. In der Vermischung von autofiktiven und
autobiografischen Versatzstücken von Autor und Schauspielern öffnet sich ein kollektiver Fiktions- und
Erfahrungsraum, der die Zuschauer als Teil einer politischen Öffentlichkeit einschließt. Privater
und öffentlicher Diskurs, Biografie und Fiktion, Mediales und Authentisches, Theater und Realität, Ich und
Rolle, Figur und Autor sowie Bühne und Publikum fallen in einem unauflöslichen Verwirrspiel zusammen,
in dem es keine klar fixierbaren Identitäten mehr gibt, sondern alles in Auflösung begriffen ist. Form und
Inhalt, Sample-Identität und Sampling-Dramaturgie bilden sich ineinander ab.
Vor dem Hintergrund des liberalen Berlins entfaltet Richter ein fulminantes Tableau biografischer
Versatzstücke anhand derer er die Liebesspielarten geschlechtsreifer Großstädter genauer
untersucht. Darunter ist eine Frau, die sich nach dem klassischen Geschlechterverhältnis zurücksehnt.
Junge Männer berichten von ihren traumatischen Coming-out-Erlebnissen und dem Unverständnis ihrer
Familien. Ein 43-jährer Mann in der Midlife-Crisis, der immer noch das Leben eines Teenagers führt, auf
Partys in der Ecke herumhängt und mit spanischen Touristen mit Vollbart rumknutscht, sich aber nach
einer echten Beziehung nach „Hetero-Vorbild“ sehnt. Ein einsamer Single, der
die Frage seiner Generation – „WIE SOLL ICH LEBEN?“
– stellt. Ein Mann, der sich nachts auf youPorn unzählige Hardcore-Military-Pornos anschaut.
Und ein junger Mann, der seiner türkischen Großfamilie nicht gestehen kann, dass er schwul ist.
Das Figuren-Ensemble verbirgt vordergründig nicht den anarchistischen Spaß des Autors am
schwarz-humorigen Spiel mit Klischees und Stereotypen, wie sie in den Medien und der Massenkultur
bereitgestellt werden. Ein zweiter Blick verrät aber, dass sich die Figuren in einem reflektierten Zustand
befinden, der sich in ihren Widersprüchen, Selbstzweifeln, Ängsten und Verunsicherungen
abzeichnet. Das macht sie brüchig und entlarvt die gesellschaftlich bereitgestellten Beschreibungsmuster
als Krücken einer noch zu findenden Identität.
Das Stück SMALL TOWN BOY setzt mit einem Filmzitat aus Andrew Haighs Film Weekend ein, in dem
der selbstbewusste Glen den schüchternen Russell auffordert, im Rahmen eines Kunstprojekts seine
sexuellen und emotionalen Erlebnisse der gemeinsam verbrachten Nacht zu schildern. Es ist zunächst ein
unverhülltes Gespräch zweier homosexueller Männer über One-Night-Stands, Analverkehr und
Schwanzlängen. Ein Klischee wird reproduziert, das gemeinhin mit homosexueller Liebe assoziiert wird.
Glen und Russell können sich anfänglich nur eines vorgefertigt sexualisierten Kommunikationsmusters
bedienen, doch mit der Zeit nähern sie sich einander an und finden eine gemeinsame Sprache. Ihre
Unfähigkeit, über ihre intimen Gefühle, ihr Begehren und homosexuelle Liebe zu sprechen, bildet
gesellschaftliche Wirklichkeit ab, in der es weder Raum für einen öffentlichen Diskurs noch eine
gleichberechtigte Sprache für homosexuelle Liebe gibt. Indem Richter zunächst das Klischee
reproduziert, dass es in schwulen Beziehungen immer nur um oberflächlichen Sex geht, dahinter aber die
Sprachunfähigkeit einer diskriminierten, der öffentlichen Sprache entrechteten gesellschaftlichen
Gruppierung aufzeigt, entlarvt er die Hohlheit des Klischees und gewinnt im Moment des performativen
Vollzugs eine Sprache für eine komplexe Narration über homosexuelle Liebe. Zugleich findet eine
positive Umkodierung der Sprache statt.
In Episode No._37/28B – 00000.37.28.99991.20/HOCHZEITSFEIER der Serie
„Dem Himmel so nah“ – einer Szene des Stücks
– kommt es zu einer Eifersuchtsgeschichte zwischen den homosexuellen Männern Niels und
Mehmet. Niels fühlt sich von Mehmet betrogen, da Letzterer sich erst kürzlich mit einer Frau vergnügt
hat. Plötzlich tritt eine Unterbrechung des Handlungsdialogs ein, wenn Niels (diesmal der Schauspieler und
nicht die gleichnamige Figur) aus der Rolle fällt und seine Situation kommentiert:
„DAS IST ÜBERHAUPT NICHT MEINE ROLLE. ICH FINDE MEINE ROLLE NICHT.
[…] DIESE GESELLSCHAFT MACHT MIR DAUERND ANGEBOTE, DIE ICH NICHT
WAHRNEHMEN WILL. DIESE GESELLSCHAFT LEGT MIR DAUERND IRGENDWELCHE SKRIPTE AUF
DEN TISCH, DIE ICH ALLE NICHT SPIELEN WILL. WO IST MEIN TEXT, WO KOMME ICH VOR UND VOR
ALLEM WIE KOMME ICH VOR.“
In diesem Moment verwischen sich die Ebene von Theater und gesellschaftlicher Wirklichkeit, wie sie auf der
Handlungsebene beschrieben wird. Durch den scheinbaren Ausstieg aus der Rolle spiegelt Falk Richter
Theater als medialen Raum, der permanent Identitäten, Rollen und Images konstruiert, auf der Ebene
gesellschaftlicher Praktiken. Denn geschlechtliche Identität ist immer bestimmt durch gesellschaftliche
Zuschreibungen, die in performativen Prozessen eingeübt werden. Judith Butler ist nicht müde
geworden, darauf hinzuweisen, dass sich hinter dem bipolaren Geschlechtermodell keine biologische
Eigenschaft verbirgt, sondern Geschlechtsidentität das Ergebnis kultureller, diskursiver Konstruktionen ist,
das einem jahrhundertealten patriarchalen Zwangssystem unterliegt.7 Auf den Spuren Butlers führt auch
Richter einen Kampf um die Entlarvung heteronormativer Konventionen, machtpolitisch gestützter
Konstruktionen von bipolaren Rollenbildern und homophober Repressionsmechanismen. Richters
Widerstandsstrategien sind die Ironie und die Parodie, mit denen Stereotypen umgeschrieben und
transformiert werden können. Während die Ironie Widersprüche und Heterogenes auf paradoxe Weise
miteinander verbindet und somit starre dichotome Strukturen unterläuft, zielt die Parodie im konkreten Fall
auf die Wiederholung und Konterkarierung von Geschlechterkonstruktionen. Durch die Verschiebung
normativer Setzungen durch die parodistische Imitation unterminiert der Autor gesellschaftlich vorgefertigte
Rollenmuster und Erwartungshaltungen. Wie Butler versteht auch Richter diese Strategie als politische
Methode der Subversion. Darin tritt die identitätspolitische Dimension hinter der gesellschaftlichen
Oberfläche zutage.
Durch die Zersplitterung der großen kollektiven Zugehörigkeiten, wie dem Geschlecht, ist ein Kampf
um Anerkennung entbrannt, der von gesellschaftlich unterprivilegierten und entrechteten Gruppen geführt
wird, die eine gesetzliche Gleichstellung fordern, während konservative Kreise das alte Machtgleichgewicht
zu erhalten versuchen. Wenn der Schauspieler oder die Figur Thomas – oder womöglich das
Alter Ego des Autors selbst – zu einer Hasstirade ansetzt gegen homophobe
Repressionspolitik in Russland, gegen eine latent schwulenfeindliche Politik in Deutschland, gegen eine
rechtskonservative Anti-Homo-Lobby, die gegen die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen kämpft,
und gegen fundamentalistische Ideologen, die einen Verfall der Nation und des kulturellen Erbes
befürchten, holt er zum offensiven Gegenschlag in einem Kampf um geschlechtliche Selbstbestimmung
und gesetzliche Gleichstellung aus. Seine Rede verkehrt sich – nicht ohne Ironie des Autors
– dabei selbst zu einer faschistischen Brandrede, die mitunter wortgenau Versatzstücke
faschistischer Rhetorik kopiert und ihrer Gewalt mit Gegengewalt begegnet. Der politische Kampf auf dem
Schlachtfeld der Geschlechter-Identitäten ist in Gang gesetzt.
1 Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Hamburg
2013.
2 Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt am Main 2014,
S. 19. Byung-Chul Han ist Falk Richters Referenzautor für die Bestimmung des neoliberalen Subjekts. Die
skizzierten Ausführungen folgen dem Thesengebäude Hans.
3 Byung-Chul Han, Psychopolitik, S. 35.
4 Vgl. Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2007, sowie Dies.: Der Konsum
der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2007.
5 Eva Illouz, Der Konsum der Romantik, S. 215.
6 Vgl. Eva Illouz: Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey, Berlin 2013, sowie Dies.:
Warum Liebe weht tut. Eine soziologische Erklärung, Berlin 2011.
7 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, sowie Dies.: Körper von
Gewicht, Frankfurt am Main 1997.
Quelle: http://www.theaterderzeit.de/buch/small_town_boy_und_andere_st%C3%BCcke/33238/komplett/
Abgerufen am: 20.01.2017