Klausurenkurs POR im Wintersemester 1999/2000 2

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Klausurenkurs POR im Wintersemester 1999/2000 2
Klausurenkurs POR im Wintersemester 1999/2000
2. Klausur
Zeit:
3 Stunden
Hilfsmittel: Gesetzestexte (GG, VwVfG Bln, VwVfG, VwGO, VwVG, UZwG Bln,
ZustKatOrd)
Sachverhalt
A und seine Lebensgefährtin L haben in der Wohnung des A, die sich im zwölften
Stock eines Hochhauses in Berlin befindet, am Sonntag Nachmittag einen fürchterlichen Streit, in dessen Verlauf L dem A erklärt, daß sie sich hiermit von ihm trenne. A
zertrümmert daraufhin mehrere Möbelstücke und droht damit, sich aus dem Fenster
zu stürzen. Diese Drohung nimmt L ernst, da A von Drogen abhängig ist und in der
Vergangenheit bereits mehrere Selbstmordversuche unternommen hat. Da A mittlerweile völlig außer sich ist und sich in seinem Zimmer eingeschlossen hat, ruft L die
Polizei an und bittet um Hilfe.
Als die Polizeibeamten P und R bei dem Haus, in dem sich die Wohnung des A befindet, eintreffen und klingeln, öffnet ihnen niemand. Da die Tür jedoch defekt ist, können die Beamten den Hausflur betreten und sich zur Wohnung des A begeben. Dort
klingeln sie erneut ohne Erfolg. Eine Nachbarin, die sich auf dem Gang vor der Wohnung aufhält, berichtet von sich aus, daß aus der Wohnung des A bis vor kurzem ein
extrem starker Lärm gedrungen sei; seit zehn Minuten sei es aber totenstill. Nachdem ihnen auf nochmaliges Klingeln, Klopfen und Rufen hin nicht geöffnet wird, öffnen P und R mit Hilfe eines im Besitz der Nachbarin befindlichen Schlüssels die Tür
und betreten die Wohnung. Dort kauert die L verstört in einer Ecke. Auf Befragen
durch P und R gibt sie an, daß A sie geschlagen habe und mit der Ankündigung, sich
vom Dach des Hauses zu stürzen, davongelaufen sei. Nachdem ihnen L Aussehen
und Bekleidung des A geschildert hat, eilen die Beamten aus der Wohnung.
Im obersten Stock des Hauses klettern P und R über eine Feuerleiter und durch eine
offen stehende Dachluke auf das Flachdach des Hauses. Dort sehen sie A, der auf
der etwa vierzig Zentimeter hohen und ebenso breiten betonierten Dachbegrenzung
balanciert und dabei laut singt und tänzelnde Bewegungen aufführt. Durch gutes Zureden bringen die Beamten den A dazu, sich einige Schritte von dem Abgrund weg zu
bewegen. Als sie schließlich bei A angelangt sind, erklären sie ihm nach vorheriger
Anhörung, daß er hiermit zum Schutz vor sich selbst in Gewahrsam genommen werde. Dies lässt A ohne Widerstand geschehen, d.h. er folgt den Beamten zum
Einsatzwagen. Dort allerdings überlegt er es sich anders und versucht, davonzulaufen. P und R ergreifen ihn daraufhin zur Durchsetzung des Gewahrsams.
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In der Arrestzelle der Gefangenensammelstelle sagt A dem dort diensthabenden Polizeibeamten D, daß er schon noch Wege finden werde, aus der Zelle herauszufinden.
Es sei ein leichtes für ihn, sich auch unter polizeilicher Aufsicht das Leben zu nehmen. Daraufhin durchsucht D den A und stellt eine in seiner Hosentasche befindliche
Rasierklinge sowie den Ledergürtel des A sicher. Bei einem späteren Blick in die Arrestzelle stellt O fest, daß A sein Hemd ausgezogen und daraus eine Schlinge gefertigt hat und soeben im Begriff ist, sich mit Hilfe dieser Schlinge zu erhängen. O
springt herbei und verhindert dies, indem er dem A Fesseln anlegt. Damit will O erreichen, daß A weitere Selbstmordversuche unterlässt.
Am nächsten Morgen kommt ein Arzt nach einem längeren Gespräch mit A zu dem
Ergebnis, daß eine weitere Selbstmordgefahr nicht mehr besteht. Daraufhin wird A
entlassen.
Aufgabe
Prüfen Sie die Rechtmäßigkeit der ergriffenen polizeilichen Maßnahmen.
Bearbeitungshinweis
Bei der Bearbeitung ist davon auszugehen, daß eine Vorführung des A zur richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam nicht gelang, da während der Zeit des Gewahrsams kein Diensthabender Bereitschaftsrichter erreichbar war.
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Lösungsskizze
A. Das Betreten des Hausflures
I. Eingriff, EGL
Durch das Betreten des Hausflures wird in das GR des A aus Art.13 I GG eingegriffen. Zu dem durch das GR geschützten Bereich gehören auch die Nebenräume der
Wohnung wie der Hausflur, und zwar ohne Rücksicht auf die Natur des Besitzrechts
(hier wohl Miete). In dem bloßen Betreten liegt noch keine Durchsuchung im Sinne
von Art.13 II GG.
Die EGL ist im Hinblick auf den rein präventiven Charakter der Maßnahme im POR zu
suchen; sie liegt in § 36 I Nr.3 ASOG, da die Rechtsfolge dieser Norm das Verhalten
von P und R erlaubt: Diese haben ohne die Einwilligung bzw. ohne die vorherige Zustimmung des A einen Raum betreten, der unter die Definition von ”Wohnung” i.S.v.
§ 36 I 2 ASOG zählt. Der vorherige Anruf des L und ihre Bitte um Hilfe sind keine
Einwilligung zum Betreten des Hausflures durch die Beamten, da der L insoweit kein
Hausrecht zusteht.
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Da § 36 I ASOG sowohl die Ordnungsbehörden als auch die Polizei ermächtigt, folgt
die sachliche Zuständigkeit hier nicht aus dem Tatbestand der EGL, sondern aus § 4
S.1 ASOG (Eilzuständigkeit): An sich wäre das Bezirksamt kraft seiner subsidiären
Allzuständigkeit für Ordnungsaufgaben gem. Nr.35 II ZustKatOrd zuständig gewesen,
konnte aber nicht in der gebotenen Eile tätig werden. Die örtliche Zuständigkeit der
Polizeibeamten ergibt sich aus § 6 ASOG. Funktional sind P und R ebenfalls zuständig, da sich die Zuständigkeit eine Behörde (hier: des Polizeipräsidenten, vgl. § 5 I
ASOG) grundsätzlich auf jeden Behördenmitarbeiter erstreckt (Ausnahme: spezielle
Rechtsvorschriften wie etwa § 27 III ASOG bestimmen etwas anderes).
Besondere Verfahrens- oder Formvorschriften sind nicht zu beachten. Insbesondere
ist für das bloße Betreten des Hauses – anders als für eine Durchsuchung gem. vgl. §
37 ASOG – keine richterliche Anordnung erforderlich. Da das Betreten des Hausflures
im Übrigen mangels eines Anordnungsgehaltes kein VA ist, sind die im VwVfG geregelten formellen RM-Voraussetzungen für einen VA hier nicht anwendbar.
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 36 I Nr.3 ASOG liegen vor, da P und
R aufgrund der von L bei ihrem Anruf mitgeteilten Tatsachen von einer gegenwärtigen Gefahr für das Leben des A ausgehen mussten und zur Abwehr dieser Gefahr
bzw. zur Verhinderung des drohenden Suizides des A ein Betreten des Hauses erforderlich war, um mit A in Kontakt zu kommen und ihn ggf. mit weiteren polizeilichen
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Maßnahmen an seinem Vorhaben zu hindern. Die grundrechtsdogmatische Streitfrage, ob der Staat überhaupt ein legitimes Eingriffsziel verfolgt, wenn er den Bürger
vor einem Suizid abhalten will (Stichwort ”Schutz des Bürgers vor sich selbst”), kann
hier offen bleiben, da man sich jedenfalls bei Eilfällen darüber einig ist, daß die Behörden hier von der Möglichkeit eines nicht frei verantwortlichen Selbstmordes ausgehen können bzw. ausgehen müssen; bei einem nicht frei verantwortlichen Selbstmord kann der zum Suizid Entschlossene aber von seinem Tun abgehalten bzw. ”vor
sich selbst” geschützt werden, da ihm hier die für einen vom Staat zu respektierenden (freien) Grundrechtsverzicht erforderliche Willensfreiheit fehlt. Zum geschützten
” Leben” i.S.d. von § 36 I Nr.3 ASOG zählt daher in (Eil-)Fällen wie dem vorliegenden
auch das Leben des suizidgefährdeten Bürgers, dessen Wohnung ohne seine Einwilligung betreten wird.
2. Richtiger Adressat der Maßnahme
Nach der Fassung des § 36 I Nr.3 ASOG kommt es nicht darauf, daß der oder die
Wohnungsinhaber zugleich auch Störer im Sinne der §§ 13, 14 ASOG ist oder gem. §
16 ASOG polizeipflichtig ist, d.h. die Polizeipflichtigkeit der Hausbewohner folgt aus
dem Tatbestand der EGL selbst. Im Übrigen ist A aber selbst polizeipflichtig, da er
Handlungsstörer gem. § 13 I ASOG ist: Er hat die Gefahr (seines Selbstmordes)
selbst unmittelbar verursacht. Die Maßnahme konnte sich somit gegen die Hausbewohner und gegen A ihn richten.
3. Ermessensfehler, GdV
Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den
GdV liegen ebenfalls nicht vor: Die Maßnahme war geeignet, erforderlich nicht offensichtlich unangemessen für die Erreichung des Eingriffsziels (Verhinderung des
Selbstmordes)
Das Betreten des Hausflures war somit rechtmäßig.
B. Das Betreten der Wohnung des A
I. Auch diese Maßnahme greift in das GR des A aus Art.13 I GG ein. EGL ist auch
hier § 36 I Nr.3 ASOG.
II. Auch diese Maßnahme ist – aus den oben unter Punkt A genannten Gründen –
formell rechtmäßig.
III. Auch hier ist die materielle RM ist zu bejahen, da auch hier der Tatbestand des §
36 I Nr.3 ASOG (gegenwärtige Gefahr für das Leben des A) erfüllt ist. Die erforderliche Gefahr ist nicht etwa durch das von der Nachbarin geschilderte Geschehen entfallen; vielmehr liegen nach wie vor hinreichende Anhaltspunkte für eine gegenwärtige Lebensgefahr von in der Wohnung befindlichen Personen vor: Die plötzlich Stille
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lässt befürchten, daß es im Streit zu Gewalttätigkeiten zwischen A und L gekommen
ist, so daß jetzt nicht nur zum Schutz des Lebens des A, sondern auch zum Schutz
von Leib und Leben der L die Wohnung des A betreten werden kann. (Adressatenfrage entsprechend oben bei A).
Das Betreten der Wohnung war daher rechtmäßig.
C. Befragung der L und Ermitteln von personenbezogenen Daten über A
(Aussehen, Aufenthaltsort)
I. Eingriff, EGL
Die Befragung der L nach dem Geschehen sowie nach Aussehen und Aufenthaltsort
des A greift in das RISB von A und L ein. EGL ist wegen des überwiegend präventiven Charakters der Maßnahme § 18 III 1 ASOG.
II. Formelle RM
Die formelle RM ist – unter den Gesichtspunkten der Zuständigkeit von P und R – aus
den oben unter Punkt A genannten Gründen zu bejahen (§ 18 III 1 ASOG ermächtigt
die Ordnungsbehörden und die Polizei, deren Zuständigkeit hier aus dem Gesichtspunkt der Eilzuständigkeit folgt). Die für den Erlass eines VA einschlägigen Verfahrensvorschriften des VwVfG sind hier nicht zu beachten, da die Befragung der L
mangels Anordnungsgehaltes keinen VA im Sinne von § 35 VwVfG darstellt.
Als spezielle Verfahrensvorschrift ist allerdings § 18 V 1 ASOG zu beachten. Hier ist
dieser Hinweis lt. Sachverhalt anscheinend unterblieben. Er war aber wohl gem. § 18
V 2 ASOG entbehrlich, da L unter dem frischen Eindruck der von A verübten Gewalttätigkeiten stand und daher verstört war; zudem musste das Gespräch wegen des
nach wie vor drohenden Suizids des A bzw. aus Gründen der Eilbedürftigkeit auf das
Wesentliche beschränkt werden. Somit greift hier § 18 V 2 Fall 2 ASOG ein (Gefährdung der polizeilichen Aufgabe).
III. Materielle RM
Der Tatbestand der EGL ist ohne weiteres erfüllt.
Adressat: Die Befragung konnte (anstatt an A als die betroffene Person) gem. § 18
IV Nr.1 ASOG an L gerichtet werden. Die §§ 13, 14, 16 ASOG werden durch § 18 IV
ASOG (lex specialis) verdrängt.
Ermessensfehler oder ein Verstoß gegen den GdV sind nicht ersichtlich.
Somit war die Befragung der L rechtmäßig.
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D. Gewahrsam des A
I. Eingriff, EGL
Die gegenüber A ausgesprochene Anordnung des Gewahrsams stellt einen Eingriff in
die Freiheit der Person des A dar, d.h. sein GR aus Art.2 II 2 GG wird beschränkt
(Freiheitsentzug gem. Art. 104 II – IV GG). Der in dem Eingriff zugleich liegende Eingriff in seine allgemeine Handlungsfreiheit (Art.2 I GG) tritt hinter Art. 2 II 2 GG (lex
specialis) zurück. Das Schwergewicht der Maßnahme liegt trotz des Verdachts einer
strafbaren Handlung zulasten der L (Körperverletzung) ganz eindeutig im präventiven
Bereich. EGL ist daher § 30 I Nr.1 ASOG.
II. Formelle RM
Die sachliche Zuständigkeit von P und R ergibt sich hier unmittelbar aus § 30 I ASOG,
da diese Norm nur die Polizei ermächtigt. Die örtliche und funktionale Zuständigkeit
folgt aus den oben unter Punkt A genannten Gründen.
Als weitere Verfahrensvorschriften war hier § 28 I VwVfG (in Verb. mit § 1 I
VwVfG Bln) zu beachten, da die Anordnung des Gewahrsams einen VA gem. § 35 S.1
VwVfG darstellt; A war somit für der Anordnung des Gewahrsams anzuhören. Dies ist
lt. Sachverhalt geschehen. Eine richterliche Entscheidung gem. § 30 I 1 ASOG wurde
lt. Bearbeitungshinweis bis zum Ende des Gewahrsams des A nicht herbeigeführt, da
ein Richter nicht erreichbar war; somit greift hier § 31 I 2 ASOG ein. Die zeitliche
Grenze des § 33 I Nr.3 ASOG wurde eingehalten.
III. Materielle RM
Sie ist gegeben, da der Gewahrsam des A zum Schutz seiner Person gegen die durch
ihn selbst drohende Gefahr für sein Leben unerlässlich war. Die Lösung der Adressatenfrage ergibt sich aus dem Tatbestand der EGL. Ermessensfehler oder ein Verstoß
gegen den GdV sind nicht ersichtlich. Vertretbar ist es aber auch, hier einen Verstoß
gegen den GdV (zeitliches Übermaßverbot) anzunehmen, da A von dem Beginn des
Gewahrsams bis zum Gespräch am nächsten Morgen nicht dem Arzt vorgeführt worden ist, d.h. die Polizei hat sich nicht vergewissert, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen bzw. der Grund des Gewahrsams u.U. gem. § 33 I Nr. ASOG weggefallen
ist.
Die Anordnung des Gewahrsams war somit rechtmäßig (vertretbar auch: rechtswidrig
wegen Verstoß gegen GdV).
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E. Ergreifen des A und Verbringen zur GESA
I. Eingriff, EGL
Auch hier wurde in die Freiheit der Person des A in Form eines Freiheitsentzuges eingegriffen (Art.2 II 2 GG, Art. 104 II – IV GG). EGL ist §§ 6 I, 9, 12 VwVG (in Verb.
mit § 5 II VwVfG Bln), da hier der vorher erlassene Grund-VA (Anordnung des Gewahrsams des A) nunmehr im gestreckten Verfahren vollstreckt wird. Der Vollstreckungscharakter der Maßnahme folgt aus der Tatsache, daß A die vorherige Anordnung nicht (mehr) freiwillig befolgt und daher Verwaltungszwang angewendet werden muß; im Festhalten des A liegt ein Maßnahme des unmittelbaren Zwangs gem.
§ 12 Fall 1VwVG.
II. Formelle RM
Die sachliche Zuständigkeit von P und R folgt aus § 7 I VwVG, wonach der VA von
der Behörde vollzogen wird, die ihn erlassen hat. Dies ist hier die Polizei. Deren Zuständigkeit ergibt sich aus den oben unter D I genannten Gründen.
Als weitere Verfahrensnormen schreiben § 13 VwVG die schriftliche Androhung des
Zwangsmittels sowie § 14 VwVG seine – danach erfolgende – Festsetzung vor. Hier
sind beide Verfahrensschritte jedoch entbehrlich (sog. abgekürztes Verfahren), da
das Zwangsmittel auch im Wege des Sofortvollzuges hätte angewandt werden können (vgl. §§ 13 I 1, 14 S.2 VwVG): Das sofortige Ergreifen des A war zur Abwendung
einer drohenden Gefahr (Selbstmord) notwendig und P und R handelten bei der Anordnung des Gewahrsam auch im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse (die Anordnung des Gewahrsams war rechtmäßig, s. oben unter Punkt D).
III. Materielle RM
1. Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage
§ 6 I VwVG verlangt zunächst einen gem. § 43 VwVfG wirksamen (nicht unbedingt
rechtmäßigen) VA; dies ist hier die dem A durch P und R bekannt gegebene Verfügung seiner Ingewahrsamnahme.
Ferner muß der VA den inhaltlichen Anforderungen des § 6 I VwVG entsprechen, d.h.
seinem Anordnungsinhalt nach auf eines der in § 6 I VwVG genannten Ziele gerichtet
sein. Dies ist hier der Fall, da die Verfügung des Gewahrsams den A verpflichtet, den
polizeilichen Gewahrsam zu dulden, mithin auf eine Duldung gerichtet ist.
Die weiterhin gem. § 6 I VwVG erforderliche formelle Vollstreckbarkeit des Grund-VA
ist hier insofern gegeben, als einem etwaigen Widerspruch des A gegen den Gewahrsam aufgrund von § 80 II Nr. 2 VwGO keine aufschiebende Wirkung beigelegt ist, da
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die Anordnung des Gewahrsams eine unaufschiebbare Anordnung von Polizeivollzugsbeamten darstellt.
Schließlich sind die besonderen Voraussetzungen des unmittelbaren Zwangs nach §
12 VwVG, daß nämlich die anderen Zwangsmittel (Zwangsgeld oder Ersatzvornahme)
nicht zum Ziel führen oder untunlich sind, hier erfüllt, da diese anderen Zwangsmittel
offensichtlich untauglich für die erstrebte Durchsetzung des Gewahrsams wären.
2. Adressatenauswahl
A ist der richtige Adressat der Vollstreckungsmaßnahme, da er bereits der richtige
Adressat des Grund-VA war (s. oben unter Punkt D III).
3. Ermessensfehler, GdV
Ermessensfehler oder ein Verstoß gegen den GdV (hier gegen § 9 VwVG) sind nicht
ersichtlich.
Das Ergreifen des A war somit im Ergebnis rechtmäßig.
F. Durchsuchung des A durch D
I. Eingriff, EGL
Auch hier wurde in die Freiheit der Person des A (Art. 2 II 2 GG) eingegriffen. Ferner
ist sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berührt (Art.2 I in Verb. mit Art. 1 I GG).
EGL ist § 34 I Nr. 1 ASOG (in Verb. mit § 38 Nr. 3 a) ASOG).
II. Formelle RM
Die formelle RM ist im Hinblick auf die sachliche Zuständigkeit von D aus den oben
unter Punkt A genannten Gründen zu bejahen: § 34 I ASOG ermächtigt die Ordnungsbehörden und zugleich die Polizei; deren Zuständigkeit ergibt sich sodann aus
dem Gesichtspunkt der Eilzuständigkeit. D ist auch örtlich und funktional zuständig
(s. oben unter Punkt A II). Die für den Erlass eines VA einschlägigen Verfahrensvorschriften des VwVfG sind hier nicht zu beachten, da die Durchsuchung mangels Anordnungsgehaltes keinen VA im Sinne von § 35 S.1 VwVfG darstellt. Als spezielle Verfahrensvorschrift ist allerdings § 34 IV 1 ASOG zu beachten, wonach Personen nur
durch Personen gleichen Geschlechts durchsucht werden dürfen; dies ist hier offenbar geschehen.
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III. Materielle RM
1. Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage
Nach § 34 I Nr. 1 ASOG kann eine Person durchsucht werden, wenn Tatsachen die
Annahme rechtfertigen, daß die Person Sachen mit sich führt, die sichergestellt werden dürfen. Hier konnte D aufgrund der Äußerung des A, es sei für ihn ein leichtes,
sich auch in der Arrestzelle das Leben zu nehmen, annehmen, daß A Sachen mit sich
führt, die zu einer Selbsttötung geeignet sind; solche Sachen unterliegen gem. § 38 I
Nr. 3 a) ASOG der Sicherstellung.
Somit rechtfertigen im vorliegenden Fall Tatsachen die Annahme, daß A Sachen mit
sich führt, die sichergestellt werden dürfen.
2. Richtiger Adressat der Maßnahme
A war gem. 13 I ASOG Störer, da er aufgrund seiner Äußerung Grund zu der Annahme gab, daß er Sachen i.S.d. § 38 I Nr. 3 a) ASOG bei sich führen würde.
3. Ermessensfehler, GdV
Ermessensfehler oder ein Verstoß gegen den GdV (hier gegen § 9 VwVG) sind nicht
ersichtlich.
Die Durchsuchung des A war daher rechtmäßig.
G. Sicherstellung der Rasierklinge und des Gürtels durch D
I. Eingriff, EGL
Die hier vorgenommene Sicherstellung, d.h. die Beendigung des Gewahrsams des A
an Rasierklinge und Gürtel und die Begründung amtlichen Gewahrsams daran, greift
in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des A ein (Art. 2 I in Verb. mit Art. 1 I GG).
EGL ist § 38 Nr. 3 a) ASOG.
II. Formelle RM
Sie ist aus den oben unter Punkt F genannten Gründen zu bejahen.
Hier ist es möglich, die Sicherstellung in zwei verschiedenen Weisen zu konstruieren:
Einmal als Realakt (mit Eingriffsqualität), zum anderen als (zumindest stillschweigenden) VA gem. § 35 S.1 VwVfG, d.h. als Maßnahme, die Anordnungscharakter hat
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bzw. den Adressaten zum Herausgeben der sichergestellten Sache verpflichtet. Wenn
man der zweiten Lösungsmöglichkeit folgt bzw. annimmt, daß die Sicherstellung einen derartigen VA gegenüber dem bisherigen Gewahrsamsinhaber beinhaltet, musste A gem. § 28 I VwVfG im Prinzip vor der Sicherstellung angehört werden, doch
konnte hier von der Anhörung abgesehen werden, da eine sofortige Entscheidung
wegen Gefahr im Verzug notwendig war (§ 28 II Nr. 1 VwVfG).
III. Materielle RM
Der Tatbestand der EGL ist ohne weiteres erfüllt.
A ist als Gewahrsamsinhaber der sicherzustellenden Sachen der richtige Adressat der
Maßnahme, da er durch seinen Besitz an diesen Sachen die Gefahrenschwelle selbst
unmittelbar überschreitet (§ 13 I ASOG).
Ermessensfehler oder ein Verstoß gegen den GdV (hier gegen § 9 VwVG) sind nicht
ersichtlich.
Die Sicherstellung von Rasierklinge und Gürtel waren damit rechtmäßig.
H. Anlegung von Fesseln zur Verhinderung weiterer Selbstmordversuche
I. Eingriff, EGL
Die Fesselung greift in die Freiheit der Person des A (Art. 2 II 2 GG) ein. Ferner ist
sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berührt (Art.2 I in Verb. mit Art. 1 I GG).
Die Fesselung ist eine Maßnahme des Verwaltungszwangs, da den A gegen seinen
Willen zum Unterlassen weiterer Selbstmordversuche gezwungen werden sollte. Ein
Rückgriff auf § 15 I ASOG (unmittelbare Ausführung) scheidet aus, wenn man zur
Abgrenzung zwischen Sofortvollzug und unmittelbarer Ausführung zutreffend darauf
abstellt, daß eine Maßnahme der unmittelbaren Ausführung zumindest nicht (wie
hier) gegen den Willen des Adressaten erfolgen darf. Ferner handelt es sich hier um
Verwaltungszwang im Sinne von § 12 VwVG (unmittelbarer Zwang), der gleichzeitig
die Voraussetzungen von § 20 UZwG (Fesselung) erfüllt. Dieser Zwang wurde im
Wege des Sofortvollzug angewendet (einstufiges Verfahren). Ein vorheriger GrundVA an A, weitere Selbstmordversuche zu unterlassen, ist nicht ergangen. D verhindert solche Versuche vielmehr unmittelbar durch die Fesselung des A, d.h. ohne entsprechenden Grund-VA und mithin im Wege des Sofortvollzugs. EGL für die Fesselung ist mithin §§ 6 II, 9 , 12 VwVG; § 20 I Nr. c) UZwG Bln.
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II. Formelle RM
Die sachliche Zuständigkeit des D folgt aus § 7 I VwVG, wonach der VA von der Behörde vollzogen wird, die ihn erlassen hat; dementsprechend ist im einstufigen Verfahren die Behörde zuständig, die für den hypothetischen Grund-VA zuständig wäre.
Ein solcher Grund-VA bestünde hier – wie gesagt – in der Aufforderung an A, weitere
Versuche der Selbsttötung zu unterlassen. Für den Erlass eines solchen VA wäre die
Polizei kraft Eilzuständigkeit sachlich zuständig (§ 4 S.1 ASOG); weiterhin wäre D dafür auch örtlich und funktional zuständig (s. oben unter Punkt A). Schließlich erfüllt D
als Polizeivollzugsbeamter auch die speziellen Zuständigkeitsvoraussetzungen der §§
1 I, 3 Nr.1 UZwG Bln.
III. Materielle RM
1. Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage
Nach § 6 II VwVG kann Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Grund-VA unter
anderem dann angewandt werden, wenn der sofortige Vollzug zur Abwendung einer
drohenden Gefahr notwendig ist und die Behörde hierbei im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse handelt. Daraus ergibt sich die Forderung, daß ein hypothetischer
VA rechtmäßig und vollstreckbar wäre; ferner müssen die besonderen Voraussetzungen des § 6 II VwVG vorliegen (hier: Notwendigkeit des Sofortvollzugs zur Abwendung einer drohenden Gefahr).
a) Der o.g. hypothetische Grund-VA (= Aufforderung zum Unterlassen weiterer
Selbstmordversuche) hätte von D auf der Grundlage von § 17 I ASOG rechtmäßig
erlassen werden können: Die Zuständigkeit des D folgt aus den soeben unter Punkt
II. angestellten Überlegungen; der Tatbestand der Generalklausel wäre erfüllt, da
hier eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aufgrund des unmittelbar drohenden
Selbstmordversuchs des A vorliegt; die Aufforderung, solche Versuche zu unterlassen, wäre an den richtigen Adressaten gerichtet (A ist Handlungsstörer gem. § 13 I
ASOG) und würde auch nicht gegen den GdV verstoßen. Der hypothetische Grund-VA
wäre somit formell und materiell rechtmäßig.
b) Die hypothetische Aufforderung zum Unterlassen weiterer Selbstmordversuche
hätte auch einen gem. § 6 I VwVG vollstreckbaren Inhalt (Unterlassen) und wäre
zudem als unaufschiebbare Anordnung eines Polizeivollzugsbeamten (§ 80 II Nr.2
VwGO) formell vollstreckbar im Sinne des § 6 I VwVG, da hier dem Rechtsmittel des
Widerspruchs keine aufschiebende Wirkung beigelegt wäre.
c) Weiterhin ist das Vorgehen des D im Wege des Sofortvollzugs gem. § 6 II VwVG
auch notwendig zur Abwehr einer drohenden Gefahr (hier des Selbstmordes des A),
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da A bereits im Begriff war, sich zu erhängen, und ein vor der Fesselung ausgesprochene Grund-VA daher zu spät gekommen wäre.
d) Schließlich liegen die besonderen Voraussetzungen des unmittelbaren Zwangs
gem. § 12 VwVG (Erfolglosigkeit anderer Zwangsmittel) sowie der Fesselung gem.
§ 20 UZwG vor (A befand sich im Gewahrsam von Vollzugsbeamten und es bestand
die Gefahr der Selbsttötung).
Somit ist der Tatbestand der EGL erfüllt.
2. Die Maßnahme der Fesselung richtete sich an den richtigen Adressaten, da A auch
richtiger Adressat des hypothetischen Grund-VA wäre (s. soeben unter 1.).
3. Ermessensfehler oder ein Verstoß gegen den GdV (hier gegen § 9 VwVG, § 4
UZwG) sind nicht ersichtlich.
Die Fesselung des A war damit rechtmäßig.