September 2011: Gentests am Embryo: Das ethische Dilemma
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September 2011: Gentests am Embryo: Das ethische Dilemma
Kostenloses Unterrichtsmaterial – ein Service von FÜR DIE SCHULE www.zeit.de/schulangebote www.ustinov-stiftung.org T H E M A D E S M O N AT S : Gentests am Embryo: Das ethische Dilemma Die Debatte um pränatale Diagnostik, Eugenik und die Akzeptanz behinderter Menschen in unserer Gesellschaft A R B E I T S B L ÄT T E R I M M O N AT S E P T E M B E R 2 0 1 1 2 Einleitung: Thema und Lernziele 3 Arbeitsblatt 1: Lebenslügen 6 Arbeitsblatt 2: Pränatale Diagnostik: Positionen Pro und Kontra 9 Ausgewählte Internetquellen zum Thema Neue Arbeitsmaterialien zu einem aktuellen Thema und interessante Links für Ihren Unterricht finden Sie jeden ersten Donnerstag im Monat unter www.zeit.de/schulangebote. 09/2011 Pränataldiagnostik © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Inhalt ....... Der Lehrer-Newsletter informiert Sie einmal monatlich über unsere Arbeitsblätter sowie über Angebote der ZEIT und ihrer Partner rund um die Themen Schule und Bildung. Jetzt anmelden unter www.zeit.de/newsletter. ............................................................................................................. 1 Einleitung: Thema und Lernziele Darf man befruchtete Eizellen vor dem Einpflanzen in die Gebärmutter auf bestimmte Krankheiten untersuchen? Und wenn ja, in welchen Fällen? Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) treffen kontroverse Meinungen aufeinander. Im Bundestag stimmten die Abgeordneten Anfang Juli für die Zulassung der PID in Ausnahmefällen. In einer emotionsgeladenen Debatte warnten die Gegner davor, Designerbabys erschaffen zu wollen, während die Befürworter auf das Leid der Eltern bei einer Totgeburt oder schweren Missbildung verwiesen. Doch der technologische Fortschritt hat die Politik längst überholt. Inzwischen kann ein einfacher Bluttest einer Schwangeren schon Auskunft darüber geben, ob der Fötus an einem Gendefekt leidet. Die pränatale Diagnostik (PND) könnte schon bald zur Routine werden – und damit auch die Aussonderung von behinderten Kindern. Behindertenverbände warnen davor, dass Menschen etwa mit Downsyndrom in Zukunft stärker diffamiert werden könnten. Werden Behinderte irgendwann als Versäumnis ihrer Eltern betrachtet, die eine wichtige medizinische Voruntersuchung verweigert haben? Demgegenüber sehen Befürworter der PND das Leid der Eltern im Vordergrund, die ein unheilbares Kind auf die Welt bringen. Unbestritten ist, dass unsere Gesellschaft weit davon entfernt ist, eine Antwort auf die schwierigen ethischen und gesellschaftspolitischen Implikationen zu finden, die mit den möglichen Anwendungen der Genomanalyse verbunden sind. Arbeitsblatt 1 geht den grundlegenden Fragen zur PID/PND nach: Darf man die Gewissensentscheidung von Eltern für oder gegen ein genetisch geschädigtes Kind verurteilen? Und welche schwierigen ethischen Entscheidungen kommen bei der rasant fortschreitenden Forschung zur Genomanalyse auf uns noch zu? Die Schüler werden aufgerufen, die technischen und gesellschaftlichen Dimensionen der Thematik auszuloten und ein vorläufiges Meinungsbild zu erstellen. In Arbeitsblatt 2 werden verschiedene Pro-Kontra-Positionen zur Thematik vorgestellt. Den Schwerpunkt bildet hierbei die Frage, inwieweit die Aussortierung kranker Föten als Diskriminierung von behinderten Menschen gedeutet werden kann. Die Schüler recherchieren Fallbeispiele und ordnen die kontroversen Standpunkte den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen zu. Sie sollen nach Auswertung der Argumente ein begründetes Fazit ziehen und zu den genannten Aspekten Stellung nehmen. Ein weiteres Meinungsbild der Klasse soll nachvollziehen, inwiefern sich die Meinungen nach einer ausführlicheren Beschäftigung und Diskussion verschoben haben. © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Einleitung 09/2011 Pränataldiagnostik ....... ............................................................................................................. 2 Arbeitsblatt 1: Lebenslügen Ein neuer Test verrät Schwangeren alles über das Erbgut ihres Kindes. Eine Chance und eine ungeheuerliche Gefahr. 1 2 Wird Deutschland eine eugenische Gesellschaft? Ein Land, in dem Menschen weitreichende biologische Verfügungen über die Verfasstheit ihrer Kinder und Enkel treffen wollen und treffen dürfen? 3 4 5 6 7 8 9 10 Kaum hat der Bundestag die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) beschlossen, und damit die Untersuchung von im Labor gezeugten Embryonen vor der Einpflanzung in die Gebärmutter, stehen Politik und Gesellschaft vor einer neuen Herausforderung, hervorgerufen abermals durch den Fortschritt der Genomdiagnostik: Mit einer neuen Technik können die Erbinformationen eines Fötus vollständig entschlüsselt werden, ohne jedes Risiko für Mutter und Kind – eine Blutprobe der Schwangeren genügt. Wollten Eltern bisher ein genetisches Risiko ausschließen, blieb nur die Fruchtwasseruntersuchung, mit begrenzter Aussagekraft und verbunden mit dem Risiko einer Fehlgeburt. 11 12 13 14 15 16 17 Medizinisch gesehen ist das neue Verfahren ein bedeutsamer Fortschritt. Aber gefährdet es nicht fundamentale Werte unserer Gesellschaft? Oder entlarvt es sie als Illusion? Früher und genauer denn je lassen sich künftig Erbschäden aufspüren. Schwangerschaften können abgebrochen werden, bevor die Mutter überhaupt eine Beziehung zum Kind aufgebaut oder die Umwelt die veränderten Umstände registriert hat. Die Konsequenz im Alltag könnte heißen: Erst mal prüfen, ob alles okay ist – eine Schwangerschaft unter Vorbehalt. Müssen wir den Test stoppen? Können wir das überhaupt? Wollen wir Eugenik? Die Mehrheit hat schon entschieden: mit Ja. 18 19 20 21 22 23 24 25 Zunächst: Eine neue Methode wird nicht automatisch gesellschaftliche Normen verschieben. Das Beispiel Downsyndrom lehrt: Mehr als zehn Prozent der Schwangeren entscheiden sich gegen jede vorgeburtliche Untersuchung, sie akzeptieren und begrüßen vielleicht sogar das Schicksalhafte einer Schwangerschaft. Dieses Recht kann und darf ihnen niemand nehmen. Und ohne Zweifel verdienen solche Eltern Respekt und jede nur denkbare Unterstützung, die sich trotz der Diagnose Downsyndrom für ihr Kind entscheiden. In der Mehrheit zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Wird vor der Geburt ein Downsyndrom festgestellt, entscheiden sich in Deutschland neun von zehn Schwangeren für eine Abtreibung. 26 27 28 29 30 31 32 Es wird Zeit, sich von einer Lebenslüge dieser Gesellschaft zu verabschieden. Auch wenn vor dem Hintergrund unserer Geschichte schon der Gedanke schmerzt: In der Summe der individuellen Entscheidungen Zehntausender Paare pro Jahr findet eugenisches Handeln längst statt. Nicht im Sinne eines – ebenso irrwitzigen wie aussichtslosen – staatlich verordneten Menschenzuchtprogramms. Wohl aber als Eugenik von unten, bei der werdende Eltern allein für sich die Frage beantworten: Soll dieses ihr gerade erst gezeugtes Kind leben? Oder soll es besser nicht geboren werden, weil es schwer krank oder behindert wäre? 33 34 35 36 37 38 39 Die Eltern, die betroffenen Familien – sind sie nicht ohnehin die Einzigen, denen das Recht dieser schweren Gewissensentscheidung zusteht? Von der Last, die Eltern behinderter Kinder tragen, wissen die wenigsten in diesem Land, auch nicht von ihrer Angst: Was wird, wenn wir nicht mehr für unser Kind da sein können? Es gibt Menschen, die dieses Schicksal meistern; von den darüber geborstenen Familien, gescheiterten Ehen, zerbrochenen Leben ist selten die Rede. Haben wir als Gemeinwesen, hat die Politik oder die Kirche das Recht, über diese Menschen zu urteilen – juristisch oder moralisch? Wohl kaum. 40 41 42 43 Wer anders denkt, möge sich jetzt für Verbote aussprechen. Viel Zeit bleibt nicht. Alle anderen zwingt der biotechnische Fortschritt nun dazu, sich zu dem zweifellos heiklen Bekenntnis durchzuringen: Ja, wir sind eine Gesellschaft, die es toleriert, wenn in ihrer Mitte gegen schwer kranke, behinderte Föten entschieden wird. 09/2011 Pränataldiagnostik © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Arbeitsblatt 1 ....... ............................................................................................................. 3 44 45 46 47 48 49 Mehr noch, der stürmische Vorwärtsdrang in der Genomanalyse nötigt uns immer wieder neue Regeln für den Umgang mit dem neuen Wissen ab. Bis zum Ende dieses Jahres werden weltweit bereits Zehntausende Menschen ihr Erbgut in allen Einzelheiten kennen. Schon bald werden sich zeugungswillige Paare über die genetischen Erkrankungen informieren können, die sie ihren Kindern womöglich vererben werden. Den Gencode eines Ungeborenen können Eltern dann zusammen mit dem ersten Ultraschallbild überreicht bekommen. Sie werden nicht nur erfreuliche Auskünfte erhalten. 50 51 52 53 54 Vor allem müssen wir uns darüber verständigen, wie weit die Verfügung über unsere Gendaten und die unserer Kinder gehen darf, wie wir sie nutzen – und wo die Grenze verläuft zwischen Erbkrankheiten und bloßen Eigenschaften, zwischen Schicksals- und Geschmacksfragen. Diese Debatte ist ethisch fundamental, sie ist schwierig und macht Angst. Aber wir müssen uns sehr bald entscheiden. Sonst regieren in fünf Jahren in Labor und Alltag längst die dann geschaffenen Realitäten. Quelle: Ulrich Bahnsen, DIE ZEIT Nr. 34 2011, http://www.zeit.de/2011/34/01-Test-Erbgut-Kinder Hintergrund: PID und PND • Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) entnehmen Mediziner künstlich im Reagenzglas gezeugten Embryonen einige wenige Zellen, um das Erbgut zu untersuchen. Die Tests können einige Erkrankungen prüfen, etwa das Downsyndrom (Trisomie 21), Chorea Huntington, Cystische Fibrose (Mukoviszidose), die Bluterkrankheiten Hämophilie A und B sowie Sichelzellenanämie. Die PID ermöglicht es auch, einen Embryo mit dem Wunschgeschlecht herauszusuchen. Außerdem könnte unter mehreren Embryonen jener ausgewählt werden, der für ein bereits lebendes, aber erkranktes Geschwisterkind zum Beispiel als Knochenmarkspender geeignet wäre. Der Bundestag hat nach langen Kontroversen Anfang Juli 2011 beschlossen, dieses Diagnoseverfahren in engen Grenzen und in Ausnahmefällen zuzulassen. • Hiervon zu unterscheiden ist die Pränataldiagnostik (PND) oder auch Genomdiagnostik, die Ulrich Bahnsen in seinem Artikel thematisiert. Mit einer neuen Technik können jetzt auch natürlich gezeugte Föten bereits in der 10. Schwangerschaftswoche untersucht werden. Hierfür werden die Erbmoleküle des Embryos, die sich im Blut der Mutter befinden, untersucht. Dieser Bluttest für Schwangere wird schätzungsweise 2012 in Deutschland verfügbar sein. Bei einem Abbruch per PID wird demzufolge die Weiterentwicklung eines künstlich befruchteten Embryos verhindert, weil er erst gar nicht in den Mutterleib gelangt, bei einem Abbruch per PND wird eine bestehende Schwangerschaft beendet. 09/2011 Pränataldiagnostik © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Arbeitsblatt 1 ....... ............................................................................................................. 4 Aufgaben: 1. Arbeiten Sie die Unterschiede zwischen der Präimplantationsdiagnostik (PID) und der Pränataldiagnostik (PND) heraus, indem Sie eine Infografik entwerfen, die über die unterschiedlichen Verfahren Auskunft gibt. Beziehen Sie auch weitere Hintergrundinformationen ein (Biologiebücher, Internetrecherche etc.). Erläutern Sie anschließend, inwiefern nach Ihrer Einschätzung PID beziehungsweise PND auch innerhalb einer ethischen oder gesellschaftspolitischen Debatte unterschiedlich bewertet werden sollte – oder auch nicht. 2. Halten Sie in einem Brainstorming Ihre Assoziationen zu den Begriffen »Eugenik« und »Selektion« fest. Interpretieren Sie anschließend Ihre Ergebnisse und erläutern Sie, welche Gefühle und Befürchtungen darin zum Ausdruck kommen. Legen Sie dann in einer vorläufigen Schätzung fest, ob Sie diese als realistisch einschätzen. Interpretieren Sie ferner folgende Aussage aus dem Text: »Auch wenn vor dem Hintergrund unserer Geschichte schon der Gedanke schmerzt: In der Summe der individuellen Entscheidungen Zehntausender Paare pro Jahr findet eugenisches Handeln längst statt.« 3. Der Autor Ulrich Bahnsen spricht von einer »Lebenslüge« . Erläutern Sie diese These, finden Sie Beispiele und nehmen Sie hierzu Stellung. 4. Der Biochemiker Craig Venter, der durch Forschungsarbeiten zur Sequenzierung des menschlichen Genoms bekannt wurde, ließ als Erster seine gesamte DNA entziffern und veröffentlichen. Bei der Analyse des Venterschen Genoms stieß man insgesamt auf mehr als 300 Krankheitsgene und auf 4000 bislang unerforschte Varianten der rund 25.000 bekannten Gene des Menschen. Entwerfen Sie Zukunftsszenarien (realistische oder utopische) über mögliche Anwendungen der Gendiagnostik bzw. Genomanalyse und ihrer gesellschaftspolitischen Folgen (Stichpunkte: Therapie, Krankenkassen, Pharmakonzerne, Arbeitgeber, »gläserner Bürger«, »Designerbabys«, Ausrottung von Erbkrankheiten, künstliches Leben etc.). 4. Erstellen Sie ein vorläufiges Meinungsbild: Sollen Gentests an Embryonen durch Blutuntersuchungen von Schwangeren unbeschränkt zugelassen werden? Halten Sie die Pro- und Kontra-Argumente fest. 09/2011 Pränataldiagnostik © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Arbeitsblatt 1 ....... ............................................................................................................. 5 Arbeitsblatt 2 : Pränataldiagnostik: Positionen Pro und Kontra Wird, darf, muss die »Schwangerschaft unter Vorbehalt« zum sozialen Standard werden? 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Wer die PID verbietet, sagt Nein zum Leben Wer einen umfassenden Embryonenschutz fordert, müsste im gleichen Atemzug die Abtreibung grundsätzlich unter Strafe stellen. Und auch das Eugenik-Argument, bei der Auswahl von Embryonen werde Gott gespielt, um Designerbabys zu schaffen, ist purer Alarmismus. Denn es geht nicht um Nachwuchs auf Bestellung. Die PID ist keine Methode für die Massen, sie verhindert Leid in Einzelfällen. Die Erfolgschancen einer künstlichen Befruchtung mit zusätzlichem Gencheck liegt heute bei 10 bis 20 Prozent. Nicht mehr als 200 Fälle jedes Jahr erwarten Experten in Deutschland. Das zeigt die Erfahrung unserer europäischen Nachbarn, in denen die teure und umständliche Methode erlaubt ist. Kein Gesetz kann und darf regeln, was wertes oder unwertes Leben ist. Am Ende kann die Gesellschaft betroffenen Paaren die schwere Entscheidung nicht abnehmen, wie viel Leid ihnen und ihrem Kind zumutbar ist. Das Abtreibungsrecht berücksichtigt das. Eine Regelung zur PID sollte das auch. Quelle: Sven Stockrahm, ZEIT ONLINE, 16.11.2010, http://www.zeit.de/wissen/2010-11/pid-debatte-kommentar 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 »Gentests werden eine diagnostische Routine werden« Das Downsyndrom (Trisomie 21) werde die erste Form der Behinderung sein, die aus der Gesellschaft verschwindet – »per Abtreibung«, sagt der Humangenetiker Wolfram Henn von der Universität des Saarlandes voraus: »Die Schwangerschaft unter Vorbehalt wird zum sozialen Standard werden.« Tatsächlich ist auf Dauer kaum vorstellbar, dass die genetische Untersuchung des Fötus auf Trisomie 21 beschränkt bleiben wird. Schon jetzt lassen sich damit weitere Erbschäden entdecken: körperliche Erbleiden wie Mukoviszidose, Muskelschwund oder Blutarmut sowie neuropsychiatrische Befunde wie ein drohender Autismus. Auch Blindheit, Stoffwechselkrankheiten oder die Anfälligkeit für Krebs, Parkinson und Alzheimer dürften mit der Genomtechnik demnächst bereits früh in der Schwangerschaft und vergleichsweise kostengünstig zu entdecken sein. Mit dem Einstieg in die genomische Fortpflanzungsmedizin nähern sich die Zeiten ihrem Ende, in denen gesunder Nachwuchs eine Gnade war – und ein behindertes Kind ein hinzunehmendes Schicksal. Quelle: Ulrich Bahnsen, DIE ZEIT Nr. 34, 18.8.2011, http://www.zeit.de/2011/34/M-Trisomie 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 Ein Abbruch ist niemals normal Beim Schwangerschaftsabbruch gibt es auch eine Doppelmoral: Frauen, die eine Schwangerschaft wegen einer nachgewiesenen Behinderung des Kindes beenden, werden häufig schief angesehen. Von den anderen aber, die eine gesunde Schwangerschaft unterbrechen, redet man nicht mehr. Umgekehrt kann eine Frau, die ein Kind mit DownSyndrom bewusst behält und zur Welt bringt, von der Gesellschaft vorwurfsvolle Bemerkungen zu hören bekommen: So etwas könne man heutzutage doch vermeiden. Und noch schlimmer: Eine Frau, die ihr Kind, das sie nicht behalten kann, zur Adoption gibt oder in eine warme Babyklappe legt, wird von der Gesellschaft verachtet. Quelle: Brida von Castelberg, DIE ZEIT Nr.5, 28.1.2010, http://www.zeit.de/2010/05/CH-Schweizspiegel 36 09/2011 Pränataldiagnostik © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Arbeitsblatt 2 ....... ............................................................................................................. 6 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 Kirchen verurteilen Entscheidung des Bundestags Vor allem Kirchen und Behindertenverbände geht die Entscheidung des Bundestags zu weit, die Präimplantationsdiagnostik (PID) weiter zuzulassen. Robert Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, bezeichnete die Selektion von menschlichen Embryonen als Verstoß gegen das Achtungsgebot der Menschenwürde. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, sagte: »Mit uns wird es kein Designerbaby geben und auch kein sogenanntes Retterbaby, das nur einem erkrankten Kind als Ersatzteillager dienen soll.« Gegen die PID als Standardverfahren äußerte sich auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung. Ihr Vorsitzender Robert Antretter sagte: »Viele Menschen mit Behinderungen müssen diese Entscheidung als diskriminierend empfinden.« Die drei großen christlichen Frauenverbände äußerten in einer gemeinsamen Erklärung die Sorge, die ohnehin schon problematische Situation behinderter Menschen könne durch die Parlamentsentscheidung noch schwieriger werden. Quelle: ZEIT ONLINE, 7.7.2011, http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2011-07/pid-entscheidung-reaktionen 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 Mit Gewissen und Verstand Per PID lässt sich die Geburt von Kindern mit Genschäden verhindern. Die Zahl bestimmter Muskel- oder Stoffwechselkrankheiten würde deshalb zurückgehen. Insgesamt würde es jedoch nicht weniger Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung geben. Von den etwa 1,5 Millionen Fällen schwerer Behinderung in Deutschland haben nur rund zehn Prozent genetische Ursachen. Und selbst von diesen lassen sich die wenigsten vor der Geburt diagnostizieren. Die meisten Behinderungen entstehen bei der Geburt oder später durch einen Unfall. Die meisten Behindertenverbände wie etwa die Lebenshilfe wollen die Genauswahl im Labor verhindern. Denn auch wer nur wenige Jahre zu leben habe oder ein Dasein mit schweren Einschränkungen friste, könne glücklich sein. Wer den Optimismus mancher Menschen erlebt hat, die wissen, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leiden, kann daran nicht zweifeln. Aber nicht alle Betroffenen – und vor allem nicht alle Angehörigen – lehnen die PID ab. So pflegen zwar viele Eltern liebevoll und bis zur Erschöpfung ihre kranken Kinder, möchten aber kein weiteres behindertes Kind. Auch unter den Behinderten selbst finden sich Gegner und Befürworter, etwa unter den Glasknochenkranken. Hier gibt es Frauen, die eine PID explizit wünschen, weil sie aus eigener Leidenserfahrung keinem Kind das gleiche Schicksal aufbürden wollen. Anderen würde dies nichts ausmachen, weil sie sich im Umgang mit der Krankheit sicher fühlen. Kein Zweifel: Mithilfe der PID werden kranke Embryonen ausgesondert. Ziel des Verfahrens ist es, das Entstehen behinderter Kinder zu verhindern. Die PID zielt jedoch nicht auf Behinderte selbst. Es ist deshalb kein Widerspruch, ein potenzielles Leben mit einem Erbdefekt verhindern zu wollen, aber eine reale Person mit ihrer Behinderung zu akzeptieren und zu fördern. Viele Behinderte sagen: »Hätte es die PID bereits früher gegeben, gäbe es mich heute nicht.« Das mag logisch richtig sein, sagt aber nichts über das Lebensrecht von Behinderten aus. Viele Menschen müssen damit leben, ursprünglich keine Wunschkinder gewesen zu sein. Einmal geboren, fühlen sie sich jedoch angenommen und geliebt. Wer geboren ist, hat uneingeschränkten Anspruch auf Achtung seiner Würde und Schutz seines Lebens. Diese Einstellung prägt auch die Haltung vieler Eltern von Kindern mit einer Trisomie-21: Niemand von ihnen wollte ein Down-Kind. Doch ist der Nachwuchs da, unternehmen sie alles, um ihm ein gutes Leben zu ermöglichen. 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 Die PID werde die Gleichstellung von Behinderten schwächen, so fürchten viele Betroffene. Denn was sich frühzeitig verhindern lasse, erhalte womöglich später keine Unterstützung. In Ländern, in denen die PID schon erlaubt ist, hat sich das Klima für Behinderte jedoch bislang keineswegs verschlechtert. Und auch in Deutschland, wo jährlich Tausende Föten nach einer Pränataldiagnostik abgetrieben werden, leben Behinderte heute selbstständiger und haben mehr Chancen als jemals zuvor. Von einer Gleichstellung sind Menschen mit einem Handicap zwar noch entfernt. Sie werden jedoch nicht mehr versteckt wie früher. Und das Bemühen, behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten (Inklusion), ist zu einer mächtigen Bewegung geworden. Dass gerade konservative Regierungen die Sonderbehandlung in der Schule verteidigen, schwächt in der PID-Debatte die Glaubwürdigkeit ihrer Position. Quelle: Martin Spiewak, DIE ZEIT Nr.27, 30.6.2011, http://www.zeit.de/2011/27/M-PID-Bundestag 09/2011 Pränataldiagnostik © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Arbeitsblatt 2 ....... ............................................................................................................. 7 Aufgaben: 1. Ein häufig genanntes Argument gegen die pränatale Diagnostik verweist auf die Ausselektierung von behinderten Föten. Dies stelle das Lebensrecht behinderter Menschen infrage und schwäche auf lange Sicht deren gesellschaftliche Stellung. Martin Spiewak widerspricht der These mit dem Hinweis auf Fortschritte in der Inklusionspolitik. Diskutieren Sie diesen Aspekt im Plenum und differenzieren Sie hierbei nach den Bedürfnissen verschiedener Personenkreise: Behinderte, Eltern und Angehörige von Behinderten, Hilfsorganisationen und Interessenverbände. Leiten Sie aus Missständen, die Sie im Laufe der Debatte ansprechen, Lösungsansätze für eine Behindertenpolitik ab. Linktipp: Unesco-Leitlinien zur Inklusion, http://www.unesco.de/4162.html 2. Suchen Sie auf ZEIT ONLINE nach aktuellen Artikeln zu PID und PND und werten Sie die Leser-Kommentare aus. Analysieren Sie diese nach folgenden Kriterien: weltanschauliche Tendenzen, Argumentation auf sachlicher, emotionaler, oder ethischer Ebene, Tonfall und Stil, Aspekte, die besonders kontrovers diskutiert werden. Stellen Sie Auszüge zusammen, die Sie für die Rubrik »Leserbriefe« für geeignet halten, und begründen Sie Ihre Auswahl. 3. Lesen Sie auf ZEIT ONLINE das Fallbeispiel von David Bauerfeind (7) und Christian Papadopoulos (38). Beide sind von der Muskeldystrophie Namens Duchenne betroffen, einer unheilbaren Erbkrankheit, die meist im jungen Erwachsenenalter zum Tod führt. Beide nehmen einen völlig unterschiedlichen Standpunkt zur Frage der PID/PND ein. Davids Eltern befürworten die PID und hoffen auf ein gesundes Geschwisterkind. Christian Papadopoulos hingegen lehnt jede Form der Pränataldiagnostik ab, da er eine Diskriminierung von Behinderten fürchtet und eine Abwertung des Lebensrechts kranker Menschen. Erörtern Sie in Hinblick auf diese beiden Fallbeispiele, welche Schwierigkeiten entstehen, eine normative Regelung zur Gendiagnostik für die gesamte Gesellschaft zu finden. Suchen Sie nach Lösungsansätzen. Link: Aus Liebe zum Leben: Der Streit um den Gentest am Embryo spaltet Gesellschaft und Politik. Doch auch unter Betroffenen ist die PID umstritten. Zwei Familien, zwei Sichtweisen http://www.zeit.de/2011/04/PID-Gentest 4. Erstellen Sie eine zusammenfassende Liste mit Pro- und Kontra-Argumenten zur PID/PND. Ordnen Sie die Argumente in Form einer Gliederung nach dem Schema These – Antithese – Synthese, und stellen Sie die Ihrer Meinung nach stärksten Aussagen ans Ende. Skizzieren Sie ein Fazit in drei bis fünf Sätzen und stellen Sie es vor. 5. Wiederholen Sie Ihr Meinungsbild zu PID/PND (siehe Arbeitsblatt 1), und zählen Sie die Pro- und Kontra-Stimmen in Ihrer Klasse. Vergleichen Sie das Ergebnis mit der vorläufigen Abstimmung, und analysieren Sie, ob und warum sich das Meinungsbild änderte und welche Argumente hierfür ausschlaggebend waren. 09/2011 Pränataldiagnostik © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Arbeitsblatt 2 ....... ............................................................................................................. 8 Ausgewählte Internetquellen zum Thema: ZEIT ONLINE: Bioethik: Mit Gewissen und Verstand http://www.zeit.de/2011/27/M-PID-Bundestag ZEIT ONLINE: Weltbehindertenbericht: »Behinderung von vornherein mitdenken« http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2011-06/weltbehindertenbericht-2 ZEIT ONLINE: Down-Syndrom Elternglück, nur anders http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2011-07/down-syndrom-familie ZEIT ONLINE: Die trotzdem Geborenen http://www.zeit.de/2009/12/M-Down-Syndrom Bundeszentrale für politische Bildung: Bundestag erlaubt begrenzte Präimplantationsdiagnostik http://www.bpb.de/themen/Z2G7VN,0,0,Bundestag_erlaubt_begrenzte_ Pr%E4implantationsdiagnostik.html Friedrich Ebert Stiftung: Inklusive Bildung. Die UN-Konvention und ihre Folgen http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/07621.pdf Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.6.38.3566 Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V.: Pränataldiagnostik http://www.bvkm.de/Arbeitsbereiche_und_Themen/Praenataldiagnostik Impressum: Projektleitung: Nicole Mai, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG Projektassistenz: Karolin Beilner, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG Didaktisches Konzept und Arbeitsaufträge: Susanne Patzelt, Wissen beflügelt 09/2011 Pränataldiagnostik © DIE ZEIT für die Schule + Peter Ustinov Stiftung www.zeit.de/schulangebote+ www.ustinov-stiftung.org ....... Internetquellen ....... ............................................................................................................. 9