September 2011: Gentests am Embryo: Das ethische Dilemma

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September 2011: Gentests am Embryo: Das ethische Dilemma
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T H E M A D E S M O N AT S :
Gentests am Embryo: Das ethische Dilemma
Die Debatte um pränatale Diagnostik, Eugenik und die Akzeptanz behinderter
Menschen in unserer Gesellschaft
A R B E I T S B L ÄT T E R I M M O N AT S E P T E M B E R 2 0 1 1
2 Einleitung: Thema und Lernziele
3 Arbeitsblatt 1: Lebenslügen
6 Arbeitsblatt 2: Pränatale Diagnostik: Positionen Pro und Kontra
9 Ausgewählte Internetquellen zum Thema
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09/2011 Pränataldiagnostik
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Inhalt
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Einleitung: Thema und Lernziele
Darf man befruchtete Eizellen vor dem Einpflanzen in die Gebärmutter auf bestimmte Krankheiten
untersuchen? Und wenn ja, in welchen Fällen? Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) treffen kontroverse Meinungen aufeinander. Im Bundestag stimmten die Abgeordneten Anfang Juli für die Zulassung
der PID in Ausnahmefällen. In einer emotionsgeladenen Debatte warnten die Gegner davor, Designerbabys erschaffen zu wollen, während die Befürworter auf das Leid der Eltern bei einer Totgeburt oder
schweren Missbildung verwiesen. Doch der technologische Fortschritt hat die Politik längst überholt.
Inzwischen kann ein einfacher Bluttest einer Schwangeren schon Auskunft darüber geben, ob der Fötus
an einem Gendefekt leidet. Die pränatale Diagnostik (PND) könnte schon bald zur Routine werden –
und damit auch die Aussonderung von behinderten Kindern. Behindertenverbände warnen davor, dass
Menschen etwa mit Downsyndrom in Zukunft stärker diffamiert werden könnten. Werden Behinderte
irgendwann als Versäumnis ihrer Eltern betrachtet, die eine wichtige medizinische Voruntersuchung
verweigert haben? Demgegenüber sehen Befürworter der PND das Leid der Eltern im Vordergrund, die
ein unheilbares Kind auf die Welt bringen.
Unbestritten ist, dass unsere Gesellschaft weit davon entfernt ist, eine Antwort auf die schwierigen ethischen und gesellschaftspolitischen Implikationen zu finden, die mit den möglichen Anwendungen der
Genomanalyse verbunden sind.
Arbeitsblatt 1 geht den grundlegenden Fragen zur PID/PND nach: Darf man die Gewissensentscheidung von Eltern für oder gegen ein genetisch geschädigtes Kind verurteilen? Und welche schwierigen
ethischen Entscheidungen kommen bei der rasant fortschreitenden Forschung zur Genomanalyse auf
uns noch zu? Die Schüler werden aufgerufen, die technischen und gesellschaftlichen Dimensionen der
Thematik auszuloten und ein vorläufiges Meinungsbild zu erstellen.
In Arbeitsblatt 2 werden verschiedene Pro-Kontra-Positionen zur Thematik vorgestellt. Den Schwerpunkt bildet hierbei die Frage, inwieweit die Aussortierung kranker Föten als Diskriminierung von
behinderten Menschen gedeutet werden kann. Die Schüler recherchieren Fallbeispiele und ordnen die
kontroversen Standpunkte den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen zu. Sie sollen nach
Auswertung der Argumente ein begründetes Fazit ziehen und zu den genannten Aspekten Stellung
nehmen. Ein weiteres Meinungsbild der Klasse soll nachvollziehen, inwiefern sich die Meinungen nach
einer ausführlicheren Beschäftigung und Diskussion verschoben haben.
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Einleitung
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Arbeitsblatt 1: Lebenslügen
Ein neuer Test verrät Schwangeren alles über das Erbgut ihres Kindes. Eine Chance und eine ungeheuerliche Gefahr.
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Wird Deutschland eine eugenische Gesellschaft? Ein Land, in dem Menschen weitreichende biologische Verfügungen über
die Verfasstheit ihrer Kinder und Enkel treffen wollen und treffen dürfen?
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Kaum hat der Bundestag die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) beschlossen, und damit die Untersuchung von im Labor gezeugten Embryonen vor der Einpflanzung in die Gebärmutter, stehen Politik und Gesellschaft
vor einer neuen Herausforderung, hervorgerufen abermals durch den Fortschritt der Genomdiagnostik: Mit einer
neuen Technik können die Erbinformationen eines Fötus vollständig entschlüsselt werden, ohne jedes Risiko für
Mutter und Kind – eine Blutprobe der Schwangeren genügt. Wollten Eltern bisher ein genetisches Risiko ausschließen, blieb nur die Fruchtwasseruntersuchung, mit begrenzter Aussagekraft und verbunden mit dem Risiko einer
Fehlgeburt.
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Medizinisch gesehen ist das neue Verfahren ein bedeutsamer Fortschritt. Aber gefährdet es nicht fundamentale Werte
unserer Gesellschaft? Oder entlarvt es sie als Illusion? Früher und genauer denn je lassen sich künftig Erbschäden
aufspüren. Schwangerschaften können abgebrochen werden, bevor die Mutter überhaupt eine Beziehung zum Kind
aufgebaut oder die Umwelt die veränderten Umstände registriert hat. Die Konsequenz im Alltag könnte heißen: Erst
mal prüfen, ob alles okay ist – eine Schwangerschaft unter Vorbehalt. Müssen wir den Test stoppen? Können wir das
überhaupt? Wollen wir Eugenik? Die Mehrheit hat schon entschieden: mit Ja.
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Zunächst: Eine neue Methode wird nicht automatisch gesellschaftliche Normen verschieben. Das Beispiel Downsyndrom lehrt: Mehr als zehn Prozent der Schwangeren entscheiden sich gegen jede vorgeburtliche Untersuchung,
sie akzeptieren und begrüßen vielleicht sogar das Schicksalhafte einer Schwangerschaft. Dieses Recht kann und darf
ihnen niemand nehmen. Und ohne Zweifel verdienen solche Eltern Respekt und jede nur denkbare Unterstützung,
die sich trotz der Diagnose Downsyndrom für ihr Kind entscheiden. In der Mehrheit zeigt sich jedoch ein anderes
Bild: Wird vor der Geburt ein Downsyndrom festgestellt, entscheiden sich in Deutschland neun von zehn Schwangeren für eine Abtreibung.
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Es wird Zeit, sich von einer Lebenslüge dieser Gesellschaft zu verabschieden. Auch wenn vor dem Hintergrund
unserer Geschichte schon der Gedanke schmerzt: In der Summe der individuellen Entscheidungen Zehntausender
Paare pro Jahr findet eugenisches Handeln längst statt. Nicht im Sinne eines – ebenso irrwitzigen wie aussichtslosen
– staatlich verordneten Menschenzuchtprogramms. Wohl aber als Eugenik von unten, bei der werdende Eltern allein
für sich die Frage beantworten: Soll dieses ihr gerade erst gezeugtes Kind leben? Oder soll es besser nicht geboren
werden, weil es schwer krank oder behindert wäre?
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Die Eltern, die betroffenen Familien – sind sie nicht ohnehin die Einzigen, denen das Recht dieser schweren Gewissensentscheidung zusteht? Von der Last, die Eltern behinderter Kinder tragen, wissen die wenigsten in diesem Land,
auch nicht von ihrer Angst: Was wird, wenn wir nicht mehr für unser Kind da sein können? Es gibt Menschen, die
dieses Schicksal meistern; von den darüber geborstenen Familien, gescheiterten Ehen, zerbrochenen Leben ist selten
die Rede. Haben wir als Gemeinwesen, hat die Politik oder die Kirche das Recht, über diese Menschen zu urteilen –
juristisch oder moralisch? Wohl kaum.
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Wer anders denkt, möge sich jetzt für Verbote aussprechen. Viel Zeit bleibt nicht. Alle anderen zwingt der biotechnische Fortschritt nun dazu, sich zu dem zweifellos heiklen Bekenntnis durchzuringen: Ja, wir sind eine Gesellschaft,
die es toleriert, wenn in ihrer Mitte gegen schwer kranke, behinderte Föten entschieden wird.
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Arbeitsblatt 1
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Mehr noch, der stürmische Vorwärtsdrang in der Genomanalyse nötigt uns immer wieder neue Regeln für den
Umgang mit dem neuen Wissen ab. Bis zum Ende dieses Jahres werden weltweit bereits Zehntausende Menschen
ihr Erbgut in allen Einzelheiten kennen. Schon bald werden sich zeugungswillige Paare über die genetischen Erkrankungen informieren können, die sie ihren Kindern womöglich vererben werden. Den Gencode eines Ungeborenen
können Eltern dann zusammen mit dem ersten Ultraschallbild überreicht bekommen. Sie werden nicht nur erfreuliche Auskünfte erhalten.
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Vor allem müssen wir uns darüber verständigen, wie weit die Verfügung über unsere Gendaten und die unserer Kinder
gehen darf, wie wir sie nutzen – und wo die Grenze verläuft zwischen Erbkrankheiten und bloßen Eigenschaften, zwischen
Schicksals- und Geschmacksfragen. Diese Debatte ist ethisch fundamental, sie ist schwierig und macht Angst. Aber wir
müssen uns sehr bald entscheiden. Sonst regieren in fünf Jahren in Labor und Alltag längst die dann geschaffenen Realitäten.
Quelle: Ulrich Bahnsen, DIE ZEIT Nr. 34 2011, http://www.zeit.de/2011/34/01-Test-Erbgut-Kinder
Hintergrund: PID und PND
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Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) entnehmen Mediziner künstlich im Reagenzglas gezeugten Embryonen einige wenige Zellen, um das Erbgut zu untersuchen. Die Tests können einige
Erkrankungen prüfen, etwa das Downsyndrom (Trisomie 21), Chorea Huntington, Cystische Fibrose (Mukoviszidose), die Bluterkrankheiten Hämophilie A und B sowie Sichelzellenanämie. Die PID
ermöglicht es auch, einen Embryo mit dem Wunschgeschlecht herauszusuchen. Außerdem könnte
unter mehreren Embryonen jener ausgewählt werden, der für ein bereits lebendes, aber erkranktes
Geschwisterkind zum Beispiel als Knochenmarkspender geeignet wäre. Der Bundestag hat nach langen Kontroversen Anfang Juli 2011 beschlossen, dieses Diagnoseverfahren in engen Grenzen und in
Ausnahmefällen zuzulassen.
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Hiervon zu unterscheiden ist die Pränataldiagnostik (PND) oder auch Genomdiagnostik, die Ulrich
Bahnsen in seinem Artikel thematisiert. Mit einer neuen Technik können jetzt auch natürlich gezeugte Föten bereits in der 10. Schwangerschaftswoche untersucht werden. Hierfür werden die
Erbmoleküle des Embryos, die sich im Blut der Mutter befinden, untersucht. Dieser Bluttest für
Schwangere wird schätzungsweise 2012 in Deutschland verfügbar sein. Bei einem Abbruch per PID
wird demzufolge die Weiterentwicklung eines künstlich befruchteten Embryos verhindert, weil er
erst gar nicht in den Mutterleib gelangt, bei einem Abbruch per PND wird eine bestehende Schwangerschaft beendet.
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Arbeitsblatt 1
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Aufgaben:
1. Arbeiten Sie die Unterschiede zwischen der Präimplantationsdiagnostik (PID) und der Pränataldiagnostik (PND) heraus, indem Sie eine Infografik entwerfen, die über die unterschiedlichen Verfahren
Auskunft gibt. Beziehen Sie auch weitere Hintergrundinformationen ein (Biologiebücher, Internetrecherche etc.).
Erläutern Sie anschließend, inwiefern nach Ihrer Einschätzung PID beziehungsweise PND auch innerhalb einer ethischen oder gesellschaftspolitischen Debatte unterschiedlich bewertet werden sollte
– oder auch nicht.
2. Halten Sie in einem Brainstorming Ihre Assoziationen zu den Begriffen »Eugenik« und »Selektion« fest.
Interpretieren Sie anschließend Ihre Ergebnisse und erläutern Sie, welche Gefühle und Befürchtungen
darin zum Ausdruck kommen. Legen Sie dann in einer vorläufigen Schätzung fest, ob Sie diese als
realistisch einschätzen.
Interpretieren Sie ferner folgende Aussage aus dem Text: »Auch wenn vor dem Hintergrund unserer
Geschichte schon der Gedanke schmerzt: In der Summe der individuellen Entscheidungen Zehntausender Paare pro Jahr findet eugenisches Handeln längst statt.«
3. Der Autor Ulrich Bahnsen spricht von einer »Lebenslüge« . Erläutern Sie diese These, finden Sie Beispiele und nehmen Sie hierzu Stellung.
4. Der Biochemiker Craig Venter, der durch Forschungsarbeiten zur Sequenzierung des menschlichen
Genoms bekannt wurde, ließ als Erster seine gesamte DNA entziffern und veröffentlichen. Bei der
Analyse des Venterschen Genoms stieß man insgesamt auf mehr als 300 Krankheitsgene und auf
4000 bislang unerforschte Varianten der rund 25.000 bekannten Gene des Menschen. Entwerfen Sie
Zukunftsszenarien (realistische oder utopische) über mögliche Anwendungen der Gendiagnostik
bzw. Genomanalyse und ihrer gesellschaftspolitischen Folgen (Stichpunkte: Therapie, Krankenkassen,
Pharmakonzerne, Arbeitgeber, »gläserner Bürger«, »Designerbabys«, Ausrottung von Erbkrankheiten,
künstliches Leben etc.).
4. Erstellen Sie ein vorläufiges Meinungsbild: Sollen Gentests an Embryonen durch Blutuntersuchungen
von Schwangeren unbeschränkt zugelassen werden? Halten Sie die Pro- und Kontra-Argumente fest.
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Arbeitsblatt 2 : Pränataldiagnostik: Positionen Pro und Kontra
Wird, darf, muss die »Schwangerschaft unter Vorbehalt« zum sozialen Standard werden?
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Wer die PID verbietet, sagt Nein zum Leben
Wer einen umfassenden Embryonenschutz fordert, müsste im gleichen Atemzug die Abtreibung grundsätzlich unter
Strafe stellen. Und auch das Eugenik-Argument, bei der Auswahl von Embryonen werde Gott gespielt, um Designerbabys zu schaffen, ist purer Alarmismus. Denn es geht nicht um Nachwuchs auf Bestellung. Die PID ist keine
Methode für die Massen, sie verhindert Leid in Einzelfällen. Die Erfolgschancen einer künstlichen Befruchtung mit
zusätzlichem Gencheck liegt heute bei 10 bis 20 Prozent. Nicht mehr als 200 Fälle jedes Jahr erwarten Experten in
Deutschland. Das zeigt die Erfahrung unserer europäischen Nachbarn, in denen die teure und umständliche Methode erlaubt ist. Kein Gesetz kann und darf regeln, was wertes oder unwertes Leben ist. Am Ende kann die Gesellschaft
betroffenen Paaren die schwere Entscheidung nicht abnehmen, wie viel Leid ihnen und ihrem Kind zumutbar ist.
Das Abtreibungsrecht berücksichtigt das. Eine Regelung zur PID sollte das auch.
Quelle: Sven Stockrahm, ZEIT ONLINE, 16.11.2010, http://www.zeit.de/wissen/2010-11/pid-debatte-kommentar
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»Gentests werden eine diagnostische Routine werden«
Das Downsyndrom (Trisomie 21) werde die erste Form der Behinderung sein, die aus der Gesellschaft verschwindet – »per Abtreibung«, sagt der Humangenetiker Wolfram Henn von der Universität des Saarlandes voraus: »Die
Schwangerschaft unter Vorbehalt wird zum sozialen Standard werden.« Tatsächlich ist auf Dauer kaum vorstellbar,
dass die genetische Untersuchung des Fötus auf Trisomie 21 beschränkt bleiben wird. Schon jetzt lassen sich damit
weitere Erbschäden entdecken: körperliche Erbleiden wie Mukoviszidose, Muskelschwund oder Blutarmut sowie
neuropsychiatrische Befunde wie ein drohender Autismus. Auch Blindheit, Stoffwechselkrankheiten oder die Anfälligkeit für Krebs, Parkinson und Alzheimer dürften mit der Genomtechnik demnächst bereits früh in der Schwangerschaft und vergleichsweise kostengünstig zu entdecken sein. Mit dem Einstieg in die genomische Fortpflanzungsmedizin nähern sich die Zeiten ihrem Ende, in denen gesunder Nachwuchs eine Gnade war – und ein behindertes
Kind ein hinzunehmendes Schicksal.
Quelle: Ulrich Bahnsen, DIE ZEIT Nr. 34, 18.8.2011, http://www.zeit.de/2011/34/M-Trisomie
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Ein Abbruch ist niemals normal
Beim Schwangerschaftsabbruch gibt es auch eine Doppelmoral: Frauen, die eine Schwangerschaft wegen einer nachgewiesenen Behinderung des Kindes beenden, werden häufig schief angesehen. Von den anderen aber, die eine
gesunde Schwangerschaft unterbrechen, redet man nicht mehr. Umgekehrt kann eine Frau, die ein Kind mit DownSyndrom bewusst behält und zur Welt bringt, von der Gesellschaft vorwurfsvolle Bemerkungen zu hören bekommen: So etwas könne man heutzutage doch vermeiden. Und noch schlimmer: Eine Frau, die ihr Kind, das sie nicht
behalten kann, zur Adoption gibt oder in eine warme Babyklappe legt, wird von der Gesellschaft verachtet.
Quelle: Brida von Castelberg, DIE ZEIT Nr.5, 28.1.2010, http://www.zeit.de/2010/05/CH-Schweizspiegel
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09/2011 Pränataldiagnostik
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Kirchen verurteilen Entscheidung des Bundestags
Vor allem Kirchen und Behindertenverbände geht die Entscheidung des Bundestags zu weit, die Präimplantationsdiagnostik (PID) weiter zuzulassen. Robert Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, bezeichnete
die Selektion von menschlichen Embryonen als Verstoß gegen das Achtungsgebot der Menschenwürde. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, sagte: »Mit uns wird es kein Designerbaby geben und auch
kein sogenanntes Retterbaby, das nur einem erkrankten Kind als Ersatzteillager dienen soll.« Gegen die PID als
Standardverfahren äußerte sich auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung.
Ihr Vorsitzender Robert Antretter sagte: »Viele Menschen mit Behinderungen müssen diese Entscheidung als diskriminierend empfinden.« Die drei großen christlichen Frauenverbände äußerten in einer gemeinsamen Erklärung die
Sorge, die ohnehin schon problematische Situation behinderter Menschen könne durch die Parlamentsentscheidung
noch schwieriger werden.
Quelle: ZEIT ONLINE, 7.7.2011, http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2011-07/pid-entscheidung-reaktionen
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Mit Gewissen und Verstand
Per PID lässt sich die Geburt von Kindern mit Genschäden verhindern. Die Zahl bestimmter Muskel- oder Stoffwechselkrankheiten würde deshalb zurückgehen. Insgesamt würde es jedoch nicht weniger Menschen mit einer
körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung geben. Von den etwa 1,5 Millionen Fällen schwerer Behinderung in
Deutschland haben nur rund zehn Prozent genetische Ursachen. Und selbst von diesen lassen sich die wenigsten vor
der Geburt diagnostizieren. Die meisten Behinderungen entstehen bei der Geburt oder später durch einen Unfall.
Die meisten Behindertenverbände wie etwa die Lebenshilfe wollen die Genauswahl im Labor verhindern. Denn auch
wer nur wenige Jahre zu leben habe oder ein Dasein mit schweren Einschränkungen friste, könne glücklich sein. Wer
den Optimismus mancher Menschen erlebt hat, die wissen, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leiden, kann daran nicht zweifeln. Aber nicht alle Betroffenen – und vor allem nicht alle Angehörigen – lehnen die PID ab. So pflegen
zwar viele Eltern liebevoll und bis zur Erschöpfung ihre kranken Kinder, möchten aber kein weiteres behindertes
Kind. Auch unter den Behinderten selbst finden sich Gegner und Befürworter, etwa unter den Glasknochenkranken.
Hier gibt es Frauen, die eine PID explizit wünschen, weil sie aus eigener Leidenserfahrung keinem Kind das gleiche
Schicksal aufbürden wollen. Anderen würde dies nichts ausmachen, weil sie sich im Umgang mit der Krankheit sicher fühlen. Kein Zweifel: Mithilfe der PID werden kranke Embryonen ausgesondert. Ziel des Verfahrens ist es, das
Entstehen behinderter Kinder zu verhindern. Die PID zielt jedoch nicht auf Behinderte selbst. Es ist deshalb kein
Widerspruch, ein potenzielles Leben mit einem Erbdefekt verhindern zu wollen, aber eine reale Person mit ihrer
Behinderung zu akzeptieren und zu fördern. Viele Behinderte sagen: »Hätte es die PID bereits früher gegeben, gäbe
es mich heute nicht.« Das mag logisch richtig sein, sagt aber nichts über das Lebensrecht von Behinderten aus. Viele
Menschen müssen damit leben, ursprünglich keine Wunschkinder gewesen zu sein. Einmal geboren, fühlen sie sich
jedoch angenommen und geliebt. Wer geboren ist, hat uneingeschränkten Anspruch auf Achtung seiner Würde und
Schutz seines Lebens. Diese Einstellung prägt auch die Haltung vieler Eltern von Kindern mit einer Trisomie-21:
Niemand von ihnen wollte ein Down-Kind. Doch ist der Nachwuchs da, unternehmen sie alles, um ihm ein gutes
Leben zu ermöglichen.
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Die PID werde die Gleichstellung von Behinderten schwächen, so fürchten viele Betroffene. Denn was sich frühzeitig
verhindern lasse, erhalte womöglich später keine Unterstützung. In Ländern, in denen die PID schon erlaubt ist,
hat sich das Klima für Behinderte jedoch bislang keineswegs verschlechtert. Und auch in Deutschland, wo jährlich
Tausende Föten nach einer Pränataldiagnostik abgetrieben werden, leben Behinderte heute selbstständiger und haben
mehr Chancen als jemals zuvor. Von einer Gleichstellung sind Menschen mit einem Handicap zwar noch entfernt.
Sie werden jedoch nicht mehr versteckt wie früher. Und das Bemühen, behinderte und nicht behinderte Kinder
gemeinsam zu unterrichten (Inklusion), ist zu einer mächtigen Bewegung geworden. Dass gerade konservative Regierungen die Sonderbehandlung in der Schule verteidigen, schwächt in der PID-Debatte die Glaubwürdigkeit ihrer
Position.
Quelle: Martin Spiewak, DIE ZEIT Nr.27, 30.6.2011, http://www.zeit.de/2011/27/M-PID-Bundestag
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Aufgaben:
1. Ein häufig genanntes Argument gegen die pränatale Diagnostik verweist auf die Ausselektierung
von behinderten Föten. Dies stelle das Lebensrecht behinderter Menschen infrage und schwäche auf
lange Sicht deren gesellschaftliche Stellung. Martin Spiewak widerspricht der These mit dem Hinweis
auf Fortschritte in der Inklusionspolitik. Diskutieren Sie diesen Aspekt im Plenum und differenzieren
Sie hierbei nach den Bedürfnissen verschiedener Personenkreise: Behinderte, Eltern und Angehörige
von Behinderten, Hilfsorganisationen und Interessenverbände. Leiten Sie aus Missständen, die Sie im
Laufe der Debatte ansprechen, Lösungsansätze für eine Behindertenpolitik ab.
Linktipp: Unesco-Leitlinien zur Inklusion, http://www.unesco.de/4162.html
2. Suchen Sie auf ZEIT ONLINE nach aktuellen Artikeln zu PID und PND und werten Sie die Leser-Kommentare aus. Analysieren Sie diese nach folgenden Kriterien: weltanschauliche Tendenzen, Argumentation auf sachlicher, emotionaler, oder ethischer Ebene, Tonfall und Stil, Aspekte, die besonders
kontrovers diskutiert werden. Stellen Sie Auszüge zusammen, die Sie für die Rubrik »Leserbriefe« für
geeignet halten, und begründen Sie Ihre Auswahl.
3. Lesen Sie auf ZEIT ONLINE das Fallbeispiel von David Bauerfeind (7) und Christian Papadopoulos (38).
Beide sind von der Muskeldystrophie Namens Duchenne betroffen, einer unheilbaren Erbkrankheit,
die meist im jungen Erwachsenenalter zum Tod führt. Beide nehmen einen völlig unterschiedlichen
Standpunkt zur Frage der PID/PND ein. Davids Eltern befürworten die PID und hoffen auf ein gesundes Geschwisterkind. Christian Papadopoulos hingegen lehnt jede Form der Pränataldiagnostik ab,
da er eine Diskriminierung von Behinderten fürchtet und eine Abwertung des Lebensrechts kranker
Menschen.
Erörtern Sie in Hinblick auf diese beiden Fallbeispiele, welche Schwierigkeiten entstehen, eine normative Regelung zur Gendiagnostik für die gesamte Gesellschaft zu finden. Suchen Sie nach Lösungsansätzen.
Link: Aus Liebe zum Leben: Der Streit um den Gentest am Embryo spaltet Gesellschaft und Politik. Doch
auch unter Betroffenen ist die PID umstritten. Zwei Familien, zwei Sichtweisen
http://www.zeit.de/2011/04/PID-Gentest
4. Erstellen Sie eine zusammenfassende Liste mit Pro- und Kontra-Argumenten zur PID/PND. Ordnen Sie
die Argumente in Form einer Gliederung nach dem Schema These – Antithese – Synthese, und stellen
Sie die Ihrer Meinung nach stärksten Aussagen ans Ende. Skizzieren Sie ein Fazit in drei bis fünf Sätzen
und stellen Sie es vor.
5. Wiederholen Sie Ihr Meinungsbild zu PID/PND (siehe Arbeitsblatt 1), und zählen Sie die Pro- und
Kontra-Stimmen in Ihrer Klasse. Vergleichen Sie das Ergebnis mit der vorläufigen Abstimmung, und
analysieren Sie, ob und warum sich das Meinungsbild änderte und welche Argumente hierfür ausschlaggebend waren.
09/2011 Pränataldiagnostik
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Ausgewählte Internetquellen zum Thema:
ZEIT ONLINE: Bioethik: Mit Gewissen und Verstand
http://www.zeit.de/2011/27/M-PID-Bundestag
ZEIT ONLINE: Weltbehindertenbericht: »Behinderung von vornherein mitdenken«
http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2011-06/weltbehindertenbericht-2
ZEIT ONLINE: Down-Syndrom Elternglück, nur anders
http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2011-07/down-syndrom-familie
ZEIT ONLINE: Die trotzdem Geborenen
http://www.zeit.de/2009/12/M-Down-Syndrom
Bundeszentrale für politische Bildung: Bundestag erlaubt begrenzte Präimplantationsdiagnostik
http://www.bpb.de/themen/Z2G7VN,0,0,Bundestag_erlaubt_begrenzte_
Pr%E4implantationsdiagnostik.html
Friedrich Ebert Stiftung: Inklusive Bildung. Die UN-Konvention und ihre Folgen
http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/07621.pdf
Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer
http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.6.38.3566
Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V.: Pränataldiagnostik
http://www.bvkm.de/Arbeitsbereiche_und_Themen/Praenataldiagnostik
Impressum:
Projektleitung: Nicole Mai, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Projektassistenz: Karolin Beilner, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Didaktisches Konzept und Arbeitsaufträge: Susanne Patzelt, Wissen beflügelt
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Internetquellen
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