Bekenntnisse eines Nimmermüden

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Bekenntnisse eines Nimmermüden
Essays
Bekenntnisse eines
Nimmermüden
Mein Weg vom Tagträumer zum
Drehbuchautor in nur 360 Monaten
Von Paul Salisbury
Zeichnung: Max Vogel
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Bekenntnisse eines Nimmermüden
AUFBLENDE.
Ein winziges Sackgassendorf in einem tiefen Tal der DDR, eingerahmt
in sattgrünen Mischwald, so dicht wie der Dschungel am Amazonas.
Wir schreiben das Jahr 1979. Ein schwüler Sommertag. Dampfende
Kuhfladen pflastern den löchrigen Asphalt der Dorfstraße. Fäkalhungrige Fliegen ziehen penetrant surrend ihre Kreise.
Ein breitschultriger Schnauzbartträger mit Nackenspoiler poliert in
der Hofeinfahrt seinen brandneuen apfelgrünen Trabant. Vor der
LPG-Werkstatt schraubt ein Mechaniker am riesigen Hinterrad eines
Traktors und wischt sich den Schweiß aus den Augen.
Der ABV (Abschnittsbevollmächtigte) der Volkspolizei tritt aus dem
weißgetünchten Gemeindehaus und schreitet breitbeinig das Dorf ab.
Seine grünweiße Mütze ist tief ins Gesicht gezogen, zwischen seinen
Zähnen klemmt ein grünweißer Zahnstocher. Sein uniformumspannter
Bauch ist ihm stets zwei Schritte voraus.
Die Augen des ABV sind zu Schlitzen verengt. Sie suchen nach jemandem, der es wagt, aus der Reihe zu tanzen. Seine Ohren lauschen
nach einem Radio, das verbotenerweise einen Westsender eingestellt
hat. Doch noch ist alles in bester, quälend langweiliger Ordnung. Der
ABV gähnt.
Plötzlich ein Motorengeräusch. Der ABV dreht sich in Richtung
Dorfeinfahrt, denn er hört sofort, dass es kein Zweitaktmotor ist.
Seine Augen weiten sich vor Schreck, denn was da ins Dorf gefahren
kommt, ist nichts weniger als ein – verdammter VW Käfer!
Am Steuer sitzt ein vollbärtiger Hippie mit langen Zottelhaaren und
zieht genüsslich an einer selbstgedrehten Zigarette, die ziemlich
verdächtig nach vorne hin breiter wird. Auf dem Beifahrersitz seine
Hippiefreundin mit langer dunkler Mähne und Blumenkleid. Die
Fenster sind heruntergekurbelt, aus der Anlage dröhnt in voller Lautstärke Back in the USSR von den Beatles. Der ABV ist in Schockstarre
verfallen. Schließlich schafft er es aber immerhin, seine Trillerpfeife
zu zücken, die um seinen Hals baumelt. Er bläst mit roten Backen
hinein, aber es hat ihm dermaßen den Atem verschlagen, dass nur
ein kläglich dünner Pfeifton herauskommt.
Der Käfer hat mittlerweile vor einem leer stehenden Bauerngehöft
mit zugewuchertem Garten gehalten. Der vollbärtige Hippie steigt
aus, läuft um das Auto herum und öffnet seiner Freundin die Tür.
Wie sich nun erst zeigt, ist sie hochschwanger. Alle Augen im Dorf
sind auf die beiden gerichtet.
HIPPIEFRAU: Thank you, dear.
HIPPIEMANN: You’re welcome, love.
Der ABV traut seinen Ohren nicht: Das war doch ... wie heißt es noch
... Englisch! Der Polizist verschluckt seinen Zahnstocher. Der Klassenfeind! Er ist da! Und er pflanzt sich hier fort! Eine Invasion!
Der ABV rennt. Er rennt so schnell, wie er noch nie gerannt ist. Er
reißt die Tür zum Gemeindehaus auf, wo an der Wand gegenüber ein
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kleiner Kasten mit rotem Knopf prangt. Darüber ein Schild: Nur im
Notfall drücken (z.B. Invasion des Klassenfeindes). Der ABV schlägt
mit flacher Hand auf den Knopf. Eine ohrenbetäubend laute Sirene
ertönt und beschallt das Dorf.
Das Hippiepärchen hält inne und blickt überrascht zum Ursprungsort
der Sirene.
ABBLENDE.
So oder so ähnlich stelle ich mir die Ankunft meiner Eltern in Scheiditz vor, dem 60-Seelen-Dorf im thüringischen Holzland, in dem ich
aufgewachsen bin. Zugegeben, ein paar Details sind etwas zugespitzt,
aber die Eckdaten stimmen. Mein englischer Vater hatte 1979 eine
Dozentenstelle an der Uni in Jena bekommen und war mit meiner
schwangeren Mutter kurz vor meiner Geburt von Halle/Saale ins
ländliche Thüringen gezogen. Den VW Käfer hatte er sich zuvor von
einem Bekannten in West-Berlin besorgt. Das Einreiten eines Engländers in einem weißen VW war damals in Scheiditz durchaus eine
kleine Sensation und ist heute noch fester Bestandteil der sonst eher
sensationsarmen Dorfhistorie, zu der immerhin die Legende gehört,
dass Napoleon vor der Schlacht bei Jena und Auerstedt an Scheiditz
einfach vorbeigeritten sein soll, ganz ohne zu morden, zu plündern
oder wenigstens »Bonjour« zu sagen. Zu Napoleons Verteidigung
muss man anmerken, dass Scheiditz wirklich sehr gut versteckt im
beschriebenen Tal liegt und dazu, genau wie der französische Feldherr
selbst, wirklich winzig war oder vielmehr noch ist, denn im Gegensatz
zu der Größe von Napoleons Reich hat sich an der Ausdehnung von
Scheiditz in über 200 Jahren wenig geändert. Für die Echtheit dieser
Legende spricht übrigens, dass das Französisch der Dorfbewohner
seit Jahrhunderten entsetzlich schlecht bis non-existent ist, meines
eingeschlossen.
In einem etwas leichter zu findenden Ort, nämlich in Halle an der
Saale, hatten sich meine Eltern kennengelernt, mein Vater hatte an
einem Austauschprogramm zwischen der Uni Halle und seiner Uni
in Newcastle teilgenommen. Zu meinem Glück verliebte er sich unsterblich in seine Russischdozentin, meine Mutter, denn sonst wäre
er womöglich nicht im Lande der unheimlich begrenzten Möglichkeiten geblieben, und ich säße nicht hier und könnte halbfiktive Szenen
über die Ankunft meiner Eltern in der tiefsten thüringischen Provinz
schreiben.
Leider muss ich meine Vorstellungskraft bedienen, um mir meinen Vater vor Augen zu rufen, denn 15 Monate nach meiner Geburt
verunglückte er tödlich, in eben jenem VW Käfer, der zuvor für so viel
Aufsehen im Dorf gesorgt hatte.
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Bekenntnisse eines Nimmermüden
Postkarte Scheiditz
Scheiditz war der ideale Ort, um jene lebendige Vorstellungskraft
schon früh zu schulen, die es zum Schreiben braucht. Diese idyllische
Sackgasse am Arsch der Welt diente mir als Projektionsraum für all die
hochdramatischen Szenarien, die ich mir in der dörflichen Langeweile
vor meinem inneren Auge auszumalen vermochte, und auch wenn ich
zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben nichts mehr als von dort
weg wollte, ist es mittlerweile wieder ein wichtiger Ort der Inspiration
für mich geworden, mein Exil im Nirgendwo, wo fast alle meine Geschichten und Drehbücher entstanden sind.
Aus manchen Sackgassen kann man sich nur herausträumen. Und
Scheiditz war mein ideales Traumlabor. Mit seinen Wäldern, Wiesen,
Feldscheunen und Schrottplätzen diente es mir als Kulisse für all die
Western, Ritterschlachten, Piratengeschichten und sonstigen Abenteuerfiktionen, die sich in meinem Kopf zusammenbrauten, inspiriert
von Genrestücken wie DIE GLORREICHEN SIEBEN oder FREIBEUTER DER
MEERE. Ich spielte als Kind alles nach, was ich aus Büchern, Film und
Fernsehen so aufsaugen konnte, und machte mir die idyllische Welt
so blutrünstig und aufregend, wie sie mir gefiel.
Method Acting
Allerdings frönte ich meinem Spieltrieb mit einer Hingabe und Genauigkeit, die meiner Umwelt regelrecht Angst machte. Für meine Rolle
als kleiner Vampir etwa blieb ich nicht nur 24 Stunden im Kostüm mit
zerfleddertem schwarzem Umhang, weißgeschminktem Gesicht und
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THE MAGNIFICENT SEVEN
(Die glorreichen Sieben;
1960; D: William Roberts;
R: John Sturges)
IL CORSARO NERO (Freibeuter der Meere; 1971; D: George Martin; R: Vinenzo Gicca
Palli)
THE LITTLE VAMPIRE (Der
kleine Vampir; Kanada/BRD
1985)
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Fangzähnen, sondern verbrachte ganze Tage in einer zum Kindersarg
umfunktionierten Kohlenkiste und erkor meinen armen Großvater
Paul, nach dem ich benannt bin, kurzerhand zum Vampirjäger Geiermeier, worüber mein Opa jedes Mal schwer beleidigt schien. Für
die Rolle des Sherlock Holmes, die ich bald darauf annahm, trug ich
auch im Sommer hartnäckig den dickgefütterten Tweed-Mantel, den
meine Mutter mir liebevoll aus dem Garderobenfundus des riesigen
Dachbodens unseres alten Bauernhauses herausgesucht hatte. Auch
eine Spielzeugpfeife tat es nicht, es musste eine echte sein. Ich erinnere mich heute noch an das irritierte Gesicht des Verkäufers, als
mich meine Mutter im Tabakwarenladen verschiedene Pfeifenmodelle
»anprobieren« ließ.
DIE RECHTE UND DIE LINKE
HAND DES TEUFELS
Für meine Darstellung des müden Joe aus DIE RECHTE UND DIE
LINKE HAND DES TEUFELS baute ich eigens jene Pferdepritsche nach,
mit der Joes ausgemergelter Gaul ihn schlafend durch den Wilden
Westen befördert, und hängte sie an mein Schaukelpferd, obwohl sie
meinem geliebten Rappen auf Kufen beinahe das Sägemehl aus dem
vielgeschundenen Leib presste. Außerdem lief ich wochenlang in einem
zerlöcherten wollenen Kratzpulli herum, dessen hygienischer Zustand
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einen Stauballergiker schneller ins Jenseits befördert hätte als die gefürchtete rechte Hand am Colt vom müden Joe.
Selbstredend reichte mir als Winnetou auch keine vorgetäuschte
Blutsbrüderschaft; es mussten echte Schnittwunden sein, die ich und
Bleichgesicht Old Shatterhand uns in die Handgelenke ritzten. Meinen
neugewonnenen Blutsbruder sah ich dann ein paar Wochen nicht wieder, denn mein Freund Marko bekam nach diesem Spiel mit Messers
Schneide erst einmal den Umgang mit dem psychopathischen Halbengländer mit Kostümfimmel untersagt.
Die Dorfbewohner gewöhnten sich aber allmählich an meine Auftritte als fiktionale Wesen, und unsere Nachbarin brauchte sonntags nur
einen Blick aus dem Fenster zu werfen, um anhand meiner Aufmachung
zu erraten, welchen Film ich am Samstagabend gesehen hatte.
Aufgrund meines Spiel- und Kostümwahns waren lange Zeit alle in
meiner Familie und im Dorf der festen Überzeugung, dass ich Schauspieler werden würde. Auch ich dachte damals, dass dies meine Bestimmung sei. Doch dann wurde ich mit der harten Realität konfrontiert. In
meiner Schule sollten die Zweitklässler ein Stück aufführen, und natürlich meldete ich mich sofort an, denn ich sah meine Chance gekommen,
mich der Welt als versierter Darsteller zu zeigen. Leider war das Stück
nicht unbedingt von Weltformat und hatte so gar nichts gemein mit
den atemberaubenden Abenteuergeschichten, die ich sonst so begeistert nachspielte. Es war ein Schwank in holzländischer Mundart, und er
handelte davon, dass eine enervierend hartnäckige Ehefrau ihren Gatten
überzeugen wollte, das Fenster zu öffnen. Der zentrale Dialog hat sich
bei mir eingebrannt, und ich kann ihn noch immer mit leichtem Schauder zitieren. Eheweib: »Much’s Finster uuf!« Ehegatte: »Wurum’enn?«
Sie fordert ihn also auf, das Fenster aufzumachen, er fragt, warum, und
weigert sich. Aus heutiger Sicht, mit genügend Abstand und der entsprechenden dramaturgischen Ausbildung im Rücken, kann ich natürlich die
Qualitäten des Stückes besser erkennen: Die Hauptfigur hat ein klares
Ziel, es gibt einen starken Antagonisten, der das Erreichen dieses Ziels
verhindern will, und es entsteht ein glasklarer Konflikt, der beide zentralen Charaktere bis an ihre Grenzen bringt. Damals wollte mir dennoch
die Rolle des frustrierten, dickköpfigen Ehemanns nicht recht liegen
(heute, nach drei Jahren Eheerfahrung, könnte ich sie im Schlaf spielen), und ich bekam sie nicht. Stattdessen ergatterte sie mein damaliger
Erzrivale und heutiger bester Freund André, der damit so viel Eindruck
bei meinem heimlichen Schwarm Julia schinden konnte, dass er mir
neben der Rolle auch noch das Mädchen meiner Träume wegschnappte.
Ein traumatisches Erlebnis, das mich bis heute verfolgt.
Dennoch gab ich die Schauspielkarriere nicht gleich auf und versuchte mich noch ein paarmal als Darsteller bei Schulaufführungen. In der
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LO CHIAMAVANO TRINITÀ
(Die rechte und die linke
Hand des Teufels; 1970;
D: E.B. Clucher, Gene Luotto; R: Enzo Barboni)
Essays
dritten Klasse hatte ich etwas mehr Glück und ergatterte gerade so die
Rolle eines Füllfederhalters. Das »Stück« wurde für die Schulanfänger
und deren Eltern aufgeführt und handelte davon, dass ein liederliches
Schulmädchen mit seiner Federmappe dermaßen schlampig umgeht,
dass die Schreibutensilien irgendwann einen Aufstand machen und es
zur Ordnung mahnen. Ich schreibe es dem moralpredigenden Ton des
Stückes und nicht meinen mangelnden darstellerischen Fähigkeiten zu,
dass mich fast alle Zuschauer aufgrund meines spitzzulaufenden Huts
aus Krepppapier, der eine überlebensgroße Schreibfeder darstellen sollte,
für den Papst hielten. Jedenfalls hing ich danach nicht nur meinen fehlinterpretierten Krepphut an den Nagel, sondern verabschiedete mich auch
von der Vorstellung, dass die Schauspielerei meine Berufung war.
Alles so schön bunt hier
WINNETOU UND DAS HALBBLUT APANATSCHI (1966;
D: Fred Denger; R: Harald
Philipp)
SOL’ NAD ZLATO (Der Salzprinz; D: Martin Hollý, Peter
Kovacik; R: Martin Hollý)
… CONTINUAVANO A CHIAMARLO TRINITÀ (Vier Fäuste
für ein Halleluja; 1971;
D+R: Enzo Barboni)
BMX-BANDITS (Die BMXBande; 1983; D: Patrick
Edgeworth, Russell Hagg;
R: Brian Trenchard-Smith)
Meine Begeisterung für das Kino war allerdings ungebrochen und nahm
für meine Eltern immer beängstigendere Ausmaße an. So teilte ich meiner Mutter eines Tages mit, dass ich in den Schulhort wollte, obwohl ihre
Arbeitszeiten an der Uni diese von der Schule angebotene Nachmittagsbeaufsichtigung gar nicht erforderten. Aber der Hort hatte seit Neuestem
ein alle Zweifel übertrumpfendes Argument für sich: Einmal im Monat
gingen die Kinder mittwochs ins Kino! Für mich Grund genug, strenge
Lehrer und politisches Brainwashing auch am Nachmittag auf mich zu
nehmen, denn oh wie entschädigten das Filmperlen wie WINNETOU UND
DAS HALBBLUT APANATSCHI oder das tschechoslowakische Märchen DER
SALZPRINZ, die zu meinen ersten Kinoerinnerungen zählen.
Entsprechend meiner Fixierung auf das bewegte Bild sind auch meine
Erinnerungen an die Wende vor allem geprägt von zwei großen Veränderungen in meiner unmittelbaren Umgebung. Die erste war, dass meine
Eltern plötzlich einen Farbfernseher besaßen und ich erleben durfte, wie
schön bunt sich die Welten meiner Lieblingswerke im vereinten Deutschland auf einmal gestalteten. Die nächste große Veränderung war dann
die Anschaffung eines geheimnisvollen Geräts namens Videorekorder.
Nachdem ich dessen für mich nahezu übernatürliche Fähigkeiten begriffen hatte, durfte ich mir von meinem Begrüßungsgeld meine erste
bespielbare Videokassette kaufen, und schon bald bereuten meine Eltern
zutiefst, diese Investition abgesegnet zu haben. Denn sie sorgte dafür,
dass ich Filme wie VIER FÄUSTE FÜR EIN HALLELUJA oder DIE BMX-BANDE
unzählige Male hintereinander ansah und sie noch heute mitsprechen
kann. Meine Eltern mussten damals schon geahnt haben, dass von der
beschriebenen Überstrapazierung nicht nur das Videoband einen bleibenden Schaden davontragen würde, und ihre Befürchtung wurde von
meiner späteren Berufswahl dann in vollem Umfang bestätigt.
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Bekenntnisse eines Nimmermüden
Sharks and Guns I: Frühwerk
Die Wende beendete für mich aber nicht nur die Zeiten des farblosen
Fernsehens, auch was meine kreativen Ambitionen anging, fanden
wichtige Umbrüche statt. Meine Muse muss aus dem Westen sein, denn
kurz nach dem Fall der Mauer wurde ich von ihr geküsst und schrieb
mein erstes Buch. Es hieß Der Weiße Hai und umfasste ganze sechs
Seiten. Der Titel mag dem ein oder anderen bekannt vorkommen; ich
hielt meinen Plot damals für eine wahnsinnig einfallsreiche Abwandlung
von Moby-Dick, dessen Verfilmung von John Huston mit Gregory Peck
als Ahab ich kurz zuvor gesehen hatte. Spielbergs legendären Schocker
kannte ich damals noch nicht und hatte daher im Gegensatz zu heute
wenig Skrupel, mir diesen einschlägigen Titel selbst zuzuschreiben.
Mir ging es vor allem um ein angsteinflößendes Seemonster, das einen
Ozeandampfer bedroht, und noch gefährlicher als ein Wal erschien mir
eben ein Hai. Am angsteinflößendsten in meinem Bilderbuch über
Meeresungeheuer empfand ich den Anblick des Hammerhais, wes-
MOBY DICK (1956; D: Ray
Bradbury, John Huston;
R: John Huston)
Grafik: Paul Salisbury
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halb ich diesen auserkor, mein Cover zu zieren, obwohl besagter Hai
ungefähr so weiß wie die Berliner Mauer war. Daneben klebte ich den
Mann, dem ich meinen Protagonisten nachempfand: Pierce Brosnan
als Phileas Fogg in der TV-Adaption von Jules Vernes Reise um die Erde
in 80 Tagen, die ich damals als eine der ersten Fernsehsendungen in
bunt erleben durfte und die mich nicht nur mit ihrer farblich üppigen
Ausstattung unheimlich beeindruckt hat. Zu dem Bild des Hais und
dem Foto von Brosnan aus der Programmzeitschrift kam zur weiteren Veranschaulichung meiner Kopfgeburten noch eine Besetzungswunschliste, denn schon damals lag mir anscheinend sehr daran, die
Verfilmung meines Stoffes mit allen Mitteln voranzutreiben.
Der Held meiner Geschichte war der Abenteurer Bruce Wayn – leider erinnere ich mich nicht mehr, ob ich damals schon in Berührung
mit Batman gekommen war, aber abermals zu behaupten, dass ich mir
den Namen selbst ausgedacht hätte, wäre an dieser Stelle wohl etwas
unglaubwürdig. Er befindet sich als Passagier an Bord eines Ozeandampfers, als dieser von einem riesigen weißen Hammerhai angegriffen wird.
Zwei Männer der Schiffscrew sterben, und Mr. Wayn (man beachte das
distinguierte Weglassen des sonst sowieso stummen »e«s) schließt sich
einer vom Kapitän (in meiner Wunschliste dargestellt von Bud Spencer)
abgestellten Gruppe an, die ausgesandt wird, um den Hai zu jagen und
die toten Matrosen zu rächen. Einer Spur von Schiffwracks folgend, irren die Männer auf dem Meer herum und wollen schon aufgeben, als
der weiße Hai ihr Schiff rammt und es zum Sinken bringt. Alle sterben, bis auf Wayn, der es als Einziger schafft, sich an ein Wrackteil zu
klammern. Kurz darauf taucht der Hai wieder auf und will sein Werk
oder vielmehr seine Matrosenmahlzeit vollenden, wird aber in letzter
Sekunde von einer Kanonenkugel zerfetzt. Eine englische Flotte war
dem Notsignal des sinkenden Boots gefolgt und hatte den Hai mithilfe der Feuerkraft ihrer Kriegsschiffe erlegt. Die Crew nimmt Wayn an
Bord und bringt ihn nach Afrika, sein ursprüngliches Ziel.
Es mag überraschend klingen, dass die Rechte an diesem Hochseethriller noch immer zu haben sind. Auch wenn der Titel wohl schwer
zu halten sein wird, so hat dieser Stoff aber doch seine Qualitäten. Das
Deus ex machina-Ende würde ich zwar heute nicht mehr so schreiben,
aber ich erfreue mich immer wieder gern an so netten Details wie dem
»Achthunderttausend-Schuss-Magazin« von Mr. Wayns Gewehr oder
an Wayns anfänglicher Skepsis, als ihm der Schiffskoch (in meiner
damaligen Wunschvorstellung gespielt von einem bärtigen Peter Ustinov) von den Gerüchten um ein Meeresungeheuer erzählt und Wayn
erwidert: »Das Märchen von Mopy Dick kenne ich schon.«
Im Grunde habe ich bereits damals den Rat beherzigt, den ich eigentlich erst zwei Jahrzehnte später vom amerikanischen Drehbuchautor
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John August in dessen Podcast hörte: Man soll entgegen dem üblichen
Hinweis »Write what you know« lieber über das schreiben, was man
liebt und was man selbst gern im Kino sehen oder im Buchladen kaufen
würde. Die Geschichte ist eine Mixtur aus allem, was mir damals lieb und
teuer war: Jules-Verne- und Karl-May-Romane, amerikanische Actionserien und epische Abenteuerfilme. Und auch wenn mir das Entwerfen
und Aufschreiben meiner ganz eigenen Geschichte einen höllischen
Spaß bereitete, so zeigte mir dieser erste Ausflug ins Schriftstellerische
auch gleich die unvermeidlichen Schwierigkeiten auf. Denn ich merkte
schnell, wie schwer es war, ein eigenes Universum mit eigenen darin
lebenden Figuren zu entwerfen und mit diesen auch noch eine runde,
einigermaßen spannungsreiche Geschichte zu erzählen. Mit meiner
Geduld war es damals noch nicht weit her, und so findet mein Seeabenteuer um den ins kalte Wasser geworfenen Haijäger Bruce Wayn auch
schon auf Seite 5 seinen Höhepunkt und sein Ende. Seite sechs reicht
lediglich die Auflösung nach, wie es dem Pumajungen Leslie ergangen ist, das Bruce Wayn unterwegs in einem der Schiffswracks aufliest
und adoptiert. Jahrzehnte später fand ich über den Drehbuchratgeber
Save the Cat erst heraus, wie ungemein günstig diese nebensächliche
Rettungsaktion für die Sympathiewerte meines Helden ist. Eigentlich
wollte ich nur irgendwie ein Pumababy unterbringen, wie ich es bei
FAMILIE ROBINSON IN DER WILDNIS gesehen hatte.
Die Erkenntnis, wie viel Mühe und Arbeit es kosten würde, einen
ganzen Roman zu schreiben, tauchte plötzlich wie ein Monsterhai vor
mir auf und erschreckte mich so sehr, dass ich es danach erst einmal
wieder eine ganze Weile bleiben ließ mit dem Schreiben, bis auf ein
paar Tagebucheinträge und Beschwerdebriefe an die Redaktionen verschiedener Programmzeitschriften, wenn sie meine Lieblingsfilme in
ihren Bewertungen nicht genug würdigten.
Leseprobe aus:
Jochen Brunow (Hg.): Scenario 9.
Film- und Drehbuch-Almanach
© 2015 Bertz + Fischer Verlag / www.bertz-fischer.de
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John August (*1970 in Boulder, Colorado) ist ein USamerikanischer Drehbuchautor, mittlerweile auch Regisseur und Produzent sowie Screenwriting-Blogger
(http://www.johnaugust.
com/). Hierzulande wurde
seine Arbeit vornehmlich
durch die Serie CHARLIE’S
ANGELS und die Filme von
Tim Burton bekannt (FRANKENWEENIE, BIG FISH,
CHARLIE AND THE CHOCOLATE FACTORY).
Vgl. hierzu den Essay von
Wolfgang Kirchner in Scenario 3.
THE ADVENTURES OF THE
WILDERNESS FAMILY (Die
Abenteuer der Familie Robinson in der Wildnis; 1975;
D: Stewart Raffill; Arthur R.
Dubs; R: Stewart Raffill)