Das niederländische Theater im 19. Jahrhundert

Transcrição

Das niederländische Theater im 19. Jahrhundert
Ein Markt nationaler Gefühle?
Das niederländische Theater im 19. Jahrhundert
Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm (Amsterdam)
Im jüngst erschienenen National Theaters in
a changing Europe werden die Niederlande als
eines der europäischen Länder genannt, die
nie ein Nationaltheater besaßen.1 Auf den
ersten Blick erscheint diese Annahme richtig.
Denn weder eine in aristokratischen Kreisen
gewachsene und an den Hof gebundene
Institution wie die Comédie Française, noch
ein bürgerliches Nationaltheater, wie es zum
Beispiel im 18. Jahrhundert in Deutschland
seinen Anfang nahm, hat es in den Niederlanden je gegeben. Allerdings wurde das
Phänomen des Nationaltheaters im 19. Jahrhundert in den Niederlanden ausführlich
diskutiert. Die Frage ist jedoch, wie der Begriff des “Nationaltheaters” damals definiert
wurde.
Die plötzliche Relevanz eines möglichen
Nationaltheaters entstand aus einem breiteren
geschichtlichen und politischen Interesse an
Fragen zur nationalen Identität der Niederlande. Gleichzeitig nahmen Reichweite und
Macht des Theaters in den Niederlanden nach
1800 schnell zu, womit es zu einer wichtigen
Plattform wurde, die die Möglichkeit bot, sich
mit den Fragen zur eigenen Identität auseinander zu setzen. Dass das Theater in dieser
Zeit ein wichtiger Bestandteil der Diskussionen um Nationalität und Identität war, ist
dadurch nachzuvollziehen. Wie die Teilnehmer dieser Diskussionen den Begriff des
Nationaltheaters genau definierten, bleibt
dagegen schwierig zu beantworten und bedarf
einer differenzierten Untersuchung.
Im Folgenden wird ausgehend von dem
allgemeinen nationalen Diskurs, der sich seit
Ende des 18. Jahrhunderts in den Niederlanden herausgebildet hat, untersucht, wie
sich dieser im 19. Jahrhundert im niederForum Modernes Theater, Bd. 23/2 (2008), 97–108.
Gunter Narr Verlag Tübingen
ländischen Theater niederschlug. Der Artikel wirft dabei einige Fragen auf und bildet
somit den Ansatz für weitere Untersuchungen.
Nationale Gefühle in der Amsterdamse
Schouwburg
Im Jahr 1831 wurde in der Stadsschouwburg
Amsterdam das “dramatische Gedicht” Hulde
aan de nagedachtenis van Hollandsch zeeheld,
J.C.J. Van Speyk des Amsterdamer Rechtsanwaltes und Schriftstellers Jacob van Lennep
(1802–1868) aufgeführt. Es handelte sich
dabei um ein “Gelegenheitsgedicht”, das ein
hochaktuelles Ereignis aus dem Belgischen
Aufstand wiederaufleben ließ. Der südliche
Teil des Vereinigten Königreiches – das seit
1814 aus den Landesteilen bestand, die heute
die Niederlande und Belgien bilden, – kämpfte seit 1830 um seine Unabhängigkeit vom
Norden. Dieses Ziel wurde 1839 endgültig mit
der Unabhängigkeit Belgiens erreicht. Die
Hulde bezog sich auf die schockierenden
Ereignisse aus diesem Kampf: Ein Kanonenboot der niederländischen Truppen hatte in
Schelde bei Antwerpen am nördlichen Kai
festgemacht. Eine Windböe löste die Taue
und wehte das Schiff zum südlichen Kai, wo
es in die Hände der Belgier zu gelangen drohte. Der Kapitän, Jan van Speyk (1802–1831),
wusste dies jedoch zu verhindern. Er ließ die
Mannschaft von Bord springen und warf
eine brennende Zigarre in den Pulvervorrat,
woraufhin das Schiff samt Kapitän in die Luft
flog. Mit einem Mal wurde dieser ehemalige
Amsterdamer Waisenjunge zu einem Nationalhelden. Man verglich ihn mit den See-
98
Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm
helden des ruhmreichen 17. Jahrhunderts,
unter anderem mit Michiel de Ruyter und
Maarten Tromp, die bedeutende Rollen in
der niederländischen Geschichte gespielt
hatten.2 Auch dem Publikum wurde die
Ähnlichkeit mit diesen Helden vor Augen
geführt: Die Schauspielerin Mimi EngelmanBia (1809–1889) trat bei einer Vorstellung der
Hulde aan Van Speyk in der Amsterdamse
Schouwburg in einem “nationalen Kostüm”
auf, das in der damaligen Zeit auch außerhalb
des Theaters in Mode war. Mit seinen großen
Puffärmeln und dem großen Kragen erinnerte das Kostüm an die Kleidung, die auf
den Gemälden Johannes Vermeers zu sehen
ist. Der Hut war mit schmalen, herabhängenden Schleiern verziert, die die Wimpel der
Schiffe des goldenen 17. Jahrhunderts darstellen sollten.3
Das “Gelegenheitsstück” war ein großer
Erfolg. Das war vor allem seinem nationalen
Inhalt zu verdanken. Auch die restliche Zusammenstellung des Repertoires lässt vermuten, dass das niederländische Theater in den
30er Jahren des 18. Jahrhunderts einen Markt
nationaler Gefühle kannte. In der Amsterdamse Schouwburg wurden in dieser Periode
gut und gerne 17 “Gelegenheitsstücke” und
33 vaterländische Geschichtsstücke gezeigt.
Die Anzahl an Vorstellungen, die diese Stücke
zusammen ergaben, bildete rund 80 Prozent
des gesamten Repertoires.4 In den patriotischen Geschichtsstücken suchte man ganz
bewusst nach Parallelen zur eigenen Zeit. Die
Vergangenheit wurde verherrlicht und für
eigene Zwecke missbraucht. So wurde zum
Beispiel propagiert, dass man die moralische
und wirtschaftliche Blüte des 17. Jahrhunderts durch die Wiederherstellung der
alten Grenzen wieder hätte aufleben lassen
können.
Der Historiker Van Sas unterscheidet in
seiner Studie De metamorfose van Nederland
zwei Arten des niederländischen Nationalismus in der damaligen Zeit: Zum einen nennt
er den aktiven, ideologischen, nach außen
gerichteten Nationalismus, der sich vor allem
in Zeiten politischer Unruhen äußerte. Zum
anderen spricht Van Sas von einem latenten
nationalistischen Gefühl, das zwar auch in
politisch ruhigen Zeiten zu spüren gewesen
sei, jedoch sehr viel impliziter war.5 Der
Nationalismus auf der Bühne der 30er Jahre
ist dem erstgenannten zuzuordnen. Die
eigene Nation wurde verherrlicht und alles
Außenstehende und Andersartige verteufelt.
Damals richtete sich die Ablehnung gegen die
Belgier, doch sie war ebenso kennzeichnend
für die nationalen Gefühle der Jahre 1780
(gerichtet gegen Oranje und England), 1813
(als die Franzosen die Niederlande besetzten)
und für die Zeit um 1900 (aufgrund der
Bauernkriege und des kolonialen Konflikts in
Niederländisch-Indien/Lombok und der
Atjeh-Kriege).6 Ob damals auch auf der
Bühne Stellung bezogen wurde, müsste näher
untersucht werden, doch es lässt sich vermuten, dass dem so war. Aus der Periode von
1810–1813, als die Niederlande von Frankreich annektiert waren, gibt es Berichte über
scharfe anti-französiche Stücke, auch wenn
diese nicht alle durch die französische Zensur
kamen.
In den dazwischenliegenden Perioden des
19. Jahrhunderts war der Vaterlandskult zwar
weniger deutlich, unterschwellig war er jedoch durchaus gegenwärtig. Das patriotische
Geschichtsdrama war aus diesem Grunde in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein
Garant für gutgefüllte Theatersäle.7 Stücke
niederländischer Autoren waren in dieser
Periode ein wahrer Publikumsmagnet, einzig
und allein, da sie aus niederländischer Hand
geflossen waren.8
Dass die Machtposition der Niederlande
bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts umstritten war, hatte zur Folge, dass man sich
der eigenen Identität wieder mehr zuwandte.9
Dies wurde unter anderem in Äußerungen
deutlich, die in einer großen Anzahl spektatorialer Zeitschriften getroffen wurden. Vorreiter dieser Zeitschriften war das durch den
Ein Markt nationaler Gefühle?
Hauslehrer und Journalisten Justus van Effen
(1684–1735) gegründete einflussreiche Blatt
De Hollandsche Spektator (1731–1735). Van
Effen gab der allgemeinen Idee der Aufklärung, der formbaren Gesellschaft, eine niederländische Note und äußerte seine Besorgnis
über die Position des Landes in Europa. Die
Söhne der reichen Kaufleute lägen auf der
faulen Haut und lebten von dem, was ihre
Väter und Großväter im 17. Jahrhundert mit
harter Arbeit verdient hätten. Dies war die
Botschaft des Herrn Van Effen. Das Faulenzen sei eine verhasste französische Unsitte, die
zu den Niederländern nicht passe.
Besserung sei nur in Sicht, würde man
auf alt-vaterländische Werte wie Aufrichtigkeit, Treue, Einfachheit, Sparsamkeit und
Demut zurückgreifen. Auch nachfolgende
Spektatoren predigten in einem sehr ähnlichen Stil. 10
Die Position des Theaters
Der aufgeklärte Bürger beschäftigte sich in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stets
mehr mit dem Theater. Recht schnell erschienen in den Niederlanden die ersten
spezialisierten Theaterzeitschriften- und
Spektatoren. Die ersten in den Jahren
1762–63: Der Hollandsche Toneel-beschouwer,
der Observateur des Spectacles und
Schouwburg Nieuws. Darauf folgten bald
mehr: Der Ryswykze Vrouwendaagze Courant
(1774), der Lachebek (1780–81), der Tooneelspelbeschouwer (1783–84), der Tooneelspelbeöordeelaar (1784), der Tooneelspektator
(1792), die De Amsteldamsche Nationaale
Schouwburg (1795) und die Tooneelmatige
Roskam (1799). Im 19. Jahrhundert sollten
noch viele weitere Zeitschriften folgen.11
Außerdem entstanden damals viele Genossenschaften, in denen über Kunst und
Literatur diskutiert werden konnte. Auch dort
wurden die Nation und das Vaterland oft zu
einem wichtigen Thema. Das Theater war Teil
dieses Genossenschaftskultes: In Haarlem
wurde 1784 zum Beispiel die Theatergenossenschaft Leerzaam Vermaak gegründet.12
Zwei Amsterdamer Theater – das Théatre
Français an der Innen-Amstel von 1784 und
die Hoogduitsche Schouwburg in der Amstelstraat von 1791 – können ebenfalls als Genossenschaftstheater gesehen werden. Dort gab es
regelmäßig geschlossene Vorstellungen, die
nur für Mitglieder der Genossenschaft zugänglich waren. Mit alledem entstand eine Art
“theatrale Kommunikationsgesellschaft”, zu
der auch die öffentlichen Theater gezählt
werden können.
Die theatrale Kommunikationsgesellschaft erlangt nationale
Dimensionen
Im Laufe des 19. Jahrhunderts erlangte diese
“Kommunikationsgesellschaft” nationalen
Dimensionen. Zuallererst entstand ein Netzwerk von Theatergebäuden. Diese Entwicklung wurde erstmals im 2007 erschienenen
Handbuch Theater in Nederland sinds de
zeventiende eeuw aufgezeigt und mit Zahlen
unterbaut.13 Es handelt sich dabei um eine
Inventarisierung und Beschreibung aller
festen Theatergebäude, die seit 1638 gebaut
und/oder eingerichtet wurden. (1638 wurde
in Amsterdam die erste niederländische
“Schouwburg” eröffnet.) Auf Basis dieser
Inventarisierung konnte festgestellt werden,
dass die Anzahl der Theater in den Niederlanden nach 1800 explosiv gestiegen ist. Bis
1800 spielten reisende Gesellschaften in
Theaterzelten aus Holz und Segeltuch, die für
kurze Perioden in der Stadt aufgestellt wurden. Erst ab 1800 verlagerten sich die Vorstellungen in feste Theatergebäude. Zwischen
1800 und 1875 ist die Anzahl der festen Theatergebäude von 13 auf 54 gestiegen. Am Ende
des Jahrhunderts hatte sie sich mit 79 festen
Theatern versechsfacht.14
99
100
Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm
Erklärungen zum Wachstum
Für dieses explosive Wachstum lassen sich
einige Erklärungen finden.15 Zunächst muss
an dieser Stelle der politische Wandel von
1795 genannt werden. Nach einem heftigen,
innenpolitischen Streit, der über Jahre andauerte, übernahm eine fortschrittliche Partei
von Patrioten, mit Unterstützung der französischen Armee, die Macht im Land. Statthalter Willem V wurde aus seinem Amt
vertrieben. An Stelle des alten Regierungssystems mit sieben relativ mächtigen Provinzen, sollte ein neuer Einheitsstaat treten, der,
wie in Frankreich, auf den Rechten von
Mensch und Bürger, Demokratie und Volkssouveränität basieren sollte. Das Zustandekommen dieser “Batavischen Republik” hatte
die Trennung von Kirche und Staat zur Folge.
Damit wurde der Einfluss der Kirche auf das
Theater geschwächt. Gerade von Seiten der
Kirche wurde oft gegen das Theater agiert.
Lange hatten die Prediger das Theater als ein
Medium verteufelt, das nur die “Verlockung
des Fleisches” zur Folge haben konnte. Ein
desaströser Brand im Jahr 1772, der die
Amsterdamse Schouwburg vollkommen zerstörte und bei dem 19 Menschen ums Leben
kamen, wurde von den Predigern nur all zu
gerne als Strafe Gottes interpretiert. Diese
kritischen Stimmen verstummten zwar nicht,
doch sie konnten die Arbeit der Theatervorstände nicht länger beeinflussen.
Des Weiteren gab es ab 1850 in den Niederlanden einen wirtschaftlichen Aufschwung, der die Anzahl der Bessergestellten
in hohem Tempo ansteigen ließ. Mit der
Steigerung des Lebensstandards wuchs auch
das Bedürfnis nach Unterhaltung.16 Dazu
kam, dass stets mehr Menschen vom Land in
die Städte zogen. Aus den demographischen
Zahlen der Jahre 1830–1900 lässt sich schließen, dass ein immer größerer Teil der niederländischen Bevölkerung in Städten mit mehr
als 100.000 Einwohnern lebte.17 Die Erklärung
für diese Entwicklung findet sich in der In-
dustrialisierung. Durch die Mechanisierung
im Landbau gab es in den ländlichen Regionen immer weniger Arbeit, wodurch die
Menschen gezwungen waren, in die Städte zu
ziehen. Dieser Trend wurde allerdings nicht
ausschließlich aus ökonomischen Gründen
verursacht, sondern auch aus kulturellen.18 In
vielen Städten stieg die Anzahl potentieller
Theaterbesucher stark an. Damit wuchs die
Möglichkeit, ein eigenes Theater zu betreiben,
ohne (all zu große) Verluste zu erleiden.
Ein dritter Faktor war die Infrastruktur.
Die Niederlande waren im 19. Jahrhundert
stets besser zu bereisen. Dadurch nahm die
“theatrale Mobilität” stark zu. Rund 1800
begann, erst in Süd- und Nord-Holland, der
Ausbau des Schienennetzes. 1850 waren so
gut wie alle “Reichswege” verbessert und
befestigt, woraufhin mit dem Ausbau der
sekundären Wege begonnen wurde. Komfortable Postkutschen und Omnibusse, die nach
fester Dienstregelung fuhren, ersetzten die
alten Kutschen und Treckschuten.19 Zwischen
1839 und 1847 wurde die erste Eisenbahnlinie
angelegt, die Amsterdam, Haarlem, Leiden,
Den Haag, Delft, Schiedam und Rotterdam
mit einander verband. 1845 wurde der Rhijnspoorweg fertiggestellt und von nun an konnte
auch die Strecke Amsterdam – Utrecht –
Arnhem per Zug zurückgelegt werden. Durch
die Verabschiedung des Eisenbahngesetzes im
Jahr 1860 entstanden in den gesamten Niederlanden Zugverbindungen.20 Auf diese
Weise wurde es für die bessergestellten Theatergesellschaften, die vor allem im Westen des
Landes etabliert waren, viel einfacher, in der
Provinz aufzutreten.
Nicht nur wegen der neuen Beförderungsmöglichkeiten wurde ein Auftritt in ländlichen Regionen einfacher: Vereinbarungen
mussten ab 1850 nicht mehr schriftlich getroffen werden. Dies war nun auch per Telegraph, oder später, über das Telefon möglich.
Wichtige Rollen könnten auch die wachsenden Auflagen und die weitere Verbreitung der
Zeitungen gespielt haben. Nach 1869, als
Ein Markt nationaler Gefühle?
Zeitungen nicht mehr pro bedruckter Seite
versteuert wurden, berichteten diese stets
mehr über Ereignisse im kulturellen und
literarischen Bereich.21
Ein letzter Faktor, der den Trend zu festen
Theatergebäuden erklären könnte, ist die
Stadterklärung. 1874 wurde das “Gesetzt zur
Regelung und Vollendung des Festungssystems” verabschiedet. Der Deutsch-Französische Krieg 1870–1871 hatte gezeigt, dass die
alten Festungen gegen die modernen Kriegsgeräte keinen ausreichenden Schutz mehr
boten. Aus diesem Grund wurde per Gesetz
eine neue Art der Verteidigung vorgeschrieben, bei welcher “Überschwemmung” das
Zauberwort war. Durch das Fluten von Ländereien rund um die Städte konnte der Vormarsch der feindlichen Truppen gestoppt
werden. Diese Gesetzesänderung hatte zur
Folge, dass die Festungen, die eine große
Anzahl niederländischer Städte umschlossen,
abgerissen wurden. Auf diese Weise entstand
zum ersten Mal seit Jahrhunderten in den
Innenstädten Raum für neue, große Bauprojekte. Nijmegen und Groningen sind zwei
Beispiele, bei denen dieser Raum zum Bau
von Theatern genutzt wurde.
Initiatoren
Doch wer war letztendlich verantwortlich für
den Ausbau der theatralen Infrastruktur?22
Wenn es um die Anzahl der festen Theatergebäude geht, waren es die Theaterunternehmer: Unternehmer, wie sie auch schon vor
1795 für das Theaterangebot in den Niederlanden verantwortlich waren. Eine stattliche
Anzahl dieser Unternehmer wandte sich vom
Theaterzelt ab und engagierte sich in einer
großen oder mittelgroßen Stadt. Dort eröffneten sie einen Theatersaal, oft in Kombination mit einem Café oder einer Herberge, die
sie so kostengünstig wie möglich zu betreiben
versuchten. In einigen Orten war es der
Gemeindevorstand selbst, der die Initiative
ergriff. So stimmte der Gemeinderat von
Nijmegen am 7. März 1838 dem Plan zu,
einen Ort zu erschaffen, an dem sich die
Bevölkerung “ohne Unterscheidung des
Standes” auf angenehme Weise entspannen
und bilden lassen konnte. Anderthalb Jahre
später öffnete die Nijmeegse Schouwburg ihre
Türen.
Außerdem gab es private Initiativen zum
Bau eines Theaters mit zusätzlichem Konzertsaal. Initiativen, die vor allem vom wohlhabenderen Bürgertum ins Leben gerufen
wurden. Als 1848 die Revolution ihre Schatten über Europa warf, fällte der niederländische König Willem I eine überstürzte Entscheidung: Aus Angst vor Unruhen im eigenen Land stimmte er unter Zeitdruck einer
Grundgesetzänderung zu, die dem wohlhabenden Bürgertum politische Macht zusprach: Dieses konnte nun seinen eigenen
Volksvertreter wählen. Die Bürger erhielten
mit einem Mal wichtigen politischen Einfluss und waren entschlossen diesen auch zu
nutzen, um ihr Bildungsideal zu realisieren.
Auke van der Woud unterscheidet in
seinem Buch Een nieuwe wereld. Het ontstaan
van het moderne Nederland zwei Arten von
Bildung. Zum einen die “äußere Bildung”,
mit der er das Streben bezeichnet, die Natur,
unter anderem durch das Bauen von Straßen,
Schienen, Wasserwegen und Kommunikationsnetzwerken (Post, Telegraph, Telefon)
zu beherrschen und zum anderen die “innere
Bildung”.23 Die vom Bürgertum angestrebte
“Bildungsoffensive” richtete sich auf die
Aspekte der “inneren Bildung”, wie Gesundheit, Hygiene und eine allgemeine Bildung.
Das Theater galt dabei als ein wichtiges Instrument. Nach der Trennung von Kirche
und Staat 1795 wurde auch in den Niederlanden auf den erzieherischen Charakter des
Theater gesetzt. Anders als die orthodoxen
Prediger annahmen, würde das Publikum im
Theater nicht zum Schlechten verleitet, sondern geradezu durchtränkt vom Begriff des
Guten. So wurde unter anderem in der Zeit-
101
102
Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm
schrift Tooneelkijker argumentiert, dass das
Theater von allen Medien das meist geeignetste sei, um das Publikum zu erziehen.
Anders als beim Lesen von Büchern oder
Hören einer Predigt erlebe der Zuschauer im
Theater die Helden in Fleisch und Blut. Allein
durch diese Tatsache solle er im wirklichen
Leben viel eher dazu neigen, das ehrbare
Verhalten der Akteure nachzuahmen.24
Ein Nationaltheater
Ein Begriff, der in der Diskussion um die
Rolle des Theaters innerhalb der Bildungsoffensive immer wieder auftaucht, ist der des
Nationaltheaters. Dieser wurde jedoch im
Laufe der Zeit stets neu definiert. Zu Beginn
waren damit ganz konkrete Theater gemeint:
die Theater in Den Haag, Brüssel oder Amsterdam.25 Im übertragenden Sinne hatte der
Begriff eine nationalistische, “vaterlandsliebende” Bedeutung. Das Theater sollte zu
einem Verbundenheitsgefühl mit der Nation
erziehen, und dies ließ sich am besten mit
ursprünglich niederländischen Stücken, die
Themen aus der eigenen Geschichte behandelten, erreichen. Das große Vorbild war die
Comédie Française in Paris. Doch auch in
Deutschland und an anderen Orten im Europa des 19. Jahrhunderts gab es Initiativen, die
als Vorbild genommen wurden.26 Es ist übrigens nicht bekannt, wann in den Niederlanden die ersten Forderungen nach einem
Nationaltheater aufkamen – die müsste durch
genauere Untersuchungen geklärt werden.
Sicher ist jedoch, dass die Amsterdamse
Schouwburg 1795 in Amsterdamsche Nationaale Schouwburg umgetauft wurde. Diese
Namensänderung bedeutete, dass der Staat
von nun an darauf achtete, dass das Theater
“durch das Zeigen von moralischen Theaterstücken [zum] nationalen Geist [...], zu Tugend und Vaterlandsliebe” beitrug. Die Theater mussten ihr Programm darum vorab dem
Minister für Nationale Bildung zur Genehmigung vorlegen.27
Doch der Einfluss des Staates auf das
Theater fand ein schnelles Ende. Der Versuch,
das Theater zu einer Institution der nationalen Erziehung zu machen, war gescheitert.
1801 wurde das “Ministerium für Nationale
Bildung” wieder aufgehoben, was vor allem
am Mangel finanzieller und personeller Mittel
lag. Die Amsterdamse Schouwburg wurde
wieder “Stadsschouwburg” genannt.
Die Forderungen nach einem Nationaltheater allerdings blieben. Einige Beispiele:
1818 schrieb Matthijs Siegenbeek, 1797 in
Leiden zum Professor für “Vaterländische
Sprache und Beredsamkeit” ernannt, einen
offenen Brief an die niederländische Regierung, in dem er für die Einführung eines
Nationaltheaters plädierte. Drei Jahre später,
1821, veröffentlichte Petrus van Limburg
Brouwer (1829–1873) aus Groningen eine
Abhandlung mit dem kuriosen Titel: Verhandeling over de vraag: bezitten de Nederlanders
een nationaal tooneel met betrekking tot het
treurspel? Zoo ja, welk is deszelfs karakter? Zoo
neen, welke zijn de beste middelen om het te
doen ontstaan? Is het in het laatste geval noodzakelijk eene reeds bestaande school te volgen,
en welke redenen zouden eene keus hierin
moeten bepalen?28 1851 gründete König Willem III, auf Betreiben von Jacob van Lennep
und anderen Amsterdamer und Haagsen
Theaterreformern, eine Kommission “zur
Planung und Angabe der Mittel zur Genesung
des Nationaltheaters”. 1866 ertönte im De
Nederlandsche Spektator vom jungen Utrechtschen Juristen J.N. van Hall (1840–1918) der
Aufruf sich “im Kampf für ein Nationaltheater, im Kampf gegen Geschmacklosigkeit,
Unwissen und Routine” zu engagieren.
Erste Erfolge konnten die Forderungen
erst 1870 vermelden, als unter Einfluss von
Van Hall und einigen anderen bekannten
Niederländern der Nederlands Tooneelverbond
gegründet wurde, der das Nationaltheater
fördern sollte. Der erste konkrete Erfolg war
Ein Markt nationaler Gefühle?
die Veröffentlichung einer neuen Theaterzeitschrift, die mehr als ein Jahrhundert bestehen
sollte. Der zweite war die Eröffnung der
ersten regulären Schauspielschule im Jahr
1874. Der dritte die Gründung einer neuen
Theatergesellschaft im Jahr 1876, der Vereeniging ‘Het Nederlandsch Tooneel’, die in
kürzester Zeit zur wichtigsten Theatergesellschaft der Niederlande heranwachsen sollte
und behauptete, die nationale Gesellschaft zu
sein, auch wenn sie diesen Titel nie offiziel
verliehen bekam.
Ein Markt nationaler Gefühle?
Die immer wiederkehrenden Forderungen
nach einem Nationaltheater lassen die Frage
aufkommen, ob es damals so etwas wie einen
Markt nationaler Gefühle gegeben hat:
Wenn es nötig war, sich immer wieder für ein
Nationaltheater einzusetzen, kann es dann
wirklich so viel Unterstützung dafür gegeben
haben, wie aus den Zahlen der Aufführungen hervorgeht? In den vorhergehenden Abschnitten wurde angegeben, dass in der
Periode des politischen Nationalismus (1830–
40) eine große Begeisterung für nationale
Stücke, die die Eigenart der Niederländer
thematisierten, herrschte. Außerdem waren
während der gesamten ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts sowohl vaterländische Geschichtsstücke, als auch ursprünglich niederländische Stücke erfolgreich.
Betrachten wir jedoch das Gesamtbild,
sehen wir, dass Stücke dieser Art ein ziemlich
seltenes Phänomen waren. Dem Repertoire
der Amsterdamse Schouwburg aus den Jahren
1814–1841 ist nämlich zu entnehmen, dass
ungefähr 80 Prozent der gesamten Aufführungen aus übersetzten Werken ausländischer
Autoren bestand. Schriftsteller, deren Namen
regelmäßig die Plakate schmückten, waren
zum Beispiel De Belloy, Bouilly, Duval, Iffland, Kotzebue, Mercier, Picard, Pixérécourt,
Scribe, Racine und Voltaire, vielseitige Auto-
ren aus ganz Europa also.29 Über diesen
internationalen Charakter des gespielten
Repertoires beklagte man sich im 19. Jahrhundert viel und lautstark. Der Amsterdamer Kaufmann und spätere Professor der
Ästhetik und Kunstgeschichte, Joseph Albertus Alberdingk Thijm (1820–1889), war einer
der notorischsten Kläger. Er betitelte die
Amsterdamse Schouwburg 1840 als ein “Sammelsurium der schmutzigsten Bewegungen
der nicht-heimischen Literaturen, unerträglich für das Auge und ekelhaft für den, der es
wagt sich ihm auch nur in irgendeiner Form
zu nähern”.30 Auch Potgieter (1805–1875),
Schriftsteller und Gründer der Zeitschrift De
Gids, war ein solcher Kläger.
Dies lässt die Frage aufkommen, was denn
nun wirklich so schlimm war am internationalen Charakter des niederländischen
Theaters. Warum hätte ein Nationaltheater
dessen Platz einnehmen sollen? Zum einen
wurden dafür Argumente von allgemein
erzieherischer Art angeführt. Es sollten niederländische Stücke gezeigt werden, da diese
die niederländische Volksart am besten wiedergeben könnten. Einige verbanden diese
Frage mit ästhetischen Argumenten: Was aus
dem Ausland importiert wurde, waren nicht
die vertrauten Trauer- und Lustspiele. Es
handelte sich dabei um neue Genres, wie das
Vaudeville, das bürgerliche Drama und das
Melodrama. Den Genuss, den man seit jeher
beim Anhören von Tragödien mit ihren
schönen Versen empfand, machte Platz für
das Vergnügen, das man bei einem Spektakelstück erlebte.
Doch es ging um mehr, wie die Forschung
erst seit jüngerer Zeit belegen kann. Es ging
den Befürwortern des Nationaltheaters nämlich nicht ausschließlich um die allgemeine
Erziehung des Publikums zu braven Bürgern
oder um die Ästhetik, wie vorher angenommen wurde. Einer von ihnen, Jacob van
Lennep – der 1851 ein Gutachten über den
Zustand des Theaters schrieb und welcher
Verfasser des Gedichtes über Van Speyk war
103
104
Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm
– produzierte immerhin auch selber Vaudevilles. Er selbst notierte dabei, nota bene, dass
die Rolle des Bühnenbildners, des Ballettmeisters und des Komponisten bei dem Erfolg
einer Vorstellung nicht unterschätzt werden
dürfe. Beschwerden schien er in diesem Punkt
nicht zu haben.31 Nein, das eigentliche Ziel
der Vertreter des Nationaltheaters war eine
spezielle politische Erziehung des Publikums.
Die gewünschte politische Erziehung unterschied sich von Periode zu Periode, wodurch
auch der Begriff des Nationaltheaters stets
eine andere Bedeutung erhielt.
Der beliebige Umgang mit dem Begriff
“Nationaltheater”
Auf die Namensänderung der Amsterdamsche
Nationaale Schouwburg im Jahr 1795 haben
wir bereits hingewiesen. Die Änderung des
Namens war ein Resultat des Kampfes zwischen den Orangisten, Anhängern des Statthalters Wilhelm V, und den demokratisch
orientierten Patrioten. Diesen Kampf konnten die Patrioten 1795 mit Hilfe der französischen Truppen für sich entscheiden. Das Ziel
der Patrioten war ein Staat, in dem das Volk
souveräner Träger der Staatsgewalt ist. Der
Begriff “national” hatte in diesen Jahren
somit eine deutliche demokratische Färbung.
1813 kehrte der Sohn des zuvor verstoßenen Statthalters als König Willem I in die
Niederlande zurück. Damals galt es den
Parteistreit der Vergangenheit so schnell wie
möglich zu vergessen: “Einig unter Oranje”
lautete die Parole. Auch in dieser Zeit wurden
erneut Forderungen nach einem Nationaltheater laut. Oft waren diese mit Klagen über
den internationalen Charakter des Repertoires verbunden. Die Kritik richtete sich vor
allem gegen den aus Frankreich und Deutschland importierten “Schund” des Melodramas.
Das Gift der Kritik war politischer Art: Das
Melodrama wäre zu demokratisch und würde
die gesellschaftliche Ordnung angreifen, da
die niederen bürgerlichen Stände sich darin
nicht standesgemäß verhalten würden und
die höheren Stände bespotteten. Es wurde
befürchtet, dass dies in der Gesellschaft zu
Nachahmungen und zu einer erneuten Revolution führen könnte. Diese Bedenken wurden vor allem von den Kreisen um den
Schriftsteller Willem Bilderdijk (1756–1831)
und der Theaterzeitschrift De Tooneelkijker
(1816–1819) geäußert. Sie richteten sich
vorwiegend an die höheren Stände, die mit
ihrem “französierten” Geschmack und ihrer
Vorliebe für das Melodrama ihre gesellschaftliche Verantwortung nicht wahrnehmen
würden. National hatte also auch in dieser
Zeit eine politische Bedeutung, jedoch war
diese der früheren, demokratisch-patriotischen gegenübergestellt.32 Durch ein Nationaltheater sollte die herrschende, anti-demokratische Politik aufrechterhalten werden. Im
Weiteren sollte es zur Verbreitung der niederländischen Werte und Normen dienen.
Aus der Theaterkritik der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts geht allerdings hervor, dass
Theaterliebhaber mit einem liberalen Charakter in dieser Periode die Meinung vertraten,
dass ein Nationaltheater aus dem Ausland
importierte Melodramen zeigen sollte, und
dies gerne mit einer demokratischen Botschaft. Ein Nationaltheater musste schließlich
durch die Mehrheit der Nation getragen
werden, und diese Mehrheit, das wird durch
die Besucherzahlen der Theater verdeutlicht,
befürwortete ein internationales und demokratisches Repertoire.33
Die Sorge, die durch die Kreise um Bilderdijk geäußert wurde, wurde 1851 in einem
Bericht der Kommission von Van Lennep
erneut formuliert. Da die Theater in Frankreich und Deutschland seit der Revolutionen
von 1848 und der Abnahme der Kontrolle des
Staates über die Theater “Feuerstellen von
Revolten und Bürgerkrieg geworden” wären,
gerieten auch die Theater in den Niederlanden in gefährliche Fahrwasser: Das “aufrührerische”, ausländische Repertoire wäre dort
Ein Markt nationaler Gefühle?
schließlich auch zu sehen. In den Stücken
würde “alles, was reich [und] ansehnlich ist
bespottet” und alles, was auf der Leiter der
Gesellschaft auf den “unteren” Sprossen
stehe, bejubelt. Außerdem würden die Themen aus den “trübsten Quellen der niedersten Leidenschaften” geschöpft.34 Das niederländische Theater wäre damit eine Schule der
schlechten Sitten geworden, die die gesellschaftliche Ordnung zu zerstören drohe.
Leider nennen Jacob van Lennep und seine
Mitstreiter keine Beispiele von Stücken und
Szenen, die die gesellschaftliche Ordnung
bedrohen würden. Aber es scheint, dass sie,
selbst Vertreter der höheren sozialen Schichten der niederländischen Gesellschaft, verhindern wollten, dass die unteren Klassen
sich mit Hilfe des Theaters emanzipierten.35
Publikum
Dies bringt uns zur Frage nach dem Publikum. Gerade wegen der Tiraden von Alberdingk Thijm und der Kommission Van Lenneps wurde in der niederländischen Theatergeschichtsschreibung lange angenommen,
dass das Publikum in den Theatern aus den
untersten Schichten der niederländischen
Bevölkerung bestand. Die Theater wären in
den Niederlanden finanziell nicht unterstützt
worden und für ihr Fortbestehen ausschließlich auf den Kartenverkauf angewiesen gewesen. Das Angebot wäre darum auf das abgestimmt, was das “Volk” sehen wolle. Der
Begriff “Volk” wurde lange als die “Arbeiterklasse” interpretiert. Jüngste Untersuchungen
ergaben jedoch, dass die Theater im 19. Jahrhundert nicht immer marktorientiert waren,
sondern auch ideologische Ambitionen hatten, für welche sie starke Unterstützung vom
Staat erhielten.36 Mit dem zeitgenössischen
Begriff “Volk” konnte außerdem keine soziale
Gruppe gemeint sein. Henny Ruitenbeek
schlussfolgerte in ihrer Studie zur Amsterdamse Schouwburg in der Periode von
1814–1841, dass selbst auf den Balkonen
kaum Arbeiter gesessen haben können:
Weder der geringe Lohn, der ihnen gezahlt
wurde, noch die Länge ihrer Arbeitstage
ermöglichten es ihnen, das Theater zu besuchen. Auch Angehörigen des Kleinbürgertums, wie Lehrern oder kleinen Beamten,
war ein Theaterbesuch nur sporadisch möglich.37 Zu einer vergleichbaren Schlussfolgerung kam Jan Hein Furnée in seiner Studie
zur Freizeitkultur und den sozialen Verhältnissen in der Zeit von 1850–1900 in Den
Haag.38
In dem Kapitel, das er der Haagse Schouwburg widmet, kommt ein Subventionsantrag,
gerichtet an den Haager Gemeinderat, zur
Sprache, der 1863 von 360 Besuchern der
Hollandsche toneelgezelschap des Theaters
unterzeichnet wurde. Die Besucher schienen
allesamt zum breiten Mittelstand zu gehören:
Beamte, Ladenbesitzer und Handwerksleute.
Der Haager Metallfabrikant Karel Enthoven plädierte vier Jahre lang für die Einführung günstiger Sonntagsvorstellungen, da
Haager Arbeiter und Kleinbürger unter den
herrschenden Umständen nicht im Stande
wären, das Theater zu besuchen.39 Angaben
zum sozialen Hintergrund der Theaterbesucher sind von Henk Gras ausführlich analysiert und zusammengestellt worden. Auch er
kommt zu der Schlussfolgerung, dass das
Theaterpublikum des 19. Jahrhunderts aus
dem gewachsenen Bürgertum kam, gut ausgebildet und mittleren Alters war. Soziale Klassen, auf die diese Beschreibungen nicht zuträfen, wären nur spärlich in den Theatern zu
finden gewesen, und die Arbeiterklasse fehle
nahezu komplett.40 Gras geht noch einen
Schritt weiter. In einem Artikel von 2002 stellt
er fest, dass die Rotterdamer Theater zwar
offiziell dem “Heil des Volkes” dienen sollten,
dass die Verwaltung der Anteilseigner jedoch
darauf abzielte, lieber “unter sich” bleiben zu
können. “Die Elite, die das Theater als öffentliches Institut gründete und diesem Institut
seine Normen von Preis und Spielzeit auf-
105
106
Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm
erlegte, wollte dieses Angebot also eigentlich
in größtmöglicher Geschlossenheit genießen”.41
Schlusswort und weitere Forschung
Es wurde erörtert, dass das Theater seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts auch in den Niederlanden mehr und mehr als einflussreiches
Medium gesehen wurde. Es spielte, laut
Zeitgenossen, eine wichtige Rolle bei der
allgemeinen Erziehung und Bildung und
konnte zur Bildung der Nation und einem
Gemeinschaftsgefühl der Niederländer beitragen. Es wurde deutlich, dass das Theater vor
allem in politisch-nationalistischen Perioden
als ein Markt nationaler Gefühle fungierte:
Stücke mit einem patriotischen Inhalt hatten
großen Erfolg. Gleichzeitig wurde das Theater, wegen seines bildenden Einflusses, von
den höheren Ständen gefürchtet: Es hatte die
nötige Macht, die gesellschaftliche Ordnung
umzuwälzen. Die Angst wurde von der Tatsache genährt, dass das Theater seinen Einfluss
im 19. Jahrhundert schnell vergrößerte. Was
dabei als Katalysator gewirkt haben könnte,
ist der Umsturz 1795, durch welchen die
Kirche ihren Einfluss auf das Theater verlor.
Aber auch der infrastrukturelle Wandel, der
die Niederlande ab 1800 Schritt für Schritt zu
einem modernen Land machte, wird eine
Rolle gespielt haben. Die im 18. Jahrhundert
entstandene theatrale Kommunikationsgesellschaft erhielt dadurch – wörtlich gesprochen
– eine nationale Dimension. Nicht nur die
theatrale Mobilität und die Diskussionsplattformen (Zeitschriften) wurden überregional.
Es gab in den Niederlanden auch ein explosives Wachstum hinsichtlich der Anzahl
der Theatergebäude.
Die nationale theatrale Infrastruktur
bildete die materielle Voraussetzung für das
Zustandekommen eines Nationaltheaters,
dessen Einführung während des gesamten 19.
Jahrhunderts gefordert wurde. Dass es nötig
blieb, fortwährend für ein Nationaltheater zu
plädieren, ließ die Frage aufkommen, ob das
Theaterpublikum in den Niederlanden auch
außerhalb der politisch-nationalistischen
Perioden das Bedürfnis nach einem Markt
nationaler Gefühle hatte. Das durchgehend
internationale Angebot von Vorstellungen –
vor allem in Perioden des nicht politischen
Nationalismus – weist auf das Fehlen eines
solchen Bedürfnisses hin. Damit ist das letzte
Wort jedoch noch nicht gesprochen. Im
Gegensatz zu dem, was in der Theatergeschichtsschreibung oft angenommen wurde,
scheint der Begriff “Nationaltheater” in den
Niederlanden kein eindeutiger Terminus
gewesen zu sein. Das Theater war so “national”, wie es den Benutzern dieses Begriffes
in ihre politische und soziale Tagesordnung
passte: demokratisch, liberal, konservativ. Die
Bedeutung unterschied sich nicht nur von
Periode zu Periode, sondern auch von Person
zu Person. Einige demokratisch gesinnte
Meinungsmacher fanden, dass ein Nationaltheater die Stücke zeigen müsse, die das
Publikum gerne sehen würde, auch, wenn
dies ausländisches Repertoire wäre. Der
Markt nationaler Gefühle muss also viel
differenzierter gewesen sein, als immer angenommen wurde.
Im vorangegangen Text sind einige Erläuterungen zu den Bedeutungen des Begriffes
“Nationaltheater” angeführt worden. Welche
Definition des Begriffes im Laufe des 18. und
19. Jahrhunderts jedoch genau zutraf, müsste
näher untersucht werden. Eine Erklärung für
die stets wechselnde Bedeutung des Begriffes
sollte in den politisch-gesellschaftlichen
Ansichten derjenigen gesucht werden, die auf
dem Theatermarkt operierten.
Die theatrale Infrastruktur und deren
nationale Ausweitung muss ebenfalls näher
untersucht werden. Die Anzahl der Theater
weitete sich stark aus, aber was war wirklich
der Grund für die Entstehung eines nationalen Netzwerkes? Wer genau waren die Bürger,
die überall im Land die Initiative ergriffen,
Ein Markt nationaler Gefühle?
Theatervereinigungen zu gründen oder ihre
Stadt mit einem Theater zu versehen? Durch
welche Motive ließen sie sich leiten? Hatte die
größere Mobilität eine Bedeutung für das
Zustandekommen eines Nationaltheaters,
oder hatte die Zunahme (internationaler)
Kontakte gerade eine Erhöhung der Anzahl
ausländischer Vorstellungen zur Folge?
Das Repertoire der Amsterdamse, Rotterdamse und Leidse Schouwburg ist aus einigen
Perioden bekannt. Die Programmplanung
und die Amtsführung der Theaterleiter und
Obrigkeiten aus anderen Perioden und aus
anderen Teilen der Niederlanden jedoch noch
nicht. War das Repertoire im Allgemeinen
vor allem ausländischen Ursprungs? Was
waren die Motive derjenigen, die das Repertoire zusammenstellten; gründeten sie ihre
Wahl auf die Nachfrage oder handelten sie
aus ideologischen Überzeugungen? Wurden
die ausländischen Stücke ständig oder mit
Unterbrechungen gespielt? Wurden möglicherweise Szenen zugefügt und wenn ja, mit
welcher Absicht geschah dies? Gab es bei
alledem einen Unterschied zwischen den
großen Städten im Westen und der Provinz?
Und gab es Unterschiede zwischen den verschiedenen großen Städten? In welchem
Umfang funktionierte die Theaterkritik:
landesweit oder lokal? Auch diese Aspekte
müssten in ihrem politisch-gesellschaftlichen
Kontext untersucht werden.
Durch eine integrierte und differenzierte
Untersuchung der hier genannten Aspekte
müsste deutlich gemacht werden können, wie
das Theater des 19. Jahrhunderts funktionierte und mit welchen (nationalen) Gefühlen auf
dem theatralen Markt in den verschiedenen
Perioden gearbeitet wurde.
Anmerkungen
1
Stephen E. Wilmer, National theaters in a
changing Europe, Basingstoke 2008, S. 10.
2 Sandra de Vries, De lucht in gevlogen, de hemel
in geprezen. Eerbewijzen voor Van Speyk, Haarlem 1988, S. 18–19.
3 Henny Ruitenbeek, “Vaderlands verleden in de
Amsterdamse stadsschouwburg 1830–1840”,
in: De Negentiende Eeuw 17 (1993), no. 4,
S. 177–191, S. 183.
4 Ibidem, S. 180–181.
5 Niek van Sas, De metamorfose van Nederland.
Van oude orde naar moderniteit 1750–1900,
Amsterdam 2005, S. 69–86, S. 551–567.
6 Ibidem, S. 76, S. 95, S. 554.
7 Lotte Jensen, “In verzet tegen ‘Duitschlands
klatergoud’. Pleidooien voor een nationaal
toneel, 1800–1840”, in: Tijdschrift voor Nederlandse taal- en letterkunde (2006), S. 289–302;
Idem, “Helden en anti-helden. Vaderlandse
geschiedenis op het Nederlandse toneel,
1800–1848”, in: Nederlandse Letterkunde
(Juli/Aug 2006), S. 101–135; Ruitenbeek,
“Vaderlands verleden”, in: Idem, Kijkcijfers. De
Amsterdamse schouwburg 1814–1841 (diss.
UvA), Hilversum 2002, S. 242–245.
8 Ruitenbeek, Kijkcijfers, Grafik 4.35, S. 456.
9 Van Sas, De metamorfose, S. 71–73.
10 Wijnand Mijnhardt, “De Nederlandse Verlichting”, in: Frans Grijzenhout e.a. (Hg.),
Voor vaderland en vrijheid. De revolutie van de
Patriotten, Amsterdam 1987, S. 60–63; Joost
Kloek en Wijnand Mijnhardt, 1800.
Blauwdrukken voor een samenleving, Den Haag
2001, S. 77–78.
11 André Hanou, “Juli 1762. Publikatie van
Schouwburg Nieuws, het eerste Nederlandstalige toneeltijdschrift. Begin van de toneelkritiek”, in: Erenstein, S. 326–331; Hans de
Groot, “Bibliografie van in Nederland verschenen 18de- en 19de-eeuwse toneeltijdschriften (1762–1850) en toneelalmanakken
(1770–1843)”, in: Scenarium 4 (Zutphen
1980), S. 118–146.
12 Kloek en Mijnhardt, 1800, S. 515–517.
13 Bob Logger e.a. (Hg.), Theaters in Nederland sinds de negentiende eeuw, Amsterdam
2007.
14 Logger, Theaters in Nederland, S. 41–44.
15 Die Informationen in diesem Paragraphen
sind zum größten Teil dem Beitrag von Rob
van der Zalm in Logger, Theaters in Nederland,
S. 45–46, entnommen.
107
108
Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm
16 Auke van der Woud, Een nieuwe wereld. Het
ontstaan van het moderne Nederland, Amsterdam 2006, S. 185.
17 Ibidem, S. 186.
18 “Naast deze economische motieven […] staat
als de voorname oorzaak der bevolkingsconcentratie de zucht om het leven intensiever
en veelzijdiger te genieten wat […] inzonderheid in de steden te bereiken valt”, C.A.
Verrijn Stuart, zitiert nach Van der Woud, Een
nieuwe wereld, S. 186.
19 Van der Woud, Een nieuwe wereld, S. 367–369.
20 Ibidem, S. 292–294, S. 312–320.
21 Ibidem, S. 342, S. 354; Rob van der Zalm,
“Kritieken zijn geen meneer”, in: Documenta
16 (1998), no. 4, S. 275–284, S. 275–276.
22 Die Information ist dem Beitrag Van der
Zalms in Logger, Theaters in Nederland,
S. 47–54, entnommen.
23 Van der Woud, Een nieuwe wereld, S. 166.;
Siehe auch: Marita Mathijsen, De gemaskerde
eeuw, Amsterdam 2002, S. 193, S. 199.
24 De Tooneelkijker, zitiert nach Ruitenbeek,
Kijkcijfers, S. 313.
25 Matthijs Siegenbeek, “Over de middelen ter
vorming van een nationaal Nederlandsch
tooneel”, Haarlem 1828, S. 77–100.
26 Wilmer, National theaters, S. 11–19.
27 “Nationale geest […] tot Deugd en Vaderlandsliefde […] door het doen vertoonen van
zedelijke Toneelstukken”, zitiert nach Roelof
Pots, Cultuur, koningen en democraten. Overheid en cultuur in Nederland, Nijmegen 2000,
S. 36–37.
28 Zu deutsch: Abhandlung über die Frage: Besitzen die Niederländer ein Nationaltheater mit
Bezug zum Trauerspiel? Wenn ja, welchen
Charakters ist dies? Wenn nein, mit welchen
Mitteln könnte ein solches ins Leben gerufen
werden? Wäre es im letzteren Fall von Nöten
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
einem schon bestehenden Strom zu folgen? Und
welche Gründe könnten eine solche Wahl beeinflussen?
Ruitenbeek, Kijkcijfers, Grafik 4.34, S. 456.
“vergaarbak van het vuilste draf der uitheemsche literaturen, afzichtelijk voor het oog en
walgelijk ten eenenmale voor wie het waagt
hem eenigszins nabij te komen”, zitiert nach
Worp-Sterck, Geschiedenis van den Amsterdamschen Schouwburg, Amsterdam 1920,
S. 267.
Cor Geljon, “Jacob van Lennep en het toneel”,
in: Scenarium 1 (1977), S. 33–48, S. 40,
S. 43–44.
Ruitenbeek, Kijkcijfers, S. 291, S. 307–309,
Anhang S. 456.
Ibidem, S. 325–327.
“stookplaatsen geworden van oproervuur en
burgerkrijg”; “al wat rijk, wat aanzienlijk […]
is, […] bespottelijk gemaakt”; “de troebelste
bronnen der laagste hartstochten”, zitiert nach
Jan Hein Furnée, Vrijetijdscultuur en sociale
verhoudingen in Den Haag, 1850–1900,
Amsterdam 2007, S. 318–319.
Furnée, Vrijetijdscultuur, S. 317–319.
Ruitenbeek, Kijkcijfers, S. 50, S. 47.
Ibidem, S. 139–141, S. 504.
Siehe Endnote 35.
Furnée, S. 329–333, S. 339, S. 403.
Henk K. Gras e.a., Theatre as a Prison of
Longue Durée (zu erscheinen). Siehe auch:
Henk Gras, “Paradise lost nor regained”, in:
Journal of Social History 38 (2004), no. 2,
S. 471–512, indem er zur selben Schlussfolgerung kommt. In diesem Beitrag handelt es
sich allerdings um Abonnenten.
Henk Gras, “Souperminnende NRC-heren en
andere bemoeials. De rol van de ‘markt’ in het
negentiende-eeuwse theaterbestel”, in: Boekman Cahier 14 (2002), no. 54, S. 45–61, 51.

Documentos relacionados