März 2012 - Neue Zürcher Zeitung

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März 2012 - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 3 | 25. März 2012
Samar Yazbek Schrei nach Freiheit | Arno Camenisch Ustrinkata | Patrick
L. Fermor Rumeli | E-Krimi des Monats Tess Gerritsen Grabesstille | Peter
Bodenmann über die Krise des Kapitalismus | Henryk M. Broder Vergesst
Auschwitz! | Weitere Rezensionen zu Patrick Modiano, Harry Belafonte,
Alain de Botton, Rudolf Rechsteiner u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
Lesereihe
© Peter Peitsch/peitschphoto.com
Autoren auf der grossen Bühne
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Montag, 23. April 2012, 19.30 Uhr
im Theater Winterthur
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Lesung mit Jussi Adler-Olsen
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Das Alphabethaus
Ein grosser Roman über die Schrecken des Krieges – und den Verrat
an einem Freund. „Das Alphabethaus“ ist das persönlichste Buch
von Bestseller-Autor Jussi Adler-Olsen, mit dem er seinen Weltruhm
begründet hat.
Moderation: Margarete von Schwarzkopf
Lesung deutscher Text: Regula Grauwiller
ISBN 978-3-423-24894-5
Eintritt: CHF 30.- | CHF 15.- (für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre, Legi bis 30 Jahre)
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14 Tage Rückgaberecht
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Inhalt
Revolution in der
digitalen und der
politischen Welt
Eine technische Revolution pflügt zurzeit den Buchmarkt um. Das Jahr
2012 – so Piper-Verleger Marcel Hartges – «wird uns in Erinnerung
bleiben als Jahr, in dem das Phantasma vom E-Book in Deutschland real
geworden ist». In den USA ist das schon länger der Fall, beträgt doch
dort der Anteil elektronischer Bücher an den verkauften bereits über
20 Prozent. Natürlich wird das gedruckte Buch nicht verschwinden.
Dennoch wollen wir dem wachsenden Bedürfnis, Bücher auf Tablets
und E-Readern zu lesen, mit zwei Neuerungen Rechnung tragen. In
einer neuen Rubrik stellen wir ab dieser Ausgabe jeweils den «E-Krimi
des Monats» vor (Seite 11). Und bei den bibliografischen Angaben
fügen wir neben dem Preis für das gedruckte Buch überall, wo auch
eine digitale Version vorliegt, jenen für das E-Book hinzu.
Wie immer aber stehen die Inhalte im Vordergrund: In der Belletristik
diesmal das neue Werk des französischen Romanciers Patrick Modiano
(S. 4) und die wunderbare Stammtisch-Eloge von Arno Camenisch
(S. 10). In einem Essay unternimmt Peter Bodenmann einen Streifzug
durch die neuste Wirtschaftsliteratur (S. 12). Bei den Sachbüchern setzt
sich Thomas Held mit dem Energieleitfaden von Rudolf Rechsteiner
auseinander (S. 21). Und brandaktuell schliesslich ist der Report der
syrischen Autorin Samar Yazbek über den Aufstand in ihrem Land. Ihr
ist auch das Titelblatt dieser Ausgabe gewidmet. Urs Rauber
Nr. 3 | 25. März 2012
Samar Yazbek Schrei nach Freiheit | Arno Camenisch Ustrinkata | Patrick
L. Fermor Rumeli | E-Krimi des Monats Tess Gerritsen Grabesstille | Peter
Bodenmann über die Krise des Kapitalismus | Henryk M. Broder Vergesst
Auschwitz! | Weitere Rezensionen zu Patrick Modiano, Harry Belafonte,
Alain de Botton, Rudolf Rechsteiner u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
SamarYazbek
(Seite19).
Illustrationvon
AndréCarrilho
Belletristik
MilenaMoser:Montagsmenschen
4 PatrickModiano:DasCaféderverlorenen
Jugend
Von Judith Kuckart
6 MattBeynonRees:MozartsletzteArie
Von Stefana Sabin
7 MirandaJuly:Esfindetdich
Von Simone von Büren
8 PatrickLeighFermor:Rumeli
AlbinZollinger:DiegrosseUnruhe
Von Manfred Papst
Von Geneviève Lüscher
MikiWickKim:KoreanContemporaryArt
Von Gerhard Mack
9 ErnstAugustin:RobinsonsblauesHaus
Von Sieglinde Geisel
10 ArnoCamenisch:Ustrinkata
Von Martin Zingg
Essay
12 DergrüneKapitalismusstehtvorderTür
Peter Bodenmann bespricht Bücher zur
Wirtschaftskrise
Kolumne
15 CharlesLewinsky
Das Zitat von Harold Pinter
KurzkritikenSachbuch
HarryBelafonte,dermitderSeidenstimme(60er-Jahre).
15 DieterE.Zimmer:IstIntelligenzerblich?
Von Kathrin Meier-Rust
MashaGessen:DerMannohneGesicht
23 AlaindeBotton:FreudenundMühenderArbeit
DianeDucret:DieFrauenderDiktatoren
24 TimWeiner:FBI
MeshullamdaVolterra:VonderToskanain
denOrient
Von Kathrin Meier-Rust
Von Urs Rauber
THE ART ARCHIVE
Von Geneviève Lüscher
Sachbuch
DasGeschwisterpaarMozartamKlavier1780/81.
E-KrimidesMonats
11 TessGerritsen:Grabesstille
Von Christine Brand
16
18
19
HenrykM.Broder:VergesstAuschwitz!
Von Klara Obermüller
HarryBelafonte:MySong
Von Martin Walder
SamarYazbek:SchreinachFreiheit
Von Susanne Schanda
ThomasHaenel:AmokundKollektivsuizid
Von Tobias Kaestli
KurzkritikenBelletristik
20 JudithGiovannelli-Blocher:DerroteFaden
11 FredVargas:DieNachtdesZorns
Von Regula Freuler
VirginiaWoolf:AugenblickedesDaseins
Von Manfred Papst
UNITED ARCHIVES / ULLSTEIN
Von Regula Freuler
Von Urs Rauber
AninaGmür:Mzayna
Von Geneviève Lüscher
21 RudolfRechsteiner:100Prozenterneuerbar
Von Thomas Held
Von Kirsten Voigt
GunnarDecker:HermannHesse
Von Thomas Feitknecht
Von Markus Schär
MaríaSoniaCristoff:Unbehaust
Von Regula Freuler
25 LindaMariaKoldau:Titanic
HarroHess,ManfredHessel:DieTitanicvonA
bisZ
Von Thomas Köster
26 KatharinaVolk:Ovid–DichterdesExils
Von Kathrin Meier-Rust
DasamerikanischeBuch
LloydKahn:TinyHomes
Von Andreas Mink
Agenda
27 DorisMundus:800JahreThomana
Von Manfred Papst
BestsellerMärz2012
Belletristik und Sachbuch
AgendaApril2012
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
VerlagNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Patrick Modiano ist ein Star der französischen Literaturszene.
Die deutsche Schriftstellerin Judith Kuckart setzt sich mit seinem
neuen Buch auseinander
Im Café mit
den Bohémiens
der Welt sehen kann. Louki ist eine Brünette mit grünen Augen. Viel mehr über
ihr Äusseres erfahren wir von Modiano
nicht, aber wir sind schon verliebt.
Louki hat einen Ehemann verlassen, ist
in nicht ungefährlicher Gesellschaft an
düstere Orte gefahren, an die sie sich
nicht erinnern möchte. Sie hat mit
einem Mädchen, das die anderen Totenkopf nennen, Koks genommen. Immer,
wenn sie versucht hat, ein Leben mit jemandem zu teilen, hat sich ihre Einsamkeit verdoppelt. Nur mit Roland nicht?
Dieser Roland wird als letzter sprechen
im vierstimmigen Chor derer, die in Modianos Roman ihre poetischen Zeugenaussagen über Louki machen.
Patrick Modiano: Das Café der verlorenen
Jugend. Roman. Deutsch von Elisabeth
Edl. Hanser, München 2012. 157 Seiten,
Fr. 23.90, E-Book 15.70.
Von Judith Kuckart
«Dans le café de la jeunesse perdue» –
die Kritik in Frankreich feierte 2007 diesen Roman von Patrick Modiano euphorisch. Das Buch habe ihn zu dem grössten
zeitgenössischen
Schriftsteller
Frankreichs gemacht, schrieb das Magazin «Lire». Ich würde jetzt, wo «Im Café
der verlorenen Jugend» auf Deutsch bei
Hanser erscheint, gern mitfeiern, denn
ich bin seit Modianos Roman «Die
Gasse der dunklen Läden», für den er
1978 den Prix Goncourt bekam, eine
Verehrerin des Romanciers. Ja, er ist ein
Romancier, nicht bloss ein Autor oder
Schriftsteller. Um ihm gerecht zu werden, müsste ich diese Besprechung eigentlich mit einer alten Schreibmaschine schreiben.
Louki, Kosename für Jacqueline, hat
sich als Mädchen im nächtlichen Paris
herumgetrieben, bis die Polizei sie aufgriff. Die Mutter arbeitete im Moulin
Rouge, wo man die schönsten Frauen
Verliebter Detektiv
JACQUES SASSIER
Der französische
Romancier Patrick
Modiano ist Träger
des Prix Goncourt
und vieler anderer
Auszeichnungen.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
Der erste, der erzählt, ist Student an der
Hochschule für Bergbau und Hüttenwesen. Ihm fällt Louki im Café Le Condé
auf als schöne, schüchterne, langsame,
immer schweigende Statistin, umgeben
von einer Bande aus Studenten und braven Bohémiens im VI. Arrondissement
von Paris. Die Zeit ist Anfang der sechziger Jahre. Die Kulisse, patiniert von der
Erinnerung, bleibt vage in einem poetischen Grau. Vor dem Kaffeehausfenster
fällt meistens der immergleiche Regen,
in dem sich aber das Element, das dieses
Draussen so reglos hält, nicht auflöst.
Louki sitzt im Le Condé, das heute ein
Lederwarengeschäft ist, nah dem Notausgang, still bei der Schattentür. Trotzdem scheint sie das Licht einzufangen.
Denn Licht ist die Zeit, die sich denkt,
hat Borges gesagt. Für den ersten Erzähler, den ehemaligen Studenten, der sie
mit dem Blick einer verliebten Kamera
beschaut, wird sie immer das Stichwort
sein, das ihn schmerzhaft an den besten
Teil seines Lebens erinnert.
Die zweite Stimme gehört einem gewissen Caisley. Früher muss er beim
Geheimdienst gewesen sein. Jetzt ist er
Privatdetektiv in Sachen Louki alias Jacqueline Choreau, geborene Delanque.
M. Choreau, der verlassene Ehemann,
hat ihn beauftragt, die Verschwundene
zu suchen. Caisley, der bald ein verliebter Detektiv sein wird, je mehr er sich
von seinem konkreten Auftrag entfernt
und statt dessen die Vergangenheit von
Louki als Mädchen recherchiert, handelt, wie Modiano an seiner Stelle auch
gehandelt hätte. Sucht man eine Frau,
muss man ihre Erinnerungen kennen.
Im Le Condé kommt der Detektiv Caisley neben einen jungen Mann zu sitzen,
der in einem Notizbuch die flatterigen,
scheinbar immer flüchtigen Gäste des
Le Condé namentlich in der Reihenfolge
ihres Eintreffens sowie mit Datum und
genauer Uhrzeit akribisch registriert.
Es sind solche Einzelheiten, die das
Ganze zusammenhalten. Das gilt für das
Register des jungen Mannes. Das gilt für
den erfahrenen Romancier Modiano im
Roman. Das Suchen nach Fixpunkten
und deren Verbindung enthält die Frage,
ob man sich schon einmal begegnet ist,
bevor man am gemeinsamen Ziel eintraf. Das Register des jungen Mannes
aus dem Condé vermerkt auch Louki.
«18. März, Louki, Rue Fremat Nr. 16, 14.
Arrondissement», liest Caisley im Heft.
Doch ist dem Detektiv – wie Modiano
auch – die eigene Bewegung auf Loukis
Spur wichtiger als eine Lösung ihres
Falls. Ist sie überhaupt ein Fall? Unwichtig sind auch die kriminalistischen Fragen von Caisley an den Ehemann Choreau: Hat sie ein Scheckheft mitgenommen? Oder den Schlüssel? Es habe viele
ALADDIN COLOR / CORBIS
Jacquelines in seinem Leben gegeben,
sagt der verliebte Detektiv Caisley, als
kenne, erkenne er sie sofort, diese Art
von Frauen. Frauen wie Bilder, und
ebenso schön. Wo ein Bild verschwindet, entsteht eine Geschichte. Zärtlichkeit ist die Erkenntnis, zu der er am
Ende seiner, der zweiten Erzählpassage
des Romans gelangt: Einem Menschen,
den man liebt, muss man erlauben, zu
verschwinden.
Durch die Stadt streunen
«Ich war nur dann wirklich ich selbst,
wenn ich ausriss», sagt Louki, die dritte
Erzählerstimme in Modianos Roman.
Zufluchtsort werden ihr die nächtlichen
Strassen von Paris, eine Buchhandlung,
ein Kino, das sie wegen der starken Farben in den Filmen besucht, nicht wegen
der starken Geschichten. Eine Autowerkstatt, die dem Mann gehört, der
nicht ihr Vater geworden ist, und eine
Sitzbank, von der aus sie das erleuchtete
Fenster der eigenen möblierten Wohnung sehen kann, bieten ebenfalls an,
flüchtige Heimat zu sein. Lauter Orte,
die auch der Schriftsteller Georges Simenon für sie ausgesucht haben könnte.
Eines Tages steht Louki nicht mehr
rechtzeitig vom Bett ihres Geliebten Ro-
land auf, um zu ihrem Ehemann zurückzugehen.
Louki und Roland sind ein Paar, wie
man es schon oft bei Modiano kennen
gelernt hat. Jung und von einer flirrenden Unwirklichkeit, was ihre Herkunft
betrifft, gehen sie Hand in Hand in die
Irre. Sie können ohne einander nicht
sein, aber das eine gefährdete Wesen
kann dem anderen auch nicht helfen. Sie
erobern die Stadt, indem sie sie müssig
durchstreunen, am liebsten entlang der
Seine bei gleissendem Mittagslicht, das
ihnen den tiefsten Süden ankündigt, in
den sie einmal, aber dann doch niemals
reisen werden. Manche Gegenden, die
sie erkunden, sind so still, so unwirklich,
dass Roland sie mit einem metaphysischen Strich auf einer inneren Landkarte verzeichnet und dieses Gelände dann
«neutrale Zonen» nennt. Oder schwarze
Löcher, in denen man aufgesaugt werden, ja verschwinden kann. Die Strasse,
die mit zwei Reihen Platanen den Friedhof Montparnasse teilt, gehört dazu. Sie
war auch die Strasse zu einem von Loukis Hotels.
Beim Lesen dachte ich, dass all diese
klandestinen Orte selber auf einem
Friedhof gelandet sind, so wie Autos
oder Menschen auf Friedhöfen landen.
Und wenn ich manche Sätze zweimal
las, hatte ich das Gefühl, die vier Erzähler des Romans reden als Verschollene
vom Rand dieser Orte her zu mir herüber. Mir fiel nur das Wort «Jenseits»
dafür ein, und mir wurde kalt.
Mit Roland, in den sie nicht nur verliebt, sondern mit dem sie auch verschworen ist, kann Louki, die nur Louki
ist, wenn sie ausreisst, nicht einfach
Schluss machen. Sie lässt sich eines
Tages aus dem Fenster fallen. Aber das
ist kein Fall für die Polizei, erzählt Roland in der vierten Erzählerpassage. Sie
ist verschwunden, aber zum ersten Mal
weiss jemand, wo sie geblieben ist. Das
ist eine Liebeserklärung von Louki an
ihn. Das macht ihre Beziehung unauflöslich. Wenn er später, also jetzt und
heute, durch Paris streift, in dem es nirgendwo mehr nach alten Rohren riecht,
und das längst der Gentrifizierung zum
Opfer gefallen ist, hört er Loukis Stimme hinter sich, und er antwortet ihr. Du,
sagt er. So ist er getröstet und überzeugt
von der Idee der ewigen Wiederkehr des
Gleichen – solange er sich nicht umdreht. l
Judith Kuckart, geb. 1959 in Schwelm
(Ruhrgebiet), ist Schriftstellerin und
Regisseurin. Sie lebt in Berlin und Zürich.
Paris in den sechziger
Jahren: In Patrick
Modianos Roman
reisst eine attraktive
Frau aus ihrer Ehe
aus.
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman In einem historischen Krimi formuliert Matt Beynon Rees eine weitere Spekulation über das
Geheimnis hinter Mozarts Tod
Arsen, Blei und Belladonna
hauptete, mit Acqua Toffana vergiftet
worden zu sein», erzählt Mozarts Frau
Constanze ihrer Schwägerin Nannerl,
als diese sie gleich nach dem Tod
Mozarts aufsucht. Aqua Toffana ist ein
giftiges Gemisch: «Arsen, Blei und
Belladonna», erfährt Nannerl, «Geschmacklos, farblos. Tödlich.»
Vom ängstlichen Verhalten
seiner Freunde und von musikalischen Mitstreitern irritiert und von flapsigen Kommentaren seiner Feinde
und Schuldner angestachelt, wittert Mozarts
Schwester Nannerl hinter
dem Tod ihres Bruders
ein Geheimnis, das sie
mit unerbittlicher Entschlossenheit aufdeckt.
Sie verschafft sich Zugang zum Theatermilieu
ebenso wie zu den adligen Kreisen von Mozarts Gönnern, deckt
Streitigkeiten zwischen
Freimaurerlogen
und
Auseinandersetzungen
zwischen
gegensätzlichen politischen Kräften
auf – und erlebt ein Liebesabenteuer, das ihrem Leben
die langersehnte Würze verleiht. In detektivischer Kleinarbeit entwirrt Nannerl ein
Geflecht von erotischer Eifersucht, künstlerischem Neid und
politischer Konkurrenz, bis sie den
wirklichen Grund für das tödliche
Komplott gegen Mozart erkennt und
den Schuldigen stellt.
Matt Beynon Rees: Mozarts letzte Arie.
Kriminalroman. Aus dem Englischen
von Klaus Modick. C. H. Beck,
München 2012. 317 Seiten, Fr. 25.90.
Von Stefana Sabin
Schon vor mehr als fünf Jahren
gab Matt Beynon Rees seine
journalistische Tätigkeit auf
(er war Nahostkorrespondent des Nachrichtenmagazins «Time») und etablierte sich als Kriminalschriftsteller. Denn die Mischung
aus genauem Hintergrundwissen und prägnanter Darstellung verlieh seinen Krimis nicht
nur Lokalkolorit, sondern auch eine aufklärerische Dimension –
und sein Hobbydetektiv
Omar Yussuf, der erste
palästinensische Detektiv der Literaturgeschichte, wurde nach nur vier
Romanen zu einer legendären Figur.
In seinem neuen Roman
nun hat Rees das Milieu seiner bisherigen Romane verlassen und ein Abenteuer riskiert: Statt des ihm politisch,
geografisch und zeitgeistig
vertrauten
Territoriums
im
Nahen Osten hat er das aristokratische Wien am Ende des 18. Jahrhunderts zum Schauplatz gemacht. Dabei
ist er der Gattung des Kriminalromans
treu geblieben: Im Mittelpunkt der
Handlung steht ein rätselhafter Tod, der
für Mord gehalten wird und dessen Aufklärung die Wiener Gesellschaft erschüttert, weil er auf allerlei Intrigen
hinweist.
Und es ist kein alltäglicher Tod beziehungsweise kein einfacher Mord, der im
zeitlich fernen kaiserlichen Wien stattgefunden hat und nun fiktional aufgeklärt wird, sondern es ist einer der berühmtesten Todesfälle der europäischen
Geschichte: der Tod Mozarts.
Tod durch Vergiften?
BRIDGEMAN ART
Bis heute ist die Ursache von Mozarts
frühem Tod – er war erst 35 Jahre alt –
nicht mit letzter Sicherheit geklärt.
Ärzte haben immer wieder die medizinischen Indizien, Historiker die zeitgeschichtlichen Konflikte zu Spekulationen aufbereitet, und Romanciers und
Dramatiker haben ihrerseits romantische Verstrickungen und kulturpolitische Intrigen gesehen, die eine Ermordung erklären könnten. Mit einem Stück
des russischen Dichters Alexander
Puschkin ging 1832 die Vorstellung, Mozart sei von dem Hofkomponisten Salieri vergiftet worden, ins allgemeine Bewusstsein ein.
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
Salieri war
auch in dem
Stück «Amadeus» (1979) des englischen Dramatikers
Peter Schaffer der Übeltäter: Auf dem
Sterbebett gibt Salieri zu, Mozart zwar
nicht vergiftet, aber ihn durch eine böswillige Irreführung in den Tod getrieben
zu haben. Schaffers «Amadeus» und vor
allem die enorm erfolgreiche Verfilmung
des Stücks durch Milos Forman 1984
schürten die Spekulation, Mozart sei ermordet worden.
Der Roman von Rees bietet eine neue
Variante dieser Spekulation: Mozart sei
in ein Netz aus preussischen Doppelspionen, Agenten der kaiserlichen Geheimpolizei und freimaurerischen Logenbrüdern geraten, von allen Seiten unter
Druck gesetzt und schliesslich umgebracht worden. Zwar hatte der Arzt, der
ihn zuletzt behandelte, ein «hitziges
Frieselfieber» diagnostiziert und somit
eine medizinische Ursache für den
überraschenden Tod Mozarts festgehalten, aber es gab auch Kreise in Wien, in
denen von Vergiftung und Ermordung
gemunkelt wurde. Und zuletzt hatte sich
Mozart selber bedroht gefühlt. «Er be-
Nur bedingt glaubwürdig
Wolfgang Amadeus
Mozart (1756–1791)
soll in Agentenkreise
verstrickt gewesen
sein. Hier mit seiner
Schwester Nannerl,
die das Rätsel um
seinen Tod lösen wird.
Die Szene, in der – wie in einem klassischen Krimi – der Mörder öffentlich
blossgestellt wird, findet vor dem Kaiser
statt: Nannerl spielt Klavierstücke ihres
Bruders, und die Kraft der Musik macht
dem Mörder die Ungeheuerlichkeit seiner Tat deutlich.
Rees ist ein versierter Krimischriftsteller, und es gelingt ihm, Spannung
aufzubauen, Verlangsamungsmomente
einzuflechten und eine unerwartete Lösung für den Mord zu finden. Dass es
dabei um Mozarts Tod geht, soll dem
Roman einen besonderen Rang geben.
Aber Rees kann die historische Kulisse,
vor der die Handlung spielt, nicht effektvoll evozieren: Die Beschreibungen
der Wiener Stadtlandschaft sind wenig
suggestiv, die Barone und Prinzen wirken wohlwollend karikaturhaft, und
Nannerl, die sich als Detektivin geriert,
ist in ihrer emanzipatorischen Aufdringlichkeit nur bedingt glaubwürdig.
So fehlt diesem Roman von Matt Beynon Rees gerade jener Reiz, der seine
Omar-Yussuf-Krimis besonders macht:
Lokalkolorit und ein aufklärerischer Impuls, der durch die detektivische Handlung hindurchschimmert. ●
Literarische Reportage Die US-Filmerin Miranda July porträtiert skurrile Kleininserenten
Schräge Typen ohne Ende
Miranda July: Es findet dich. Aus dem
Amerikanischen von Clara Drechsler
und Harald Hellmann. Mit Fotografien
von Brigitte Sire. Diogenes, Zürich 2012.
224 Seiten, Fr. 38.90.
2009 versucht Miranda July für ihren
zweiten Spielfilm «The Future» (2011)
den Zustand eines Mitdreissiger-Paars
in einer Sinnkrise zu erfassen. Das Drehbuch ist fast fertig, als sie in ihrem
Schreibprozess stagniert, stundenlang
ihren eigenen Namen googelt und in
einem billigen Inseratenheftchen blättert, in dem Bewohner von L. A. Lederjacken, Leopardenbabys und Haarföhns
anbieten.
Getrieben von ihrem Interesse für die
Tagesabläufe, Hoffnungen und Ängste
der Menschen hinter den Objekten setzt
sie sich über den unausgesprochenen
Grundsatz hinweg, dass man bei Anzeigen «die Nummer nur anrufen darf, um
über den angebotenen Artikel zu reden»,
und beschliesst in einer verblüffenden
Mischung aus Schüchternheit und
draufgängerischer Offenheit, jeden Inserenten zu treffen, der zu einem Gespräch bereit ist. In der Folge trifft die
HUEBNER / DAVIDS
Von Simone von Büren
Miranda July interessiert, wie sich Menschen durchs Leben schlagen.
Filmemacherin, Performerin und Autorin zehn Leute, denen sie sonst nie begegnen würde: Leute, die keinen Computer haben und denen fünf Dollar den
Aufwand eines Inserats wert sind. Sie
trifft einen Rentner, der für eine Geschlechtsumwandlung spart; einen Mitdreissiger, der nackte Schaufensterpuppen transportiert; einen Kubaner, der in
verstörenden Collagen von Mädchen,
Babys und Autos seine geheimen Träume zum Ausdruck bringt. Sie bewundert
die Kaulquappen eines Te enagers in der
Wüste und zittert im Wohnzimmer
eines Manns mit Fussfessel, «in dessen
Wohnung man unter gar keinen Umständen landen will».
Die Idee, die schrägen Figuren in
ihren Film einzubauen, verwirft sie bald.
Nur ein über 80-Jähriger, der seiner Frau
schon seit Jahrzehnten unanständige
Valentinskarten schreibt, kommt am
Ende in «The Future» vor. Aber liegenlassen konnte die gefeierte Ve rtreterin
der antielitären amerikanischen Do-ityourself-Kunstszene die Geschichten
und Gesichter offenbar auch nicht. «Es
findet dich» gibt Auszüge der Gespräche wieder und Fotos der Inserenten,
ihrer Häuser und Artikel. Dazu bringt
sich July gewohnt selbstironisch ein:
ihre sensible Wahrnehmung, ihre lebhafte Fantasie und ihre eigenwilligen
Gedanken über die ungewöhnlichen Begegnungen.
«Eigentlich möchte ich immer nur
eins wissen, nämlich, wie andere Menschen durchs Leben kommen», gesteht
die 38-Jährige. Mit ihrem liebevoll gestalteten Buch gibt sie nicht nur Einblick
in die Lebenswirklichkeit der Inserenten, sondern auch in ihre eigene. Und
das ist – wie immer bei Miranda July –
ein Geschenk. ●
Ein Roman · Ein Autor · Zum Entdecken!
Der neue Roman
des Schweizer Autors
Andreas Sommer
400 Seiten
ISBN 978-3-7844-3290-8
CHF 29,90 (UVP)
Eine Liebe ohne Chance
in einem Dorf voller Hass.
Bis eine mutige Frau beschließt,
ein Tabu zu brechen …
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Filmtrailer und Leseprobe:
www.andreassommer.ch
LangenMüller
400 Seiten
ISBN 978-3-7844-3290-8
CHF 29,90 (UVP)
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Reisebericht Der grosse Erzähler Patrick Leigh Fermor sieht sich in Nordgriechenland um
Auf Homers Spuren
Patrick Leigh Fermor: Rumeli. Reisen im
Norden Griechenlands. Aus dem
Englischen von Manfred Allié und
Gabriele Kempf-Allié. Dörlemann,
Zürich 2012. 420 Seiten, Fr. 36.Ω.
Von Geneviève Lüscher
Wer weiss schon, wo Rumeli liegt?
Zumal die Antwort je nach Zeit und Ansicht ganz unterschiedlich ausfällt. Natürlich hält sich Fermor an eine grosszügige Definition und meint damit ganz
Nordgriechenland, was dem alten Cau-
seur mehr Raum lässt für seine epischen
Ausführungen bis weit zurück in die antike Vorgeschichte. Dabei schildert er –
in der gewohnt vorzüglichen Übersetzung des Ehepaars Allié-Kempf – Eindrücke und Geschehnisse, die er irgendwann zwischen 1935 und 1966 anlässlich
seiner Reisen und Aufenthalte in Griechenland gesammelt hat.
In Griechenland ist Fermor eine Legende, nachdem er als britischer Agent
auf Kreta den Partisanenkampf gegen
die Nazitruppen organisierte und dabei
mehr als ein Husarenstück vollbracht
hat. Seine drei Jahre in den kretischen
Denkbilder Kopfweh in Südkorea
Köpfe und Beine marschieren getrennt durch die
Landschaft, Körper sind Kugeln aus Blutbahnen.
«Brain Ocean 3» ist ein ungemütliches Bild. Die
Malerin Chung Suejin will uns vermitteln, wie unser
Gehirn funktioniert. Die vielen Synapsen, Leitungen,
Schaltstellen, das Geflirr von Impulsen und
Störfeldern, das sich gelegentlich zu Informationen
und mindestens so oft zu Kopfschmerzen verdichtet,
all das möchte die 1969 in Seoul geborene Malerin zu
sichtbaren Formen verdichten. «Unser Bewusstsein
wird zu Bildern, das erlaubt es mir zu sagen, dass
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
Bilder auch ausdrücken, was wir denken und wie wir
fühlen», sagt sie und sucht nach der «Grammatik
dieser Bilder». Geschichten will die in Seoul lebende
Malerin vermeiden. Das verbindet sie mit vielen
anderen der 30 Künstler, die dieser Band vorstellt.
Wer ihn zur Hand nimmt, erhält in Texten und Bildern
einen Eindruck von einer vielfältigen Kunstszene, die
seit einigen Jahren international Erfolge feiert.
Gerhard Mack
Miki Wick Kim: Korean Contemporary Art. Prestel,
München 2012. 192 Seiten, 150 Farbabb., Fr. 66.90.
Bergen tragen Züge einer modernen Illias. Die kretischen Widerstandskämpfer
zeigen ebenso Mut wie Verzweiflung,
Kühnheit wie List – und er selber ist
Held und Homer in einem. Es ist darum
auch kein Zufall, wenn in seinen Erzählungen immer wieder Heroen aus den
griechischen Freiheitskämpfen gegen
die Türken erscheinen. Ihre Spuren finden sich wieder bei den Sarakatsanen,
einem nomadisierenden Hirtenvolk,
dessen Wanderleben zwischen dem Balkan und Anatolien erst durch die Grenzen der modernen Nationalstaaten ein
Ende fand. Eine während Tagen dauernde Hochzeit, die Fermor miterlebte,
scheint in einen traumhaften Nebel gehüllt, wodurch die von weither angereisten, knorrigen Hirtenpatriarchen an die
geheimnisvollen Hochzeitsgäste des
«Grand Meaulnes» bei Alain Fournier
erinnern. In Sprache und Verhalten erscheinen diese schweigsamen Männer
dem englischen Gast als die «allergriechischsten unter den Griechen». Kein
Wunder, dass die geometrischen Muster
auf den Kleidern der Frauen ihn an die
Motive der geometrischen Keramik vor
3000 Jahren erinnern.
Vieles mag vergangen sein. Geblieben
ist die Vorliebe für absurde Geschichten, die sich Griechen gerne ausmalen
und deren Erzählweise sich Fermor zu
eigen macht. So etwa die herrlich unsinnige Diskussion mit dem alten Wirtepaar, warum es in Astakos keinen Hummer gibt, was unmittelbar übergeht in
eine ebenso schnurrige Suche nach den
Pantoffeln Lord Byrons.
Berühmt waren die Männer aus der
Kravarna, die als Bettler weite Streifzüge unternahmen, um mit Goldmünzen
heimzukehren. Auf abenteuerlichen
Wegen gelangen die Bettelargonauten
erst nach Bulgarien, Ungarn und Rumänien, dann durch Russland bis nach
Sankt Petersburg. Und allmählich ahnt
der Leser: Nun ist kein Halten mehr!
Durch Sibirien geht’s bis Wladiwostock,
wo ein armer Kerl steif gefroren in den
Schnee fällt. Weiter geht ja nicht.
Fermor, 1915 in London geboren, wanderte, anstatt die Schule abzuschliessen,
zwischen 1932 und 1935 nach Konstantinopel. Auf dieser Reise dokumentierte
er vieles von einem alten Europa, das
kurz vor seinem Untergang stand. Es
war der Anfang eines abenteuerlichen
Lebens als Geheimagent, Kriegsheld
und Reiseschriftsteller, das erst kürzlich, am 10. Juni 2011, sein Ende gefunden
hat. Im Vorwort von «Rumeli» stellt
Fermor im Jahre 1966 fest, dass sich
Griechenland rasch verändert. Wer
würde dem, im Jahre 2012, nicht zustimmen! Mit Wehmut liest man Fermors
Beschreibungen der Meteoraklöster,
durch die sich heute zu jeder Jahreszeit
lärmende Touristenströme wälzen. Bei
seinem Besuch des Barlaam-Klosters
waren Abt und Diakon so einsam, dass
Kater Makry während der Morgenliturgie beim Umblättern der schweren
Buchseiten noch mithelfen durfte. Das
waren noch Zeiten! ●
Roman Das neue Buch des Schriftstellers und Psychiaters Ernst Augustin ist eine moderne
Robinson-Geschichte ohne roten Faden
Achterbahnfahrten
durch das Bewusstsein
Ständig taucht diese auffällig unauffällige Figur auf, nur um gleich wieder zu
verschwinden. In der Wüste nahe Las
Vegas rettet Robinson dem Tod das
Leben (nachdem er ihn beinahe erschossen hätte), später wird wiederum er vom
Tod gerettet, in einer Mafia-Spelunke in
der Bronx. «Aber fällig bist du, du bist
dran, du bist schon längst dran gewesen», sagt der kleine freundliche Herr,
bevor er sich in die Schiesserei stürzt,
während Robinson mit dem ältesten
Trick der Krimi-Klamottenkiste durchs
Klo-Fenster entkommt.
Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus.
C. H. Beck, München 2012. 319 Seiten,
Fr. 28.50, E-Book 19.40.
Von Sieglinde Geisel
Labyrinthisches Erzählen
Doch diese Phantasmagorie löst sich in
Luft auf, wie alles, was dieser Erzähler
uns auftischt. So wird er von zwei Brüdern verfolgt, doch nachdem er ihnen
wieder einmal knapp entkommen ist,
ruft er ihren Chef an und lässt die beiden feuern. Er lernt Freitag auf dem
Schiff des grausamen Käpten Kuk kennen und stürzt sich zusammen mit dem
Freund ins Meer, um Kuks Misshandlun-
Tod per Tastendruck
JOHN ARMSTRONG-MILLAR / GALLERY STOCK
Der 85-jährige Schriftsteller und Psychiater Ernst Augustin gehört zu den grossen Aussenseitern der deutschen Gegenwartsliteratur. In seinen Romanen
befindet man sich nie auf sicherem
Boden – dies gilt auch für sein neues
Buch «Robinsons blaues Haus». «Lieber
Freitag. Stelle dir einen Mann vor, der
sich nirgendwo befindet: Das bin ich
(…). Der Mann, der sich nirgends befindet, befindet sich überall.» In dieser eigenwilligen Robinsonade gibt es kein
Hier und Dort, kein Vorher und Nachher
und schon gar kein Wahr und Falsch.
Schauplätze, Zeitebenen und Identitäten wechseln, und als der Ich-Erzähler
Robinson wieder in einem Internet-Café
mit Freitag chattet, tippt er: «Lieber
Freitag, zu diesem Zwecke bist du doch
erst erfunden worden, damit du mir
meine Geschichten glaubst.»
Robinson ist ständig damit beschäftigt, sich wohnlich einzurichten. Das
«teefarbene» Licht, der Zimtgeruch der
Wandtäfelung aus teurem Dengue-Holz,
die illuminierte Perlmutt-Zahnbürste
und der Glenfiddich in der Glaskaraffe
– die Insignien des Luxus sind so seltsam wie die Behausungen, in denen sie
auf den Bewohner warten. Eine Besenkammer unter den Gleisen der mecklenburgischen Grevesmühlen, ein Hotelzimmer in Istanbul, eine Zelle im Gruselkabinett London Dungeon («Selbst
die Gummiköpfe waren alle noch vorhanden und blickten mich mit stark abgenutzten Augen an»). In New York will
er sich in den obersten sechs Stockwerken eines Wolkenkratzers ein Penthouse
bauen lassen, nach Plänen eines modischen Architekten («sowohl unbewohnbar als auch preisverdächtig»), deren
Scheusslichkeit nur noch vom schlechten Geschmack des Bauherrn übertroffen wird: «Ich will Marmorbäder, ich
will Wandelgänge mit Gemälden, ich
will eine Empfangshalle, die nach etwas
aussieht.»
Robinson und Freitag
am Strand – oder
bloss Abspaltungen
des Ichs? Der Roman
von Ernst Augustin
lädt den Leser zu
psychologischen
Gedankenspielen ein.
gen zu entgehen – doch dann erfahren
wir, dass er der Besitzer des Schiffs ist.
Sie retten sich auf eine Insel (die einzige greifbare Reminiszenz an Defoes
Roman). Und nachdem Freitag eines
Tages verschwunden ist, stellt Robinson
fest: «Meine eigene Abreise stellte dann
kein Problem dar, in dieser heutigen
Welt» – mit dem Handy bestellt er sich
ein Flugzeug-Taxi.
Begriffe wie «surreal» oder «phantastisch» führen in die Irre, denn in diesem
labyrinthischen Erzählen spiegelt sich
eine psychologische Wirklichkeit. Der
Psychiater Ernst Augustin verstrickt uns
in die paradoxe und unberechenbare
Logik des Albtraums: Die Figuren sind
Abspaltungen des träumenden Ichs, in
dessen Innenwelten wir uns bewegen.
Für eine Figur allerdings scheint diese
Regel nicht zu gelten. Gleich auf der ersten Seite wird uns ein kleiner freundlicher Herr vorgestellt: Er ist der Tod,
doch er lässt seinem Erzähler immerhin
Zeit, seine Angelegenheiten zu regeln.
Die Lektüre ist eine Achterbahnfahrt: Je
leichter es einem fällt, sich von der rationalen Logik zu befreien, desto aufregender ist das Schwindelgefühl, das
einem solche Finten bescheren, zumal
Augustins Sprache ständig durch neue
Register überrascht. Der Ich-Erzähler
spricht uns direkt an, wirft sich in Pose,
kommt im hemdsärmeligem Jargon
daher, und gerade dann, wenn man am
wenigsten darauf gefasst ist, lässt er ein
schockierendes sprachliches Glanzstück aufscheinen: «Unsere liebe Mutter, Ehefrau, Schwester, Schwägerin und
ehemals weisser Geist des Hauses war
nur noch bettlägerig, ein Trauerspiel»,
heisst es in einer Kindheitserinnerung.
Dass die Behausungen, in denen Robinson es sich bequem zu machen versucht, sein eigenes Ich symbolisieren,
erhellt sich erst gegen Ende des Romans.
Behausungen sind Welten, einmal bewohnt Robinson ein Haus, das hinten
auf einen Weihnachtsmarkt hinaus geht
und vorne aufs Korallenmeer. Schliesslich landet Robinson auf «Skull Island»,
und hier baut er sich, in einer schädelartigen Höhle, sein letztes Heim. Das Haus
hat viel Platz «für Banalitäten als auch
für das Erhabene» und verschiedene
Schlafräume, «je nach Gemütslage, mit
und ohne Träume». Ein Keller fehlt,
stattdessen gurgeln unter dem Haus
schwarze Wasser. «Das sind meine
Ängste, die dort herumschwimmen, die
verdrückten Gefühle, die Süchte und
das ganze Leid.»
Der freundliche kleine Herr setzt
dem Spuk, der das Leben offenbar ist,
mit einer verblüffenden Metapher ein
Ende. Während des ganzen Buchs taucht
die Vorstellung, das Bewusstsein sei nur
eine Computerfunktion, immer wieder
auf – nun schlägt dieses vermeintliche
Gedankenspiel in abgründigen Ernst
um. Ein Tastendruck – und die virtual
reality auf dem Festplatten-Ich wird gelöscht, unwiderruflich. In einem Bewusstseinsroman gibt es keinen handelsüblichen Heldentod: Mit Robinsons
Tod erlischt die ganze Romanwelt. ●
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Erzählung Der Bündner Arno Camenisch berichtet vielstimmig und hinreissend vom Stammtisch in
einer Dorfbeiz, die ein letztes Mal ausschenkt
«Jo kasch tenka!» – «Sep mein i au»
Arno Camenisch: Ustrinkata.
Engeler-Verlag, Solothurn 2012.
100 Seiten, Fr. 25.–.
Von Martin Zingg
«Schon nicht zu verstehen, ohne ‹Helvezia›, sperren zu nach hundert Jahren,
und dann soll man noch wissen was anstellen den ganzen Tag», sagt Otto. Otto
sitzt in der «Helvezia», am runden
Stammtisch. Dort sitzen auch Luis, der
als Indianer verkleidete Isidor, Alexi
und Silvia, die sich ständig neue «Caffefertic» zubereitet. Es werden im Lauf
der Stunden noch weitere Gäste hinzustossen, der Giacasep etwa, Gion Baretta, Romedi. Und die Wirtin wird unermüdlich Getränke nachreichen, Bier
und Härteres.
Die «Helvezia» soll geschlossen werden, für immer, aber bevor hier etwas zu
Ende gehen kann, geht es zunächst einmal fröhlich weiter: Die «Ustrinkata»
versammelt eine kleine Runde aus
einem ungenannten Bündner Dorf um
einen Tisch, wo sie «austrinken» – und
reden und schweigen, ein letztes Mal.
Es sitzen geeichte Trinker am Stammtisch, das macht die Frequenz der Bestellungen schnell deutlich. Und sie erzählen, sie erinnern sich, sie prahlen, sie
spotten, sie schweigen vielsagend und
fallen einander ins Wort, und zuweilen
werden sie melancholisch, wenn auch
nie für lange. Sie kennen einander seit
Ewigkeiten, und immer noch haben sie
etwas zu erzählen, in einem Idiom, das
leicht kontaminiert ist vom surselvischen Rätoromanischen und Bündnerischen und das einen ganz unwiderstehlichen Charme hat.
In dem Stimmengeflecht, das sich allmählich entwickelt und das über assoziative Wucherungen immer dichter und
breiter wird, kommt buchstäblich alles
zur Sprache. Da es schon seit Tagen regnet, drängen zwangsläufig Erinnerungen hoch an üble Katastrophen, die das
Dorf in vergangenen Zeiten erlebt hat,
an rutschende Hänge oder an Lawinenniedergänge. Es sind tief sitzende, hartnäckig wiederkehrende Bilder, die beschworen werden, unklar ist allein die
Datierung. Ob jener verheerende Steinschlag im Jahr 1927 war oder schon früher, 1925, darüber muss noch verhandelt
werden. 1925 setzt sich endlich durch,
«sep mein i au».
Die Vergangenheit scheint immer
nah, und bisweilen sind längst verstorbene Menschen genauso gegenwärtig
wie die noch Lebenden. So gab es im
Dorf vor Zeiten einmal einen Dichter,
Gion Bi, dem die Runde einmütig zugute
hält, dass er nichts erfunden hat: er habe
alles «dem Leben abgeschrieben». Und
es kann nicht überraschen, dass die
Rede auch auf die Auf- und Ausbruchs10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
YVONNE BÖHLER
Zum letzten Mal austrinken
Arno Camenisch,
empathischer
Erzähler mit einem
Ohr für den Klang der
Sprache, schliesst mit
«Ustrinkata» seine
Bündner Trilogie ab
(Aufnahme 2011).
versuche jener Dorfbewohner kommt,
die ihr Glück ausserhalb des Angestammten gesucht haben. Einige sind
gar bis in die USA gereist, und natürlich
hat das nicht viel gebracht, «jo kasch
tenka». Glück ist jenseits des Dorfes
kaum zu finden, das scheint in dieser
Runde eine ausgemachte Sache. Bitte:
Wozu soll man denn von hier weg?
Warum in Genf Möbel herumtragen,
wenn man dies auch hier machen kann?
Neuzuzüger im Dorf
Zu reden geben umgekehrt auch jene,
die neu ins Dorf gekommen sind, einmal
wird gar «ein Zugezogener aus dem
Nachbarsdorf» erwähnt. Oder, schlimmer noch, ein Unterländer, der seine Arbeit als «Günäkolog» aufgegeben hat
und nun im Dorf als Bauer arbeitet. Dass
der Arglose einmal die unsichtbaren,
aber darum nicht minder gut bewachten
Grenzen seines Grundbesitzes beim
Mähen ein wenig überschritten hat,
zahlt ihm sein Nachbar auf gnadenlose
Weise heim. Pardon wird nicht gegeben,
die Regeln sind mitunter streng, auch in
der Gesprächsrunde. Der «Frisör» Alexi
bekommt, weil er im Augenblick kein
Bier trinken mag, deswegen allerhand
Schmähendes zu hören, und nachdem
der Busfahrer Romedi am Ende seiner
Pause die Runde verlassen hat, um – vermutlich nicht mehr ganz nüchtern – eine
nächste Fahrt zu unternehmen, wird sofort über ihn und seine Fahrkünste gelästert. Auch hier haben die Abwesenden Unrecht, wie wohl in jeder Runde.
In «Ustrinkata», Arno Camenischs drit-
tem Prosaband, entfaltet sich auf knapp
hundert Seiten ein ganzes Universum.
Camenisch erzählt mit viel Geduld
und Empathie, mit einem unglaublich
wachsamen Ohr auch für den Klang der
Sprache und für die präzis placierten
Beiläufigkeiten der Konversation. Da
ballen sich Wortwitz und Sarkasmus,
und immer wieder blitzen berückende
Lebensklugheiten auf. Camenischs Figuren wissen sehr gut damit umzugehen,
dass hier etwas zu Ende geht, und zwar
mehr als nur eine Beiz. Für diese Ustrinkata-Runde hat der Tod seinen Stachel
längst verloren. Und dennoch wird nicht
die Vergänglichkeit gefeiert – und wenn
schon, ist weniger der Tod das Thema
als vielmehr das Vergehen und Sterben.
Und dieses kann dauern, das zeigt die
Grossmutter, die sogar Mühe mit dem
Schlafen hat. «Treis Schnaps», drei
Schnäpse bekommt sie, damit sie sich
ein wenig hinlegen kann, «und wenn das
nicht hilft, dann lasse ich die Kassette
mit den Kirchenglocken laufen, auch
wenn Sonntag erst übermorgen ist, und
sie schläft ein sofort.»
Mit «Ustrinkata» rundet Arno Camenisch seine bisherigen Prosawerke zu
einer Trilogie. «Sez Ner» steht am Anfang, ein zweisprachiger Text, der von
einem Sommer auf der Alp Stavonas erzählt. «Hinter dem Bahnhof» gilt dem
kleinen Dorf in der Surselva: Es ist der
Ort, wo die «Helvezia» ein letztes Mal
geöffnet hat. «Ustrinkata» erzählt davon
auf bewegende Weise. Unglaublich, was
man aus diesem schmalen Werk alles erfahren kann! ●
E-Krimi des Monats
Das Schweigen der Mädchen
Tess Gerritsen: Grabesstille. Limes,
DEREK HENTHORN
München 2012. 448 Seiten, Fr. 28.50,
E-Book 19.40.
Nein, es gibt nicht viele Gründe, die
beiden Frauen sympathisch zu finden.
Detective Jane Rizzoli ist verbissen
ehrgeizig, oft argwöhnisch, immer wieder unzufrieden mit sich selbst und
überdies etwas zu klein und zu plump
geraten. Die Rechtsmedizinerin Maura
Isles ist kühl und unnahbar, superkorrekt und – beinahe – fehlerfrei. Trotzdem schaffen es die beiden Hauptfiguren in Tess Gerritsens Thrillerserie,
dass man gebannt mitverfolgt, was
ihnen im Beruf widerfährt und ihnen
das Leben so bringt. Denn eines sind
sie: authentisch.
In ihrem neusten Fall, «Grabesstille», landet eine abgetrennte Hand vor
ihren Füssen. Sie liegt auf einem Gehsteig in Bostons China-Town. Die dazugehörige Leiche findet Rizzoli etliche Stockwerke höher auf einem
Flachdach, mit aufgeschlitzter Kehle:
Eine Profikillerin, die selbst zum Opfer
wurde. Damit nimmt eine rasante Geschichte ihren Anfang, die mit Leichen
gepflastert ist und in der schliesslich
um ein Haar auch Rizzoli auf der Strecke bleibt – würde sie nicht von einem
scheinbar sagenhaften Wesen gerettet,
indem dieses ihren Widersacher kurzerhand enthauptet. Wer's nicht blutig
mag, wird sich nicht wohl fühlen in
den Welten von Tess Gerritsen, der
ehemaligen Ärztin.
In «Grabesstille» scheint sich alles
um einen Amoklauf zu drehen, der
sich vor 19 Jahren in einem China-Restaurant zugetragen hat. Und um eine
Kampfkunstsportlerin, die dabei ihren
Mann verlor und noch immer nach der
Wahrheit sucht. Erst nach 300 Seiten
zeigt sich, dass es eigentlich um einen
viel spannenderen Fall geht, um Mädchen, die verschwanden – bedauerlich,
dass diese Geschichte zu kurz kommt.
Schade auch, dass nach der nicht vorhersehbaren Lösung des Falls wenig
über Hintergrund und Motiv zu erfahren ist.
«Grabesstille» ist nicht
Tess Gerritsens bestes Buch,
aber ihr persönlichstes; es
spielt in jener Welt, in der
die chinesisch-stämmige
US-Autorin aufwuchs
und einen realen Mord
in ihrer Bekanntschaft
erlebte. An die ersten
Rizzoli-Fälle kommt das
neue Buch nicht heran –
dafür sind diese jetzt
auch anders zu haben:
Seit Mitte März ermitteln
«Rizzoli & Isles» mittwochs bei «Vox». Noch
muss sich weisen, ob
die zu schöne TVRizzoli ebenso viel
drauf hat wie ihr
kantiges Vorbild. ●
Von Christine Brand
Kurzkritiken Belletristik
Fred Vargas: Die Nacht des Zorns.
Kriminalroman. Aufbau, Berlin 2012.
454 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 21.80.
Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins.
Skizzen. Hrsg. Klaus Reichert. S. Fischer,
Frankfurt a. M. 2012. 253 Seiten, Fr. 36.50.
Ach, wie oft hat man die Krimis der
Französin, die eigentlich Mittelalter-Archäologin ist und Frédérique AudoinRouzeau heisst, empfohlen. Von ganzem
Herzen! Bei Fred Vargas ist nicht der
Plot König, sondern der mäandrierende
Duktus, der ganz den skurrilen Figuren
entspricht. Von Magie hat man bei dieser Autorin stets geschwärmt. Wie enttäuscht ist man aber von ihrem neuen
Buch mit dem unsympathisch-sympathischen
Kommissar
Jean-Baptiste
Adamsberg. Der Fall ist verzwickt, doch
alle Gedanken, alle Schrullen werden erklärt, das Geschehen wird plump ausformuliert, damit auch ja kein Leser ins
Nachdenken kommt. «Wolkenschaufler» Adamsberg, der seine Fälle gewissermassen aus den Augenwinkeln und
halbwegs genialisch löst, ist in «Die
Nacht des Zorns» leider nur noch ein
ganz gewöhnlicher Flic.
Regula Freuler
Drei verschiedene Textgruppen umfasst
dieser Band mit autobiografischen Skizzen der britischen Erzählerin Virginia
Woolf (1882–1941), die mit Proust und
Joyce zu den stilbildenden Figuren ihrer
Epoche gehört. Da sind zunächst die frühen Reminiszenzen an ihre Kindheit und
Jugend, deren Niederschrift sie als 25-Jährige begann. Ihnen gegenüber stehen umfangreichere, späte Notizen zum gleichen
Thema, an denen sie bis kurz vor ihrem
Freitod arbeitete. Diese sehr persönlichen, nicht für die Öffentlichkeit geschriebenen Aufzeichnungen zeigen Virginia Woolf auf der Suche nach den Epiphanien des Alltags, den Momenten
einer glückhaft gesteigerten Existenz.
Das Mittelstück bilden Beiträge für die
legendäre «Bloomsbury Group». Sie berichten von den Anfängen dieses literarischen Zirkels und zeigen die Autorin von
ihrer scharfsichtigen, spöttischen Seite.
Manfred Papst
Milena Moser: Montagsmenschen.
Roman. Nagel & Kimche, Zürich 2012.
394 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 19.40.
Albin Zollinger: Die grosse Unruhe.
Roman. Hrsg. Dominik Müller. Chronos,
Zürich 2012. 233 Seiten, Fr. 38.–.
Mit ihrem Buch «Gebrochene Herzen
oder Mein erster bis elfter Mord» hat Milena Moser einst jenem Genre den Weg
geebnet, das unter dem Label «Freche
Frauen» Geschichten versammelt, in
denen Männer frisch fröhlich ermordet
werden. Die gelernte Buchhändlerin hat
Chick-Lit geschrieben, bevor dieses
Genre aus dem Angelsächsischen zu uns
wanderte, im Rucksack von TV-Serien
wie «Sex and the City». Das war neu und
eine Art von lustvollem Feminismus, den
man gerne teilte. Seither sind 22 Jahre ins
Land gegangen, und Chick-Lit gehört
zum Mainstream. Das gilt auch für Yoga,
Mosers Passion, die sie schon mehrfach
literarisch ausgelebt hat. In «Montagsmenschen» wirft sie nun einen kritischen
Blick auf scheinheilige Gurus und verzweifelte Wechseljährige. Auch wenn
ihre Frauen nicht mehr ganz so frech sind
und ziemlich Rost angesetzt haben: Sie
kommen einem nah.
Regula Freuler
Um den grossen Schweizer Erzähler
Albin Zollinger (1895–1941) ist es seit
dem Abschluss der sechsbändigen Artemis-Werkausgabe (1981–1984) still geworden. In jüngerer Zeit war kein einziges seiner Bücher mehr lieferbar. Das
ändert sich nun mit dieser sorgsam kommentierten, mit einem klugen Nachwort
versehenen Neuedition des Romans
«Die grosse Unruhe». Das Ende 1939 erschienene Werk ist der mittlere von
Zollingers fünf Romanen – und wohl
sein kühnster. Er erzählt von einem Berner Architekten, der aus seiner Ehe ausbricht und in Paris, wo er sich mit Menschen der internationalen Bohème anfreundet, nach sexuellen Abenteuern
sucht. Der Roman spielt vor dem Hintergrund von Hitlers Machtergreifung und
den Pariser Unruhen, führt aber auch
nach Berlin, Wien und Argentinien. Er
überrascht durch Weltoffenheit, dynamischen Duktus, poetische Sprache.
Manfred Papst
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Kann die Marktwirtschaft Hunger, Arbeitslosigkeit und Klimakatastrophen
überwinden? Oder muss der Kapitalismus selbst überwunden werden? Und
wenn ja, von wem, wann und wie? Ein Streifzug durch neue Literatur zur
wirtschaftlichen Situation. Von Peter Bodenmann
Der grüne Kapitalismus
steht vor der Tür
In meiner Jugend waren im Westen alle Keynesianer. Und fast alle voller Optimismus: Das
Heute war gut und das Morgen versprach Fortschritt; der fossile Fordismus galt als Motor des
rheinischen Kapitalismus, der unter dem Druck
der Sowjetunion und der eigenen Arbeiterbewegung stand.
In den letzten 50 Jahren hat sich mehr verändert, als wir damals zu träumen wagten: Drei
neue, sichere Volvos saufen so viel Most wie
damals ein unsicherer VW Käfer. Jeder auf dem
Dachboden entsorgte Computer hat mehr Leistung als die einstigen lochkartengesteuerten
IBM-Rechenzentren der ETH. Neue Häuser
produzieren nächstens mehr Energie als ihre
Bewohner brauchen. Und unsere Hüftgelenke
werden heute akkurater ersetzt als früher die
Stossdämpfer am Auto.
Dank Wissenschaft und Forschung müssten
wir uns eigentlich dem nähern, was für die
Peter Bodenmann
meisten von uns einst als Paradies erschien:
Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und
Wohlstand für alle.
Der Kunstmaler Hans Erni, zeitlebens ein
Freund des Fortschritts, ist 103 Jahr alt. Und arbeitet unermüdlich weiter. Der französische
Diplomat Stéphane Hessel ist nur acht Jahre
jünger. Mehr als 5 Millionen Mal ging seine erst
2010 verfasste, kapitalismuskritische Broschüre
«Indignez-Vous» über die Ladentische.
Für seinen Freund Manfred Flügge ist «Stéphane Hessel ein glücklicher Rebell». In seinem gleichnamigen Buch – erschienen im einst
kommunistischen Aufbauverlag – erzählt Flügge das Leben dieses leichtfüssigen Wanderers
zwischen den Welten.
In Berlin geboren war Hessel im Zweiten
Weltkrieg ein Mann des Widerstands. Vom Exil
in London ging der Gaullist zurück in das noch
nicht befreite Paris, wurde verraten, landete im
Konzentrationslager. Überlebte. Wurde Diplomat unter mehreren französischen Regierungen. Wichtig, aber nie ganz wichtig. Aus dem
Gaullisten wurde ein Sozialist, ein Freund von
Michel Rocard. Martine Aubry als Präsidentschaftskandidatin wäre Hessel lieber gewesen
als François Hollande. Und den Dominique
Strauss-Kahn mochte er nie.
Hessels Manifest ist keine scharfsinnige Analyse des Kapitalismus. Sein Erfolg spiegelt die
Schwäche der Linken, ihrer Theoretiker und
ihrer Handwerker.
THOMAS ANDENMATTEN
Woher kommt der Profit?
Peter Bodenmann ist 1952 in Brig geboren. Er
studierte Rechtswissenschaft an der Universität
Zürich. Von 1987 bis 1997 sass Bodenmann im
Nationalrat, von 1990 bis 1997 war er Präsident
der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz.
Seit seinem Ausstieg aus der Politik ist Peter
Bodenmann Hotelier in Brig, seit 2002 verfasst
er Kolumnen für verschiedene Medien.
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
Szenenwechsel: In Frankreich bilden Comics
und satirische Zeitungen wie der «Canard Enchainé» und der dank seinem Direktor Charb
noch frechere «Charlie Hebdo» Bestandteil von
Kultur und Politik, sind Teil der politischen Kultur. Der Wirtschaftswissenschafter und Statistiker Michel Husson war einst Mitglied der Vierten Internationale. Er ist heute einer der produktivsten Autoren links der Sozialdemokratie. Sein
neuestes Buch heisst «Le Capitalisme en 10 Leçons». Und Charb von «Charlie Hebdo» hat dieses bitterböse illustriert. Eine im deutschen
Sprachraum so undenkbare Mischung.
Woher hat der Kapitalismus seinen Namen?
Woher kommt der Profit? Warum sind die Reichen reich? Welche Bedürfnisse haben wir?
Was ist eine Ware? Ist grüner Kapitalismus
denkbar? Wohin führt uns die Globalisierung?
Wem dient das neoliberale Europa? Was ist eine
Krise? Warum fahren wir in die Mauer?
Hussons Buch ist eine spannende Reise entlang dieser nur scheinbar banalen Fragen. Er
greift zurück auf Marx, referiert die seitherige
Wirtschaftsgeschichte und neue Erkenntnisse.
Der Kapitalismus steckt in den USA, Europa
und Japan in einer tiefen Krise. Im Gegensatz
Seit Anfang der 70er-Jahre
werden die Reichen reicher,
es wird weniger investiert,
das Wachstum verlangsamt
sich und die Arbeitslosigkeit
steigt stetig.
zu Ländern wie China, Indien und Brasilien.
Während der verbleibende Rest der Menschheit auf den Zuschauerbänken verhungert.
Während der goldenen 30 Jahre zwischen
1945 und der Krise Mitte der 70er-Jahre war für
einen kurzen Moment alles besser: Das Wachstum betrug fünf Prozent. Die Produktivität
stieg – genau wie die Gewinne und die Löhne
– um fünf Prozent. Die Inflation baute Schulden
ab und erleichterte Anpassungsprozesse. Die
Spirale dreht sich aber seit Anfang der 70erJahre, seit der alles entscheidenden Verlangsamung des Wachstums der Produktivität, in die
falsche Richtung. Der Übergang vom Fordismus zum Neoliberalismus veränderte den Kapitalismus: Das Finanzkapital bestimmte seither den Gang der Akkumulation. Die Informationstechnologien trieben den technischen
Fortschritt voran. Die Flexibilisierung der Arbeitskraft ersetzte den sozialen Kompromiss,
die Globalisierung die bisherigen internationalen Beziehungen zwischen Staaten.
Marx und Engels
Die Folgen: Die Reichen werden reicher. Der
Anteil der Löhne an den Bruttoinlandprodukten geht zurück. Es wird weniger investiert. Das
Wachstum verlangsamt sich. Die Arbeitslosigkeit steigt.
Wenige bewunderten die zerstörerische
Kraft des sich in und mittels Krisen erfolgreich
KAI NEDDEN / LAIF
Aufstand gegen die Finanzmärkte: Protestbewegung Occupy Wall Street im Zuccotti Park in New York, Herbst 2011.
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
RIA NOVOSTI / KEYSTONE
dass verschiedene Formen des Kapitalismus Instrumente zur Lösung oder zur Verschärfung
unsere Probleme sind. Und drittens die demokratische Wahl der richtigen Therapie.
Leider weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit erscheint in Zürich zweimal jährlich die Zeitschrift «Widerspruch». Herausgegeben von dem aus Brig stammenden PierreAlain Franzen. Die 61. Ausgabe des «Widerspruchs» ist dem Thema «Diktatur der Finanzmärkte, EU-Krise und Widerstand» gewidmet.
Neben Marxisten wie Joachim Bischof kommen
auch wachstumskritische Keynesianer wie
Werner Vontobel zu Wort: Die Schulden der
einen sind die Vermögen der anderen, weil die
Saldi volkswirtschaftlich immer auf Null aufgehen. Die Unternehmen machen zu hohe Gewinne. Umgekehrt müssen sich die privaten Haushalte und Staaten zu stark verschulden. Dies
alles, weil die realen Zinsen höher sind als das
reale Wachstum pro Jahr. Vontobels etwas pathetische Schlussfolgerung: «Am Ende der
Durststrecke liegt das Ende der Marktwirtschaft … Zeit, dass die Ökonomen endlich das
Handwerk lernen.»
Wirtschaftspolitische Fehler
Bewunderten die Kraft des Kapitalismus: Friedrich Engels (links) und Karl Marx mit seinen Töchtern, London 1864.
entwickelnden Kapitalismus mehr als Marx
und Engels. Diese Faszination teilt Husson,
wenn er im Rückspiegel die Entwicklung der
letzten 150 Jahre nachzeichnet.
Umso erstaunlicher: Husson traut dem Kapitalismus den notwendigen ökologischen Umbau nicht zu. Grüner Kapitalismus scheint ihm
unwahrscheinlich und unmöglich zugleich. Die
Fakten legen andere Schlüsse nahe: Vor 2020
wird Solarstrom günstiger sein als Kohlestrom.
Vor 2025 werden Batterien Strom dezentral und
kostengünstig speichern. Nach Dampfmaschinen, Autos und Computern werden Solarzellen
und Batterien ein neues Zeitalter der Akkumulation im doppelten Wortsinn einläuten: Die
zweite, die grüne Elektrifizierung des Kapitalismus steht vor der Haustür. Vielleicht, aber
immer wahrscheinlicher.
Für die Rechten braucht es noch mehr Angebotspolitik, noch mehr Ungleichheit. Für die
Keynesianer mehr Regulation. Und für Marxisten wie Husson leidet der Kapitalismus unheilbar an seinem Widerspruch. Für Husson müssten nachkapitalistische Gesellschaften deshalb
das Kapital sozialisieren und demokratisieren.
Dabei könnten Marktmechanismen bei der
Steuerung helfen. Die Alternative bleibt vage,
ungenau und eröffnet keine wirklich tragfähigen Perspektiven.
Noch entwickelt sich
Kapitalismuskritik nach
Sprachräumen getrennt.
Das ist unverständlich im
Zeitalter der Globalisierung.
Es zeigt die Marginalisierung
des linken Diskurses.
Wer Marx weiter denken, oder wer den Marxismus kompetent kritisieren will, kommt
trotzdem um dieses Buch nicht herum. Hoffentlich erscheint es bald auf Deutsch und Englisch.
Denn noch entwickelt sich Kapitalismuskritik
nach Sprachräumen getrennt und deshalb arg
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
unterschiedlich. Unverständlich im Zeitalter
der Globalisierung und zugleich Zeichen der
Marginalisierung des linken Diskurses.
Sonst wäre das weitgehend faktenfreie Buch
des Philosophen Terry Eagleton «Warum Marx
recht hat» so nie geschrieben und vorab so nie
publiziert worden. Eagleton über den Kommunismus: «Insofern lässt sich schon behaupten,
dass eine kommunistische Gesellschaft alles in
allem wohl mehr moralisch höher entwickelte
Menschen hervorbrächte, als wir gegenwärtig
vorzuweisen haben.» Eagleton über Marx: «Ist
irgendein Philosoph jemals so entstellt worden?» Wie unfreiwillig recht er hat, der gute
Eagleton.
Vertrauensschwund
Der unverdächtige Schweizer Ökonom Thomas
Straubhaar schrieb Anfang März 2012 in der
deutschen «Financial Times»: «Ich traue den
alten Weisheiten nicht mehr, die mich geprägt
haben – nachdem sich einige dieser Weisheiten
empirisch als falsch erwiesen haben.»
Genau um die Zerstörung dieser vermeintlichen Weisheiten geht es dem Chefökonomen
der Unctad, Heiner Flassbeck, in seinem neuen
Buch «Zehn Mythen der Krise». Wer nach 30
Jahren neoliberaler Hirnwäsche weiter auf den
Kapitalismus setzt, müsste in der Logik von
Peter Bofinger, einer keynesianischen Referenz, Heiner Flassbeck und Co. eine neue Wirtschaftspolitik einfordern. Dies auf der Basis
folgender Erkenntnisse: Deregulierte Finanzmärkte sind ineffizient. Wenn die europäischen
Regierungen so weiter machen, droht eine
Krise wie in den 30er-Jahren. Die Staatsschulden sind nicht das ursächliche Problem. Sondern die ungleiche Verteilung von Einkommen
und Vermögen. Die Mehrheit der Menschen
lebt in Deutschland und der Schweiz nicht über,
sondern unter unseren Verhältnissen. Die
Deutschen machten mit Tieflohnpolitik die EU
und den Euro kaputt. Ohne koordinierte Lohnund Finanzpolitik, ohne Transferunion scheitert der Euro.
Für den zunehmend etwas resignierenden
Flassbeck braucht es heute drei Dinge: Erstens
die richtige ideologiefreie Diagnose der bestehenden Probleme. Zweitens die Erkenntnis,
Die Sozialdemokratie wurde – Tony Blair und
Gerhard Schröder lassen grüssen – neoliberal. Die zu schwachen Parteien links der
heutigen Sozialdemokratie – Oskar Lafontaine
grüsst zurück – werden zunehmend sozialdemokratischer. Technokraten des Kapitals übernehmen anstelle von Parteien vorerst in Griechenland und Italien die Regierungsgeschäfte.
Gehen Demokratie, soziale Gerechtigkeit und
Sachverstand gemeinsam den Bach runter?
Die Erfahrungen der letzten Jahre und Monate zeigen: Relevante Politik wird in relevanten
Räumen gemacht. In Europa, somit in der EU.
Wegen der stark nachwirkenden neoliberalen
Kopfkrankheiten macht Europa – angeleitet
durch Angela Merkel – wirtschaftspolitisch zuerst immer alle denkbaren Fehler. Um diese im
zweiten oder dritten Nachgang zu korrigieren.
Ein Marshall-Plan für Griechenland, Italien,
Spanien und Portugal wird so sicher kommen
wie das Amen in der Kirche. Heiner Flassbeck
wird schneller recht bekommen, als er zu hoffen wagt.
Einen weiten Weg vor sich haben die wenigen verbleibenden Freunde von Marx und Engels. In Theorie und Praxis. Dies belegt der
Spaziergang durch die Neuerscheinungen zum
Thema Kapitalismus dieses Frühlings. l
Kapitalismuskritik
Manfred Flügge: Stéphane Hessel – Ein
glücklicher Rebell. Aufbau, Berlin 2012.
271 Seiten, Fr. 32.90.
Michel Husson: Le Capitalisme en 10 Leçons.
Petit cours illustré d'économie hétérodoxe.
Illustré par Charb. Editions Zones, Paris 2012.
252 Seiten, Fr. 32.90.
Terry Eagleton: Warum Marx recht hat. Ullstein,
Berlin 2012. 288 Seiten, Fr. 25.90,
E-Book 18.10.
Heiner Flassbeck: Zehn Mythen der Krise.
edition suhrkamp, Berlin 2012. 59 Seiten,
Fr. 7.90, E-Book 6.20.
Widerspruch Nr. 61: Diktatur der Finanzmärkte,
EU-Krise und Widerstand. Herausgegeben
von Pierre-Alain Franzen. Zürich 2012.
261 Seiten, Fr. 25.–.
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Ein Schriftsteller, der
nicht mit dem Bus
fährt, weiss nicht mehr,
wie die Leute reden.
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Seine
Zitatenlese für
«Bücher am Sonntag»
ist soeben als Buch
«Falscher Mao, echter
Goethe» bei NZZ
Libro erschienen.
Kurzkritiken Sachbuch
Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich?
Eine Klarstellung. Rowohlt, Hamburg 2012.
316 Seiten, Fr. 28.50.
Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht.
Wladimir Putin. Piper, München 2012.
384 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 20.60.
Der ehemalige Zeit-Redaktor und Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer hat
sich in vielen Artikeln und Büchern seit
über 30 Jahren mit der menschlichen Intelligenz beschäftigt. Der Aufschrei gegen
die Thesen von Thilo Sarrazin haben ihn
nun bewogen, den in der Wissenschaft
längst beigelegten Streit um die Erblichkeit des IQ erneut für Laien darzustellen.
Ja, Intelligenz ist erblich, und zwar bei erwachsenen Menschen zu rund 70 Prozent. Was dies bedeutet, klärt Zimmer
ebenso sorgfältig wie andere Fragen um
den IQ: etwa die umstrittenen LänderIQs und ihr Zusammenhang mit den PisaErgebnissen oder Macht und Ohnmacht
von Umweltbedingungen. Zimmer zitiert
aus der Fachliteratur: Das heikle Kapitel
zur Frage nach ethnischen IQ-Unterschieden montiert dieser vorsichtige
Autor, der als Deutscher das Wort Rasse
nicht gebrauchen will, glänzend zur
Gänze aus Zitaten!
Kathrin Meier-Rust
Die russische Journalistin Masha Gessen
hatte 10 Jahre in den USA gelebt, als sie
1991 mit 24 Jahren nach Moskau zurückkehrte. Seither verfolgt sie das Geschehen
in Russland für amerikanische und russische Publikationen. Lebendig, anschaulich und oft sehr persönlich beschreibt sie
in ihrer Putin-Monografie die politischen
Ereignisse der verflossenen zwei Jahrzehnte. Wie es dazu kam, dass der «Mann
ohne Gesicht» im Jahr 2000 an die Macht
kam und was er aus Russland gemacht
hat: ein Land der Korruption, der unaufgeklärten politischen Morde, der weitgehend unfreien Presse und manipulierten
Wahlen. Dass Gessen an Putin kein gutes
Haar findet, ist verständlich, dass sie die
in Russland reichlich vorhandenen Gerüchte oft als Wahrheit darstellt weniger.
Auch die angekündigte Enthüllung bleibt
aus in diesem Buch einer engagierten
Vertreterin der neuen Bürgerbewegung,
das sich jedoch spannend liest.
Kathrin Meier-Rust
Diane Ducret: Die Frauen der Diktatoren.
Ecowin, Salzburg 2012.
352 Seiten, Fr. 35.50.
Meshullam da Volterra: Von der Toskana
in den Orient. Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen 2012. 152 Seiten, Fr. 28.50.
Wussten Sie, dass Hitler mehr weibliche
Fanbriefe bekam als Mick Jagger und die
Beatles zusammen? Hunderte von enthemmten Frauen wünschten sich vom
Führer ein Kind, eine Partnerschaft oder
anderes mehr. Tausende Briefe trafen
jedes Jahr in Hitlers Privatkanzlei ein.
Auch der italienische Duce war für viele
Frauen ein Gott, den sie anbeteten. Diktatoren konnten und können Frauenherzen
erobern – damals wie heute. Diane Ducret, eine französische Dokumentarfilmerin, untersucht die seltsamen Beziehungen zwischen Gewaltherrschern und
ihren Frauen, Geliebten, Prostituierten,
Gefährtinnen und Verehrerinnen anhand
von Tagebüchern, Briefwechseln, Memoiren und anderen Quellen. Neben den
beiden Genannten sind es Lenin, Stalin,
Salazar, Bokassa, Mao und Ceauşescu.
Ein lüsterner Blick durchs Schlüsselloch
der Mächtigen und Verruchten.
Urs Rauber
Meshullam da Volterra war Bankier und
Edelsteinhändler im Florenz des 15. Jahrhunderts und einer der angesehensten
Juden Italiens. 1481 reiste er über Kairo
und Jerusalem bis Damaskus und schrieb
über dieses rund sechs Monate dauernde
Abenteuer einen Bericht auf Hebräisch.
Der Historiker Daniel Jütte hat diesen
erstmals auf Deutsch übersetzt und kommentiert. Was den reichen und frommen
Meshullam zu dieser Reise ins Heilige
Land veranlasst hat, bleibt unklar; jüdische Pilger waren damals eher selten.
Meshullam ist ein interessierter, kritischer Beobachter, der aber gegenüber
Islam und Christentum von Vorurteilen
nicht frei ist. Er berichtet über Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft im Orient
und über seine Glaubensgenossen in den
unterwegs besuchten Orten. Natürlich
begegnet er Seeräubern wie Banditen
und wäre einmal um ein Haar ertrunken!
Geneviève Lüscher
Harold Pinter
Es gibt zwei Gruppen von Menschen,
die neue Worte entwickeln.
Einerseits besonders gescheite –
oder sich besonders gescheit fühlende
– Akademiker, die felsenfest davon
überzeugt sind, ihre Gedanken seien
auf so einmalige Weise bedeutungsvoll,
dass das bestehende Vokabular nicht
ausreiche, um sie wirklich exakt auszudrücken. Was dann meistens nur, wie
Kurt Tucholsky das schon vor achtzig
Jahren in der «Weltbühne» formulierte,
zum «Missbrauch einer zu diesem
Zweck erfundenen Terminologie»
führt.
Die anderen Worterfinder sind junge
Leute. Für sie ist Sprache ganz selbstverständlich etwas Plastisches, das man
jederzeit nach Lust und Laune spielerisch verändern kann.
(Natürlich betätigen sich auch Werbeleute gern sprachschöpferisch. Aber
das bestätigt meine These nur. Werber
vereinen die beiden Gruppen in sich.
Sie sind kindliche Wesen, die sich und
ihren Kunden einreden, sie betrieben
eine exakte Wissenschaft.)
Nein, die wahren Spracherfinder
sind Teenager. Ob ein Wort im Duden
steht, oder eine grammatikalische Konstruktion von irgendwelchen beamteten
Oberlehrern als korrekt anerkannt
wird, das ist ihnen total …
Total was? Ich habe keine Ahnung,
welches Synonym man in dieser Generation gerade für «egal, gleichgültig,
am Arsch vorbei gehend» benutzt. Ich
weiss nur: Bis ein Wort bis zu mir altem
Sack durchgedrungen ist (und das
Altsacktum, so scheint mir, beginnt
immer früher), ist es bei seinen Erfindern bestimmt schon längst wieder aus
der Mode gekommen.
Es gibt ein paar wenige Autoren, die
über das beneidenswerte absolute Gehör für aktuelle Sprachformen verfügen. Die sich einfach in den Bus setzen
und beim Belauschen fremder HandyPlaudereien die Sprache der Gegenwart
akzentfrei erlernen können.
Die meisten von uns sind für alle
Zeiten in der Formulierungsweise gefangen, die wir in der eigenen Jugend
gebraucht oder selber erfunden haben.
Wenn wir versuchen, so zu reden, wie
wir es naiver Weise für heutig halten,
ernten wir zu Recht nur mitleidige
Blicke.
Eigentlich ist das ja auch kein Problem. Ausser wenn wir in unseren Texten versuchen, die Sprache junger
Menschen nachzuahmen. Dann machen
wir uns rettungslos lächerlich.
Oder, wie die Teenager in diesem
Jahr statt «lächerlich»
sagen …
Ich muss zugeben: Ich
habe keine Ahnung, wie
sie es sagen.
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Antizionismus Der Publizist Henryk M. Broder rechnet mit der Linken in Deutschland ab
Scharf beobachtet,
überspitzt formuliert
Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz!
Der deutsche Erinnerungswahn und die
Endlösung der Israel-Frage. Knaus,
München 2012. 176 Seiten, Fr. 24.50,
E-Book 16.90.
Von Klara Obermüller
Er ist provokativ, sarkastisch und ungerecht. Aber er verfügt über einen scharfen Blick und eine bestechende Logik. Er
sieht vieles richtig. Aber er übertreibt
und spitzt zu, bis auch das Richtige
falsch wird. 25 Jahre nach Erscheinen
seines Pamphlets «Der ewige Antisemit» fährt der deutsche Publizist Henryk M. Broder erneut eine Breitseite
gegen die deutsche Linke, hinter deren
antizionistischer Haltung er die Fratze
des Antisemitismus zu erkennen glaubt.
Der Golfkrieg und die Gaza-Flotille, die
Debatte um das Holocaust-Mahnmal in
Berlin und die nicht abreissende Kette
deutscher Gedenkveranstaltungen und
Friedensdemonstrationen haben ihm
dazu Belege ohne Ende geliefert. Broder
hat sich über die Jahre einen Zitaten-
Henryk M. Broder
schatz zugelegt, den er abrufen kann,
wann immer er Munition für eine Polemik braucht. Und die braucht er oft.
In seinem neuesten Buch hat der 1946
in Polen geborene und in Deutschland
aufgewachsene Publizist wiederum all
jene im Visier, die glauben, aus der besonderen Verantwortung Deutschlands
gegenüber Israel ein besonderes Recht
auf Kritik an Israel ableiten zu dürfen:
jene, die die Israelis ihrer Besatzungspolitik wegen mit Nazis vergleichen, jene,
die das Elend der Palästinenser mit dem
Leiden der Juden während des Holocaust gleichsetzen, jene, die es Israel
nicht verzeihen, dass es sie für immer an
Auschwitz erinnert.
In diesem Sinne ist auch der provokative Titel des Buches zu verstehen. «Vergesst Auschwitz!» – damit
wird nicht der Schlussstrichmentalität
rechtsnationaler Kreise das Wort geredet. Broders Kritik gilt vielmehr dem
«deutschen Erinnerungswahn», wie er
sich ausdrückt, der in seiner Fixierung
auf die Verbrechen der Vergangenheit
die Gefahren nicht sieht, die dem Staat
Israel heute drohen. «Vergesst Auschwitz! Denkt an Israel – bevor es zu spät
ist», so lautet der vollständige Satz, der
dem Buch den Titel gegeben hat.
MARCO LIMBERG
Alle in den gleichen Topf
Henryk M. Broder spricht ein Tabuthema
an. Ein soeben veröffentlichter Expertenbericht hat ergeben, dass der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft von
rechts bis links noch fest verankert ist.
Forschungen betreibt vor allem das
«Zentrum für Antisemitismusforschung»
in Berlin. Wolfgang Benz, bis 2010
dessen Leiter, ist Autor von «Handbuch
des Antisemitismus», «Der Hass gegen
die Juden» und neu «Antisemitismus
und Islamkritik». Über die These, die
Moslems seien die Juden von heute, wird
zurzeit in Deutschland heftig debattiert.
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
In diesem Konnex liegt die Provokation
von Broders Buch, aber auch das zutiefst
Ungerechte seiner Polemik. Nicht jeder,
der Kritik an Israels Politik übt und sich
für die Rechte der Palästinenser einsetzt, tut dies aus antizionistischen oder
gar antisemitischen Motiven. Nicht
jedem, der deutsche Schuld verinnerlicht hat, ist vorzuwerfen, ihm sei an
toten Juden mehr gelegen als an den lebenden. Und nicht jeder, der vor einer
Verteufelung des Islams warnt, nimmt
die islamistische Vernichtungsrhetorik
gegenüber Israel billigend in Kauf.
Dies aber unterstellt Broder seinen
Gegnern und wirft sie alle in einen Topf.
Er macht keinen Unterschied zwischen
berechtigter Kritik und dumpfem Ressentiment. Er verurteilt pauschal und
sieht hinter jeglichem Bemühen um
einen Frieden im Nahen Osten die verkappte Sehnsucht nach einer «Endlösung der Israel-Frage», wie es der Untertitel des Buches suggeriert. Es ist
schade, dass Broder nicht bereit ist zu
differenzieren. Denn viele seiner Anliegen sind berechtigt, die Beispiele, die er
anführt, erschreckend. Etwa, wenn auf
Transparenten Sätze zu lesen sind wie:
«Gestern Dresden – heute Gaza». Oder:
«Hitler ist Vergangenheit. Aber Israel ist
Gegenwart. Nicht noch einmal».
Was für Vergleiche werden da gemacht und welche Parallelen gezogen!
«So denkt es in ihnen», kann man da nur
in Anlehnung an Rainer Werner Fassbinder feststellen. Broder hat ein Ohr
für dieses verkappte Denken in den
Köpfen seiner Landsleute, darin liegt
seine besondere Stärke. Er hat Sinn für
die Ambivalenzen der Sprache. Er hört
Eine Chance
Unstatthafte Vergleiche
Nein, die Israeli sind nicht die Nazis von
heute, und Gaza ist nicht zu vergleichen
mit dem Warschauer Ghetto. Aber zu behaupten, die Deutschen seien froh über
die miese Behandlung der Palästinenser,
weil sie sich selbst dann weniger schuldig fühlen müssten, ist reichlich gewagt.
Nein, die Muslime von heute sind nicht
gleichzusetzen mit den Juden von gestern. Aber Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus und Islamphobie lassen sich
nicht übersehen. Und nein, es darf nicht
noch einmal zu einem Boykott jüdischer
Waren in Deutschland aufgerufen werden. Aber ist wirklich jedem der Wunsch
nach einer Liquidierung Israels zu unterstellen, der sich ernsthaft Gedanken um
ein Ende der Besatzungspolitik macht?
So fühlt man sich bei der Lektüre des
Buches ständig hin und her gerissen
zwischen Ärger und Zustimmung – und
als nichtdeutsche Leserin auch manch-
mal etwas aussen vor gelassen. Natürlich ist das Verhältnis der Deutschen
gegenüber Israel und den Juden ein besonderes. Nur, Antisemitismus, Antizionismus und Judenfeindlichkeit gibt es
auch anderswo, und es wäre zweifellos
erhellend gewesen, die von Broder geschilderten Phänomene in einen gesamteuropäischen Kontext gestellt zu
sehen. Dabei wären Parallelen und Unterschiede zu Tage getreten und Motive
– politische und religiöse – deutlich geworden, die jetzt unter den Tisch fallen.
Doch Broders Auseinandersetzung
mit der deutschen Linken ist ebenso obsessiv wie das Verhältnis mancher
Deutscher gegenüber Israel und den
Juden. Darüber hinaus sieht er nichts
oder will er nichts sehen – auch nicht
die eigenen Beweggründe, die zu dieser
Obsession geführt haben. Hinter Broders offenkundigem Zynismus verbirgt
sich eine tiefe Angst, stehen Verletzungen, die er bis heute nicht überwunden
hat. Er ist das Kind traumatisierter Holocaust-Überlebender. Deutschland hat
er schon einmal den Rücken gekehrt
und ist nach Israel gezogen. Heute lebt
er wieder in Deutschland, wo er sich
übelsten antisemitischen Attacken ausgesetzt sieht. Das hinterlässt Spuren. Es
wäre gewiss aufschlussreich, mehr darüber zu erfahren. Vielleicht liesse sich
dann auch der Furor dieses Buches besser verstehen. l
für die
Liebe!
Mit Selbsttest:
Wo steht Ihre
Beziehung?
CHF 19.90
broschiert, 252 Seiten
978-3-280-05459-8
Randi Gunther kennt die Beziehungsfallen,
die sich Paaren stellen, wenn diese länger
zusammen sind. Anhand von einfachen
Tests und Fallbeispielen zeigt sie, welche
Stolpersteine die Beziehung gefährden.
Ein Buch für alle, die neuen Schwung in ihre
Beziehung bringen wollen.
In der Debatte um
das HolocaustMahnmal erkennt der
jüdische Publizist
Henryk M. Broder
den aufflammenden
Antisemitismus.
Mama und Papa
haben immer recht!
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<wm>10CEXKOw6AIBBF0RUxeQ8ZPk4pUBFj1Lj_pUhsLG5xkzOGqeBra_vdTiMQ1DEiajKqSsFCS1mFRWlz1IN-nS6HyAT7vduqu4AOPKActb9RRl92XwAAAA==</wm>
CHF 19.90
broschiert, 208 Seiten
978-3-280-05453-6
Scharfsinnig und aufschlussreich vermittelt
Katy Albrecht gebeutelten Eltern Abhilfe
gegen allzu gut gemeinte Ratschläge.
In humorvollen Anekdoten werden die Besserwisser entlarvt. Die pointierte Typologie
sorgt dafür, dass Sie nicht mehr von den
kleinen Gemeinheiten des Alltags auf dem
falschen Fuß erwischt werden und gibt Ihnen
unentbehrliche Tipps – für eine wirksame
Firewall gegen den Erziehungsspam!
PIOTR MALECKI / PANOS
den Subtext mit, das Ungesagte, Uneingestandene, und er pocht auf sein Recht,
Antisemitismus dort zu erkennen, wo er
ihn sieht. Solche Schärfe des Blicks und
solche Wachsamkeit tun Not. Übertreibungen sind manchmal nützlich, um
sich anbahnende Gefahren besser zu
erkennen. Nur, Unterstellungen und
furchtbare Vergleiche sollte man meiden, wenn man selbst dieses Mittel bei
anderen so scharf kritisiert.
www.ofv.ch
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Musik Der 85-jährige, schwarze Sänger Harry Belafonte beschreibt sein rauschhaftes Leben zwischen
Zorn und Gewaltlosigkeit, zwischen Politik und Performance
Sein gellendes «Day-o!» vibriert
bis in die Fingerspitzen
Belafonte im Fernsehen die Hand auf
den Unterarm legte, während wir
Schweizer Kids ahnungslos «Downtown» pfiffen. Spätestens seit dem blutigen Sommer 1964 hätten alle schwarzen
Amerikaner mit Gewissen die Bewegung zu ihrer Sache gemacht, schreibt
Belafonte. Darüber hinaus muss die Einsamkeit einer Kindheit zwischen karibischer und amerikanischer Kultur sowie
zwischen Schwarz und Weiss jenen
Zorn genährt haben, der ihm sein Leben
lang erhalten geblieben ist, auf den er
stolz ist, ohne seine «zwanghafte Seite»
zu übersehen. Als deren familiäre Opfer
rücken dabei im Buch unübersehbar die
vier Kinder aus drei Ehen ins Licht.
Harry Belafonte (mit Michael
Shnayerson): My Song. Kiepenheuer &
Witsch, Köln 2012. 630 Seiten, Fr. 35.50.
Von Martin Walder
Wer hat es nicht im Ohr, das gellende
«Day-o!» der Pflücker, das im «Banana
Boat Song» den Tallyman der United
Fruit Company zur Kontrolle der Bananenernte aufruft: «Daylight come an’me
wan’ go home». Es ist die eine, bis in die
Fingerspitzen vibrierende musikalische
Seite des Weltstars Harry Belafonte mit
der begnadeten, seidig-rauen Stimme,
der, als Spross illegaler Einwanderer in
Harlem geboren, zeitweilig bei der
Grossmutter auf Jamaica aufgewachsen
ist, weil dort zehn amerikanische Cents
den Wert eines ganzen Dollars hatten.
Den Mister Tallyman und die frühmorgens erschöpft Heimkehrenden hat der
Bub da selber erlebt.
Harry Belafontes andere, politische
Seite erklingt als Variation dieses seines
– neben «Matilda» – berühmtesten
Songs als Hymne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre in den
USA: «Freedom come an’ it won’t be
long!». Wenige haben das Spannungsfeld zwischen Künstler und politischem
Aktivist so nutzen und fruchtbar machen können wie Harry Belafonte: Nach
600 Seiten legt man seine zum 85. Geburtstag (am 1. März) erschienene Autobiografie beeindruckt und erschöpft aus
der Hand.
Zuerst nur Pausennummer
Der Star ist sich des Rauschhaften,
«einer gewissen Selbstherrlichkeit seiner Person» durchaus bewusst, unvermeidbar angesichts seiner öffentlichen
Persona, sieht man ihn doch bei der Lektüre quasi imaginär als globalen Politmanager an einem riesigen Büro mit
Dutzenden von Telefonen und Laptops
thronen und Dinge in Gang bringen:
«Als politischer Aktivist und Künstler
besass ich ein Adressbuch, das Angehörige aller Klassen und Berufsgruppen
verzeichnete bis hinauf in manches präsidiale Büro» – John F. Kennedy und vor
allem dessen Bruder Bobby mit eingeschlossen. Belafonte wusste sein Netzwerk brillant zu nutzen; fesselnd ist zu
lesen, wie damals im Weissen Haus der
Post-McCarthy-Zeit zögerliches realpolitisches Kalkül und emanzipatorische
Power aufeinanderprallten.
Wann und wo immer es darum geht,
die Bürger- und Menschenrechtsbewegung zu unterstützen, in den USA, in
Afrika, namentlich dem Apartheidstaat
Südafrika – Harry Belafonte organisiert
und ist dabei. Und mag dabei die Erzäh18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
KPA
Früher Networker
lung im letzten Drittel des Buchs auch
ausfransen, so liefert im breiten Mittelteil die dramatische Geschichte der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in
den USA Geschichte aus erster Hand.
Es ist die blutige Geschichte gewichtiger Organisationen wie Martin Luther
Kings Southern Christian Leadership
Conference (SCLC). Es ist die Geschichte beharrlichen Muts angesichts rassistischer Demütigung in einem sich urdemokratisch nennenden Land. Und es ist
die Geschichte von vereinter Kraft,
dann aber auch der Zersplitterung ob
der strategischen Frage der Gewalt.
Malcolm X und Stokely Carmichael sind
hier die charismatischen Figuren; Belafonte bleibt dem Baptisten-Pastor aus
Atlanta und seiner Idee der Gewaltlosigkeit im zivilen Ungehorsam treu.
Man reibt sich die Augen, dass dies
alles kaum fünfzig Jahre her sein soll,
welchen Skandal es etwa auslöste, als
die Sängerin Petula Clark dem farbigen
Sänger, Schauspieler,
Unterhalter: Harry
Belafonte mit seiner
Tanztruppe in der
Fernsehshow «Tonight
with Belafonte», Juli
1960.
Dem persönlichen Entwicklungsroman
des mausarmen Jamaikaners zum gefeierten Schauspieler und Performer
geben die ersten Kapitel Raum: bis zu
jener Chance des Lebens, als der Tenorsaxophonist Lester Young ihn auf der
Bühne sah und ihn als Pausennummer in
den New Yorker Nachtclub Royal Roost
vermittelte. Belafonte schildert es als
Schlüsselerlebnis für sein Leben – und
später die eigene Rolle als Entdecker
und Türöffner, etwa für Miriam Makeba.
Dass er, der erst in der Tradition Woody
Guthries und Pete Seegers, dann im Calypso seiner Heimat die eigene Authentizität entdeckte, seine stilbildende
Rolle als Weltmusiker («We are the
World») im Folk-Bereich gar tiefschürfend reflektieren würde, lässt sich freilich nicht behaupten. Auf Jamaika sang
man die Lieder künftig nicht in der überlieferten, sondern in Belafontes WeltVersion. Authentisch war nun er – immerhin mit politisch-künstlerischer
Durchschlagskraft!
Kalkuliert und leitmotivisch wiederkehrend setzt Belafonte die Marksteine
des eigenen Lebens. Und nennt die ihn
prägenden Persönlichkeiten: Sidney
Poitier, Martin Luther King und der
mächtige schwarze Bassist und Kämpfer
gegen den Rassismus Paul Robeson, die
Vaterfigur. Und wie steht es, am Ende,
mit jenen Schwarzen, die im letzten
Jahrzehnt amerikanische Politik gemacht haben? Condoleezza Rice und
Colin Powell kommen als Söldner von
Bush junior nicht gut weg. Und der erste
schwarze Präsident des Landes? «Seiner
Gewandtheit und seines Intellekts zum
Trotz scheint es Barack Obama an einer
grundsätzlichen Empathie für die Besitzlosen zu fehlen, gleichgültig, ob
weiss oder schwarz.» Harry Belafontes
detailreich, aber flüssig erzähltes Buch
ist voller Empathie, wiewohl uns diese
mitunter fast schwindelerregend globalisiert entgegentritt. ●
Syrien Erschütternder Report der Schriftstellerin Samar Yazbek aus dem Zentrum des Aufstandes
Den Horror in Worte fassen
Samar Yazbek: Schrei nach Freiheit.
Bericht aus dem Innern der syrischen
Revolution. Aus dem Arabischen von
Larissa Bender. Nagel & Kimche,
München 2012. 217 Seiten, Fr. 25.90,
E-Book 15.30.
«Blut klebte an ihren Körpern, frisches
Blut, trockenes Blut, tiefe Wunden
zeichneten sich auf ihren Leibern ab,
wie willkürlich mit einem Pinsel da hingemalt. Ihre Gesichter waren zu Boden
gerichtet, sie waren bewusstlos und
schaukelten hin und her wie Schlachtvieh. Ich schreckte zurück, da packte
mich einer der Männer und schob mich
wieder nach vorne, schweigend.»
Samar Yazbek ist in eines der Gefängnisse in Damaskus gebracht worden,
aber nicht, weil man sie dort behalten
will, sondern zur Abschreckung oder
wie es der Offizier zynisch ausdrückt:
«Eine kleine Exkursion. Damit du besser
schreiben kannst.» Und dies tut sie. Die
41-jährige Autorin, die sich kurz nach
dem Beginn der Revolution in Syrien
hinter die Protestbewegung gestellt hat,
schreibt auf, was sie hört und sieht, fühlt
und erlebt. Sie schreit ihre Wut und Verzweiflung hinaus und gewinnt der Angst
die Bedeutung ab, «dass du inmitten all
dieser Trümmer noch immer ein
Mensch bist.» Im Juli letzten Jahres hat
sie mit ihrer Tochter und den Notizen
das Land verlassen und ist nach Paris
gereist, wo sie seither lebt.
Ihr Tagebuch, das die ersten hundert
Tage des Volksaufstands umfasst, ist
nun unter dem Titel «Schrei nach Freiheit» erschienen. Die deutsche Übersetzung ist die weltweit erste Veröffentlichung, auf Arabisch erscheint das Buch
demnächst in Beirut, Übersetzungen ins
Englische und Französische sind in Ar-
SILVAN FESSLER / EX-PRESS
Von Susanne Schanda
Samar Yazbek schreibt über die Revolution in Syrien (29.2.2012).
beit. Darin finden wir zahlreiche Berichte von Aktivisten, Journalistinnen, Ärztinnen und Deserteuren, die Yazbek aufgezeichnet hat, um sie an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Wir erfahren von
Blitzdemonstrationen in Damaskus, Geheimambulanzen für die Verwundeten
in Deraa, von der Arbeit der Koordinationskomitees und der Initiative «Syrische Frauen zur Unterstützung des Aufstands». Deutlich wird auch die Zerstrittenheit der Opposition und Yazbeks
Enttäuschung über die Passivität der Intellektuellen.
Samar Yazbek eckte bereits vor der
Revolution an, mit ihren Fernsehsendungen, Artikeln und Romanen. Da sie
wie das Regime der alawitischen Minderheit angehört, konnte sie sich mehr
erlauben als andere. Aber mit ihrem Engagement für die Protestbewegung hatte
sie die rote Linie überschritten. Auf der
Website des Geheimdienstes wird sie
als Verräterin bezeichnet und für vogelfrei erklärt. Sie muss abtauchen und im
Untergrund weiterarbeiten. Doch bald
erhält sie Drohanrufe, und eines Tages
stehen zwei Männer vor ihrem Haus, die
sie nicht mehr aus den Augen lassen.
Ihre alawitische Familie und alte Freunde sagen sich von ihr los. Ein regimetreuer Bekannter rät ihr dringend, sich
öffentlich mit dem Regime zu versöhnen oder das Land zu verlassen, wenn
sie am Leben bleiben wolle.
Samar Yazbeks Aufzeichnungen machen auch deutlich, wie sehr sie versucht, das Schreiben als Waffe einzusetzen. Nicht nur, um der Propaganda des
Regimes ihre Sicht entgegenzuhalten,
sondern auch, um in der sie umgebenden Brutalität, Verzweiflung und Angst
nicht verrückt zu werden. Sie sucht ihre
verlorene Leidenschaft für die Worte,
tastet nach dem Rhythmus der Buchstaben, vermisst ihre Romanfiguren: «Alle
warten dort an einem bestimmten Ort in
meinem krankhaft sich nach ihnen sehnenden Hirn auf mich.» Doch sie kann
nicht schreiben, kann nicht schlafen.
Was ihr zu tun bleibt, ist das unermüdliche Sammeln von Zeugenaussagen, das
oft qualvolle Transkribieren, «die
Schmerzen in Worte zu fassen.» Aus
diesen Aufzeichnungen spricht die Not,
spricht unmittelbar der Horror. Eine literarische Verarbeitung des Erlebten
bräuchte eine Distanz, die es jetzt noch
nicht gibt. ●
Selbsttötungen Der Basler Psychiater Thomas Haenel untersucht Massensuizide
Wenn sich Menschen auf Befehl selbst umbringen
Thomas Haenel: Amok und
Kollektivsuizid. Selbsttötung als
Gruppenphänomen. NZZ Libro,
Zürich 2012. 175 Seiten, Fr. 29.–.
Von Tobias Kaestli
Der Basler Psychiatrie-Professor Thomas Haenel schreibt in seiner kleinen
Aufsatzsammlung nicht über «private»
und individuelle Morde und Selbstmorde, sondern über solche, die gleichsam
zuhanden der Öffentlichkeit inszeniert
wurden. Er beginnt mit einer kurzen Abhandlung über das Verhältnis von Körper und Geist in der Antike. Damals galt
die Selbsttötung noch als akzeptabel.
Offenbar auch bei den Juden. Berühmt
ist der «Massensuizid» in der Felsenfes-
tung Masada am Toten Meer, wo im Jahr
73 n. Chr. die Verteidiger, statt sich den
Römern zu ergeben, auf Befehl ihres Anführers Eleazar sich entweder selbst
umbrachten oder von den eigenen Leuten umgebracht wurden.
Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen
dem Geschehen am Toten Meer und
dem «Massensuizid» von Guayana?
Dort vergifteten sich im Jahr 1978 Hunderte von Mitgliedern der GuttemplerSekte, und zwar auf Befehl ihres Führers
Jim Jones, der sich strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sah. Wer sich weigerte, das Gift zu nehmen, wurde erschossen. Ein Parallelfall war der «Massensuizid» der Sonnentempler in den Kantonen Freiburg und Wallis im Jahr 1994.
Was sind die Hintergründe solcher
Tragödien? Gibt es eine besondere Per-
sönlichkeitsstruktur, die zum «erweiterten Selbstmord» neigt, das heisst, nicht
nur sich selbst umbringen, sondern die
ganze Entourage mit in den Tod reissen
will? Haenel hat die Literatur zu Fallbeispielen wie Hitler (1945), Sektenführer
David Koresh (Waco-Massaker 1993),
Amokläufer von Littleton (20. April
1999, an Hitlers Geburtstag!) und anderen gesichtet. Er sucht nach Gründen:
Liegen sie bei Killerspielen, Internetforen, narzisstischen Störungen, posttraumatischen Störungen? Mangels ausreichender Daten bleibt aber alles auf
der Ebene von Mutmassungen. Ebenso
vage bleiben Haenels Vorschläge für
Präventivmassnahmen.
Nützlich ist seine Literaturliste, die es
ermöglicht, sich zu einzelnen Themen
genauer kundig zu machen. ●
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Erinnerungen Zum achtzigsten Geburtstag legt Judith Giovannelli-Blocher ihre
Lebensgeschichte vor
Gefangen in religiösen und familiären
Wertvorstellungen
Judith Giovannelli-Blocher: Der rote
Faden. Die Geschichte meines Lebens.
Nagel & Kimche, Zürich 2012.
251 Seiten, Fr. 27.90.
Von Urs Rauber
Mehrere Bücher hat die Sozialarbeiterin
Judith Giovannelli-Blocher in den letzten Jahren publiziert, darunter zwei autobiografisch gefärbte Romane: «Das
gefrorene Meer» (1999) und «Das ferne
Paradies» (2002), sowie drei teils sehr
persönlich gehaltene Ratgeber «Das
Glück der späten Jahre» (2004), «Woran
wir wachsen» (2007) und «Die einfachen Dinge» (2010).
Nun also folgt ihre Autobiografie.
Braucht es das alles? Ist das Lebenswerk
von Judith Giovannelli-Blocher derart
einzigartig, dass sich diese Publikationskadenz und Ausführlichkeit rechtfertigt? Mit leichter Skepsis nimmt man
sich das neueste Buch vor – und wird
zum eigenen Erstaunen mit zunehmender Lektüre in die Schilderung dieses
Frauenlebens hineingezogen.
Es ist die Geschichte der ältesten
Tochter einer 13-köpfigen Pfarrersfamilie, einer Tochter, die zeitlebens die
Rolle der behütenden «grossen Schwester» nicht ablegen konnte. Die statt eine
Ausbildung zu erhalten den Dienst im
elterlichen Grosshaushalt leisten musste. Die geprägt, aber auch gefangen war
ANINA GMÜR/DANIEL AUF DER MAUER
Beduinen Frauen brechen auf
«Am Abend will ich mich duschen, das ist besser als
Ziegen hüten», sagt Sa’ida. Die junge Beduinenfrau
vom Stamm der Mzayna steht kurz vor ihrer Eheschliessung und hat bestimmte Vorstellungen, was
ihre Zukunft angeht. Diese zeigen deutlich den
Wandel, dem die traditionelle Lebensweise der
Beduinen im Sinai unterworfen ist. Sa’ida ist eine der
Interviewpartnerinnen, mit denen Katrin Biallas über
den Alltag gesprochen hat. Es ist vor allem die
weibliche Lebenswelt, welche die Ethnologin
interessiert. Behutsam fotografiert haben Anina
Gmür und Daniel Auf der Mauer, entstanden ist ein
Band mit berührenden Texten und einprägsamen
Bildern bunt gekleideter Menschen in einer überaus
kargen Landschaft. Seit Jahrhunderten leben die
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
Beduinen nach den Regeln ihrer Stammeskultur:
Viehzucht, Religion und Familie bestimmen den Tag.
Diese Regeln lösten sich heute allmählich auf,
machen doch moderne Medien, westliche Werte und
urbane Lebensweisen vor der Wüste nicht halt. Vor
allem für die Frauen verändert sich die Welt. Sie
denken über die Beschneidung nach, über
Zwangsheirat und Kindererziehung und wagen es,
ihre Gedanken – mindestens der Europäerin
gegenüber – auch zu äussern. Geneviève Lüscher
Anina Gmür (Hrsg.): Mzayna. Beduinen im Sinai – von
alten und neuen Tagen. Mit Fotografien von Anina
Gmür und Daniel Auf der Mauer; Texte von Katrin
Biallas und Anina Gmür. Benteli, Sulgen 2012.
144 Seiten, 94 farbige Abbildungen, Fr. 48.–.
von religiösen und familiären Werten
ihrer starken Eltern. Die möglicherweise – das wird nur angedeutet – als Jugendliche Opfer einer ausserfamiliären
Vergewaltigung wurde. Und die, als sie
schliesslich von zuhause wegzog, eine
elfjährige Psychotherapie benötigte, bis
sie endlich zu sich selber fand.
Dieses aussergewöhnliche, wenn
auch nicht einmalige Schicksal eines
unter harten Bedingungen während der
Vorkriegs- und Kriegsjahre aufgewachsenen Grossfamilienkindes – Judith Blocher wurde 1932 in Wettswil (ZH) geboren und verlebte die Jugendjahre in Laufen am Rheinfall und in Uhwiesen (ZH)
– vermag zu fesseln durch seine schlichte Schilderung der Erlebnisse und Stimmungen von damals. Vieles ist aus ihren
früheren Werken bereits bekannt. Die
Autorin schreibt auch hier einen flüssigen Stil und durchsetzt ihre Erinnerungen mit erzählerischen Exkursen, deren
Realitätsgehalt allerdings nicht ganz
klar wird: dient die Fiktion zur Verdeutlichung der Wirklichkeit oder geht sie
darüber hinaus?
Das Leben dieser in ihren ersten 40
Jahren wenig selbstbewussten, alleinstehenden, einsamen Frau steht für eine
ganze Generation von Frauen der unmittelbaren Nachkriegszeit, denen Bildung
und politische Rechte versagt waren
und die ihre dienende Rolle meist klaglos, oft aber auch freudlos ausübten.
Dass die reformierte Pfarrerstocher
ihre erste grosse und längere Affäre ausgerechnet mit dem (verheirateten)
schweizerischen Chefmarxisten Konrad
Farner (1903–1974) hatte, entbehrt nicht
einer gewissen Ironie. Erst Farner habe
ihr, so schreibt sie, «die Augen für die
Menschlichkeit geöffnet». Im Alter von
48 Jahren fand sie dann zu einer beglückenden Partnerschaft mit ihrem heutigen Ehemann Sergio Giovannelli, einem
italienischen Feinmechaniker, der seit
1963 in der Schweiz lebt und vor zwei
Jahren ebenfalls seine Memoiren «Va’
pensiero» (2008) publiziert hat.
Auf ihren acht Jahre jüngeren Bruder
Christof kommt Judith Blocher nur
zwei, dreimal – im positiven Sinne – zu
sprechen. Einmal, als sie erzählt, wie sie
vom «Blick» hereingelegt worden sei,
als sie 2006 einen kritischen Text zum
Asylgesetz schrieb und das BoulevardBlatt entgegen der Abmachung mit der
Schlagzeile «Blochers Schwester wäscht
dem Bruder den Kopf» an den Kiosken
dafür warb. Das sieht sie heute als Fehler. Sie entschuldigte sich bei ihrem Bruder, der ihr «anständig» geantwortet
und bloss kritisiert habe, dass sie diese
Folgen hätte voraussehen können. Ja,
meint sie heute: «Er hatte leider recht».
Wer die früheren Bücher von Giovannelli-Blocher nicht kennt, wird dieses
neue zweifellos mit Gewinn lesen. ●
Stromversorgung Der frühere Nationalrat Rudolf Rechsteiner skizziert die Energiewende
Dunkle Mächte im Spiel
Rudolf Rechsteiner: 100 Prozent
erneuerbar. So funktioniert der Umstieg
auf saubere, erschwingliche Energie.
Orell Füssli, Zürich 2012. 224 S., Fr. 29.90.
Es ist kein Buch zum Durchlesen, das
der frühere SP-Nationalrat und Energieexperte vorlegt. Auf der Hälfte der gut
200 Seiten finden sich nämlich gleich
zwei Schautafeln zu jedem schier denkbaren Aspekt des Energieverbrauchs.
Wie der Autor schreibt, stammt das reiche Material aus Lehrveranstaltungen
im Rahmen der «Greenpeace Energy
Academy» an den Universitäten Basel
und Bern. Die oft komplexen, aber klar
gestalteten Grafiken erfordern ein vertieftes Studium, und gelegentlich
wünscht man sich jemanden, der eine
Voraussetzung oder eine Masseinheit
näher erklärt. Das Werk wird so zum
Lehrbuch, das wohl in Schulen grossen
Anklang finden wird. Für den Gebrauch
als Nachschlagewerk, den der Autor
suggeriert, würde man sich allerdings
ein Sachregister oder zumindest ein Abbildungsverzeichnis wünschen.
Das Thema dieses besonderen Lehrbuchs ist jedoch nicht Energie, sondern
die Energiewende, der radikale Umstieg
auf ausschliesslich saubere und – wie
der Ökonom Rechsteiner unablässig betont – erschwingliche Energiequellen.
Diese Wende ist ja inzwischen erklärtes
Ziel der schweizerischen Energiepolitik,
und Rudolf Rechsteiner zeigt, wie es erreichbar ist. Beziehungsweise wie es erreichbar wäre, wenn nicht die bösen
Beharrungskräfte, die Stromkonzerne
und ihre Atomlobby, immer wieder Sand
ins Getriebe streuen würden.
Wind, Sonne, Wasser
Das Plädoyer für den raschen Umstieg
in sechs Teilen beginnt selbstverständlich mit: «Fukushima verändert die
Welt». Die Welt präsentiert sich in der
Folge aber doch eher als die Schweiz
plus Westeuropa. Der Autor geht weder
darauf ein, dass sich der Fukushimabedingte Atomausstieg auf Deutschland
und die Schweiz beschränkt, noch auf
neuere Entwicklungen wie etwa den
Erdgas-Boom in den USA. Schon im Einführungsteil macht er hingegen klar, was
für den Energieumstieg in der Schweiz
das Wichtigste sei: «Der Deckel muss
weg!» Die Beschränkung der Bundesgelder für die kostendeckende Einspeisevergütung – auch sie Resultat «der
von der Atomlobby angeheizten Skepsis
im Parlament» – soll aufgehoben werden, damit die Tausenden von angemeldeten Kleinstanlagen für Strom aus
Wind, Sonne, Wasser und Biomasse
endlich gebaut werden können.
Im zweiten Teil wird nachgedoppelt,
weshalb die Energiewende unausweichlich sei: Die Kosten der nichterneuerbaren Energien sind unbezahlbar. Erneut
JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE
Von Thomas Held
stehen die Risiken der Kernkraft im Mittelpunkt, aber konsequenterweise geisselt Rechsteiner auch die Umweltfolgen
der fossilen Energieträger. In den Teilen
drei und vier geht es um die Potenziale
und Strategien des Umstiegs. Der Akzent liegt hier weniger auf den Einsparungen – Rechsteiner spricht edel von
der «Kultur des Vermeidens». Nein, die
Kernthese behauptet, dass die Schweiz
den Strombedarf fast allein aus Wind
und Sonne decken könnte. In alternativen, aber für den Autor noch akzeptablen Szenarien wird der Strommix entweder mit Windkraft aus der Nordsee, d. h.
mit einer europäischen Vernetzung,
oder mit Wärme-Kraft-Koppelung aus
Gaskraftwerken ergänzt.
Im fünften, quasi taktischen Teil
macht sich Rechsteiner nochmals für
eine Ausweitung der Subventionen für
den Solarstrom nach deutschem Vorbild
stark – die aktuellen Schwierigkeiten
der dortigen Solarstrom-Industrie kommen allerdings nicht zur Sprache. Die
Parole heisst, nun etwas weniger ökonomisch: Die Mehrkosten von heute sind
die Ersparnisse von morgen. Die andere
politische Forderung nach deutschem
Vorbild ist ein Abschaltbeschluss für die
schweizerischen KKW. Im letzten Kapitel weitet der Autor die Diskussion auf
interessante Fragen neuer Energiespeicher wie des synthetischen Methans aus
und streift die erneuerbaren Energien
bei Gebäuden und im Verkehr. Der Titel
«Schädliche Agrotreibstoffe» spricht
wieder für seine Konsequenz. Nicht nur
konsequent, sondern eher fundamentalistisch wirkt aber seine Dauerempörung über die Stromkonzerne, die als
Rudolf Rechsteiner
plädiert für Strom
aus Zehntausenden
von demokratisch
kontrollierten
Kleinstanlagen. Hier
die höchstgelegene
Windturbine auf dem
Nufenenpass (2465 m
über Meer).
antidemokratische Macht das Land zu
beherrschen scheinen.
«Eine Koexistenz von erneuerbaren
Energien kann es auf die Dauer nicht
geben» heisst es im allerletzten Abschnitt.
Verschwörungstheorien
Rechsteiners Vision ist nicht einfach der
Ersatz von Energieträgern, sondern der
Ersatz der «Konzerne» durch Tausende,
nein Zehntausende von «Anlagen in
Bürgerhand», eine «demokratisch kontrollierte Stromerzeugung», in der jeder
gleichzeitig Konsument und Produzent
ist. Die Frage der Netzstabilität und der
dafür nötigen Regelenergie, der Zusammenhang zwischen Grösse und Wirtschaftlichkeit, die Pfadabhängigkeit des
historisch gewachsenen Netzes – all
diese Fragen diskutiert der Autor nicht
vertieft. Aus seiner verschwörungstheoretischen Perspektive sucht er die Gründe, weshalb sich die doch so überlegene
erneuerbare Technologie nicht wirklich
durchsetzen konnte immer wieder beim
Todfeind «Atomlobby».
Aber die Frage bleibt offen, wie aus
öffentlichen Stromunternehmen, die
letztlich von gewählten Kantonsregierungen und Parlamenten kontrolliert
werden, die dunkle Macht werden konnte, die uns alle Energie-Übel eingebrockt
hat. Waren da die freien Bürger und
Konsumenten, die nun das utopische
Energieszenario von Rudolf Rechsteiner
umsetzen sollen, nicht auch ein wenig
beteiligt? ●
Thomas Held hat ein Büro für Analysen
und Strategien; er war bis 2010 Direktor
der Denkfabrik Avenir Suisse.
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
J U B I L Ä U M SA N G E B OT – F E I E R N S I E M I T U N S
Scharf beobachtet, spitz gezeichnet
Chappattes persönliche Auswahl seiner besten Karikaturen
Für Leserinnen und Leser der «NZZ am Sonntag»
zum Jubiläumspreis von Fr. 10.– statt Fr. 24.–
Seit der ersten Ausgabe am 17. März 2002 prägen die Karikaturen von Patrick
Chappatte die «NZZ am Sonntag». Im Buch «100 Karikaturen» zeigt er eine
persönliche Auswahl seiner besten Karikaturen der letzten zehn Jahre aus der
«NZZ am Sonntag». Sein unverkennbarer Stil kombiniert die Schärfe seiner
Beobachtungsgabe und die Sensibilität seiner zeichnerischen Ausführung.
Ob Sarkozy, Merkel oder Blocher: Er arbeitet die Eigenheiten seiner Figuren
pointiert aus, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen.
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Chappatte – 100 Karikaturen aus der «NZZ am Sonntag» ▶
2012, 120 Seiten, 100 farbige Karikaturen.
Format 20,5×21
21 cm, gebunden, ISBN 978-3-03823-783-9
Bestellung
Bitte senden Sie mir mit Rechnung:
Chappatte – 100 Karikaturen
Patrick Chappatte,
*1967 in Karachi (Pakistan)
als Sohn eines Schweizers und
einer Libanesin. Aufgewachsen
in Singapur und in der Westschweiz. Veröffentlicht mit
21 Jahren erste Karikaturen
in der «La Suisse». Heute
zeichnet er für die «Herald
Tribune», «Le Temps» und die
«NZZ am Sonntag». Er lebt
mit seiner Familie in Genf.
Fr. 10.–* statt Fr. 24.– (zuzüglich Versandkosten Fr. 8.–) für Leserinnen
und Leser der «NZZ am Sonntag», ISBN 978-3-03823-783-9
Bestellung per Mail: [email protected] mit Vermerk «Jubiläumsangebot»
Vorname, Name
Strasse, Nr.
PLZ, Ort
E-Mail
Telefon
Datum, Unterschrift
NZZ Libro
«Jubiläumsangebot NZZ am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich,
Telefon 044 258 15 05, Fax 044 258 13 99
* Angebot nur in der Schweiz gültig, solange Vorrat. Die Lieferung erfolgt innerhalb von 14 Tagen.
✃
Einsenden an:
Sachbuch
Ökonomie Alain de Botton präsentiert ein bunt komponiertes Genrebild der modernen Berufswelt
Alain de Botton: Freuden und Mühen der
Arbeit. Fischer, Frankfurt am Main 2012.
352 Seiten, Fr. 32.90.
Von Kirsten Voigt
Rund um die Uhr wird weltweit gearbeitet. Um sich dessen bewusst zu werden,
muss man nachts nicht einmal aus dem
Fenster in die Homeoffices der fleissigen Nachbarn schauen, sondern nur
Licht oder Radio einschalten, und man
wird bemerken, dass der Mann im EWerk und die Redaktorin im Sender
Dienst tun.
Der in der Schweiz geborene, in England lebende Philosoph Alain de Botton
eröffnet sein neues, lesenswertes Buch
mit dem Titel «Freuden und Mühen der
Arbeit» buchstäblich aus höherer Warte
– im Sinkflug über London. Es entsteht
ein Panorama des Gleichzeitigen. Wir
sehen Wasserspeicher, Parks und Leichenhallen, Sandwich-Fabriken, Kriminelle, Postboten und Zimmermädchen,
Kantinen, Museen, Fahrschulen, Geburten und die Queen, Parlamentarier und
Psychoanalytiker bei der Arbeit. Ein
Schiff läuft in den Hafen ein. Es ist das
Produkt eines kostspieligen Herstellungsprozesses und schafft Waren aus
Yokohama, Mumbai und Rotterdam
heran. Schuhe, Rechner und Plüschtiere
umweht plötzlich eine abenteuerliche
Romantik des Reisens. Und künftig wird
ihnen vielleicht eine noch abenteuerlichere Geschichte zuwachsen.
Bottons zuweilen eher literarisch ambitioniertes als philosophisch tiefgründiges Genretableau der globalisierten
Arbeitswelt vermittelt Einblicke und
versagt sich Generalisierungen. Es ist
angeregt von jenen würdevollen, atmosphäresatten Bildern tätiger Menschen
des niederländischen Goldenen Zeitalters und zuweilen ähnlich ausschnitthaft, intim. Häufig vergleicht der Autor
voll ansteckender Ehrfurcht die Kreativität und Intelligenz, die Menschen in
wundersame moderne Arbeitsabläufe
investieren, ganz zu Recht mit Höchstleistungen im Feld der Künste.
Während man einst jedoch über die
Waren, die man erwarb, gut informiert
war, verliert sich heute die Kenntnis
über Herkunft und Hersteller auf weiten
Wegen. Das aus Essays, Impressionen
und Fotos von Richard Baker komponierte Buch hebt dieses Phänomen ins
Bewusstsein. Die Auswahl der Güter
und Industriezweige fällt amüsant, zufällig, skurril unsystematisch aus. Thunfisch, Kekse, Raketen und Flugzeuge,
Logistikunternehmen und Arbeitsberater beschäftigen den Autor. Er folgt
einem exzentrischen Fan von Hochspannungsmasten, der Überlandleitungen abwandert, und sieht einem Maler
über die Schulter, der seit zwei Jahren
eine 250 Jahre alte Eiche im Wechsel des
Lichts und der Jahreszeiten malt. Überall erhebt sich die Frage, wann Arbeit als
sinnerfüllt erlebt wird.
Botton reflektiert in bester ReporterManier beim Blick hinter Fassaden elegant beiläufig ökonomische, soziale und
psychologische Bedingungen heutiger
Produktionsprozesse. Sie werden von
Menschen aufrechterhalten, die er in
verständnis- und respektvollen, manchmal kritischen, ja überraschend sarkastisch getönten Porträts beschreibt – Erfolgshungrige, Einfallsreiche, Begeister-
RICHARD BAKER
Arbeit bietet einen Schutz gegen
Todesangst
Arbeiterinnen in der
belgischen Fabrik
United Bisquits. Der
Sinn ihres Tuns ist
offensichtlich, was
nicht bei jeder Arbeit
der Fall ist.
te, Tagträumer, Gescheite, Gescheiterte
und Gelangweilte, die durch ausgeklügelt vielteilige Verfahren so weit von
den Produkten abrücken, dass sie dem
Sinn ihres Tuns entfremdet werden.
Arbeit zu vergeuden, da stimmt Botton emphatisch John Ruskins Überlegungen aus dem Jahr 1866 zu, heisst
Leben vernichten. Und er kann sich
über Manager empören, die das, fixiert
auf ihre Bilanzen, ignorieren. Gerade
dem Leben dient Arbeit nämlich in
einem für Botton äusserst gewichtigen
Sinn: Sie ist auch der wirkungsvollste
Schutz gegen unsere Todesangst. Dennoch – daran lässt der finale Streifzug
des melancholischen Autors über einen
Flugzeugfriedhof keinen Zweifel –
enden auch die grossartigsten Ergebnisse unserer Anstrengungen irgendwann
auf dem Müll. ●
Biografie Eine neue Monografie zum 50. Todesjahr des «Steppenwolf»-Autors
Hermann Hesse in Selbstzeugnissen
Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der
Wanderer und sein Schatten. Biografie.
Hanser, München 2012. 704 S., Fr. 35.90.
Von Thomas Feitknecht
Hermann Hesse hat ungezählte illustrierte Manuskripte mit «Zwölf Gedichten» angefertigt – keines ist gleich, doch
alle sind sie ähnlich. So verhält es sich
auch mit vielen Hesse-Biografien, die in
den vergangenen Jahren von wechselnden Verfassern herausgegeben worden
sind: Leben und Werk werden chronologisch geschildert, Krisen und Freundschaften getreulich registriert. Eine von
Volker Michels besorgte Ausgabe der
«Sämtlichen Werke» und die vielen
Briefeditionen der jüngsten Zeit haben
die Dokumentenbasis erheblich verbrei-
tert, aber die Analyse nicht immer im
gleichen Ausmass vertieft.
Zum 50. Todesjahr 2012 haben sich
zwei Autoren an die Beschreibung von
Hesses Opus und Vita herangemacht:
Heimo Schwilk, u. a. Biograf Ernst Jüngers, und Gunnar Decker, Redaktor der
Zeitschrift «Theater der Zeit», Herausgeber eines Hesse-ABC und Verfasser
biografischer Bücher, darunter eines
zu Ernst Jünger. Decker ist nicht nur
umfangreicher und ausführlicher als
Schwilk, es gelingt ihm auch besser, die
Chronologie zu durchbrechen und übergreifende Schwerpunkte zu setzen. So
werden etwa die Psychotherapie bei
Josef Bernhard Lang, die Freundschaft
mit Thomas Mann und die Verlagsgeschichte um Peter Suhrkamp in längeren, die Jahre übergreifenden Passagen
geschildert und gewertet. Obschon sich
Decker sehr stark auf Selbstzeugnisse
Hesses stützt, bemüht er sich bei seiner
Darstellung wohltuend um Distanz.
Zu kurz kommen Hesses Nachwirkung und sein Stellenwert in der Literatur und Kulturgeschichte. Die HesseRezeption in den USA beschränkt sich
auf die Äusserungen des Drogen-Gurus
Timothy Leary und des «Steppenwolf»Filmregisseurs Fred Haines. Weil Briefzitate häufig als Versatzstücke verwendet und an der «passenden» Stelle eingesetzt werden, wird das Netzwerk
nicht sichtbar, das sich Hesse mit seinen
Freundschaften schuf. Seine reiche Korrespondenz mit Schriftstellern, Malern,
Künstlern und Intellektuellen in der
ganzen Welt, aber auch mit unbekannten Lesern und Leserinnen, hat wohl
massgeblich dazu beigetragen, dass das
Interesse an Hesse ungebrochen ist. ●
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Nachrichtendienst Der «New York Times»-Reporter Tim Weiner legt ein Standardwerk zur
Geschichte des FBI vor
Mächtiger als der amerikanische
Präsident
Tim Weiner: FBI. Die wahre Geschichte
einer legendären Organisation.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2012.
695 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 33.30.
«Es gibt Angriffsziele in den USA, die
wir treffen könnten, aber es ist noch
nicht so weit», verriet 1998 ein Verhafteter nach dem Bombenanschlag von AlQaida auf die amerikanische Botschaft
in Nairobi. Das FBI beachtete die Warnungen allerdings kaum: Es war damit
beschäftigt, Konkurrenten von der CIA
zu bekämpfen und Präsident Bill Clinton bei seinen Sexspielen mit einer
Praktikantin zu bespitzeln.
Solche Geschichten finden sich viele
in der schwergewichtigen Geschichte
des Federal Bureau of Investigation, die
Tim Weiner vorlegt. Der Reporter der
«New York Times», für seine Geschichte der CIA mehrfach ausgezeichnet,
sprach mit 200 Insidern und wertete
70 000 Seiten Dokumente aus, darunter
– nach 26 Jahren Kampf um die Offenlegung – auch die Geheimdossiers des
langjährigen Direktors J. Edgar Hoover.
Mit seinem akribisch recherchierten
Wälzer fordert Weiner den Leser, leistet
aber einen wichtigen Beitrag zur Debatte über ein Problem, das schon die
Gründerväter der Vereinigten Staaten
erkannten: die Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit. So schrieb Alexander Hamilton, die Bedrohung zwinge
auch freiheitsliebende Nationen, «um
BETTMANN / CORBIS
Von Markus Schär
Wie alle Präsidenten
musste auch Richard
M. Nixon zuhören,
wenn J. Edgar Hoover,
der Direktor des FBI,
etwas zu sagen hatte.
Hier am 28. Mai 1969
im Weissen Haus.
der Ruhe und Sicherheit willen zu Einrichtungen Zuflucht zu nehmen, die tendenziell ihre bürgerlichen und politischen Rechte gefährden».
Fast ein Jahrhundert lang galt für das
FBI die Sicherheit alles, und zwar fast
ausschliesslich jene vor der kommunistischen Gefahr. Dafür sorgte 48 Jahre
lang der allmächtige Direktor: «Hoover
steht im Zentrum des amerikanischen
Jahrhunderts wie eine dreckverkrustete
Statue», schreibt Weiner. Hoover kam
1917 als 22-Jähriger ins Justizministerium, leitete ab 1919 «mit einer einzigartigen Machtfülle» die Radical Division
im Kampf gegen die Kommunisten und
herrschte ab 1924 als Direktor des FBI.
Unter – oder besser: neben – Präsident
Franklin D. Roosevelt wuchs Hoover
zum wohl wichtigsten Mann im Staat
heran. Und er nötigte später mit seinem
Geheimwissen die Präsidenten Lyndon
B. Johnson und Richard Nixon, ihm
seine Macht lebenslang zu sichern.
Nixon nannte ihn einen Mann, «der,
wenn er stürzt, den Tempel niederreisst
und damit auch mich». So starb Hoover
1972 im Schlaf als Herrscher im FBI und
damit in den USA.
Durch das ganze Buch zieht sich der
Kampf gegen die kommunistische Bedrohung. Weiner erzählt – gelegentlich
unterhaltsam, oft aber auch ermüdend
– bedenkliche Geschichten: Wie das FBI
Zehntausende von Verdächtigen bespitzelte oder verhaftete, aber keinen Spion
der Sowjets in der Regierung fand. Wie
es einen Agenten als US-Botschafter in
die Dominikanische Republik schickte,
um Diktator Rafael Trujillo zu stürzen –
und eine ebenso brutale Regierung an
die Macht zu bringen. Oder wie es, um
den Einfluss von Moskau auf die Bürgerrechtsbewegung zu beweisen, im Sexleben von Martin Luther King herumschnüffelte, den Hoover einen «streunenden Kater mit zwanghaften, degenerierten sexuellen Neigungen» nannte.
Der Autor will die Quellen für sich
sprechen lassen, enthält sich also eines
Urteils. Wie er es mit Sicherheit und
Freiheit hält, lässt er aber am Schluss
durchblicken. Er weist darauf hin, dass
das FBI – nachdem es nicht vor den Anschlägen von 9/11 gewarnt hatte – die
Folterverhöre von Terrorverdächtigen
verweigerte. Und er stellt fest, dass Barack Obama das FBI 2008 bei seiner
100-Jahr-Feier ermahnte: «Wir müssen
die Wahl zwischen unserer Sicherheit
und unseren Idealen als falsche Alternative ablehnen.» ●
Essays Die Argentinierin María Sonia Cristoff denkt über das Verhältnis von Mensch und Tier nach
Meinen Kater kuriere ich im Zoo
María Sonia Cristoff: Unbehaust. Was
Menschen mit Tieren machen.
Berenberg, Berlin 2012. 93 Seiten,
Fr. 28.90.
Von Regula Freuler
Manchmal fühlt sich María Sonia Cristoff so elend, als presse ihr eine Maschine die Brust zusammen. Dann geht sie in
den Zoo. Dort, so schreibt die herausragende argentinische Schriftstellerin,
lasse der Druck allmählich nach. «Wofür
weniger der Anblick der Tiere selbst
sorgte als vielmehr das starke Verbundenheitsgefühl, das sich dabei in mir
regte: Ich war nicht als Einzige fehl am
Platz hier.» Aber wenn auch der Zoobesuch unerträglich wird (wie lange hält
man schon sein Spiegelbild aus?), versucht sie an Situationen zu denken, bei
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
denen Tiere für Aufruhr gesorgt oder
Schaden angerichtet haben. Oder einfach abgehauen sind wie jener Schimpanse, der 1951 zweimal aus dem Londoner Zoo entlief – woraufhin die Zooleitung den Affen als «nicht integrationswillig» töten liess.
Die zehn Kapitel, in denen die 47-Jährige über das Verhältnis von Mensch
und Tier nachdenkt, sind wie ein langer
Seufzer, aber auch ein ärgerliches Faustauf-den-Tisch-hauen. Hier muss sich
eine Person Luft verschaffen in der
lärm- und abgasverpesteten Metropole
Buenos Aires, in die sie einst als junge
Frau aus ihrer gottverlassenen Heimat
Patagonien geflohen ist. Es sind lose zusammenhängende Texte, ein Rätsel hält
sie wie eine Klammer zusammen: Woher
kommt das Beischlaf-Gestöhne, das Cristoff jede Nacht exakt um 3 Uhr in der
Früh weckt? Auf der Suche nach den Ur-
hebern betreibt die Autorin jene wunderbare Erzählweise des Abschweifens.
«Unbehaust» ist auch ein spielerischer Gang durch die Mensch-Tier-Abteilung der Literaturgeschichte, von
Peter Høegs Roman «Die Frau und der
Affe» über Patricia Highsmiths «Kleine
Mordgeschichten für Tierfreunde» bis
zu J. M. Coetzees literarischer Erzählung «Das Leben der Tiere». Dabei kehrt
Cristoff immer wieder zum eigentlichen
Thema – der Frage: Wie sollen wir
leben? – zurück. Sei’s auch mit Metaphern wie auf jenem Hinweisschild,
welches das Zoopersonal über die
Handhabung aufmüpfiger Insassen instruiert. Darunter kritzelte jemand von
Hand: «Wir sind doch keine Tiere!»
Aber, könnte man mit Cristoff anfügen,
manchmal fühlen wir uns wie solche.
Vor allem wie solche, die von Menschen
gefangen gehalten werden. ●
Seefahrt Warum die Katastrophe der Titanic vor 100 Jahren die Menschen noch immer beschäftigt
Untergang der Unsinkbaren
Linda Maria Koldau: Titanic. Das Schiff.
Der Untergang. Die Legenden. C. H.
Beck, München 2012. 303 Seiten, Fr. 28.50.
Harro Hess, Manfred Hessel: Die Titanic
von A bis Z. Herbig, München 2012.
256 Seiten, Fr. 37.90.
Als der als «unsinkbar» geltende Passagierdampfer Titanic bei seiner Jungfernfahrt nach New York am 14. April 1912
kurz vor Mitternacht einen Eisberg
rammte und, begleitet von den Klängen
der Bordkapelle, innerhalb von knapp
drei Stunden in den eisigen Fluten versank, konnte niemand ahnen, dass dieses Ereignis einmal als grösste Schifffahrtskatastrophe der Geschichte gelten
würde. Und das aus gutem Grund: Wie
Linda Maria Koldau in ihrem Buch «Titanic. Das Schiff. Der Untergang. Die
Legenden» ausführt, waren Schiffskollisionen mit Eisbergen und dadurch bedingte Untergänge zur Jahrhundertwende keine Seltenheit. Selbst die
1500 Toten des Unglücks nehmen sich
im Vergleich zu späteren Katastrophen
wie dem Untergang der philippinischen
Fähre Doña Paz 1987 mit rund 4400 Opfern fast «bescheiden» aus.
Eine griechische Tragödie
Warum die Titanic im kollektiven Bewusstsein trotzdem bis heute als SuperGAU der Seefahrt fest verankert ist,
führt Koldau schlüssig auf den «geradezu klassischen Erzählrhythmus» der Abläufe zurück. «Der strahlende Beginn
mit den hohen Erwartungen an das neue
Schiff, das heiter-ruhige Leben an Bord,
dann die Kollision, die ironischerweise
nur von Wenigen wahrgenommen wird.
Anschliessend das langsame Erwachen,
das von Neugier über Beunruhigung in
Verzweiflung mündet, zuletzt aber in
Ruhe und würdeloser Annahme des
Schicksals ausklingt»: Dieser Ablauf,
den Koldau als «Hochmut, Fall und Läuterung» mit der griechischen Tragödie
– Hybris, Nemesis und Katharsis – in Beziehung setzt, machten die Titanic zum
gefundenes Fressen für die Presse.
Notwendig für das mediale Drama
war zudem, dass es bei der Titanic – anders als bei zahlreichen früheren Katastrophen – rund 700 Menschen gab, die
davon zu berichten wussten: als Überlebende vornehmlich der Ersten Klasse,
oder als Hochstapler, wie der angebliche
Titanic-Offizier Max Dittmar-Pitman,
der mit gefälschten Erlebnisschilderungen Säle füllte und dem Romancier Josef
Pelz von Felinau für seinen heute noch
erhältlichen Bestsellerroman von 1936
«Titanic. Die Tragödie eines Ozeanriesen» zentrale Informationen lieferte.
Wie Koldau aufzeigt, kam die Mythisierungsmaschinerie der Titanic unmittelbar nach dem Untergang in Fahrt: bedingt durch die relativ neue Technik der
Funkübertragung, welche die Notrufe
UNIVERSAL IMAGES GROUP / GETTY IMAGES
Von Thomas Köster
Das letzte Bild
der Titanic beim
Auslaufen aus
dem Hafen von
Queenstown in Irland
am 11. April 1912. Nur
vier Tag später sank
das Schiff.
eines Schiffs ebenso wie Falschmeldungen von seiner Rettung erstmals nahezu
in Echtzeit in die Redaktionsstuben
brachte. Bereits einen Monat nach dem
Unglück hatte zudem der Stummfilm
«Saved from the Titanic» mit der Schauspielerin und Überlebenden Dorothy
Gibson Premiere, die dort sogar dieselben Kleider trug, die sie an Bord getragen hatte.
Über zahlreiche Zeugnisse in Literatur, Kunst und Kultur schlägt Koldau
den Bogen bis zu James Camerons Film
«Titanic», dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, mitsamt der mitunter pseudo-religiösen Verkitschung des Untergangskults, die im Fahrwasser der Hollywood-Schnulze begann. Parallel hierzu aber erzählt sie auch die Geschichte
der wirklichen Titanic, die damit nicht
immer harmoniert.
Dabei beschreibt Koldau die Geburt
des transkontinentalen Dampfers aus
dem hart geführten Wettbewerb der
Reedereien ebenso wie seine in drei
Klassen unterteilte Architektur als Mikrokosmos der damaligen Gesellschaft.
Vor allem aber schildert sie die letzten
Stunden des Schiffs im Umfeld der Kollision – und räumt dabei mit mancher
Legende auf, die erst durch die Vertuschungsversuche der beklagten Reederei, die retrospektive Verklärung Überlebender oder durch journalistische
Sensationsgier entstand.
Ähnlich akribisch wie Koldau zeichnen auch Harro Hess und Manfred Hessel in «Die Titanic von A bis Z» das tragische Geschehen nach. Warum sie
dabei allerdings auf lexikographische
Strukturen von A wie «Abenteuer» bis Z
wie «Zwischendeck» zurückgreifen, ist
schleierhaft. Dem Lesefluss jedenfalls
ist der dadurch bedingte Aufbruch der
Chronologie ebenso abträglich wie die
zahlreichen Doppelungen innerhalb
verschiedener Einträge. Trotzdem vermittelt das Buch als Ganzes einen gelungenen Überblick über das Geschehen
und lässt erahnen, welch komplexes Zusammenspiel unterschiedlichster Komponenten nötig war, um aus der Titanic
jenes Phänomen zu machen, das aus
ihrem Untergang erwuchs.
Etwas versteckt unter «O» findet sich
in ein ganz entscheidender Eintrag: der
zur nahezu baugleichen Olympic nämlich, deren Stapellauf ihrem Schwesterschiff Titanic voranging. Der als «Wunder» an Technik und Luxus bestaunte
Dampfer – damals der grösste seiner Art
weltweit – war die eigentliche Sensation
der Reederei. Als die Olympic 1911 zu
ihrer ersten Reise nach New York aufbrach, standen weitaus mehr Schaulustige am Pier als kurz darauf bei der Titanic: Deren Ausfahrt gehörte bereits zur
maritimen Routine.
Ruhm nur wegen Untergang
Wie die Autoren aufzeigen, war es ein
medialer Fehler der Olympic, ihren
Dienst über mehr als drei Jahrzehnte nahezu unbeschadet zu versehen: «Insgesamt legte das Schiff etwa vier Millionen
Kilometer zurück und überquerte 500mal den Atlantischen Ozean». So blieb
es ihr Schicksal, nach dem Untergang
der Titanic als Tragödien-Double herzuhalten: Viele Postkarten, Zeitschriftenfotos und Filmszenen im Umfeld der
Titanic-Katastrophe zeigen eigentlich
die Olympic.
Hätte die Titanic «wie ihr Schwesterschiff Olympic ihren Dienst treu und
brav versehen», heisst es auch bei Linda
Maria Koldau, «niemand hätte je danach
gefragt». Vielleicht ist dies die entscheidende Lehre, die man aus beiden Büchern ziehen kann: Dass offenbar nur
der zum unsinkbaren Mythos taugt, der
dramatisch untergeht. ●
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Lyrik Eine Einführung in Leben und Werk des römischen Dichters Ovid begeistert
Liebespoesie im alten Rom
Katharina Volk: Ovid – Dichter des Exils.
Philipp von Zabern, Darmstadt 2012.
173 Seiten, Fr. 28.50.
Von Kathrin Meier-Rust
Die historischen Fakten sind überaus
spärlich: Publius Ovidius Naso, kurz
Ovid, wurde 43 v. Chr. geboren, verbrachte nahezu sein ganzes Leben als
populärer und gut vernetzter Dichter in
Rom, bis er im Jahre 8 n. Chr. von Kaiser
Augustus nach Tomis (heute der rumänische Badeort Constanza) am Schwarzen Meer verbannt wurde, wo er etwa
zehn Jahre später verstarb.
Selbst der Grund für diese Verbannung liegt im Dunkeln: «carmen et
error» – ein Lied und ein Fehler – lautet
die einzige, kryptische Erklärung, die
uns der Dichter in seinem Klagelied
Tristia hinterlassen hat. Ob es um biografische Umstände geht, um die dichte-
rische Berufung des jungen Mannes –
«was ich auch sagen wollte, es wurde
immer ein Vers draus» – oder um das
kecke Selbstbewusstsein dieses grossen
Sängers der Liebe (Amores, Ars amatoria), der Mythen (Metamorphosen) und
des Exil-Schmerzes (Tristia), es ist deshalb in erster Linie das (bekanntlich
eher unzuverlässige) lyrische Ich, auf
das sich stützen muss, wer Ovid und seinem Schicksal näherkommen möchte.
Katharina Volk, Professorin an der
Columbia University in New York,
schöpft aus allem, nutzt, wendet, diskutiert überaus präzise jeden Hinweis und
jedes Detail, um Leben und Werk ihres
erklärten Lieblingsdichters darzustellen.
Kundig führt sie ein in «sein» Versmass
der Elegie, oder erklärt, wie Ovid die
Mythen der Antike in seinen berühmten
Metamorphosen nicht nur sammelt und
auf originelle neue Art erzählt, sondern
zu einer eigentlichen Universalgeschichte der Menschheit formt.
Ein schönes Kapitel gilt den unermüdlich besungenen Frauen, die bei Ovid
immer in einem erotischen Kontext auftreten: als glühend verehrte Adressatinnen seiner Liebe und seiner Ratschläge,
etwa zu Frisur, Kleidung oder Gesichtscreme, oder, wie in einer Vielzahl der
Mythen, als Opfer von Vergewaltigung.
Ob diese Liebe des Dichters zu Frauen
nun als prae-feministisch oder als sexistisch zu deuten sei – darüber streitet die
Wissenschaft. Die Autorin überlässt das
Urteil Ovids Leserinnen.
Den Schluss bildet eine Übersicht
über die 2000-jährige Ovid-Rezeption
bis hin zum Phänomen der zahlreichen
«Ovidromane» des letzten Jahrzehnts:
einerseits Krimis, die das Rätsel seiner
Verbannung endgültig zu lösen vorgeben, andererseits hochliterarische Spurensuchen. Mit alledem erreicht die Autorin ihr erklärtes Ziel glänzend: Sie erzeugt den dringenden Wunsch, sofort
selbst Ovid zu lesen. ●
Das amerikanische Buch Winzige Heimstätten für eine nachhaltige Zukunft
Ein Titel, der nur als Druckausgabe erscheint, vom Verleger persönlich in
Buchläden gebracht wird und dennoch
bessere Absätze erzielt, als so mancher
Titel auf den Bestsellerlisten: Mit Tiny
über 250 000 Käufern legte «Shelter»
den Grundstein für Kahns Tätigkeit als
Verleger. Selbst ein leidenschaftlicher
Surfer und Skateboard-Fahrer, hat Kahn
zwischen 1980 und 2000 eine Reihe
enorm erfolgreicher Fitnessbücher
geschrieben und publiziert.
allen Regeln des US-Buchgeschäftes.
Anfang Februar erschienen, hat er die
15 000 Exemplare der Erstauflage seines
neuen Buches binnen Tagen verkauft
und auch die zweite findet beim Publikum und der Kritik begeisterte Resonanz. So würdigt selbst das konservative
«Wall Street Journal» Kahns Buch als
faszinierend und zeitgemäss.
Erst danach widmete Lloyd Kahn sich
wieder dem Bauen von Häusern und
kam dabei auf die in «Shelter» umrissenen Ideen zurück. Kahn hat darin einen
alternativen Pragmatismus amerikanischer Prägung entwickelt, der die von
einem Ralph Waldo Emerson gepriesene Selbstgenügsamkeit als Leitstern
begreift, aber für eine moderne Sinnlichkeit offen ist: Eigeninitiative, Lebenslust und Experimentierfreude
sollen auch den Hausbau prägen. Dieser Ansatz findet in «Tiny Homes»
einen anregenden Ausdruck. Von
Walknochen über Holzpaletten bis
Wellblech sind der Fantasie bei den
Materialien keine Grenzen gesetzt.
Gleichzeitig bilden die Wiederverwendung von Baustoffen und der Einsatz
von Solarzellen als Energiequelle einen
roten Faden durch sämtliche Kapitel.
Dabei liegen die Kosten bei der Mehrzahl der Gebäude nicht zuletzt dank
der Eigeninitiative der Konstrukteure
erstaunlich niedrig.
Homes: Simple Shelter. Scaling Back in
the 21st Century (Shelter Publishing,
215 Seiten) spottet Lloyd Kahn derzeit
Mit dem grossformatigen Bildband fordert der 77-jährige Pionier einer alternativen Architektur seine Landsleute
zu einer kreativen Schrumpfkur auf.
«Tiny Homes» stellt in acht Kategorien
winzige bis kleine Wohnstätten vor, die
ein naturnahes und ökologisch verträgliches Leben ermöglichen. Neben
Häuschen Marke Eigenbau auf Rädern,
auf dem Wasser und in Bäumen zeigt
das Buch Entwürfe von Architekten
sowie vorfabrizierte Sets und Heime
aus Erde und Stroh. Die Fotos werden
mit kurzen Texten ergänzt, und mitunter dokumentieren Serien von Bildern
auch den Bau eines Gebäudes. Die
Mehrzahl der Beiträge stammt von den
Baumeistern selbst und hat den Autor
Kahn als digitale «Fan-Post» für seinen
Blog erreicht.
So kann der Publizist erfreut notieren,
dass seine seit 1973 veröffentlichten
Bücher über Leben und Wohnen viele
Entwürfe in «Tiny Homes» inspiriert
haben. Kahn hat nach seinem Militärdienst im kalifornischen Bohème26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012
Ein Beispiel der
«tiny homes» aus
dem Buch von Lloyd
Kahn. Sie sollen durch
moderne Sinnlichkeit,
Lebenslust und
Experimentierfreude
geprägt sein.
Unten der Autor.
Paradies Big Sur Bauprojekte mit Materialien aus Abbruchhäusern umgesetzt,
ehe er mit dem Publizisten und Theoretiker Stewart Brand zusammenarbeitete.
Dessen «Whole Earth Catalogue»
wurde zu einer Bibel der Hippie-Ära
und listete eine grosse Anzahl «nützlicher Werkzeuge» für ein Leben ausserhalb der Konsumwelt auf. AppleGründer Steve Jobs hat den Katalog als
Urahnen des Internets bezeichnet.
Lloyd Kahn übernahm darin die Kategorie «Shelter» (Wohnstätte, Unterkunft)
und veröffentlichte 1973 ein Buch gleichen Titels. Es wurde ein Plädoyer für
die Wiederentdeckung traditioneller
Architektur in allen Teilen der Welt und
bot neben zahlreichen Fotografien auch
Baupläne und Anleitungen für Profis
und Autodidakten. Als Dauerseller mit
Nicht jedes der «tiny homes» überzeugt als Vorlage für umweltbewusste
Bauherren. Etliche Wohnstätten erinnern an heimelige Hobbit-Häuschen
aus dem «Herr der Ringe» und wirken
eher wie die Realisierung von Jugendträumen. Doch etliche der Bauten etwa
eines texanischen Architektenteams
liessen sich problemlos in alle Welt exportieren. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Agenda April 2012
Thomana Kirche, Schule, Chor
Ganze Schweiz
Montag, 23. April
Unesco-Welttag des Buches. Anlässe in
mehreren Städten der Schweiz. Info:
www.welttagdesbuches.ch.
GESINE BÄNFER
Basel
Mittwoch, 11. April, 19 Uhr
Annette Pehnt: Chronik
der Nähe. Lesung, Fr. 17.–.
Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50.
Mittwoch, 18. April, 20 Uhr
Michèle Roten: Wie Frau sein –
Protokoll einer Verwirrung. Lesung,
Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 36,
Tel. 061 264 26 55.
Dienstag, 24. April, 19 Uhr
Andrea Maria Schenkel: Finsterau. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Bern
sich von einer Armenschule zum humanistischen
Gymnasium mit landesweiter Ausstrahlung, aus dem
Schulchor wurde einer der renommiertesten
Knabenchöre der Welt. Doris Mundus hat
eindrückliche Bilder zu den drei Institutionen
zusammengetragen. Unser Bild zeigt Kirche und
Schule in einem kolorierten Kupferstich von
Balthasar Friedrich Leizelt aus dem Jahr 1785.
Manfred Papst
Doris Mundus: 800 Jahre Thomana. Lehmstedt,
Leipzig 2012. 192 Seiten, 188 Abb., Fr. 35.50.
Bestseller März 2012
Belletristik
Sachbuch
1 Dtv. 588 Seiten, Fr. 17.90.
2 Deuticke. 205 Seiten, Fr. 23.90.
3 Nagel & Kimche. 394 Seiten, Fr. 25.90.
4 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 19.90.
5 Diogenes. 309 Seiten, Fr. 27.90.
6
C. H. Beck. 402 Seiten, Fr. 25.90.
7 Dtv. 588 Seiten, Fr. 18.–.
8 Kiepenheuer & Witsch. 242 Seiten, Fr. 25.50.
9 Dtv. 458 Seiten, Fr. 18.–.
10 Diogenes. 345 Seiten, Fr. 35.90.
1 Orell Füssli. 208 Seiten, Fr. 26.90.
2 Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.
3 Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90.
4
Hanser. 447 Seiten, Fr. 34.90.
5
Hanser. 368 Seiten, Fr. 29.90.
6 Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90.
7 Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 35.50.
8 Droemer/Knaur. 250 Seiten, Fr. 30.50.
9 Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90.
10 Campus. 320 Seiten, Fr. 35.50.
Jussi Adler-Olsen: Das Alphabethaus.
Daniel Glattauer: Ewig Dein.
Milena Moser: Montagsmenschen.
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.
Paulo Coelho: Aleph.
Catalin D. Florescu: Jacob beschliesst zu
lieben.
Jussi Adler-Olsen: Erlösung.
Christian Kracht: Imperium.
Jussi Adler-Olsen: Schändung.
Lukas Hartmann: Räuberleben.
Dienstag, 3. April, 19.30 Uhr
Endo Anaconda: Walterfahren. Lesung,
Fr. 15.–. Zentrum Paul Klee, Monument
im Fruchtland. Info: www.zpk.org.
Montag, 23. April, 19 Uhr
Andri Perl: Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel. Lesung. SBB Historic
Infothek, Bollwerk 12. Tel. 051 220 22 12.
Mittwoch, 25. April, 20 Uhr
Heinz Däpp, Fernand Rausser: Der alltägliche WahnSinn. Buchvernissage,
Musik Christine Lauterburg. Gratistickets im Vorverkauf. Thalia im Loeb,
Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 40.
Zürich
Montag, 2. April, 20 Uhr
Walter Wittmann: Superkrise.
Daniela Kuhn: Zwischen Stall und Hotel.
Lesung, Fr. 15.–. Buchhandlung Sphères,
Hardturmstr. 66. Info: www.spheres.cc/.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.
Mittwoch, 4. April, 19.30 Uhr
Barney Stinson: Das Playbook.
Tomas Sedlacek: Die Ökonomie von Gut und
Böse.
Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost.
Barney Stinson: Der Bro Code.
Walter Isaacson: Steve Jobs.
Petra Bock: Mindfuck.
Remo H. Largo: Jugendjahre.
David Rock: Brain at Work.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 13. 3. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Kathrina Redmann: Zwei Schuhe, ein
Schritt; Madlaina Brogt Salah Eldin:
Liebe zwischen Halbmond und Kreuz.
Lesungen. ZSV, Forum Gartensaal,
Cramerstr. 7. Info: www.zsv-online.ch.
Dienstag, 24. April, 20 Uhr
Zeruya Shalev: Für den Rest des Lebens.
Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal,
Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Donnerstag, 26. April, 20 Uhr
Jürg Laederach: Harmfuls
Hölle. Lesung, Fr. 18.–
inkl. Apéro. Literaturhaus,
Limmatquai 62,
Tel. 044 254 50 00.
KEFALAS / KEYSTONE
Die Stadt Leipzig feiert dieses Jahr ein dreifaches
Jubiläum: Die Thomaskirche, der Thomanerchor und
die Thomasschule blicken auf ihr 800-jähriges
Bestehen zurück. Alle drei Institutionen haben eine
bewegte Geschichte hinter sich. In der Thomaskirche
hielt Martin Luther am 25. Mai 1539 die
Pfingstpredigt und brachte die Reformation nach
Leipzig. Hier wirkte Johann Sebastian Bach von 1723
bis zu seinem Tod im Jahr 1750 als Thomaskantor
und machte die Stadt zu einem musikalischen
Zentrum der Welt. Die Thomasschule entwickelte
Bücher am Sonntag Nr. 4
erscheint am 29. 4. 2012
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
25. März 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
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Die vielen Gourmet-Produkte von Sélection gibts in grösseren Migros-Filialen und auf www.leshop.ch www.migros.ch / selection
stehen
den, war eine Verlockung, der ich nicht wider
«Die Aromen von Käse und Wein zu verbin
Jahres gekür t wurde.
des
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innov
Käse
zur
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Kreat
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konnte», erzählt Käser Ueli Moser, desse
stimmigste Wein
vielen Degustationen musste zuerst der
Doch bis dahin war es ein langer Weg. In
en länger. Wann
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gefunden werden. Dann fing das Experimen
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muss der Käse ins Weinbad? Wie verhalten
Kunden,
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freut
mehr
natürlich. Doch viel
meine Arbeit honoriert wurde, ehrt mich
eiden
besch
er
meist
Käse
der
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ssen»
genie
und
die meine einmalige Kombination schätzen
Käserei.
und verschwindet in den Gängen seiner