Wort des Bischofs Inhalt - Evangelische Kirche Berlin

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Wort des Bischofs Inhalt - Evangelische Kirche Berlin
Az. 1624‐07.04:02/01 Drucksache 02 Bischof Dr. Dr. h.c. Markus Dröge Wort des Bischofs 24. April 2015 Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin‐Brandenburg‐schlesische Oberlausitz 24. – 25. April 2015 Inhalt
1. „Du sollst dir kein Bildnis machen“ – Reformation: Bibel und Bild ................................................. 2 2. Flüchtlingsnot – Verantwortung erkennen und endlich Lösungen finden! .................................... 5 3. 70 Jahre Befreiung ........................................................................................................................... 8 4. 100 Jahre Völkermord an den Armeniern ..................................................................................... 10 Anhang: Entwurf einer Stellungnahme: Erklärung der Landessynode vom 24. April 2015 zum Völkermord an den Armeniern ............................................................................................................. 12 1 1. „Du sollst dir kein Bildnis machen“ – Reformation: Bibel und Bild „Du sollst dir kein Bild machen. Denn ein Bild schränkt ein, begrenzt, fasst, was unbegrenzt und unvorstellbar bleiben soll.“ So formuliert Arnold Schönberg das zweite Gebot im selbst verfassten Libretto der Oper „Mose und Aron“. Am vergangenen Sonntagabend wurde die Premiere der Neuinszenierung von Barrie Kosky in der Komischen Oper in Berlin gefeiert. Arnold Schönberg hat sich nicht genau an die biblische Schil‐
derung im zweiten Mosebuch gehalten. Er stilisiert einen Gegensatz, einen Kampf zwischen Mose und Aron. Mose der Prophet, der streng das Wort Gottes, die Gebote, die Ungreifbarkeit Gottes verteidigt und Aron, der Priester, der nahe am Volk sein will, der die Sehnsucht nach einem sicht‐
baren Gottesbild, nach eindrücklichen Opfern und gefühlten Gotteserlebnissen verstehen will. Der Regisseur Kosky hat in der Geschichte des Mose und Aron in geradezu überwältigender Weise das Volk dargestellt, die Menschenmasse, die fordert und treibt und getrieben wird, ekstatisch feiert und elend zugrunde geht. Und er hat das Leiden Israels bis in die Greuel des vergangenen Jahrhunderts in das Stück eingetragen. Die schwebende Zwölftonmusik Schönbergs, in der man vergeblich auf eine Melodie wartet, in der man sich zu Hause fühlen könnte, tut das ihre dazu. Schönbergs Handlung, an der Bibel vorbei entwickelt, macht die Geschichte von Mose und Aron zu einem treffenden Beitrag zum Thema Wort und Bild, Wort oder Bild. Er lässt Aron zu Mose sagen: „Ein Volk kann nur fühlen. Kein Volk kann glauben, was es nicht fühlt. So mache dich dem Volk verständlich, auf eine ihm angemessene Art.“ Mose aber verweigert diese anschauliche Nähe. Er steigt zum Schluss über die Leichenberge des Volks und hat die Gebote Gottes in blutroter Farbe auf seinen nackten Oberkörper gemalt – völlig vereint mit dem Wort Gottes. Das Volk ist mit seiner Bildersehnsucht untergegangen, Aron stirbt. Das Wort ist geblieben, hat gesiegt. Aber der Prophet bleibt einsam zurück. Reformation – Bibel und Bild. Das Themenjahr 2015 zieht uns als Evangelische Kirche wieder neu in die Frage hinein: „Wie darf, wie kann von Gott gesprochen werden? Wie darf, wie kann Gott darge‐
stellt werden? Wie kann, wie soll Gott anschaulich, verstehbar werden, nahe am Menschen und doch ohne übergriffig zu fassen, „was unbegrenzt und unvorstellbar bleiben soll“? 2 Der Protestantismus steht von jeher – im Sinne Schönbergs – für den Propheten Mose, nicht für den Priester Aron. Wir machen das Wort stark. Wir sind kritisch gegenüber dem Bild. Wir warnen vor der Unmittelbarkeit der Bilder, die in einem Moment die Präsenz der ganzen Wirklichkeit suggerieren. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Ja, so ist es: Wenn ich auf Seite eins der Tageszeitung das Bild eines überfüllten Flüchtlingsbootes sehe, dann ist sofort das ganze Elend und die Not der Menschen, die um ihr Leben bangen, in meinem Kopf und in meinem Herzen. Wenn ich jetzt, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Bilder der Men‐
schen sehe, die aus den KZs befreit wurden, ausgemergelte Personen, dann sitzt mir der Schrecken wieder neu in den Gliedern im Gedanken daran, was Menschen Menschen antun konnten und heute immer noch antun. Wenn ich in eine barock ausgestaltete Kirche eintrete, werde ich empfangen von der Pracht himmlisch‐verspielter Engel und staune, welche gestalterische Kraft die Gläubigen vergangener Jahrhunderte aufgebracht haben, um der christlichen Gemeinde ein Gefühl göttlicher Nähe zu vermitteln. Aber ohne die Mühe, das gesehene Bild in einen (sprachlichen und kulturellen) Kontext zu stellen, blieben wir blind für die Wirklichkeit, die mehr und anders ist als das Bild, das uns vor Augen steht. Ohne dass ich mir die Mühe mache, zu lesen und zu hören, was die Zusammenhänge einer verfehlten Flüchtlingspolitik sind, kann ich das unvorstellbare Leid kaum fassen. Ohne dass ich mich interessiere für die Konsequenzen, die unsere Gesellschaft und auch unsere Kirche aus der Unfassbarkeit von Ausschwitz gezogen haben, ohne dass ich mir die Geschichte der Auseinandersetzung mit der poli‐
tischen und theologischen Schuld des Antisemitismus und Antijudaismus aneigne, kann ich keine klaren Gedanken über die aktuelle Verantwortlichkeit fassen. Und ohne dass ich in einer Kirche über das Angesprochen‐Sein durch bildliche Darstellungen hinaus ein Wort höre, das mich aktuell zur Umkehr ruft und mir meine Verantwortlichkeit bewusst macht, bleibt Gott mehr verborgen, als dass er durch das Bild erfahrbar würde. Wussten Sie, liebe Schwestern und Brüder, dass die Evangelischen Kirchen über lange Jahrhunderte bewusst die Woche über geschlossen gehalten und nur zum Gottesdienst die Türen geöffnet wur‐
den? Die Reformatoren wollten damit verhindern, dass die Gottesbegegnung ohne das verkündigte Wort Gottes gesucht würde. Damit sind wir im aktuellen Themenjahr angekommen! Heute spüren wir, dass der Gegensatz von Wort und Bild nicht absolut zu sehen ist. Heute freuen wir uns über jede Kirche landauf, landab, die durch ehrenamtliches Engagement öffentlich zugänglich gehalten wird und deren Aura und Bilder bestaunt werden kann. Heute wissen wir, dass Wort und Bild nicht als Alternative zu betrachten sind, sondern in ein angemessenes Verhältnis gesetzt werden müssen. Das Bilderverbot gebietet uns, 3 unsere Gottesvorstellungen nicht mit einem bestimmten Bild zu identifizieren. Aber es verbietet uns nicht, sondern ermutigt uns, bildliche Darstellungen als Herausforderung für die Auseinandersetzung mit unseren Gottesbildern zu verstehen. Und dies ist durchaus biblisch! Denn anders als die Schön‐
berg`schen Personen „Mose und Aron“ haben Mose und Aaron im zweiten Buch Mose durchaus kon‐
struktiv zusammengearbeitet, um das Volk Israel auf Gottes Wegen zu führen. Die Bilder brauchen das Wort, um nicht der suggestiven Kraft eines unmittelbaren Eindrucks zu ver‐
fallen. Aber auch die Worte brauchen Bilder. Denn Worte schaffen Bilder in unserer Imagination. Wenn wir diese imaginären Gedankenbilder nicht mit realen Bildern konfrontieren, dann fällt es schwer, sich mit diesen eigenen Imaginationen auseinanderzusetzen. Auch innere Bilder stehen in der Gefahr, sich zu verfestigen und zu einem Götzendienst dogmatisierter innerer Gottesbilder zu führen, wie wir ihn bei Fundamentalisten und Extremisten beobachten können, die nicht mehr dia‐
logfähig sind, weil sie ihre eigenen gedanklichen Gottesbilder und religiösen Überzeugungen für die letztgültige Wahrheit halten. Das Themenjahr „Reformation: Bild und Bibel“ bietet also genug Stoff für interessante Auseinander‐
setzungen. Nur eines sollten wir nicht tun: Den reformatorischen Ansatz eines kritischen Umgangs mit den Bildern als defizitär einschätzen. Wir sollten nicht in der üblichen evangelischen Defizitorien‐
tierung meinen, wie arm wir dran wären, weil wir eine Kirche des Wortes in einer Zeit der Bilder sind. Das Gegenteil ist richtig. In einer Zeit der Überfülle von Bildern, die uns ungefiltert und oft unreflek‐
tiert anspringen, haben wir mit unserer Tradition etwas Wesentliches beizutragen: Nämlich die Er‐
kenntnis, dass wir immer wieder in einen heilsamen Abstand zum Bild gehen müssen, unsere eigenen Gedanken ernst nehmen, uns durch Worte inspirieren lassen müssen, die eine Einordnung der Bilder ermöglichen. Die moderne Kommunikationsforschung hat dies längst erkannt. In einer Zeit der Bil‐
derflut braucht der Mensch „Medienkompetenz“, das heißt die Fähigkeit, seine eigene kritische Hal‐
tung zu finden, zu pflegen und zu entwickeln, um nicht der unmittelbaren Suggestivkraft der Bilder zu verfallen. Passgenau zum Themenjahr „Reformation: Bibel und Bild“ kann ich Ihnen den Bericht über die Bischofsvisitation über die landeskirchliche Kunstarbeit aushändigen. Der Bericht trägt den Titel „Kunstvoll Kirche sein“. Er beginnt mit einem Plädoyer für eine kulturbewusste Kirche, würdigt die Aufbauarbeit, die mit der Kulturstiftung St. Matthäus mit vergleichsweise sehr geringen Ressourcen geleistet werden konnte, so dass St. Matthäus heute ein anerkannter kirchlicher Kulturort ist. Wir haben in unserer Kirche einen reichen Schatz an Kulturgütern, aber nur geringe Mittel, um sie zu pflegen und um die Gemeinden zu beraten. So haben wir in der EKBO die Aufgabe der Kunstbe‐
ratung in Personalunion mit dem Direktorenamt der Kulturstiftung etabliert. Der Visitationsbericht sieht deutlich, welche Belastung damit gegeben ist, sieht die Verbindung aber nicht nur als Nachteil, 4 da gerade die Verbindung von kultureller Gestaltung und Beratung die notwendige Spannung und Kreativität erzeugt. Es werden im Bericht sowohl die Herausforderungen benannt als auch praktische Vorschläge gemacht, wie es trotz schwieriger Bedingungen gelingen kann, die Arbeit der landeskirch‐
lichen Kulturarbeit noch besser in die Fläche unserer Kirche zu tragen. Ich empfehle Ihnen den Be‐
richt zur Lektüre und die Kulturarbeit unserer Kirche Ihrem Interesse und Ihrer Unterstützung. 2. Flüchtlingsnot – Verantwortung erkennen und endlich Lösungen finden! Wahrscheinlich 900 Menschen sind am vergangenen Wochenende im Mittelmeer ertrunken. Das schreit zum Himmel. Am vergangenen Mittwoch wurde in der Kirche Heilig‐Kreuz‐Passion in Berlin‐
Kreuzberg mit einem Gedenkgottesdienst der Opfer gedacht. Dieser Gottesdienst steht exemplarisch für viele Andachten und Gottesdienste, die in diesen Tagen in unseren Kirchen für die Flüchtlinge ge‐
halten wurden. Ich habe die Gemeinden unserer Kirche gebeten am kommenden Sonntag in den Für‐
bitten der Flüchtlinge zu gedenken, die auf diese erschreckende Weise vor unseren Augen umgekom‐
men sind. Jetzt wird in der europäischen Öffentlichkeit endlich engagiert über die Flüchtlingspolitik diskutiert. Es werden die Probleme benannt, auf die wir seit langem versuchen, aufmerksam zu machen. Ich erinnere nur an die Erklärungen unserer eigenen Synode und der EKD‐Synode. Notwendig ist eine neue, europaweite Flüchtlingspolitik, die das Dublin‐System überwindet, demzufolge derjenige euro‐
päische Staat zuständig ist, dessen Erdboden von einem Flüchtling erstmals betreten wurde. Ein Sys‐
tem, das weder die unterschiedlichen Integrationschancen unterschiedlicher Menschen in unter‐
schiedlichen Ländern, noch die Leistungsfähigkeit von Nationen mit berücksichtig. Nötig ist ein trans‐
parentes Einwanderungsverfahren, das international bekannt gemacht wird, damit Menschen sich nicht mit falschen Hoffnungen auf den Weg machen, ausgenutzt von Schlepperbanden. Notwendig ist ein Rettungssystem, wie es bereits eines gab, Mare nostrum, um die uralte ethische Pflicht der Rettung Schiffsbrüchiger nicht verkommen zu lassen. Die Moral des „Wir sind nicht zuständig“ ist am vergangenen Wochenende endgültig ans Ende gelangt. Jetzt muss jedem klar sein: Das Flüchtlings‐
thema ist für Europa eine epochale Herausforderung. Es geht um unser Selbstverständnis. Sind wir noch eine Staatengemeinschaft, die sich als Wertegemeinschaft versteht oder nur ein Zweckbündnis, um Wirtschafts‐ und Machtinteressen durchzusetzen? Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt zu handeln, gemeinsam europäisch zu handeln, um zu zeigen, dass Europa für die Menschenwürde ein‐
tritt. Wenn wir weiterhin zuschauen, wie Menschen ihr Leben auf dem Mittelmehr elend verlieren, dann verliert auch Europa seine Seele. 5 Trotz intensiver Gespräche ist es leider in Berlin noch nicht gelungen, eine Lösung für diejenigen Flüchtlinge zu erreichen, die immer noch mit ungeklärtem Rechtsstatus in unserer Stadt geduldet und von engagierten Menschen betreut werden. Wie Sie wissen sind allein etwa 100 Flüchtlinge in der Obhut von unseren Kirchengemeinden, die die Menschen aufgenommen haben, als das Land Berlin seine Zuständigkeit für beendet erklärt hat. Wir haben bereits im September vergangenen Jahres erklärt, dass wir die Verantwortung nicht dauerhaft übernehmen können. Die Gemeinden haben zugesagt, bis Ostern diesen Jahres ihre Hilfe aufrechtzuerhalten. Wir haben gemeinsam – die aktiven Gemeinden, der Kirchenkreis Berlin‐Stadtmitte, das Berliner Missionswerk, das Diakonische Werk – der Senatsverwaltung ein Angebot gemacht, um eine einvernehmliche und rechtlich gang‐
bare Lösung zu ermöglichen: Wir sind als Kirche bereit, die einzelnen Fälle juristisch vorprüfen zu lassen, um dann der Innenver‐
waltung zu ermöglichen, die Einzelfälle dahingehend zu prüfen, ob eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden kann. Eine solche Vorprüfung können wir aber nur dann vornehmen, wenn nicht ein zweites Mal, wie bereits schon einmal, nach umfangreicher Vorarbeit wieder rein formal die Zustän‐
digkeit nur mit dem Argument abgelehnt wird, die Flüchtlinge sollen sich an die für sie zuständigen Stellen, seien es andere Bundesländer oder andere europäische Länder, wenden. Dagegen spricht zweierlei: Zum einen ist bereits gerichtlich durch den Europäischen Menschenrechtsgerichthof fest‐
gestellt, dass eine Abschiebung zum Beispiel nach Italien oder Bulgarien nur dann rechtens ist, wenn dort eine menschenwürdige Unterbringung konkret für die Einzelperson zugesagt wird – dies aber ist offensichtlich nicht der Fall. Zum anderen ist es moralisch nicht zu vertreten, Menschen über fast zwei Jahre faktisch in Berlin zu dulden, mit ihnen zu verhandeln und Vereinbarungen zu schließen, um dann schließlich die Nicht‐Zuständigkeit zu erklären. Deshalb haben wir folgenden Weg angebo‐
ten: Es wird eine befristete Duldung ausgesprochen, in deren Zeitraum wir eine juristische Vorprüfung vornehmen und die Innenverwaltung eine Fallprüfung durchführen kann. Dieses Angebot, das auch der Senatsverwaltung endlich einen juristisch klaren Weg der Problemlösung ermöglichen würde, steht immer noch im Raum, und ich warte auf einen Gesprächstermin, an dem zielführend über die‐
ses Angebot verhandelt werden kann. Die Synode hat im November 2014 beschlossen, pro Gemeindeglied ein Euro zur Verfügung zu stel‐
len. Da wir gut eine Million Gemeindeglieder haben, wurden entsprechend 1 Million Euro beschlos‐
sen, von denen zunächst aus haushaltsrechtlichen Gründen 500.000 freigegeben sind und weitere 500.000 in den Haushalt 2016/2017 eingestellt werden sollen. Unmittelbar nach der Synode hat eine intensive Arbeit begonnen: Es wurde ein Gesamtkonzept unserer kirchlichen Flüchtlingsarbeit erstellt, Kriterien für die Vergabe der Mittel aus dem geschaffe‐
6 nen Fonds erarbeitet, das Konzept einer Flüchtlingskirche geschrieben. Die Flüchtlingskirche wird eine Kirche sein, an der die Arbeit für Flüchtlinge einen sichtbaren Anlaufpunkt hat, an der inhaltlich und beratend gearbeitet wird und die in Zusammenarbeit zwischen einer Gemeinde, dem Kirchen‐
kreis Stadtmitte und der Landeskirche (vertreten durch das Berliner Missionswerk) getragen werden soll. Intensive Gespräche werden diesbezüglich zurzeit geführt. Eine mobile Beratung soll in Branden‐
burg und der schlesischen Oberlausitz diejenigen unterstützen, die sich für Flüchtlinge engagieren. Die notwendigen Konzeptionen wurden von der Kirchenleitung inzwischen beschlossen, und die Ma‐
terialien sind vorgestern an alle Gemeinden gegangen. Ich bin zutiefst dankbar für die gute und äußerst engagierte Zusammenarbeit, die seit November ge‐
leistet wurde, unter extremem Zeitdruck und während der Vakanz unserer Pfarrstelle für Flüchtlings‐
betreuung. Ich danke allen Beteiligten für ihr hohes Engagement und nenne exemplarisch für alle: Generalsuperintendentin Heilgard Asmus, die den Kirchenleitungsausschuss geleitet hat, Direktor Roland Herpich und das Berliner Missionswerk, das alle Konzeptionsarbeit federführend begleitet hat, besonders Christof Theilemann, der neben seinen vielen anderen Aufgaben in der Ökumene die Vakanzvertretung für die Flüchtlingsarbeit übernommen hat, Hanns Thomä, der aus dem Ruhestand heraus aktiv ist und Barbara Eschen, Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin‐Brandenburg‐schle‐
sische Oberlausitz, die die Expertise der Diakonie einbringt und wie alle anderen jederzeit einsatzbe‐
reit war und ist. Vor allem aber danke ich unseren Gemeinden, Kirchenkreisen, allen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen in Kirche und Diakonie, die die Zeichen der Zeit verstanden haben und unsere christliche Verantwortung für die Flüchtlinge mit hohem Engagement wahrnehmen. Wir sind eine „Kirche mit Flüchtlingen“, sind bereit die epochale Herausforderung mit zu schultern. Ich sage be‐
wusst „mit“ zu schultern, denn auf eine gute Zusammenarbeit mit der Politik und der öffentlichen Verwaltung sind wir angewiesen. Und da ist, wie gesagt, noch Luft nach oben. In der Kirche Heilig‐Kreuz‐Passion wurde am vergangenen Mittwoch mit folgenden Worten gebetet: "Barmherziger Gott, sieh auf die Tausende von Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrunken sind und die sich jetzt dort befinden auf der Suche nach Sicherheit. Höre ihre verzweifelten Rufe und ihre Gebete. Sei mit Deinem Sohn Jesus Christus ihr Begleiter. Barmherziger Gott, sende Deinen Heiligen Geist als Mahnung an die Politik in Deutschland und in Europa, alles zu tun, um die Schiffbrüchigen aus der Seenot zu retten und eine gerechte und offene Asylpolitik zu gestalten. Wir bitten Dich für uns selber: Lass uns diejenigen aufnehmen, die gerettet wurden, lass uns ihnen ein Willkommen bereiten und ihnen zuhören und lass uns schließlich verstehen, wie sehr die Fluchtursachen auch etwas mit unserem Reichtum zu tun haben und wie wir durch Teilen an einer gerechten Weltordnung mitwirken können." 7 3. 70 Jahre Befreiung In diesen Tagen und Wochen gedenken wir der Befreiung vom Nationalsozialismus vor 70 Jahren: Ende des Zweiten Weltkrieges, Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur, Befreiung der Ge‐
fangenen und Gequälten aus den Konzentrationslagern. Gedenkveranstaltungen der Länder, Geden‐
ken in Seelow und auf dem Friedhof in Halbe, Gedenken in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück und an vielen weiteren Orten – all dies erinnert uns an die Schrecken des National‐
sozialismus und das unvorstellbare Leiden von Menschen, das durch die Gewaltherrschaft entstan‐
den ist. Wir müssen weiterhin aus der Aufarbeitung unserer Mitschuld durch die Anfälligkeit der Kirche für menschenverachtende Ideologien und durch das Schweigen zu offensichtlichem Unrecht lernen und aus dem Gedenken Motivationskräfte ziehen, uns heute für die Menschenwürde und die Menschenrechte einzusetzen. Wie nötig dies ist, zeigt die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die sich in unserer Gesellschaft inzwischen auch öffentlich zeigt. Pegida ist ein sichtbarer Ausdruck dieser Haltung, aber hinter diesen öffentlichen Demonstrationen steht mehr: ein Bewusstsein der Angst, der Unsicherheit, eine Orien‐
tierungslosigkeit und der Verlust des Vertrauens in unseren offenen und demokratischen Staat, dem die Lösung der aktuellen Herausforderungen nicht mehr zugetraut wird. Diese tiefe Verunsicherung ist das eigentliche Problem. Und hier müssen wir mit der frohen und befreienden Botschaft des Evan‐
geliums wirksam präsent sein. Wer sich von Jesus Christus befreit weiß, wer in der Gemeinschaft des Glaubens steht und aus der Kraft des Geistes Gottes jeden Tag Mut gewinnt, unsere Gesellschaft ver‐
antwortlich mitzugestalten, der braucht sich nicht mit dumpfer Hoffnungslosigkeit in menschenver‐
achtende Positionen zu flüchten. Die Kirche hat durch die grausamen Erfahrungen der Nazizeit und den Irrweg, den sie dort vielfach gegangen ist, gelernt, dass ein völkisches Christentum, das christlich begründet Fremdes ausschließ‐
en will, dem Evangelium widerspricht. Die Kirche hat aber auch gelernt, im Gespräch mit dem Juden‐
tum neu zu sich selbst zu finden. Der christlich‐jüdische Dialog ist seither Teil unserer Identität ge‐
worden. Wir haben im Judentum neu die Wurzel unseres christlichen Glaubens verstehen gelernt und die Hebräische Bibel als den wesentlichen Deutehorizont des Evangeliums wiederentdeckt. Was immer schon zum christlichen Glauben gehört hat, die Verwurzelung im jüdischen Glauben, was aber durch eine fehlgeleitete Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus verdunkelt war, das ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zum Leuchten gekommen, wenn auch beschämender Weise erst motiviert durch die Schuldgeschichte des Versagens in der Nazizeit. Um die enge Verwurzelung unseres Glaubens in der Hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, auch im gottesdienstlichen Leben zum Ausdruck zu bringen, wird derzeit in unserer Kirche EKD‐weit die Ordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte überarbeitet. Im aktuellen Kirchen‐
8 jahr 2014/2015 wird ein Entwurf zur Neuordnung erprobt. In dieser neuen Ordnung soll der Anteil der alttestamentlichen Texte erweitert werden. Warum? Weil die breit angelegte empirische Studie der Theologischen Fakultät Leipzig aus dem Jahr 2010, bei der Haupt‐ und Ehrenamtliche zu den got‐
tesdienstlichen biblischen Texten befragt wurden, gezeigt hat, dass 25 Prozent der Befragten das Alte Testament in unserem gottesdienstlichen Leben für unterrepräsentiert hält, und nur ein Prozent für überrepräsentiert. Dies zeigt, wie sehr unser kirchliches Leben von den tiefen Glaubenserfahrungen Israels geprägt ist, die sich in den Geschichten, Geboten und Verheißungen des Alten Testamentes, vor allem aber in den Psalmen zeigen. Das Alte Testament war die Bibel Jesu, die Bibel der Emmaus‐
jünger, die den auferstanden Christus erkannten, die Bibel der Urgemeinde, die das erste christliche Leben gestaltete. Ich erläutere dies heute so ausführlich, weil gerade jetzt eine öffentliche Auseinandersetzung aufge‐
brochen ist, bewirkt durch den wissenschaftlichen Artikel eines Mitgliedes unserer Kirche, eines Theologieprofessors der Humboldt‐Universität. Professor Notger Slenczka hat bereits im Jahr 2013 mit seinem wissenschaftlichen Beitrag versucht, die Diskussion anzuregen, ob denn nicht die Position des Theologen Adolph von Harnack neu verstanden werden müsse. Harnack hatte vor dem ersten Weltkrieg die These vertreten, das Alte Testament solle nicht mehr kanonischer Teil der christlichen Bibel sein, da es dem Wesen des Christentums zu fremd sei. Professor Slenczka, selbst im christlich‐
jüdischen Dialog engagiert, ging es darum, in Aufnahme von Erkenntnissen des jüdisch‐christlichen Dialogs die Frage zu stellen, ob nicht anerkannt werden müsse, dass die Lektüre der Hebräischen Bibel vor allem im jüdischen Verstehenskontext sachgemäß sei und ob es deshalb nicht konsequenter wäre, sich der Einschätzung von Harnacks anzuschließen. Für mich nicht nachvollziehbar hat er da‐
her die Kanonizität des Alten Testaments in Frage gestellt. Diese These hat 2013 in der wissenschaft‐
lichen Welt keinerlei Resonanz erfahren, zu Recht, da sie dem Bekenntnis der Evangelischen Kirche widersprechen und aus der anerkannten Lehrtradition der christlichen Kirche ausscheren würde. Es ist notwendig, sich klar von dieser These zu distanzieren. Ich tue dies heute für die EKBO und sage deutlich, dass ich eine Infragestellung der Kanonizität der Hebräischen Bibel, unseres Alten Testa‐
ments, entschieden zurückweise. Die tiefe Verwurzelung im jüdischen Glauben hat immer schon konstitutiv zum christlichen Glauben gehört, wurde dann aber durch die Aufarbeitung der Schuld‐
geschichte eines theologischen Antijudaismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im christ‐
lich‐jüdischen Dialog noch einmal klar herausgearbeitet. Das hat inzwischen doppelt Früchte getra‐
gen: Einerseits in der Wertschätzung des Alten Testamentes in der Frömmigkeit unserer Kirche, so‐
wohl im gottesdienstlichen Leben als auch in der persönlichen Frömmigkeit – ich nenne nur die Praxis des Psalmgebetes und das Lesen der Herrnhuter Losungen. Zum anderen durch die Neube‐
stimmung des Verhältnisses zu unseren jüdischen Glaubensgeschwistern in der Grundordnung 9 unserer Kirche. Dort nämlich wird nicht nur die lehrmäßige Selbstverständlichkeit festgehalten, dass unsere EKBO „gegründet (ist) auf das prophetische und apostolische Zeugnis der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments“ (Grundartikel I, 3), sondern dort wird auch betont, „dass Gottes Ver‐
heißung für sein Volk Israel gültig bleibt“, dass wir uns „zur Anteilnahme am Weg des jüdischen Vol‐
kes verpflichtet“ wissen, „in Leben und Lehre dem Verhältnis zum jüdischen Volk besondere Bedeu‐
tung“ zumessen und „im Hören auf Gottes Weisung (und ich ergänze: des Alten wie des Neuen Testamentes!, M.D) … mit dem jüdischen Volk verbunden“ sind (Grundartikel I, 12). Wir müssen als evangelische Christinnen und Christen heute, 70 Jahre nach Kriegsende, die öffent‐
liche Auseinandersetzung um die Bedeutung des Alten Testamentes zum Anlass nehmen, noch deut‐
licher als bisher die Erfahrungen und Erkenntnisse des christlich‐jüdischen Dialoges zu vermitteln. Dies gilt besonders gegenüber einer nachwachsenden Generation, die angesichts der Herausforde‐
rungen des christlich‐muslimischen Dialoges in der Gefahr steht, die Errungenschaften des christlich‐
jüdischen Dialoges für selbstverständlich zu halten, die aber so selbstverständlich nicht sind, sondern immer wieder neu stark gemacht werden müssen. Hier liegt noch eine große Aufgabe vor uns. Ich bin dankbar, dass wir hier in Berlin das Institut für Kirche und Judentum mit einer langen und ehrenwerten Tradition unser eigen nennen. In Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät der Humboldt‐Universität sind wir gerade dabei, dieses Institut neu zu konzipieren und für die Zukunft neu aufzustellen. Auch hier gab es einige Irritationen. Deshalb ist es notwendig, klarzustellen: Unsere Kirchenleitung hat in der Dezembersitzung des letzten Jahres ihr Engagement für das Institut bekräf‐
tig und beschlossen, sich für eine breitere Unterstützung für dieses Institut zu einzusetzen. Wir sind dabei auf einem guten Wege. Ich kann deshalb heute sagen: In der EKBO wird weder das Alte Testa‐
ment noch das Institut für Kirche und Judentum abgeschafft! 4. 100 Jahre Völkermord an den Armeniern Nicht nur der Rückblick auf die Befreiung vom Nationalsozialismus prägt diese Wochen, auch die Er‐
innerung an den Armenier‐Genozid vor 100 Jahren. Der heutige 24. April ist der Gedenktag an den "Todesweg der Armenier“. Heute vor 100 Jahren wurden im damaligen Konstantinopel Hunderte von armenischen Intellektuellen verhaftet, die später deportiert und schließlich hingerichtet wurden. Dieses Ereignis war der Beginn der Vernichtung der armenischen Elite, der Würdenträger, Ärzte, Apotheker, Lehrer, Journalisten und Schriftsteller auch in anderen Städten bis dann im Mai desselben Jahres Todesmärsche und massenhaftes Morden folgten. 10 Für uns hat dieses Gedenken eine besondere Bedeutung. Denn die Ereignisse von damals sind eng verbunden mit einem Berliner: dem 1858 geborenen evangelischen Pfarrer Johannes Lepsius. Als Missionar war er im Osmanischen Reich unterwegs. In Jerusalem übernahm er eine Pfarrstelle. Die Weite und Offenheit in der internationalen Zusammenarbeit, die er dort kennen lernte, hat Lepsius geprägt. Mit großer Sorge nahm er wahr, wie die armenischen Christen verfolgt wurden. So entstand sein deutsch‐armenisches Hilfswerk. Ziel war es, tätige Hilfe zu leisten. Aber Lepsius bezog auch öf‐
fentlich Stellung. Als er von dem Völkermord an den Armeniern 1915 erfuhr, hielt er im Berliner Reichstag eine Pressekonferenz ab, auf der er die untätige deutsche Regierung scharf angriff. Später veröffentlichte er einen 300seitigen Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, den er gegen das Verbot der Regierung herausgab. Ohne Resonanz, denn es war die Zeit des Ersten Welt‐
krieges. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg schrieb auf dem Höhepunkt der Leiden des armenischen Volkes: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Kriegs an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“ Seit Mai 2011 erinnert das Lepsius‐Haus in Potsdam an den mutigen Zeugen, der für die Menschen‐
rechte der Armenier eingetreten ist, und der von Franz Werfel als „Schutzengel der Armenier“ be‐
zeichnet wurde. Es ist eine Ausstellungs‐, Bildungs‐ und Forschungseinrichtung mit Archiv und Ar‐
beitsbibliothek. Die Themen, die dort mit öffentlicher Resonanz behandelt werden, sind nicht auf die historische Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern beschränkt, sondern öffnen sich dem weiten Bereich von Gewalt in der Politik, der Minderheitenproblematik und den allgemeinen Men‐
schenrechten. Vor zehn Jahren, im Jahr 2005, hat unsere Synode ebenfalls am Tag des Gedenkens an den Armenier‐
Genozid getagt. Damals hat die Synode sich in einem Brief an die armenischen, griechischen und assyrisch‐aramäischen Mitchristen im Bereich unserer Landeskirche gewandt, in dem es unter ande‐
rem heißt: „Wir wissen uns mit Ihnen, den Angehörigen und Nachkommen der Opfer, in ökumenischer Gemeinschaft verbunden. Wir teilen mit Ihnen Trauer und Betroffenheit und schließen Sie in unser Gebet mit ein. Wir sehen uns in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dieser Geno‐
zid, an dem auch Deutsche zumindest mittelbar mitbeteiligt waren, nicht vergessen oder gar geleugnet wird.“ Hinter diese Worte können wir uns auch heute unverändert stellen. Darüber hinaus rege ich an, dass unsere Synode eine Stellungnahme verabschiedet, die über den Ausdruck der Anteilnahme hinaus Position bezieht. Sie finden den Formulierungsvorschlag in der Anlage zu meinem schriftlich‐
verteilten Wort des Bischofs. Sie trägt den Titel: „Verantwortung verjährt nicht. Das Gedenken an das Schicksal der Armenier zum Ausgang von Versöhnung machen!“ Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! 11 Anhang: Entwurf einer Stellungnahme: Erklärung der Landessynode vom 24. April 2015 zum Völkermord an den Armeniern Verantwortung verjährt nicht. Das Gedenken an das Schicksal der Armenier zum Ausgang von Versöhnung machen! Aus Anlass des Gedenkens an die Vernichtungsaktionen gegen die türkischen Armenier im Jahr 1915 erklärt die Vierte Landessynode der EKBO auf ihrer zweiten Tagung: Am 24. April dieses Jahres gedenkt die Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin‐Brandenburg‐
schlesische Oberlausitz (EKBO) der Opfer des Völkermords an den Armeniern vor 100 Jahren. Was damals geschah, darf auch heute nicht verschwiegen werden. 1. In ökumenischer Verbundenheit stimmen wir dem Anliegen zu, das Karekin II., Katholikos aller Armenier, in seiner Enzyklika vom 3. Februar 2005 formuliert hat: „Der erste Völkermord des 20. Jahrhundert muss anerkannt und verurteilt werden durch die ganze Welt und auch durch die Türkei, denn Gewalt und Mord können nicht den Kurs der Menschheit führen.“ Mit Aram I., Katholikos von Kilikien, erklären wir: Die Vergangenheit lässt uns nicht los, bis sie wirklich aufgearbeitet ist. Schuld muss angenommen werden, die Wahrheit muss verkündet werden. Dieser schwere Schritt der Rückwendung zur eigenen Geschichte ist notwendig, um den Weg zur Vergebung zu öffnen, bittere Erinnerungen zu heilen und eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen. In Betroffenheit und Trauer gedenken wir der Hunderttausenden armenischen Bürger, die ihr Leben auf dem Todesmarsch in die syrische Wüste verloren und Opfer menschenverachtender Angriffe wurden. Gemeinsam mit den Armeniern wurden aramäisch‐assyrische und griechische Christen der Vernichtung preisgegeben. Die Erinnerung an diese bitteren Erfahrungen lässt sich nicht auslöschen oder totschweigen. 2. Als Christen sehen wir unsere Aufgabe darin, dafür Sorge zu tragen, dass die Wahrheit zum Zuge kommen kann. Dies ist nur möglich, wenn historische Ereignisse nicht verschwiegen oder geleugnet werden und beiden Seiten, Tätern wie Opfern, die Möglichkeit gegeben wird, Schuld und Verletzungen ohne Angst vor Repressionen auszusprechen. Dabei steht uns die schmerzvolle Erinnerung in der weltweiten Gemeinschaft überlebender Armenier an die Ereignisse vor Augen. Aber wir richten unseren Blick auch auf die Diskussion dieser Fragen in der türkischen Öffentlichkeit. Die türkische Zivilgesellschaft sucht die Auseinandersetzung mit den schrecklichen Ereignissen vor hundert Jahren. Solange jedoch Vertreter des türkischen Staates die Auseinandersetzung eher zu verhindern versuchen als sie zu befördern, ist ein heilender Prozess, ist Versöhnung in der türkischen Gesellschaft kaum möglich. Wir setzen uns für eine offene und vorurteilslose Erörterung dieser Geschehnisse ein, die den Opfern der damaligen Gewalthandlungen Gerechtigkeit widerfahren lässt. 3. Als Deutsche wissen wir, welche geistliche, intellektuelle und gesellschaftliche Herausforderung die historische Aufarbeitung der Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts darstellt. Gleichwohl ermutigt uns unsere eigene Erfahrung dazu, für einen Prozess der Versöhnung zwischen dem türkischen und dem armenischen Volk einzutreten. Vor allem der 12 Jugendaustausch zwischen den Völkern bietet die Chance, der nachwachsenden Generation durch persönliche Kontakte und Freundschaften neue Perspektiven des Zusammenlebens zu ermöglichen. Gerade um des Verständnisses in der jüngeren Generation willen bedürfen die Gewalttaten der Vergangenheit einer sorgfältigen Behandlung in den Schulbüchern. Sie darf nicht durch politische Interessen verhindert werden. Die Landessynode wünscht dem armenischen und dem türkischen Volk, dass die zwischenstaatlichen Verhältnisse zwischen der Türkei und Armenien normalisiert werden. Freundschaftliche Beziehungen mit den Staaten des Kaukasus sind nicht nur im Interesse Europas. Sie stellen eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität in der gesamten Kaukasus‐Region dar. 4. Das deutsche Kaiserreich trug durch die teilweise Billigung sowie durch die Unterlassung von wirksamen Gegenmaßnahmen während des Ersten Weltkriegs eine deutsche Mitverantwortung an diesem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Dafür bitten wir das armenische Volk um Verzeihung. Angesichts der Mitverantwortung des Deutschen Reichs ist ein deutscher Beitrag zur Aufarbeitung von Vernichtung und Vertreibung der Armenier unabdingbar und für die Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert unverzichtbar. Erst im Juni 2005 äußerten die Mitglieder des Deutschen Bundestags ihr Bedauern über die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen nicht einmal versuchte, die Gräuel zu stoppen. Zugleich gab die Resolution Anstöße zum Handeln, indem sie betonte, dass Deutschland aufgrund seiner historischen Rolle während des Geschehens und angesichts der großen Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime aus der Türkei eine besondere Verpflichtung habe, die Geschichte zu vergegenwärtigen und zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei und zur Aussöhnung beizutragen. 5. Es ist ein Verdienst der Evangelischen Akademie zu Berlin, des Lepsius‐Hauses und zahlreicher engagierter Gruppen und Personen, dass die Notwendigkeit dieses Prozesses in den vergangenen zehn Jahren stärker in den öffentlichen Fokus geraten ist. Die Arbeit des Lepsius‐Hauses in Potsdam als eines wichtigen Zentrums für Erinnerung, Forschung, Bildung und Begegnung verdient Unterstützung und Förderung. Im Lepsius‐Haus finden regelmäßig Gespräche und Begegnungen zwischen Türken, Armenier und Deutschen statt. Die Evangelische Kirche Berlin‐Brandenburg‐schlesische Oberlausitz bejaht es ausdrücklich, wenn dabei auch die Rolle der Kirche im Verhältnis zu dem Lebenswerk von Johannes Lepsius kritisch untersucht wird. 6. Aus Anlass des hundertjährigen Gedenkens an den Beginn der Todesmärsche bittet die Landessynode der EKBO Bundestag und Bundesregierung, ihren politischen Beitrag dazu zu leisten, dass zwischen Armeniern und Türken ein Ausgleich durch die Bereitschaft zu Wahrheit und Versöhnung, durch das Verzeihen historischer Schuld und durch einen mutigen Neubeginn erreicht wird. Die Landessynode dankt dem Bundespräsidenten Joachim Gauck für seine wegweisende Rede vom 23. April 2015. Die Mandatsträger der Landessynode verurteilen jegliche Gewalt und Diskriminierung aus Gründen der Ideologie, der Religion oder der Weltanschauung. Sie sind zutiefst besorgt aufgrund der anhaltenden Berichte über Gewalt gegen und Diskriminierung von religiösen Minderheiten in der ganzen Welt. Das Recht auf Gedanken‐, Gewissens‐, Religions‐ oder Weltanschauungsfreiheit ist in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Dazu gehört das Recht, zu glauben oder nicht zu glauben, das Recht, seine Religion oder seine Überzeugung zu bekunden oder nicht zu bekunden, sowie das Recht, eine selbstgewählte Weltanschauung anzunehmen, zu ändern, aufzugeben oder erneut anzunehmen. Die Landessynode fordert die Bundesregierung auf, sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einzusetzen, dass religiöse Minderheiten weltweit respektiert werden, insbesondere im Nahen Osten, wo Christen, darunter katholische, apostolisch‐armenische Christen, aber auch 13 Kopten, Jesiden sowie muslimische Minderheiten vom ISIS und von anderen terroristischen Gruppen verfolgt werden. 7. Die Landessynode verurteilt entschieden Angriffe auf Christen in verschiedenen Ländern der Welt und drückt ihre Solidarität mit den Familien der Opfer aus. Sie ist zutiefst beunruhigt über die zunehmende Anzahl der Vorkommnisse von Unterdrückung, Diskriminierung, Intoleranz und gewalttätigen Angriffen gegen christliche Gemeinschaften, insbesondere in Afrika, in Asien und im Nahen Osten. Sie fordert die Regierungen auf, alle dafür Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Die derzeitige Lage der Christen in Nordkorea, Somalia, Syrien, Irak, Afghanistan, Saudi‐Arabien, Pakistan, Usbekistan, Jemen, Nigeria und vielen weiteren Ländern ist überaus beunruhigend. Dort leben Christen in permanenter Angst davor, getötet, gefoltert, vergewaltigt oder verschleppt zu werden. Sie fürchten, dass ihre Kirchen beschädigt oder zerstört werden. Berlin, 24. April 2015 14