USA AKTUELL Wo liegt der „neutrale Zins“?

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USA AKTUELL Wo liegt der „neutrale Zins“?
Helaba Volkswirtschaft/Research
USA AKTUELL
18. Juni 2014
Wo liegt der „neutrale Zins“?
AUTOR
Patrick Franke
Telefon: 0 69/91 32-47 38
[email protected]


REDAKTION
Dr. Stefan Mitropoulos
HERAUSGEBER
Dr. Gertrud R. Traud
Chefvolkswirt/Leitung
Research
Helaba
Landesbank
Hessen-Thüringen
MAIN TOWER
Neue Mainzer Str. 52-58
60311 Frankfurt am Main
Telefon: 0 69/91 32-20 24
Telefax: 0 69/91 32-22 44
Die Publikation ist mit größter
Sorgfalt bearbeitet worden.
Sie enthält jedoch lediglich
unverbindliche Analysen und
Prognosen zu den gegenwärtigen und zukünftigen
Marktverhältnissen. Die Angaben beruhen auf Quellen,
die wir für zuverlässig halten,
für deren Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität wir
aber keine Gewähr übernehmen können. Sämtliche in
dieser Publikation getroffenen Angaben dienen der Information. Sie dürfen nicht
als Angebot oder Empfehlung für Anlageentscheidungen verstanden werden.

Das Niveau des neutralen Zinses ist für die Geldpolitik und damit auch für die Finanzmärkte von zentraler Bedeutung
Wir teilen die Einschätzung, dass dieses neutrale Zinsniveau heute in den USA (und wohl
auch global) niedriger ist als vor zehn oder zwanzig Jahren. Die These, dass der neutrale
Realzins in den kommenden Jahren bei null liegen könnte, ist jedoch unplausibel
Stattdessen liegt der neutrale Realzins wohl eher bei rund 2 %, der nominale bei 4 %. Der
größte Unterschied zu früheren Zinszyklen dürfte sein, dass es diesmal deutlich länger
dauert, um bei diesem neutralen Niveau anzukommen
Aus Sicht der Geldpolitik beschreibt das Konzept des neutralen Zinses denjenigen Zinssatz, der
die Wirtschaft weder bremst noch stimuliert und der im Gleichgewicht Ersparnis und Investitionen
in Einklang bringt (zu den Details siehe Kasten, S. 6). Ein globaler Vermögensverwalter mit Sitz im
südlichen Kalifornien hat zuletzt Aufmerksamkeit in den Medien und bei Anlegern erregt mit der
plakativen These, dass es mindestens auf Sicht der nächsten drei bis fünf Jahre ein „new neutral“
gäbe – dass also das neue neutrale oder „normale“ Leitzinsniveau in den USA (oder sogar global)
deutlich niedriger liegen würde als zuvor. Für die USA wird dieser Satz mit nur noch 2 % angesetzt, oder mit 0 % abzüglich Inflation. Sollte dies zutreffen, hätte es eine erhebliche Bedeutung für
die Rentenmärkte im Speziellen und die Kapitalmärkte im Allgemeinen.
Wir teilen die grundsätzliche Einschätzung, dass das neutrale Zinsniveau heute niedriger ist als vor
zehn oder zwanzig Jahren. Aus unserer Sicht beruht die Argumentation für einen „normalen“ Realzins von 0 % jedoch auf einer übertriebenen Vereinfachung komplexer Zusammenhänge, Statistiken mit zweifelhafter Aussagekraft, einer Doppelzählung bestimmter Entwicklungen, mangelhaftem
Verständnis ökonomischer Theorie und fehlender Unterscheidung zwischen Wachstum und Konjunktur. In dieser Publikation überprüfen wir die hinter der These stehenden Argumente, skizzieren
die dem Konzept des neutralen Zinses zugrundeliegende Theorie und stellen alternative Schätzmethoden sowie unsere eigenen Überlegungen zu dessen Höhe vor. Die These des „new neutral“
beruht dabei auf einem Mischmasch aus globalen und länderspezifischen Argumenten. Wir greifen
daher im Folgenden sowohl einige nationale Faktoren auf, insbesondere aus den USA, gehen aber
auch auf Entwicklungen in der Eurozone und in China sowie das übergreifende internationale
Umfeld ein.
„Commander Data: Kurs auf die Neutrale Zone!“
Effektive Federal Funds Rate und „neutrale Zone“ (Punktschätzung: siehe Text), %
9
9
8
8
7
7
6
6
Punktschätzung +/1 Prozentpunkt
5
5
4
4
3
3
Istwert
2
2
1
0
1990
1
0
1992
1994
1996
1998
2000
2002
2004
2006
2008
2010
2012
2014
2016
2018
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
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1
USA AKTUELL
Die Argumentation in Kürze
Die für einen neutralen Realzins von 0 % angeführten Argumente lassen sich in etwa so zusammenfassen:

der global hohe Schuldenstand verhindert ein höheres Zinsniveau

hinzu kommt das starke Kreditwachstum in China

Regulierung und Protektionismus dämpfen das globale Handels- und Wirtschaftswachstum merklich

die globalen Kapazitäten sind deutlich unterausgelastet

schwächeres Wachstum wird mit niedriger Inflation verbunden sein
Was ist von diesem Ansatz zu halten? Betrachten wir die einzelnen Punkte nacheinander.
Vorsicht vor „dem Schuldenstand“!
China als globale
„Schwachstelle“?
Zunächst ist es unsinnig, wie hier erfolgt, auf den absoluten Schuldenstand abzustellen. In nominaler Betrachtung ist dieser derzeit auf einem Allzeithoch. Dies ist aber trivial: Er ist als Folge steigender Preisniveaus und des realen Wachstums jedes Jahr auf einem neuen Allzeithoch. Der
Verschuldungsgrad in China ist sicher ein Problem. Der IWF attestiert dem Land beim „leverage“
für seinen Entwicklungsstand eine „Ausreißerposition“. Vor allem das so genannte „Schattenbankensystem“ birgt potenziell erhebliche Risiken. Allerdings macht es keinen Sinn, dies als zusätzliches Argument anzuführen, denn im globalen Schuldenstand sind die chinesischen Daten ja bereits enthalten. Darüber hinaus ist die chinesische Regierung aufgrund autokratischer Durchgriffsmöglichkeiten und ihrer relativ positiven Finanzlage (niedrige Schulden, hohes Auslandsvermögen)
besser positioniert, mit Problemen im Finanzsystem fertig zu werden, als viele andere Staaten.
Richtig ist auch, dass der weltweite Grad an „leverage“ wohl seit 2008 nicht gefallen ist, sondern
hauptsächlich eine Verschiebung von privater zu staatlicher Verschuldung stattgefunden hat. Dies
bedeutet jedoch, dass sich die durchschnittliche „Bonität“ und Ertragskraft der Schuldner erheblich
verbessert hat. Anders formuliert: Die US-Regierung kann z.B. einen Zinsanstieg leichter verkraften als der Schuldner eines Subprime-Kredits. Mit der Ausnahme von einigen (global weniger
wichtigen) Ländern wie Griechenland steht bei den Staaten daher nicht die Frage nach der Zahlungsfähigkeit, sondern nach der Zahlungswilligkeit im Vordergrund.
Extrem hoher Schuldenstand in China
US-Kreditnachfrage derzeit alles andere als schwach
Bestand inländischer Schulden (netto), % am BIP, Durchschnitt 2007-2011
Verschuldung des Unternehmenssektors,* Veränderung gegenüber Vj. in %
250
200
150
25
Japan
100
14
Griechenland
12
10
USA
5
10
0
8
-5
6
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50
4
-15
-20
0
0
10
20
BIP pro Einwohner (Tsd. USD)
Bankkredite (LS)
15
Italien
China
16
20
Spanien
30
40
50
60
Quellen: IWF, Helaba Volkswirtschaft/Research
-25
2001
2
Unternehmensanliehen (RS)
0
2003
2005
2007
2009
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
2011
2013
* Ohne Finanzbranche
Ein hoher Schuldenstand sollte den Gleichgewichtszins vor allem dann beeinflussen, wenn er die
(erwartete) zukünftige Kreditnachfrage dämpft. Hochverschuldete Haushalte werden ihre Neuverschuldung in Grenzen halten, egal wie niedrig das tatsächliche Zinsniveau ist. Vor allem in China
ist der Spielraum für eine spürbare Ausweitung der gesamtwirtschaftlichen Kreditvergabe angesichts der aktuellen Lage sicher eher gering. Allerdings zeigen die lebhafte Nachfrage der amerikanischen Unternehmen nach Bankkrediten und die boomende Emission von Unternehmensanlei-
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hen, dass die Kapitalnachfrage dieses sehr wichtigen Sektors alles andere als am Boden liegt.
Auch die lange gedämpfte Nachfrage der privaten Haushalte nach Hypotheken dürfte sich in den
kommenden Jahren normalisieren, selbst wenn die Zuwachsraten während des Immobilienbooms
nicht wieder erreicht werden. Die „Tragfähigkeit“ eines bestimmten Zinses hängt zudem nicht nur
vom absoluten Schuldenniveau ab. Auf der Makroebene sind die höheren Zinszahlungen des
Schuldners die höheren Zinseinkommen des Gläubigers. Eine negative Wirkung auf die aggregierte Nachfrage entsteht nur in dem Umfang, in dem die Ausgabenneigung des ersteren die des letzteren übersteigt. Dies wird zwar in der Regel der Fall sein, es reduziert den Effekt eines höheren
Schuldenstandes von den oft unterstellten 1:1 aber auf die viel geringere Differenz zwischen den
marginalen Ausgabeneigungen.
USA: Zinseinkommen höher als Zinsausgaben
Welthandel bleibt auf Wachstumspfad
Zinseinkommen und -ausgaben der privaten Haushalte, % des verf. Einkommens
Veränderung gegenüber Vj. in %, ab 2014 Prognosen
20
20
18
18
16
16
Zinseinkommen
14
14
12
12
10
10
8
8
6
6
Zinsausgaben
4
4
2
2
0
1990
1993
1996
1999
2002
2005
2008
2011
0
2014
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
7
20
15
Welt-Bruttoinlandsprodukt, real (LS)
5
10
3
5
1
0
-1
-5
Welthandelsvolumen (Waren, RS)
-3
-10
-5
-15
1992
1995
1998
2001
2004
2007
2010
2013
Quellen: Macrobond, IWF, Helaba Volkswirtschaft/Research
Unklare Wirkung von stärkerer Regulierung und Protektionismus
Seit der Finanzkrise hat der Zyklus eindeutig zu Gunsten einer höheren Regulierungsdichte umgeschlagen. Die verstärkte Regulierung des Finanzsektors verknappt das Kreditangebot relativ zur
Kreditnachfrage strukturell. Um zu verhindern, dass dies eigentlich vorteilhafte Investitionsprojekte
unterbindet, muss die Notenbank ihren Leitzins niedriger festsetzen. Ein geringerer Gleichgewichtszins ergibt sich aber nur dann zwingend, wenn sich nicht auch die Kreditnachfrage seit der
Krise strukturell verschoben hat. Dafür gibt es aber Anzeichen. Investieren die Unternehmen nun
aus bestimmten Gründen bei jedem möglichen Zins weniger, kann der neue Gleichgewichtszins
höher, niedriger oder unverändert sein. Der konjunkturell angemessene Leitzins wird zwar niedriger sein, aber über das Niveau des neutralen Zinses lässt sich keine klare Aussage treffen. Inwieweit die Regulierung das Potenzialwachstum der Wirtschaft belastet, ist eine andere Frage. Dies
lässt sich aber nicht isoliert, sondern am besten im Rahmen einer Analyse eines möglicherweise
insgesamt niedrigeren Wachstumstrends betrachten (siehe unten).
Übertriebene Ängste vor
Protektionismus
Es ist umstritten, ob in den letzten Jahren international tatsächlich eine Tendenz zu protektionistischen Maßnahmen zu beobachten war oder nicht. Äußerungen von Politikern und Medienberichte
haben die praktische Wirkung vieler Eingriffe überzeichnet. In jedem Fall waren Befürchtungen, die
Finanzkrise könnte zu einer Wiederholung der Protektionismus-Spirale in den 1930er Jahren führen, völlig verfehlt. Die geringeren Zuwachsraten bei den Handelsströmen (auch relativ zum Wirtschaftswachstum) scheinen primär anderen Faktoren geschuldet zu sein: So haben in den vergangenen Jahren mehrere Schocks wie die Katastrophe in Japan im März 2011 den Unternehmen
die Anfälligkeit globaler Produktionsketten vor Augen geführt. Gleichzeitig hat das „Offshoring“ von
Produktion aus den Industrie- in die Schwellenländer aus unterschiedlichen Gründen wohl seinen
Höhepunkt überschritten. Zudem dämpfte die europäische Schuldenkrise die Handelsströme in der
besonders eng miteinander verknüpften Eurozone und trug dazu bei, dass die „Einkommenselastizität des Außenhandels“ zuletzt nachgelassen hat. Grundsätzlich dürfte der Außenhandel aber auf
einem Wachstumspfad bleiben, wenn auch mit geringeren Zuwächsen als vor der Krise. Letztlich
ist der Außenhandel für die Frage nach dem neutralen Zinsniveau aber hauptsächlich als Treiber
des Wirtschaftswachstums interessant. Ist da Pessimismus angebracht?
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USA AKTUELL
Anhaltende Verwirrung über Trend versus Konjunktur
Klagen über angeblich nachhaltig unterausgelastete Kapazitäten verwirren im Zusammenhang mit
der Frage nach dem neutralen Zins mehr als dass sie zu Klarheit führen. Fallen die tatsächlichen
Zuwachsraten beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) über einen längeren Zeitraum niedriger als erwartet
aus, besteht wohl eher Anlass, die Schätzung des Trendwachstums zu reduzieren. Wenn das
Problem aber wirklich primär darin liegt, dass der Anstieg der Nachfrage hinter den Zuwächsen auf
der Angebotsseite zurückbleibt, so ist eine angemessen expansive Wirtschaftspolitik die Lösung.
Der tatsächliche Zins sollte dann unter seinem neutralen Niveau liegen, aber das neutrale Niveau
wird davon nicht berührt. Pessimismus über den Wachstumstrend hingegen muss nicht zwingend
Hand in Hand gehen mit der Erwartung einer höheren Unterauslastung der gesamtwirtschaftlichen
Kapazitäten. Im Gegenteil: Bei gegebenen BIP-Zuwachsraten führt ein niedrigeres Potenzialwachstum sogar zu einem höheren Auslastungsgrad. Umgekehrt lehrt die Erfahrung, dass größere
Abweichungen vom Trendoutput über kurz oder lang korrigiert werden – im Falle von Unterauslastung durch Output-Zuwächse oberhalb des Potenzialwachstums.
Schlüsselgröße
Trendwachstum
Aus unserer Sicht ist der Wachstumstrend die wichtigste Determinante des neutralen Zinses (siehe
unten). Richtig ist, dass es aktuell für viele Regionen angebracht zu sein scheint, die Schätzungen
des mittelfristigen Wachstumstrends zu überprüfen. Wir haben unsere Potenzialrate für die USA
1
bereits im Januar 2010 auf 2 % angepasst und die Entwicklung der letzten Jahre hat uns darin
bestätigt. In der Eurozone dürften die Probleme der Peripherie und die dort erforderlichen Reformen die Zuwächse des realen BIP in den kommenden Jahren ebenfalls dämpfen – allerdings ist
hier nicht ganz eindeutig, ob es sich dabei primär um eine konjunkturelle (Nachfrage-) Schwäche
oder um einen niedrigeren Wachstumstrend handelt. Auf längere Sicht würden erfolgreiche Reformen das Potenzialwachstum sogar erhöhen. Allerdings deckelt die demografische Entwicklung in
Europa wie auch in Japan das Wachstumspotenzial erheblich. Für die Industrieländer insgesamt
ist also ein etwas (!) niedrigerer Wachstumstrend eine plausible These. China, das mit Abstand
wichtigste Schwellenland, sieht sich ebenfalls erheblichen Herausforderungen gegenüber, die wohl
dazu führen werden, dass das durchschnittliche Wachstum in den kommenden fünf Jahren eher
bei 7 % als bei 10 % liegt.
China: Weniger ist heute mehr!
Prozentpunkte
Abflauender Gegenwind in den Industrieländern
%
4
3
Fiskalischer Impuls*, Prozentpunkte des jeweiligen potenziellen BIP
20
Jährliches Wachstum erforderlich für einen
globalen Wachstumsbeitrag von 1 Prozentpunkt (RS)
18
16
14
12
2
1
10
8
tatsächlicher
Wachstumsbeitrag (LS)
6
4
2
0
0
1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
Schwellenländer
0,5
0,5
0,0
0,0
-0,5
Industrieländer
-1,0
-1,5
-0,5
-1,0
"Welt"
-1,5
-2,0
-2,0
USA
-2,5
2011
2012
2013
-2,5
2014
2015
Quellen: IWF, Helaba Volkswirtschaft/Research
* Veränderung des zyklisch bereinigten Haushaltssaldos ohne Zinsen
Was die Weltwirtschaft insgesamt angeht, ist das Bild aber weniger klar. Selbst wenn der Wachstumstrend für die USA, die Eurozone und China in den kommenden Jahren geringer ausfallen
sollte als vorher, wird dies zumindest teilweise durch einen Zusammensetzungseffekt kompensiert:
China und viele andere Schwellenländer werden auf absehbare Zeit ein Trendwachstum haben,
das deutlich über dem der Industrieländer liegt. Mit dem zunehmenden Gewicht dieser Ländergruppe an der Weltwirtschaft würde das globale Trendwachstum daher eigentlich ständig steigen.
China zum Beispiel steuert aktuell mit 7 % Wachstum soviel zum Anstieg des globalen BIP bei wie
noch vor einigen Jahren mit 12 % Wachstum. Dies kompensiert den Effekt von anderen Faktoren,
1
Siehe USA Aktuell „Niedrigeres Trendwachstum – ein Preis der Krise?“
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die das globale Trendwachstums senken und damit auch den Abwärtsdruck auf einen globalen
neutralen Zins. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass als Vergleichsmaßstab für die Zuwächse
beim globalen BIP sinnvollerweise nicht die Jahre vor der Krise herangezogen werden, die sich ja
nach heutiger Einschätzung durch weitverbreitete Kredit- und Immobilienblasen auszeichneten.
Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Jahre 2011 bis 2013 in den USA und
der Eurozone durch eine spürbare fiskalische Kontraktion gekennzeichnet waren, die durch gegenläufige Maßnahmen in den Schwellenländern nur teilweise konterkariert wurde. Ein globales Potenzialwachstum ist schwierig zu schätzen, aber es dürfte für die kommenden Jahre im Bereich
2
von gut 3 % anzusetzen sein. Da vor der Krise eine globale Hochkonjunktur herrschte, muss bei
einer Einschätzung, in welchem Umfang sich das globale Potenzialwachstum verändert hat, sehr
genau zwischen Trend und Konjunktur differenziert werden. Die OECD setzte in einer Studie von
2012 das Trendwachstum für die Jahre 2001-2007 sogar niedriger an als für 2012-2017.
Globale Deflationsrisiken
sehr gering
Entsprechend scheint auch bei der globalen Inflation (der neben dem Realzins zweiten Komponente des nominalen neutralen Zinsniveaus) der Spielraum nach unten geringer als oft angenommen.
Steigende Gewichte von Schwellenländern mit überdurchschnittlich hoher Teuerung haben die
Weltinflation stabilisiert, trotz der historisch niedrigen Inflation in vielen Industrieländern. Der Automatismus „niedriges Wachstum = niedrige Inflation“ geht zudem auf den zentralen Denkfehler
zurück, der Konjunktur und Wachstum durcheinanderbringt: Wenn das Trendwachstum deutlich
niedriger ist, können bereits sehr überschaubare Zuwachsraten beim BIP zu Engpässen und Inflation führen. Unter sonst gleichen Bedingungen erhöht ein abflachender Wachstumstrend die Inflationsrisiken sogar, insbesondere wenn die Verantwortlichen diese Entwicklung nicht mitbekommen
– eine schmerzhafte Erkenntnis der 1960er und 1970er Jahre.
Insgesamt scheinen die Ängste vor einer global „zu niedrigen“ Inflation oder sogar einer weltweiten
Deflation übertrieben. Der IWF erwartet für die kommenden fünf Jahre eine global weitgehend
stabile Teuerungsrate von rund 3,5 %.
IWF erwartet bis 2019 im globalen Schnitt stabile Inflation
Globale Verbraucherpreise, Veränderung gegenüber Vj. in % (ab 2014 IWF-Prognosen)
40
40
35
35
30
30
25
25
20
20
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15
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1980
1984
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1996
2000
2004
2008
2012
2016
Quellen: IWF, Helaba Volkswirtschaft/Research
Diese Größe war in der Vergangenheit durch Länder mit geringem Gewicht aber extrem hoher Inflation (z.T. 1000% oder mehr) verzerrt.
2
Siehe z.B. OECD, Economic Outlook 2012/1, Kap. 4: Medium and long-term scenarios for global growth and
imbalances.
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USA AKTUELL
Das Konzept des neutralen Zinses
Die Idee eines neutralen Zinses geht auf einen Artikel mit dem Titel „Geldzins und Güterpreise“
des Schweden Knut Wicksell aus dem Jahr 1898 zurück. Er argumentierte, dass einer der wichtigsten Einflüsse auf die Wirtschaft aus der Wechselwirkung zwischen zwei zentralen Faktoren
entsteht: dem „natürlichen Zins“, der von der Sachkapitalrendite bestimmt wird und dem „Geldzins“, vereinfacht der Zins, den die Unternehmen für Bankkredite bezahlen müssen. Übersteigt
der Geldzins den natürlichen Zins, fällt die Kredit- und Investitionsnachfrage, die wirtschaftliche
Aktivität und die „Güterpreise“ (gemeint war das allgemeine Preisniveau) werden zurückgehen.
Liegt umgekehrt der natürliche Zins über dem Geldzins, steigt die Kreditnachfrage, denn die erwartete Rendite von Investitionen übersteigt die Kreditkosten. Nachfrage und Preisniveau steigen. Veränderungen des Geldzinses sind gemäß diesem Ansatz der Haupttreiber des Konjunkturzyklus. Der Fall, dass Geldzins und natürlicher Zins genau übereinstimmen, wird als „Gleichgewichtszins“ oder eben „neutraler Zins“ bezeichnet, also die Rate, die weder stimulierend noch
restriktiv wirkt und die ex-ante (d.h. geplante) Ersparnis und Investitionen in Einklang bringt.
Wicksell publizierte zur Zeit des klassischen Goldstandards. Damals hatte das Preisniveau keinen klaren Trend, d.h. Inflation war eigentlich „kein Thema“. Daher differenzierte er auch nicht
zwischen dem nominalen und realen Zins. Da sich Investitions- und Sparentscheidungen am
Realzins orientieren sollten, bezieht sich im heutigen Umfeld auch das Konzept des neutralen
oder gleichgewichtigen Zinses primär auf den Realzins. Um es mit dem in der Realität beobachteten Nominalzins zu verknüpfen, muss also ein angemessenes Maß für die Inflationserwartungen hinzugefügt werden (siehe unten).
Das Wicksellsche Konzept impliziert einen im Zeitablauf schwankenden neutralen Zins. Der natürliche Zins hängt von der Grenzproduktivität des Kapitals ab, die von verschiedenen Schocks
(z.B. technologischen Innovationen) beeinflusst wird. Zudem ist davon auszugehen, dass die
Größe des Kapitalstocks einen Einfluss auf die Rendite von Sachkapital hat. Dies bedeutet,
dass sich die ex-post Höhe von Ersparnis und Investitionen auf den neutralen Zins auswirken.
Auch die Fiskalpolitik kann ein Faktor sein.
Als der Zins, der Ersparnis und Investition in Einklang bringt, hängt der neutrale Zins zudem von
der sogenannten „rate of time preference“ ab. Darunter verstehen Ökonomen letztlich den Zins,
der einen Gläubiger veranlasst, auf die Nutzung seines Kapitals heute zu verzichten und es für
einen bestimmten Zeitraum dem Schuldner zu überlassen. Dieser Satz ist positiv, da es durchaus rational ist, einem Dollar heute den Vorzug gegenüber einem Dollar in einem Jahr
oder in zehn Jahren zu geben. So besteht ein gewisses Risiko, dass der Gläubiger den Rückzahlungstermin gar nicht erlebt. Oder der Schuldner könnte sich als unwillig oder unfähig erweisen, den Kredit zurückzuzahlen. In einem Umfeld mit positiver Inflation und steigenden Realeinkommen ist ein Dollar heute zudem stets „wertvoller“ als in einem Jahr. Die durchschnittliche
„rate of time preference“ wird jedoch im Zeitablauf nicht konstant sein. Grob vereinfacht lässt
sich sagen, dass der Zins umso höher sein wird, je ungeduldiger der Gläubiger ist. Zunehmende Unsicherheit kann daher zu einem steigenden neutralen Zins führen: Je ungewisser die Zukunft, umso stärker die Präferenz für „den Spatz in der Hand statt der Taube auf dem Dach“.
Im Extremfall würde dies bedeuten, dass man einen monatlichen oder sogar täglichen Wert für
den neutralen Zins bestimmen könnte. Dies scheint allerdings bei genauerer Betrachtung keine
gute Idee zu sein. So lässt sich die Grenzproduktivität des Kapitalstocks nicht sinnvoll in Realzeit bestimmen. Da der Unterschied zwischen Geldzins und natürlichem Zins zudem der Haupttreiber des Zyklus ist, würde eine Abhängigkeit des letzteren von z.B. der (zyklischen) Outputlücke zu Unbestimmtheit führen. Es macht daher Sinn, das eigentlich mittelfristig angelegte theoretische Konzept in der Praxis als ein langfristiges zu behandeln: Der „neutrale Zins“ ist ein
„Gleichgewichtswert“, der dann gilt, wenn sich die Wirtschaft auf ihrem „balanced growth path“
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befindet, und im Rahmen ihres Potenzials wächst. Eine gesamtwirtschaftliche Unterauslastung
würde nicht zu einem niedrigeren neutralen Zins führen, sondern einen Geldzins unterhalb des
neutralen Niveaus erfordern, damit sich die aggregierte Nachfrage in Richtung Angebotspotenzial bewegt.
Wie in vielen anderen Modellen üblich, hat Wicksell zudem die vereinfachende Annahme getroffen, dass es nur einen repräsentativen Geldzinssatz gibt. Dies muss aber kein Problem sein, so
lange sich die unterschiedlichen Zinsen größtenteils parallel bewegen. Im Gegensatz zu Wicksells Zeit gibt es heute eine gewichtige Determinante fast aller Zinssätze: die Geldpolitik der Notenbank. Dies legt die Verwendung des Leitzinses als Geldzins nahe. Nun wird manchmal argumentiert, dies sei ein Fehler und stattdessen sei es sinnvoller, die Renditen langlaufender
Staatsanleihen oder Unternehmensanleihen zu verwenden. Das Konzept des neutralen Zinses
3
wird in der Regel aber nur auf kurzfristige Zinsen angewendet. Auch empirisch spricht einiges
für die Verwendung des Leitzinses (siehe unten).
Es gibt zahlreiche akademische Studien, die sich mit der empirischen Schätzung des neutralen
4
Zinses beschäftigen. Dabei sind grundsätzlich zwei Ansätze zu unterscheiden. Der erste beruht auf der Annahme eines vergleichsweise stabilen natürlichen Zinses, was angesichts der
sich nur langsam verändernden strukturellen Determinanten plausibel erscheint. Die meisten
Bewegungen des in der Wirklichkeit beobachteten Realzinses werden daher dem „real rate gap“
zugeschrieben, also der Abweichung des Realzinses vom natürlichen Zins, die hauptsächlich
von der Geldpolitik getrieben wird. Die am meisten beachtete Arbeit in dieser Richtung ist ein
5
Paper von Laubach/Williams. Ihr Ansatz, ein Makromodell für die USA zu schätzen und den
natürlichen Zins mit Hilfe eines sogenannten Kalman-Filters zu bestimmen, ist in vielen späteren Studien aufgegriffen worden. Ein Ergebnis ihrer Arbeit war allerdings, dass die Schätzung
von Trendgrößen wie dem natürlichen Zins in Realzeit äußerst problematisch ist.
Ein zweiter, weitgehend statistischer und theoriefreier Ansatz schreibt die Veränderungen des
6
tatsächlichen Realzinses mehrheitlich Schwankungen des natürlichen Zinses zu. Hierbei kommen statistische Methoden zur Ermittlung der zyklischen (real rate gap) und der Trendkomponente (natürlicher Zins) zum Einsatz. Der natürliche Zins ist in dieser Betrachtungsweise viel
weniger ein langfristiges Konzept, sondern kann von Quartal zu Quartal stark schwanken, was
seine Nützlichkeit als geldpolitisches und analytisches Konzept erheblich einschränkt.
Selbst das Laubach-Williams-Modell, dessen aktualisierte Version möglicherweise den akuten
Anstoß zur „new neutral“-These gegeben hat, weist aber aus Sicht des Praktikers extrem volatile Schätzungen für „Trend“größen auf. Bei Laubach/Williams schwankt beispielsweise das USPotenzialwachstum von 5,5 % im Q4 2006 auf -0,7 % nur drei Monate später. Dies steht im Widerspruch zu der Idee, dass das Potenzialwachstum ein mittel- bis langfristiger Ansatz sein sollte. Zudem ist unklar, ob die Verwendung des Modells über einen offensichtlichen strukturellen
Bruch wie die Finanzkrise ohne größere Anpassungen sinnvoll sein kann.
Wie hoch ist der neutrale Zins also?
Eine häufig außerhalb des akademischen Bereichs angewendete Methode zur Bestimmung des
neutralen Zinses beruht allein auf der Verwendung historischer Daten. Wir halten die Berechnung
von langfristigen Durchschnitten jedoch nicht für sinnvoll. Erstens hängen die Ergebnisse dieses
3
Siehe Amato, J. (2005), The Role of the Natural Rate of Interest in Monetary Policy, Bank for International
Settlement, Working Paper No 171.
4
Die meisten davon sind aber in den Jahren 2001-2006 (und damit vor der Finanzkrise) entstanden.
5
Laubach, T./Williams, J. (2003), Measuring the Natural Rate of Interest, Review of Economics and Statistics,
85, 4, S. 1063-1070.
6
Siehe z.B. Basdevant, O. et al. (2004), Estimating a Time Varying Neutral Real Rate for New Zealand
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USA AKTUELL
Ansatzes stark davon ab, welchen Stützzeitraum man ansetzt. Dies ist aber weitgehend willkürlich.
Wenn das Ziel die Ermittlung eines Werts für den neutralen Zinses heute oder in einem Jahr ist,
soll man dann Daten aus den letzten zwei, drei oder fünf Konjunkturzyklen verwenden? Zweitens
gibt es einen inhärenten Zielkonflikt: Je kürzer der Zeitraum, umso stärker schlagen zyklische
Schwankungen durch. Je länger der Zeitraum, umso größer ist die Gefahr, auf eine Periode zu
rekurrieren, die durch zwischenzeitig erfolgte strukturelle Änderungen für die Gegenwart oder
Zukunft weitgehend irrelevant ist. Der Einsatz geldpolitischer Regeln wie der „Taylor-Regel“ ist
nicht viel zielführender. Sind sie empirisch geschätzt, stellt sich auch hier die entscheidende Frage
nach dem Stützzeitraum. Grundsätzlich sollten solche Regeln nicht überstrapaziert werden – ein
mögliches Thema für ein zukünftiges „USA Aktuell“. Das Einsetzen von „Gleichgewichtswerten“ in
geldpolitische Regeln bringt Resultate nur unter der entscheidenden Einschränkung „wenn sich die
Reaktionsfunktion der Notenbank nicht geändert hat“. Vom Gegenteil gehen für die „NachkrisenFed“ aber gerade viele Beobachter aus.
Stattdessen scheint als Ausgangspunkt ein wachstumstheoretischer Ansatz vielversprechender.
Wie erwähnt, ist der Versuch, die Grenzproduktivität des Kapitals zeitnah zu bestimmen, zum
Scheitern verurteilt. Eine Approximation über die Wachstumstheorie hat den Vorteil, dass das
Ergebnis nicht von Quartal zu Quartal oder von Jahr zu Jahr extrem schwankt. Eine Folge ist jedoch, dass der „wahre“ Gleichgewichtszins durch temporäre Einflüsse (siehe unten) zu jedem
einzelnen Zeitpunkt durchaus vom konkreten Schätzwert abweichen kann. Aus diesem Grund
legen wir einen Schätzkorridor um unseren Wert und folgen bei dessen Größe einem Vorschlag
der heutigen Fed-Präsidentin Janet Yellen: +/- 1 Prozentpunkt.
Wachstumstheoretisches
Fundament
Wachstumsmodelle wie das Solow- oder das Ramsey-Cass-Koopmans-Modell sind heute alles
andere als „state-of-the-art“. Sie haben aber den Vorteil einer vergleichsweisen Einfachheit und
Zugänglichkeit auch für Nichtexperten. Ihre wichtigsten Nachteile – insbesondere die bekannte
Kritik, dass diese Ansätze den wichtigsten Treiber des Wachstums, den technischen Fortschritt,
einfach unterstellen, sind für unseren Zweck nachrangig. Stark verkürzt, wird in diesen Modellen
die Wirtschaft durch eine Produktionsfunktion abgebildet, in der Kapital und Arbeit Output erzeugen. Die beiden Inputfaktoren werden mit ihrem Grenzprodukt entlohnt. Auf dem sogenannten
7
„steady path“, dem gleichgewichtigen Wachstumspfad, entspricht im Solow-Modell die Grenzproduktivität des Kapitals dem Wachstum des Erwerbspersonenpotenzials plus dem Trendanstieg der
8
Arbeitsproduktivität. Im Gleichgewicht entspricht der neutrale Zins also praktisch dem Wirtschaftswachstum (Beschäftigungswachstum plus Produktivitätswachstum). Der langfristige Gleichgewichtszins orientiert sich demnach am Trend- oder Potenzialwachstum: Dies approximiert die
auf längere Sicht zu erwartende Rendite auf Investitionen in Sachkapital. Wenn diese Rate mit
dem Geldzins exakt übereinstimmt, wird ein durchschnittliches Unternehmen indifferent sein zwischen Nichtstun und einer Investition.
Weder die Veränderungsrate des Erwerbspersonenpotenzials noch der Trend der Arbeitsproduktivität sind dabei im Zeitablauf konstant. Sie verändern sich aber nur sehr graduell. Da dies zudem
ein Gleichgewichtsansatz ist, müssen hier nur strukturelle und keine zyklischen oder temporären
Faktoren berücksichtigt werden. Dazu zählen zum Beispiel politische Reformen, neue Managementmethoden oder Änderungen im Bildungssystem, die sich positiv auf den Produktivitätstrend
auswirken oder demografische Änderungen (Zuwanderung).
Ein Nachteil des Solow-Modells ist, dass es nicht auf einem mikroökonomischen Fundament beruht. Dies kommt besonders darin zum Ausdruck, dass es die „positive rate of time preference“
7
Das Verhältnis von eingesetzter Arbeit zu Kapital ist dabei konstant. Die Investitionen folgen der „Goldenen
Regel“, die die langfristigen Konsummöglichkeiten in der Wirtschaft maximiert.
8
Als Vereinfachung werden hier die Abschreibungen ausgeklammert. Werden sie berücksichtigt, muss der
neutrale Zins höher sein als die Grenzproduktivität des Kapitals. Bei konstanten Abschreibungsraten impliziert
dies eine Parallelverschiebung. Nimmt durch einen schnelleren technologischen Fortschritt die ObsoleszenzRate des Kapitalstocks zu, wäre der neutrale Zins entsprechend höher als in der Vergangenheit.
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USA AKTUELL
(siehe Kasten) nicht berücksichtigt. Dies ist im Ramsey-Modell anders und es ist insofern in dieser
Hinsicht „realistischer“. In einer „Ramsey-Welt“ entspricht die Grenzrendite des Kapitals dem Wert
im Solow-Modell plus einer positiven „discount rate“, die die „Ungeduld“ der Konsumenten widerspiegelt. Anders formuliert: In diesem realistischeren Ansatz ist der neutrale Zins etwas höher als
das Trendwachstum der Volkswirtschaft. Dies sollte daher als Untergrenze einer Punktschätzung
betrachtet werden.
Für die kommenden Jahre gehen wir für die USA von einer Trendwachstumsrate von rund 2 %
aus. Auf dieser Basis haben wir mit Hilfe eines HP-Filters Jahres- und Quartalsschätzungen erzeugt. Für 2014 liegen diese Werte etwas über 2 %, aber der mittelfristige Trend nahe 2 %. Dies
ist der neutrale Realzins. Um zum in der Realität beobachteten Nominalzins zu kommen, muss
dem ein entsprechendes Maß für die „gleichgewichtigen“ Inflationserwartungen hinzugefügt werden. Aus unserer Sicht sind die häufig in diesem Zusammenhang angesprochenen Indikatoren
(Verbraucherumfragen, der Konsens der Ökonomen, Zinsdifferenz zwischen nominalen und inflationsindexierten Anleihen) alle in der einen oder anderen Hinsicht suboptimal.
Gleichgewichtige
Teuerung?
Der besten Anhaltspunkt für eine „gleichgewichtige“ Teuerung ist wohl das „Inflationsziel“ der Fed:
ein Anstieg des Preisindex für die privaten Konsumausgaben (PCE) von 2 %. Auf lange Sicht ist
dabei irrelevant, ob sich dies auf den Gesamtindex oder den Kernindex ohne Energie und Lebensmittel bezieht. Dies ist aber ein Index nur für die Verbraucherpreise. Für unsere Zwecke bietet
sich die besser zum Trendwachstum der Gesamtwirtschaft passende Verwendung des BIP9
Deflators an. Historisch passt ein Anstieg PCE-Index um 2 % pro Jahr zu einer Zunahme des BIPDeflators um etwa 1,75 %. Damit ergibt sich für die kommenden Jahre eine Punktschätzung für
den neutralen Nominalzins von 2 % + 1,75% = 3,75 %. Wie oben erwähnt, sprechen aber die zusätzliche Berücksichtigung von Abschreibungen und die Ungeduld der Konsumenten eher für einen höheren Wert. Ein Faktor von +0,25 Prozentpunkt ist dabei recht vorsichtig und bringt unseren
Schätzwert auf 4 %. Darum legen wir dann das Schätzband von +/- 1 Prozentpunkt (siehe S. 1).
Langfristig lagen nominales Wachstum und Federal Funds Rate nahe beieinander
Durchschnittliches Zinsniveau bzw. durchschnittliches Wachstum in %
10
9
8
9
10j. Treasuries
7
6
10
Unternehmensanleihen (Baa)
Leitzins
3m Libor
8
Nominales Wachstum
7
3m Treasury
Bill
5
6
5
4
4
3
3
2
2
1
1
0
0
1980-2007
1980-2014
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
Das Konzept des neutralen Zinses bezieht sich auf kurzfristige Zinsen. Historisch gesehen, passt
von den möglichen Kandidaten der Leitzins am besten zum nominalen Wachstum. Dies hängt
jedoch naturgemäß vom betrachteten Zeitraum ab. Von 2001 bis heute war die Geldpolitik im
Schnitt sicher nicht neutral – in diesem Zeitraum wurde ja erst die Kreditblase aufgepumpt und
dann, nachdem sie geplatzt war, der Leitzins auf null gesenkt. Bis in die 1950er und 1960er Jahre
zurückzugehen macht auch nicht viel Sinn – zumal die Zinsdaten nicht für alle Reihen für einen so
langen Zeitraum vorliegen. Für die Zeit 1980 bis 2007 lässt sich hingegen argumentieren, dass das
Zinsniveau im Schnitt weder extrem expansiv noch sehr restriktiv war. Für diesen Zeitraum lagen
Federal Funds Rate und nominales Wachstum nah beieinander. Dies gilt sogar, wenn man den
Zeitraum bis an den aktuellen Rand (2014) erweitert.
9
Dieser Indikator ist nicht ohne Nachteile: Er unterliegt auf Jahre hinaus Revisionen und steigende Importprei-
se, die nicht vollständig überwälzt werden, führen zu einem Rückgang des BIP-Deflators.
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USA AKTUELL
Welche anderen Faktoren, jenseits des US-Wachstumstrends, könnten zu vorübergehenden Abweichungen von unserer Schätzung führen? Exogene Verschiebungen in der Fiskalpolitik (deutlich
restriktiver oder expansiver), Veränderungen in der „rate of time preference“, Demografie, Naturkatastrophen, Ölpreis- oder generell Rohstoffpreisschocks oder Verschiebungen in den internationalen Kapitalströmen. Leider besteht kein Konsens über die relative Bedeutung dieser Faktoren für
das neutrale Zinsniveau. Teilweise ist sogar unklar, ob sie den neutralen Zins eher erhöhen oder
drücken. Ein kontra-intuitives Beispiel wäre eine Abnahme der Glaubwürdigkeit der Notenbank
hinsichtlich ihrer Entschlossenheit, die Inflation zu bekämpfen. Dies würde zu steigenden Risikoprämien auf langfristige Kredite führen. Für jedes Niveau des Leitzinses wären die langfristigen
Zinsen dann höher. Um einen gewünschten Restriktionsgrad zu erreichen, müsste die Fed den
Leitzins daher weniger erhöhen als vorher. Das neutrale Leitzinsniveau wäre gefallen.
Auch „die Globalisierung“ ist ein zweischneidiges Schwert. So stehen der „Sparschwemme“ in
Asien die Integration von hunderten von Millionen von Arbeitskräften in die Weltwirtschaft und der
sich daraus ergebende Investitionsbedarf gegenüber. Die „globale“ Sachkapitalrendite dürfte durch
die Globalisierung spürbar gestiegen sein – und damit auch das neutrale Zinsniveau. Per saldo
haben aber Rohstoffpreisboom und Spareifer in Asien dazu geführt, dass der „Import von Ersparnis“ in die USA in den Jahren vor der Krise deutlich zugenommen und das effektive Zinsniveau
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gedrückt hat. Zuletzt ist das Leistungsbilanzdefizit wieder gefallen und mit rund 2 % am BIP
merklich niedriger als vor der Finanzkrise. Von einer Kapitalflut kann derzeit keine Rede mehr sein.
Ein „globaler“ Gleichgewichtszins?
Gibt es den „globalen
Zins“?
Schließlich stellt sich die Frage, ob es Sinn macht, von „einem globalen“ Zins zu sprechen, der nun
deutlich niedriger ist als früher. Allgemein gilt der US-Kapitalmarkt und damit letztlich die amerikanische Geldpolitik als die Benchmark und als der Anker der globalen Finanzmärkte. Entwicklungen
in der Eurozone (Schuldenkrise) oder in China (Nachfrage nach US-Staatsanleihen) beeinflussen
den US-Markt zwar, aber für die kontinentale Volkswirtschaft USA stehen in erster Linie Binnenfaktoren im Vordergrund. Dies haben wiederholte Vorwürfe aus den Schwellenländern in den vergangenen Jahren, die USA würden nicht genug Rücksicht auf die globalen Folgen ihrer Wirtschaftspolitik nehmen, unterstrichen. Es dürfte erneut akut werden, wenn die Fed wie erwartet 2015 auf
einen Zinserhöhungskurs einschwenkt, während die EZB weiterhin mit beiden Beinen auf dem
Gaspedal steht. In der Eurozone wird die Notenbank wohl auf absehbare Zeit den Leitzins nahe
null halten. Ob dies allerdings ausreicht, um Kapitalströme in die USA in Gang zu setzen, die ein
solches Volumen erreichen, dass auch dort das gleichgewichtige Zinsniveau spürbar gedrückt
wird, darf bezweifelt werden. Aktuell hat die Eurozone als Ganzes bereits einen Überschuss in der
Leistungsbilanz von etwa 2,5 % am BIP und exportiert in diesem Umfang Kapital ins Ausland.
China steht vor umfangreichen Reformen von Wirtschaft sowie Finanzsystem und es ist extrem
schwierig abzuschätzen, was der Nettoeffekt dieser Maßnahmen auf die globale Ersparnis und
Investition sein wird: Während die geplante Stärkung der Binnennachfrage und besonders des
Konsums die Ersparnis senken sollte, könnte gleichzeitig eine Liberalisierung der Bestimmungen
für die Kapitalanlage im Ausland dazu führen, dass eine Flut chinesischer Privatvermögen in die
Industrieländer schwappt. Um dem zu begegnen, würden die chinesischen Banken gezwungen
sein, höhere Zinsen zu zahlen. Ob all dies in den USA und/oder global zu einem höheren oder
niedrigeren neutralen Zins führt, ist völlig offen.
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Dies würde einen höheren neutralen Zins bedeuten: Um einen gewünschten Restriktionsgrad (Niveau der
Kapitalmarktzinsen) zu erreichen, muss die Notenbank den Leitzins stärker anheben.
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USA AKTUELL
Fazit: Zielmarke 4 % – in der fernen Zukunft
Unsere Punktschätzung sieht ein neutrales Zinsniveau für die USA in den kommenden Jahren bei
rund 4 %, gemessen an der Federal Funds Rate. Dies ist niedriger als in der Vergangenheit, aber
deutlich höher als der Nominalsatz von 2 % im „new neutral“-Szenario. Für den Rentenmarkt bedeutet dies ein in den kommenden Jahren ebenfalls niedriges durchschnittliches Zinsniveau. Da im
Moment aber sogar weniger Zinserhöhungen eingepreist sind als die Mehrheit der FOMCMitglieder in Aussicht stellt, besteht hier Korrekturbedarf. Gemessen an einem neutralen Zins von
4 % sind die Kapitalmarktzinsen in den USA derzeit „zu niedrig“. Wir erwarten entsprechend in den
kommenden zwölf Monaten einen Anstieg der Renditen zehnjähriger Treasuries von rund 2,6 %
auf 3,6 %. Selbst das dann erreichte Niveau kann nur für diejenigen Sinn machen, die der Ankündigung eines äußerst langsamen Zinserhöhungszyklus seitens der Fed voll vertrauen.
Der US-Staat kann mit höheren Zinsen leben
Nur eine restriktive Politik beendet Expansionen
Bundeshaushaltssaldo, CBO-Projektionen, % am BIP
Effektive Federal Funds Rate, %
0,0
0,0
20
20
-0,5
-0,5
18
18
-1,0
-1,0
16
Unterschied:
maximal 0,7 % am BIP
-1,5
CBO-Basis-Szenario
(3m Tbill steigt bis 2018
auf 4 %, 10y Rendite
auf gut 5%)
-1,5
16
14
Rezessionen seit 1954
14
12
12
10
10
8
8
6
6
-3,5
4
4
-4,0
-4,0
2
2
-4,5
-4,5
0
1954
-2,0
-2,5
-3,0
-2,0
-2,5
-3,0
-3,5
Alternativ-Szenario*
2013
2015
2017
2019
2021
2023
Quellen: CBO, Helaba Volkswirtschaft/Research
* 3m Tbill erreicht 4 % schon 2016, 10y Rendite nähert sich 6 %
Geldpolitischer Ausblick
0
1964
1974
1984
1994
2004
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
Die an den Märkten verbreitete Skepsis angesichts der großen Distanz zwischen dem aktuellen
Leitzinsniveau von praktisch null und den (auch von den FOMC-Mitgliedern mehrheitlich anvisierten) 4 % beruht unserer Einschätzung nach auf einem Unvermögen, zu differenzieren zwischen
dem neutralen Zinsniveau einerseits und der Notwendigkeit, dieses zügig zu erreichen andererseits. Die Fed sagt aktuell, dass eine expansive Geldpolitik (ein Leitzins unter dem neutralen Niveau) noch für eine längere Zeit angemessen sein wird. Wenn man die aktuellen Prognosen der
FOMC-Mitglieder ernst nimmt, wird die Federal Funds Rate frühestens 2017 in den neutralen Bereich vorstoßen. Für die ersten Jahre des Straffungszyklus wird die Fed dabei lediglich den Expansionsgrad graduell zurückschrauben. Von der Richtung her scheint dies angesichts der rapide
fortschreitenden Erholung am Arbeitsmarkt und der Genesung des Bankensystems durchaus angemessen. Die Fed trägt trotz des Endziels von 4 % mit ihrer aktuellen extrem expansiven Politik
und der „forward guidance“ den Nachwirkungen von Finanzkrise und der Rezession von 20072009 voll (vielleicht sogar zu stark) Rechnung. Die Risiken und Nebenwirkungen des langjährigen
Niedrigzinsumfelds („Zombies“, die nur durch Nullzinsen am Leben erhalten werden; übertriebene
Risikoneigung der Anleger usw.) können derzeit noch gar nicht voll überblickt werden.
Viele Beobachter überschätzen zudem die Auswirkungen eines normaleren Zinsniveaus auf die
Staatsfinanzen in den USA. Schätzungen des Congressional Budget Office (CBO) zeigen, dass
der US-Finanzminister zwar keinen Anlass zu Freudensprüngen haben wird, wenn die Leitzinsen
wieder steigen. Ein höheres Zinsniveau ist aber in den Planungen bereits enthalten und wenn die
Zinsen stärker steigen sollten als dort unterstellt, wäre es auch kein Drama: Die Zusatzbelastungen für den Bundeshaushalt würden recht überschaubar ausfallen.
Völlig ausgeblendet wird von vielen Analysten und Marktteilnehmern derzeit schließlich die Möglichkeit, dass die Geldpolitik irgendwann einmal nicht nur neutral sondern sogar restriktiv werden
könnte. Angesichts der Unsicherheiten im Zusammenhang mit der langen Periode der Nullzinspolitik, der aufgedunsenen Notenbankbilanz, einer aktuell bereits gemessen am Verbraucherpreisin-
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USA AKTUELL
dex bei über 2 % liegenden Teuerung, der sich schnell der Vollbeschäftigung nähernden Arbeitsmarktlage und den schier ins Endlose gewachsenen Liquiditätsreserven der Banken ist dies alles
andere als zwingend. Ein Szenario, in dem die Fed „behind the curve“ fällt und einen Crash am
Rentenmarkt provoziert, ist weniger wahrscheinlich als das Basis-Szenario einer graduellen Normalisierung des Zinsniveaus. Wir würden ihm aber eine höhere Wahrscheinlichkeit zuordnen als
einem Stagnations-/Deflations-Szenario, in dem die US-Konjunktur ohne eine nennenswert restriktive Geld- und Fiskalpolitik gleichsam „aus sich selbst heraus“ in eine Rezession fällt und so die
Normalisierung des Zinsniveaus vorzeitig ausbremst. In den USA ist seit dem zweiten Weltkrieg
noch kein Zyklus an „Altersschwäche gestorben“: Alle Expansionen wurden entweder von der Fed
oder von der Fiskalpolitik „ermordet“. 
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