Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch

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Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
Das Signal zum Wecken wurde, wie immer, um
fünf Uhr morgens gegeben - durch einen
Hammerschlag auf ein Stück Eisenbahnschiene,
die bei der Kommandanturbaracke hing. Der
glockenartig an- und abschwellende Ton drang
nur schwach durch die mehr als zolldick
vereisten Fensterscheiben und verebbte dann
schnell.
Es war kalt, und dem Wachtposten war nicht
nach weiterem Hämmern zumute. Der Klang
verhallte. Draußen war es stockfinster, wie
mitten in der Nacht, wenn Schuchow aufstand,
um auf den Latrinenkübel im Windfang zu
gehen; nur der gelbe Schein von drei Lampen
fiel auf das Fenster - zwei im Außengelände und
eine innerhalb des Lagers. Aus irgendeinem
Grund war niemand gekommen, die Baracke
aufzuschließen. Und es war noch nichts davon zu
hören, dass der Barackendienst mit den Stangen
kam, um die Latrinenkübel hinauszutragen.
Schochow verschlief das Wecken nie, sondern
stand immer sofort auf. So hatte er bis zum
Morgenappell ungefähr anderthalb Stunden für
sich - eine Zeit, in der jeder, der sich im Lager
auskennt, ein bisschen was nebenbei
organisieren kann. Da näht man einem aus einem
Fetzen alten Stoff einen Flicken auf den
Fausthandschuh; da bringt man einem
wohlhabenden Brigadier seine trockenen
Filzstiefel, während er noch in der Klappe liegt,
und spart ihm so die Mühe, barfuß seine Stiefel
selbst aus dem Haufen heraussuchen zu müssen;
man läuft rasch einmal zu den verschiedenen
Magazinen hinüber, wo man sich vielleicht bei
dem einen oder anderen beliebt machen kann,
ausfegen oder etwas heranholen; man kann in
der Essbaracke die Schüsseln von den Tischen
räumen und sie stoßweise zu den
Geschirrwäschern bringen, eine Möglichkeit, zu
etwas Essen zu kommen. Aber da trieben sich
schon viel zu viele andere rum, die den gleichen
Einfall gehabt hatten. Und das schlimmste daran
ist, dass man jede Schüssel, in der sich noch ein
kümmerlicher Rest Essen findet, gleich ausleckt.
Man kann einfach nicht anders. (...)
Es war nicht klug, wenn man seine Filzstiefel am
Morgen nass werden ließ. Man hatte nichts
weiter zum Wechseln, selbst wenn man zu seiner
Baracke zurück rennen konnte. Während der
acht Jahre, die Schuchow nun schon im Lager
war, hatte er alle möglichen Höhe- und
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Tiefpunkte in der Versorgung mit Schuhen
erlebt. Es hatte Zeiten gegeben, wo sie den
ganzen Winter überhaupt ohne Filzstiefel herum
gelaufen waren, Zeiten, in denen sie ordentliche
Stiefel nicht mal zu Gesicht bekamen, sondern
nur Schuhe aus Birkenrinde oder solche „Modell
Tscheljabinsker Traktorenwerk“: Schuhe, die aus
Stücken von Autoreifen hergestellt waren - jede
Spur zeigte das Reifenprofil! Jetzt aber hatte sich
Der russische Schriftsteller und Dissident
(=einer, der vom System abweicht)
Alexander Solschenizyn (1918-2008)
verbrachte 1945-53 im Arbeitslager und
wurde 1974 aus der Sowjetunion
ausgewiesen. Er setzte sich in seinem Werk
kritisch mit der Stalinzeit auseinander. „Der
Archipel GULAG" (1975) ist ein literarischer
Dokumentarbericht über die sowjetischen
Straflager. 1970 erhielt Solschenizyn den
Nobelpreis für Literatur. Solschenizyn
kritisierte auch den Westen (wegen seiner
Dekadenz).
die Sache mit den Stiefeln zu bessern begonnen.
Im Oktober - da war es Schuchow gelungen, mit
Nummer 2 aus seiner Brigade einen Gang zum
Magazin herauszuschlagen - hatte er ein Paar
fester Stiefel mit prima kräftigen Kappen
bekommen, die innen genug Raum boten für
zwei Lagen warmer Fußlappen. Einige Wochen
lang war er der glücklichste Mensch der Welt
und schlug seine neuen Hacken mit Wonne
zusammen. (...)
Jetzt zog Schuchow die Mütze von seinem glatt
geschorenen Schädel: Ganz gleich, wie kalt es
war, er ließ sie nie beim Essen auf. Er rührte in
der kalten Suppe herum und warf einen raschen
Blick auf den Inhalt seiner Schüssel. Es war das
Übliche, nicht oben vom Kessel abgeschöpft,
aber auch nicht das Dicke von unten.
Wahrscheinlich hatte Fetjukow sich eine
Kartoffel herausgeklaut. Das einzig Gute an der
Lagersuppe war, dass man sie gewöhnlich heiß
bekam. Aber was Schuchow jetzt vor sich hatte,
war fast kalt; trotzdem aß er so langsam und
sorgfältig wie stets. Immer mit der Ruhe jetzt,
auch wenn das Dach brennt! Abgesehen vom
Schlafen hatten die Sträflinge freie Zeit für sich
selbst nur zehn Minuten beim Frühstück, fünf
Minuten bei der Mittagspause und nochmals fünf
Minuten beim Abendessen. Die Suppe änderte
sich nicht von einem Tag zum anderen; was es
gab, hing davon ab, welches Gemüse sie für den
Winter eingelagert hatten. Im vergangenen Jahr
bestand der ganze Vorrat nur aus eingesalzenen
Möhren, und so waren von September bis Juni
nur Mohrrüben in der Suppe. Und jetzt hatten sie
Kohl. Am besten war die Lagerverpflegung im
Juni, wenn es mit den Gemüsen zu Ende ging
und es stattdessen Grütze gab. Die schlimmste
Zeit war der Juli. Da kamen geschnittene
Brennnesseln in den Kessel. Der Fisch in der
Suppe bestand hauptsächlich aus Gräten. Von
kleinen Resten an Schwanz und Kopf abgesehen,
war das Fleisch weggekocht. Schochow ließ
keine einzige Schuppe, kein Stückchen Fleisch
dran, zerbiss die Gräten, saugte sie aus und
spuckte sie auf den Tisch. Er ließ nicht das
mindeste übrig - nicht einmal Kiemen oder
Schwanz. Auch die Augen aß er, wenn sie noch
im Kopf waren. Nur wenn sie schon
herausgefallen waren und für sich in der
Schüssel herum schwammen, ließ er es. Die
anderen lachten ihn deswegen aus. (...)
Schuchow zog seine Stiefel aus, stieg zu seiner
Pritsche hoch und holte das Stück Säge aus
seinem Fäustling. Er sah es sich genau an.
Morgen wird er sich ein richtiges Stück Stein
suchen, um das Ding zu einem Schustermesser
umzuschleifen. Wenn er nur jeden Morgen und
jede Nacht ein wenig daran arbeitete, konnte er
sich in vier oder fünf Tagen ein feines Messer
machen, mit einer scharfen, gekrümmten Klinge.
In der Zwischenzeit allerdings musste er es gut
verstecken. Am besten zwischen den Querbalken
und den Brettern seiner Pritsche. Und weil der
Kapitän unter ihm nicht auf seiner Pritsche lag denn er wollte nicht, dass dem etwas Schmutz
ins Gesicht fiel -, zog er jetzt die schwere
Matratze zurück. Sie war mit Sägemehl gefüllt,
nicht mit Spänen. Und nun steckte er das Ding
dort hinein. Aljoscha, der Baptist, und die zwei
Esten konnten ihn dabei von ihren Pritschen aus
sehen. Aber vor denen brauchte er sich nicht in
Acht zu nehmen. Fetjukow kam schreiend durch
die Baracke, ganz krumm, und seine Lippen
bluteten. Hatte wohl wieder Keile bezogen, weil
er einem die Schüssel leer gefressen hatte. Er lief
den ganzen Gang entlang, schaute niemanden
dabei an und gab sich keine Mühe, seine Tränen
zurückzuhalten. Er kletterte zu seiner Pritsche
hoch und vergrub sein Gesicht in der Matratze.
(...)
Schuchow schlief ein, glücklich und zufrieden.
Viel Glück hatte er heute gehabt. Er war nicht im
Bunker gelandet. Seine Brigade hatte nicht zur
Baustelle „Sozgorod“ gemusst. Mittags hatte er
sich einen Extraschlag Brei organisiert. Der
Brigadier hatte für sie anständige Prozente
herausgeschunden. Das Mauern hatte prima
geklappt. Beim Filzen hatten sie das Stückchen
Säge nicht gefunden. Von Zesar hatte er am
Abend etwas bekommen. Er hatte etwas Tabak
aufgetrieben. Und die Krankheit - die war auch
vorüber. Nichts war an diesem Tag schief
gegangen. Fast ein Glückstag.
Dreitausendsechshundertdreiundfünfzig Tage
wie dieser eine, das war seine Strafzeit, vom
Frühappell bis zum Lichterlöschen.
Dreitausendsechshundertdreiundfünfzig. Drei
Tage mehr, wegen der Schaltjahre...
Kommandatur ......................................
Magazin..................................................
Zoll.......................................................
Tscheljabinsk..........................................
Latrine..................................................
Pritsche ..................................................
Appell...................................................
Fäustling.................................................
Brigadier ..............................................
Baptist ....................................................
Este ........................................................