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Foto: Wolbert Smidt
Die Musik – auf dem Foto spielt ein junger Äthiopier in einem Musiklokal
in der äthiopischen Stadt Gondar auf dem traditionellen Masinqo – hat in
den afrikanischen Kulturen eine herausragende Bedeutung. Klang und
Rhythmus vermitteln uraltes Lebensgefühl, die Tradition eines Volkes,
aber auch einer Religionsgemeinschaft. Häufig ergibt sich hieraus eine
für Europäer überraschende Mischung, etwa in der in Äthiopien sehr populären Rastafari-Bewegung (vgl. Kasten Rastafari).
Im Gegensatz zu anderen Teilen des afrikanischen Kontinents setzte
die Schriftlichkeit am Horn von Afrika bereits mit der Christianisierung
des Königreichs von Aksum im 4. Jahrhundert ein. Zunächst entstand
hauptsächlich Lyrik in Form religiöser Gedichte und Huldigungen für den
jeweiligen Herrscher. Später folgten Herrschaftschroniken und religiös
motivierte Kampfschriften. Literarische Gattungen wie Roman oder Novelle entwickelten sich hingegen erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts.
Eigenständige Traditionen in Literatur
und Musik
Wie kaum ein anderer südlich der Sahara gelegener Kulturraum
erfuhr das alte Abessinien die Aufmerksamkeit abendländischer
Literaten und Gelehrter. Zu den bekanntesten zählten der griechische Philosoph Herodot, der phönizisch-syrische Autor Heliodor, der Orientalist Job Ludolf und der bedeutende Au�lärer
Adolph Freiherr Knigge. Freilich spiegeln ihre Werke hauptsächlich die Phantasien der Autoren, nicht jedoch die realen Verhältnisse in der Region wider.
Im Gegensatz zu anderen afrikanischen Regionen, in denen
die Sprachen der Kolonialmächte wesentlichen Einfluss auf
die Ausbildung der Literatur nahmen, spielte dieser Faktor in
Äthiopien nur eine untergeordnete Rolle. Dies gibt Anlass, nach
den regionalen Traditionen von Literatur und Musik am Horn
von Afrika zu fragen. Die dortige kulturelle Vielfalt auf wenigen Seiten in ausreichender Breite zu erfassen, macht allerdings
erhebliche Beschränkungen und Vereinfachungen notwendig.
Aufgrund seiner sprachlichen und ethnischen Vielfalt gilt schon
alleine Äthiopien, etwa im Gegensatz zum ethnisch relativ homogenen Somalia, völkerkundlich als »kleines Afrika«. Eritrea
wiederum ist ein eigenständiger Staat, der in Vielem Äthiopien
nahesteht, in manchem aber einen ganz eigenen Charakter aufweist. Dschibuti wird vornehmlich von den verfeindeten Afar
und Issa bewohnt. Die hier kurz angedeutete Multikulturalität
hat in Jahrhunderten einen großen musikalischen und literarischen Reichtum hervorgebracht.
Musikalische Traditionen
Musik ist in Ton gegossenes Gefühl. Sie ist ein Spiegel der Lebenswirklichkeit des Menschen und somit seiner kulturellen
und ethnischen Verwurzelung. Dies gilt im besonderen Maße für
Afrika. Klang und Rhythmus transportieren uraltes Lebensgefühl, die Geschichte einer Volksgruppe oder einer Religion. Die
Musiktradition der äthiopischen Völker speist sich aus zahlrei209
II. Strukturen und Lebenswelten
chen Quellen. Liturgische Musik löste die in Vorzeiten dominierenden mystischen Rhythmen der einzelnen Stämme ab. Koptische Mönche brachten im 4. Jahrhundert das Christentum in
die Region, die christliche Religion gelangte jedoch erst seit dem
13. Jahrhundert zu voller Entfaltung (vgl. den Beitrag von Horst
Scheffler). Als Schöpfer des musikalisch-kirchlichen Zeremoniells, das nach wie vor nach strengen Regeln zelebriert wird, gilt
der im 6. Jahrhundert wirkende äthiopisch-orthodoxe Mönch
Yared. Zeitgleich mit seinen Gesangsordnungen zeichnete er bereits Noten auf.
Einerseits griff die Musik christliche, islamische und jüdische Klangmuster auf. Andererseits strahlte sie selbst in andere
Regionen aus. Schon in der Antike existierte ein starker äthiopischer Einfluss auf das Alte Ägypten. Darstellungen äthiopischer
Soldaten zeigen diese o� als Trommel- und Kastagne�enspieler
und den vom »Horn« stammenden, im Niltal angesiedelten Go�
Bes mit Handpauken und Glocken.
Musikinstrumente und Gesang spielten eine wichtige Rolle
im kirchlichen, ebenso wie im öffentlichen und privaten Raum.
Der langsame Verlauf der Christianisierung ließ ältere Musikinstrumente in der kirchlichen Musik überleben. Zu den typisch
äthiopischen Instrumenten, die bei kirchlichen Feierlichkeiten
Anwendung finden, zählt die Begena. Ein mit zehn Saiten bespannter hölzerner Klangkörper – ähnlich einer Leier – erzeugt
dessen typischen, dem europäischen Ohr fremd klingenden sonoren Summton. Begleitinstrumente sind häufig Trommeln und
Rasseln. Auch zur Untermalung von Gesangsstücken und Volksliedern kommt die Begena zum Einsatz.
Bestimmte Instrumente galten in Äthiopien als Herrscherinsignien. Hierzu zählt die Negarit, eine mit Schlägeln versehene
Trommel. Der Monarch nutzte sie in silberner Fassung, höhere
Beamte in kupferner Ausfertigung und niedere Staatsdiener in
hölzerner Version. In der Volksmusik der Hochlandvölker Tigray und Amharen stimmen Flöten, Kniegeigen und Leiern (Krar)
in den Gesang mit ein. Die neuerdings mit Stahlsaiten bespannten Krar wird ebenso wie die einsaitige Masinqo und Bambusflöten auch als Soloinstrument genutzt, bisweilen von Trommeln
begleitet.
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Eigenständige Traditionen in Literatur und Musik
Wesentliche Träger der verschiedenen Kulturen waren von
jeher frei vorgetragene Volkslieder. Von hoher Bedeutung sind
Klagelieder und Kriegstänze. Die bekannten Liedformen zeigen einen ausgeprägten Hang zur Improvisation, greifen allerdings ebenso auf einen Bestand traditioneller Melodien zurück.
Eine weitere Einschränkung bringt die Formstrenge liturgischer
Musik mit sich.
Im Gegensatz zu den Völkern des äthiopischen Hochlandes
nutzten die Somali bis ins 20. Jahrhundert nur sehr wenige Instrumente, vor allem Trommeln und Flöten. Zentrale Bedeutung
für die Musik hat sta�dessen die menschliche Stimme. Eine wesentliche Ursache für die geringere Verbreitung von Musikinstrumenten scheint das Fehlen regionaler Herrscher sowie einer
feudalen Gesellscha�sstruktur wie jener in Äthiopien zu sein.
Die jüngere somalische Musik unterscheidet sich von westlichen
Kompositionen übrigens grundsätzlich durch die Verwendung
einer Fün�onskala. Die europäische Tonleiter umfasst hingegen
bekanntlich zwölf in Halbtonschri�en voneinander getrennte
Töne.
Seit den 1920er Jahren gewannen auch am Horn von Afrika
westliche Musikformen an Einfluss. Neben militärischer Marschmusik entstanden nun auch klassische Kompositionen. Zu deren
wichtigsten Urhebern zählen Tsegayie Debalkie und Ashenafi
Kebede. Tsegayie zeichnete Ende der 1960er Jahre bei »Radio
Ethiopia« für Musik verantwortlich. Als beachtlich vielseitiger
Komponist schuf er mehr als 80 Lieder westlichen und traditionell-äthiopischen Stiles sowie 13 größere Tondichtungen.
Schri�lichkeit in Äthiopien und Somalia
So wie sich Europa in unterschiedliche Sprachräume gliedert,
lässt sich auch die ethnische Vielfalt des Hornes in Sprachverwandtscha�en unterteilen und ordnen. Wie etwa Franzosen, Rumänen und Spanier den romanischen Völkern zugehören oder
Deutsche, Schweden, Isländer den germanischen, zerfällt Äthiopien in die Sprachräume der Semiten, Hamiten, Omotisch- und
Nilotischsprachigen.
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II. Strukturen und Lebenswelten
picture-alliance/dpa/Ipol Kwame Brathwaite
Die Rastafari
Die Rastafari bilden eine religiöse Gemeinscha�, die in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Karibik entstand und dort
auch heute noch verbreitet ist. Die Lehre der Rastafari basiert auf einer
Prophezeiung des Journalisten Marcus Mosiah Garvey. Er sagte 1927
die Krönung eines schwarzen Königs in Afrika voraus, der als neuer
Messias die schwarze Bevölkerung Amerikas in die Heimat nach Afrika führen werde (»Back-to-Africa-Bewegung«).
Mit der Krönung des äthiopischen Regenten Ras Tafari Makonnen
zum »Negus« von Äthopien 1928 sahen die Anhänger dieser Bewegung die Prophezeiung als erfüllt an. Die selbstgewählte Bezeichnung
Rastafari geht auf diesen König zurück, der 1930 unter dem Thronnamen Haile Selassie I. zum Kaiser Äthopiens gekrönt wurde.
Die Überzeugung der Rastafari basiert auf dem Neuen Testament
und hier vor allem auf der Offenbarung des Johannes. Es handelt sich
um eine reine Heilserwartungsbewegung. Der neue Messias (Haile
Selassie) wird als Go� verehrt und soll seine schwarzen Kinder, die
Nachfahren der Sklaven aus der gesamten Welt, in die Heimat, die
gleichzeitig das Paradies darstellt, heimführen. Für die Rastafari ist
das Paradies gleichbedeutend mit Äthiopien als Land, wo man frei
von Sklaverei leben kann. Aus diesem Grund bilden auch die Farben
der äthiopischen Flagge, rot, gold und grün, die Symbolfarben der
Rastafari.
Die Lehre der Rastafari hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Gleichberechtigung der Frau oder Homosexualität lehnen die
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Einer der
bekanntesten
Anhänger der
Rastafari:
Reggae-Legende
Bob Marley
Eigenständige Traditionen in Literatur und Musik
Rastafari als nicht go�gewollt ab. Ihre Ernährung setzt sich aus Früchten und Kräutern zusammen. Tierische Produkte sowie Alkohol und
Tabak sind verpönt. Eine Ausnahme bildet der Konsum von Marihuana, der beim Meditieren und der Auseinandersetzung mit ihrem Go�
Jah (»Tscha«) eine wichtige Rolle spielt.
In Europa wurde die Rastafari-Bewegung vor allem in den 1970er
Jahren durch Reggae-Musik und Dreadlocks bekannt. Die bekanntesten Vertreter der Rastafari-Reggae-Szene waren Bob Marley und Peter
Tosh.
(am)
Die Entstehung der Schri�kultur bestimmten über Jahrhunderte hinweg die semitischen Völker der Amharen und Tigray.
Auch die jüdischen Falascha verfügen über eine lange Tradition
religiösen Schri�tums. Dagegen gewann das größte äthiopische
Volk der Oromo (Galla) erst im Laufe des 20. Jahrhunderts an
Bedeutung für das überregionale kulturelle Leben. Um nochmals
den Vergleich mit Europa heranzuziehen, existierte mit Latein
bzw. Geez in beiden geographischen Räumen über Jahrhunderte eine verbindende Kultursprache. Die überwiegend christlich
inspirierte Literatur Äthiopiens wurde ab dem 4. Jahrhundert in
Geez aufgezeichnet, im 20. Jahrhundert setzte sich Amharisch
durch. In Somalia wurde erst 1972 eine eigene Schri�sprache
verbindlich. Zuvor schrieben somalische Gelehrte und Dichter
Arabisch.
Die ersten literarischen Äußerungen am Horn von Afrika
sind der Ga�ung der Lyrik zuzurechnen. So unterscheiden die
Somalis mehrere Gedichtarten nach Länge, Stil und metrischem
Maß. Weite Teile der schri�lichen Ausdrucksformen einzelner
Stämme sind bislang – wie in der Musik auch – kaum dokumentiert und erforscht. Kultische Texte existieren häufig in schri�licher Form, während Sagen und Märchen, sofern sie nicht von
Fremden Aufzeichnung erfuhren, bis heute hauptsächlich durch
mündliche Überlieferung weitergegeben werden.
Als erste Schri�zeugnisse in der Region gelten ein bis zwei
Meter lange Zauberrollen, die seit ältesten Zeiten von Priestern
angefertigt werden. Die hier versammelten Bilder und Worte
dienten als Amule�. Die älteste bekannte äthiopische Hand213
II. Strukturen und Lebenswelten
schri� ist das Evangelienbuch des Negus Amde Tseyon, das aus
dem 14. Jahrhundert stammt. Seit der Zeit der Niederschri� bis
zur erste Häl�e des 16. Jahrhunderts erlebte Äthiopien eine kulturelle Blüte. Neben umfangreicher religiöser Literatur schufen
äthiopische Autoren, darunter Kaiser Zer'a Ya'qob (1434-1468)
oder Na'od (1494-1508), Herrscherchroniken und poetische
Texte. Die bedeutendste Form zeitgenössischer Poesie stellen die
Selams dar, religiöse Gedichte, die grundsätzlich mit dem Wort
Selam (»Ruhm«) beginnen. Einem ausufernden Personenkult
dienen die Melks (»Bilder«). Sie »sezieren« mit jeder Strophe den
Körper eines Heiligen von den Zehen bis zum Kopf. Aus gleicher
Zeit stammt die umfassende Liedersammlung »Deggwa«, deren
Gedichte jeden Tag des Jahres betrachten und später mit Noten
versehen wurden.
Ab der zweiten Häl�e des 16. Jahrhunderts bestimmten religiös motivierte Auseinandersetzungen das äthiopische Schri�tum. Vor allem das Vordringen des Islam und die Ankun� von
Jesuiten riefen Schri�en wie »Das Glaubensbekenntnis des Gelawdewos«, »Haymanote Abbau« (Glaube der Väter) und das
islamkritische »Anqetse Amin« (Pforten des Glauben) des zum
Christentum konvertierten Moslems Ech‘ege Enbaqom hervor.
Im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert zeigten äthiopische Literaten wieder einen ausgesprochenen Hang zur Hofgeschichtsschreibung. Erwähnenswert ist die Schaffung einer äthiopischen
Grammatik durch den 1726 verstorbenen Dichter und Komponisten Azzaz Sinoda. Das 19. Jahrhundert stellte für die äthiopische Literatur eine Phase des Niederganges dar. Zudem löste das
Amharische das Ge‘ez als Schri�sprache ab.
Anders als in Europa kennen die äthiopische und auch die
somalische Literatur die literarischen Ga�ungen des Romans
und der Novelle erst seit jüngster Zeit. In den 1880er Jahren entstanden erste Druckereien im heutigen Eritrea, 1911 in Addis
Abeba, sodass nun literarische Erzeugnisse schnellere Verbreitung erfuhren. Zu den bemerkenswerten Werken dieser Zeit
zählt eine poetische Biographie Kaiser Johannes IV. (1667-1682)
von Heruy Welde Sellase. Im Laufe des 20. Jahrhunderts befruchtete der kulturelle Austausch mit dem Westen die Literatur am Horn von Afrika. Seit 1913 erschienen erste Romane und
Theaterstücke ebenso wie populärwissenscha�liche Werke und
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Eigenständige Traditionen in Literatur und Musik
das erste Lehrbuch der Arithmetik (1921). Seit der Revolution
von 1974 wächst der äthiopische Buchmarkt unablässig. Einige
Bücher, wie die Novellen Haddis Alemayyehus, erreichen Auflagenhöhen von mehr als 50 000 Exemplaren. Dennoch können
zahlreiche regionale Talente aufgrund der politischen und ökonomischen Situation nicht publizieren. 1987 erschien, übrigens
in Deutschland, das erste in amharischer Sprache verfasste Werk
eines Auslandsäthiopiers.
Ausblick
Wer sich die Kultur eines Landes erschließen will, dem bieten
Musik, Sprache und Literatur einen hervorragenden Zugang.
Für das Horn von Afrika wird diese Auseinandersetzung dadurch erschwert, dass die vorhandene kulturelle Vielfalt – insbesondere was die schri�losen Zeugnisse angeht – bislang nur unzureichend dokumentiert und fassbar ist. Dies verstärkt die für
den afrikanischen Kontinent verbreitete Vorstellung von einem
geschichtslosen Raum, in dem die Europäer als Licht bringende Kulturträger in Erscheinung getreten seien. Insbesondere für
die reiche kulturelle Tradition Äthiopiens verkehrt dies die Tatsachen. Dem Horn von Afrika ist zu wünschen, dass politische
und ökonomische Stabilität die Rahmenbedingungen für Aufblühen und Fortentwicklung von Musik und Literatur verbessern können. Dies würde in den Ländern außerhalb Afrikas das
Bewusstsein stärken, dass afrikanische Ausformungen von Kultur einen eigenständigen und darum umso wertvolleren Beitrag
zum Weltkulturerbe bedeuten.
Martin Meier
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