Sprache mit Keller und Estrich
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Sprache mit Keller und Estrich
St.Galler Tagblatt, Regionkultur: 17. März 2010 Sprache mit Keller und Estrich Seine Sprache hat Musik ausgelöst: Ivo Ledergerber vertraut sich den Tönen Francisco Obietas (r.) an. Bild: Ralph Ribi Der St. Galler Komponist und Kontrabassist Francisco Obieta hat sich von den Reflexionen über Leben und Tod des St. Galler Literaten Ivo Ledergerber berühren lassen. Seine Vertonung des «Kremser Requiems» erklingt am Samstag erstmals. MARTIN PREISSER Am 9. April 1945 wurde der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer hingerichtet. Exakt an Ivo Ledergerbers sechstem Geburtstag. Diese Gleichzeitigkeit von Individuellem und historisch Tragischem hat den St. Galler Schriftsteller bewegt und ihn 2004 zu seinem «Kremser Requiem» angeregt. «Vom Dasein» lautet die erste Requiem-Poesie. Unverkennbar trägt sie die Handschrift von Ivo Ledergerber. Direkte Worte, klar und schnörkellos, Sätze und Fragen von bedeutungsschwerer Einfachheit, Wortgebilde, die zart wirken und doch Wirkung hinterlassen. Francisco Obieta war vom «Kremser Requiem» sofort angetan: «Mich hat die Direktheit der Fragen bewegt, die menschliche Authentizität, die dieser Text verströmt.» Den Menschen ansprechen Ivo Ledergerber hat keinen liturgischen Text geschrieben oder blosse geistvolle Reflexion, sondern ein Requiem für den Menschen, der sich den letzten Fragen stellen mag und sich dabei poetisch an der Hand nehmen lässt: «Ich möchte den Menschen treffen, nicht den Kunstfreund.» Ein schönes Bild für Ledergerbers Sprache findet Francisco Obieta: «Diese Wörter, diese Sätze können einfach gelesen werden. Wenn man sich auf sie aber intensiver einlässt, merkt man: Sie haben Keller und Estrich.» Die Wörter nicht biegen «Von Wegen und Taten»: Ledergerber formuliert Gegensätzliches: Hier der Mensch, der tätig ist, der der Welt seinen Stempel aufdrückt, dort der Mensch, der zum Symbol eines immer auch möglichen Leidenswegs wird. «Das Leben fliegt, es ist durch nichts zu halten.» Es ist diese Art der in Sprache gebrachten Reflexion, die Francisco Obieta zu Musik geführt hat, die an diesen Worten nichts biegen will, die den Wortfluss Ledergerbers unterstützt und die eigene Dynamik der Textdramaturgie anerkennt. Ivo Ledergerber hat das Requiem-Thema individuell neu bewertet und lässt die Zeilen ohne Interpunktion durchlaufen. Da hat ein Gedicht über den Zweifel Raum. «Wer gibt uns neue Wörter» fragt Ledergerber hier ohne Fragezeichen und weiss, dass die Vertonung den Wörtern nochmals neuen Sinn und nochmals anderes Gewicht, aber auch neue Beleuchtung geben wird. Ledergerber fühlt sich hierbei bei Francisco Obieta sehr gut aufgehoben. Jeder Komponist, der sich an die Vertonung eines Requiems wagt, steht in einer grossen Tradition. Diese blockiere ihn nicht, sagt Francisco Obieta, aber ganz entziehen könne er sich ihr eben auch nicht. Und verrät, dass es ein ganz klares Dies Irae geben werde, eben da, wo er in Ledergerbers Gedichten Dies-IraeStimmung aufgespürt hat. Obieta wird sich in der Tonalität bewegen. Er, der in Argentinien drei Jahre lang Zwölftontechnik studieren musste, findet heute: «Die Tonalität ist längst nicht ausgeschöpft, sie hat nicht ausgedient.» Ivo Ledergerber ist glücklich, dass sein Text Musik ausgelöst hat. Francisco Obieta will die Sprachmelodie des «Kremser Requiems» nachvollziehen, eine Melodie, die öffne und nicht beschränke, wie er es formuliert. Wert des Erinnerns Neben der eigentlichen Vertonung gibt es musikalische Intermezzi und gleich zu Beginn einen stillen, feinen instrumentalen Anfang, mit dem Obieta über das Requiem selbst musikalisch reflektieren will. Wörter mit Keller und Estrich sind solche mit dunklem Abgrund und gleichzeitig offenen Weiten: Die vielleicht intensivsten Passagen in Ledergerbers Text sind die drei letzten: «Von den Toten» wirft auch ein Licht auf den tröstlichen Kreislauf von Werden und Vergehen. «Von den Verlassenen» erinnert wieder an den Wert der Erinnerung. Auschwitz habe er einst nicht aus historischem Interesse, sondern aus Respekt vor den Ermordeten besucht, erinnert sich Ledergerber, dem Bilder gelingen, auf denen der Mensch «vom Sand des Alltags geschliffen» und «von Zweifel und Hoffen geglättet» ist. Klare Sprache, die viel Raum für musikalische Reflexion lässt. Rund 75 Minuten soll das «Kremser Requiem» dauern, und man darf gespannt sein, welche Einfälle Obietas der Sprache des Dichters eine zusätzliche Dimension geben. Uraufführung: Sa, 20.3., Kathedrale St. Gallen, 19.15 Uhr. Mitglieder des Sinfonieorchesters St. Gallen und das Collegium Vocale musizieren und singen unter Hans Eberhard. Solisten sind Kimberly Brockman, Angela Göldi, Neal Banerjee, David Maze und Paulo Medeiros. Karten: Musik Hug. Abendkasse: 18.30 Uhr.